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Max und der Vogel

Max freute sich über die Sonnenstrahlen, die seine Nase kitzelten. Es war schon hell und in den Ferien machte es doppelt so viel Freude aufzustehen. Er sprang aus dem Bett, schob seinen Kopf zum Fenster hinaus und atmete genussvoll die Frühlingsluft ein. Die Dusche am Morgen durfte in den Ferien etwas länger dauern und selbst für das Zähneputzen konnte Max sich Zeit lassen. Es dufteten schon der Kakao, der Kaffee, die Eier und die Toastbrote, die Mutter hatte also das Frühstück bereitet. „Guten Morgen mein Kleiner.“ Max überhörte das „Kleiner“ immerhin war er ja schon elf und er war im letzten Jahr fast zwanzig Zentimeter gewachsen und damit schon fast so groß wie die Mutter. „Morgen, Mama“. Die Mutter stellte ihrem Sohn die Tasse selbstgemachten Kakao hin, der war besser als das Getränk aus dem löslichen Fertigpulver. In den Ferien nahm sich die Mutter immer die Zeit, den Kakao selbst zu kochen. „Ist Papa schon weg?“ Die Mutter spürte die Enttäuschung ihres Jungen darüber, dass es heute kein gemeinsames Frühstück mit Papa geben würde: „er musste heute zeitiger los, ich wollte dich noch nicht wecken. Morgen sind wir wieder alle zusammen.“ Sie stellte Max sein Rührei hin. „Warte, hier hast du noch einen Kuss von Papa.“ Max mochte das so, draußen war ihm das schon manchmal peinlich aber in der Wohnung liebte er es von Mama und Papa seine Küsschen zu bekommen. Die Mutter strich Max behutsam über das goldblonde leicht lockige Haar und freute sich über das Strahlen seiner klaren hellblauen Augen. Genau so hatte sie sich ihren Sohn schon immer gewünscht und sie war jeden Tag dankbar, genau diesen Sohn bekommen zu haben. „Und? Hast du dir schon überlegt, was du heute machen willst?“ Max schüttelte den Kopf: „mmh, mmh, Mama, ist doch erst der erste Ferientag.“ „Aber du wirst diesen Tag doch nutzen?“ „Klar.“ Max verspeiste genüsslich sein Rührei mit Toastbrot und schlürfte seinen Kakao. „Ich muss jetzt ins Einkaufszentrum fahren, ein paar Besorgungen machen. Wenn du nachher raus gehst, vergiss bitte nicht den Schlüssel, denn ich bin erst Mittag wieder zurück.“ Die Mutter nahm ihre Tasche, das Portemonnaie, das Handy und dann begann sie, den Autoschlüssel zu suchen. Max schmunzelte, er kannte das Procedere. Die Mutter war immer ordentlich und organisiert, alles hatte seinen Platz, alles lief wie geplant, nur dieser verflixte Autoschlüssel musste jedes Mal gesucht werden, als könnte er sich selbst verstecken. Max hatte den Schlüssel schon vorher gesehen, er wusste genau, wo der Autoschlüssel lag, doch es war wie ein eingeübtes Spiel, er wartete, bis die Mutter ihn nach mehrminütigem erfolglosen Suchen wie immer fragte, ob er denn wüsste, wo der Schlüssel war. Und natürlich wusste er das. „Ciao, mein Liebling“ „Ciao Mama!“
Max räumte den Tisch ab, ging dann auf die Terrasse und in den Garten. „Ja, ja!“ rief er laut, so laut er konnte. Dann erst bemerkte er die aufgeschreckte Oma Rosa, die Nachbarin, die wie gewöhnlich auf ihrer Terrasse frühstückte. Sie sah irgendwie lustig aus an diesem Morgen, Max rannte schnell zu ihr hin und entschuldigte sich dafür, dass er sie erschreckt hatte. „Was machst du denn am frühen Morgen für einen Lärm?“ Oma Rosa schob ihm einen Stuhl hin: „Und überhaupt, musst du nicht schon längst in der Schule sein?“ „Wir haben doch Ferien Oma Rosa.“ Das war das Codewort. Die nette Oma verschwand kurzerhand in der Küche und holte die selbstgebackenen Lieblingskekse. Ja so war es recht, bei Oma Rosa auf der Terrasse die Lieblingskekse und ihre tolle Holunder-Zitronen-Limonade genießen an diesem ersten Ferientag mit dem herrlichsten Frühlingswetter, das Max sich vorstellen konnte. Umso erfreulicher, da es in der letzten Woche fast nur geregnet hatte. Max blieb ein paar Minuten bei der Oma, die sich immer über seine kurzen Besuche freute, denn ihre Enkel wohnten weit weg und waren nur zwei oder drei Mal im Jahr zu Besuch.
Dann hielt Max es nicht mehr auf der Terrasse der Nachbarin sitzend aus. Er schnappte sein Fahrrad und fuhr auf den Feldweg der zu einem nahe gelegenen kleinen Wäldchen führte. Dort erlebte Max immer die tollsten Abenteuer, dazu brauchte er nicht immer andere Kinder, er hatte viel Fantasie. Und er wollte nicht auf Lukas oder Kevin warten, die in den Ferien immer ewig lange schliefen, mit denen könnte Max ja am Nachmittag etwas unternehmen. Der Feldweg war wegen des Regens in der vergangenen Woche noch etwas matschig, aber das störte Max nicht und konnte ihn nicht von seiner Erkundungstour abhalten. Da bemerkte er am Wegrand ein kleines Vögelchen. Putzig, es blieb einfach sitzen und flog nicht weg. Max trat näher hinzu, um es genauer sehen zu können. Er kannte sich mit den Vogelarten nicht so gut aus, aber wunderte sich, dass dieses Vögelchen einfach da sitzen blieb und keine Anstalten machte wegzufliegen, egal wie Max sich näherte. Max streckte vorsichtig die Hand nach dem kleinen Vögelchen aus. Es blieb sitzen, piepte nur und sah traurig aus. Jetzt, da Max nahe genug herangekommen war, konnte er erkennen, dass das Vögelchen nicht nur traurig sondern auch verletzt war, sein rechter Flügel hing irgendwie schief. Es muss sich verletzt haben und jetzt saß es hier bewegungsunfähig am Wegrand, traurig, entkräftet und eventuellen Räubern schutzlos ausgeliefert. Wie lange wohl schon! Max wurde von einem Mitgefühl und einer Sympathie dem kleinen Lebewesen gegenüber ergriffen. Das Vögelchen piepste jämmerlich, es hatte Angst, doch seine Schmerzen waren groß genug, dass es nicht fliehen konnte. Max streckte vorsichtig seine Hand aus: „Hey du kleiner Piepmatz, brauchst keine Angst zu haben, ich tu Dir nichts.“ Behutsam nahm Max seinen kleinen Schützling in die Hand und trug ihn nach Hause.
Max holte einen Brotkorb aus der Küche, sammelte Blätter, Gras, kleine Zweiglein, Moos, alles, was ein Vogel seiner Meinung nach zum Nestbauen benötigt. Er kleidete den Brotkorb liebevoll damit aus und setzte dann seinen neuen Freund, den er inzwischen Piepsie genannt hatte, in das Lager. Das Vögelchen war vollkommen entkräftet und ließ sich ohne Weiteres in den Brotkorb, den Max auf dem Fenstersims positioniert hatte setzen. Fliegen konnte er mit seinem lädierten Flügel nicht. Max hoffte, dass der Flügel wieder heilen würde und war bemüht, alles zu tun, damit es seinem kleinen Freund gut gehen möge. Er fragte sich, was so ein Vogel wohl frisst, holte sich Rat bei Oma Rosa, die kurzer Hand herüber kam, um den kleinen Vogel zu sehen. Sie betrachtete ihn lange und genau, schüttelte mehrere Male den Kopf und musste schließlich feststellen, dass sie nicht wusste, um welche Art es sich hier handelte, sie hatte so einen Vogel noch nie gesehen. So konnte Oma Rosa bedauerlicherweise keine wirklichen Tipps geben. Max besorgte verschiedenste Nahrung, damit Piepsie zu Kräften kommen könnte. Er holte Grünes, Körner, Beeren, ja sogar kleine Regenwürmer, Käfer und schließlich begann er auch Fliegen zu fangen. Der kleine Vogel schien keinen Hunger zu haben, er wollte nicht essen. Max fragte sich, was er seinem neuen Freund denn noch anbieten könnte, irgendetwas musste der doch zu sich nehmen. Max legte immer wieder nach.
„Vielleicht hat er schon Abschied vom Leben genommen?“ Oma Rosa war ja lieb und nett aber manchmal konnte sie Max mit ihren Sprüchen schon aufregen. Max wollte so etwas nicht hören, er hatte eine Idee, rannte zur Regentonne, entnahm ihr etwas Wasser, kam zurück und tröpfelte dem Vögelchen ganz vorsichtig etwas von diesem kostbaren Nass auf den Schnabel. Ein Wunder geschah, Piepsie öffnete erstmalig wieder seine Augen, ließ sich von Max weiter mit Wasser versorgen und schien diese Art der Zuneigung dankend anzunehmen. Max und Oma Rosa freuten sich, Oma Rosa jauchzte sogar, natürlich leise, um den kleinen Freund nicht zu erschrecken. Max spürte ein Gefühl von Wärme in sich und es war so, als würde sein Herz anders schlagen, er hatte die Empfindung, dem kleinen Vögelchen sein Leben wieder zurück zu geben.
Als Mutter und Vater nach Hause kamen, wunderten sie sich, Max nicht draußen beim Spielen anzutreffen. Sie schlichen neugierig in sein Zimmer und fanden die Drei miteinander beschäftigt, Max, Oma Rosa und Piepsie im Kinderzimmer vor. Max erzählte übersprudelnd, was er am Vormittag erlebt hatte, hin und wieder durch ein paar altweise Bemerkungen von Oma Rosa unterbrochen. Alle betrachteten das kleine neue Familienmitglied und jeder hatte es sofort gern. „Baust du mir einen Käfig, Papa?“ Der Vater nickte und begann sich Gedanken über dieses Vorhaben zu machen. „Der Käfig könnte hier auf dem Tischchen stehen. „Warum willst du einen Käfig bauen? Er kann doch nicht fliegen?“ Die Mutter war nicht besonders glücklich mit Max´ Ansinnen. Der Vogel war offensichtlich verletzt, vielleicht würde er noch ein paar Stunden leben, vielleicht ein paar Tage. Aber was dann, sie bemerkte, wie sehr ihr Sohn dieses kleine Lebewesen schon in sein Herz geschlossen hatte, wie schwer würde dann der Tod des Vögelchens auf dessen Seele liegen. Die Mutter wollte Max diese Erfahrung lieber ersparen. „Wenn er so da liegt, könnte ihn die Katze holen, und irgendwann wird er ja auch wieder gesund sein und fliegen können.“ Zu spät. Die Mutter lächelte Max zu, es würde ihm wohl nicht erspart bleiben, schmerzliche Erfahrungen zu machen. So ist das Leben.
„Der Käfig könnte hier auf den Tisch passen.“ Oma Rosa meldete sich wieder zu Wort: „Nein, das ist keine gute Idee, dein kleiner Freund braucht frische Luft, wenn er wieder gesund werden soll. Es muss ein Käfig für draußen sein.“ „Aber wir atmen doch auch hier drinnen und wenn ich krank bin liege ich hier in meinem Bett.“ „Wir sind Menschen, dein kleiner Freund ist ein Vogel.“
Der Vater hatte ein Einsehen und baute einen geräumigen Käfig für den neuen gefiederten Freund seines kleinen Sohnes. Das musste man Papa lassen, er war sehr geschickt und hatte gute Ideen. Für seinen Max tat er alles, einzige Bedingung: Max musste mithelfen. Der Käfig sollte Piepsie vor den Katzen und anderen Feinden schützen, er sollte dem Vögelchen auch die Möglichkeit zum Fliegen geben. Außerdem musste man füttern und reinigen können, ohne dass Piepsie entwischen würde. Viele Anforderungen, viele Ideen, zwei Männer und viel Arbeit.
Stolz betrachteten Max und Papa ihr Werk auf der Terrasse. Oma Rosa und Mama mussten einfach Beifall klatschen. Jetzt wurde es Zeit, den neuen Bewohner einziehen zu lassen. Max holte den Brotkorb, in dem sich sein neuer Freund immer noch entkräftet und verletzt aber schon etwas vitaler immer noch aufhielt und ließ Piepsie in sein neues Heim einziehen.

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Tag der Veröffentlichung: 16.09.2011

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