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Auf dem Pausenhof war großer Tumult. Ein Schüler der dritten Klasse hatte sich Nino vorgeknöpft. Nino war für einen Erstklässler ziemlich groß, sehr beweglich und schnell, aber gegen diesen Brocken aus der dritten Klasse hatte er keine Chance. Der Junge hatte ihn im Schwitzkasten und drohte, dabei immer wieder mit der flachen Hand auf Ninos Kopf zu schlagen. Nino spürte die Schmerzen nicht so sehr, aber die zornigen Ausrufe des Drittklässlers verletzten ihn: „Da hast du noch eine auf dein krankes Hirn, vielleicht hilft´s ja was, du komischer Vogel.“ Die Kinder ringsherum verhielten sich unterschiedlich. Einige lachten und beklatschten den Drittklässler, einige fühlten sich wie immer von Nino belästigt, von seinem Gezappel, von seinen Grimassen, von seinen Ausrufen und von seinem Nachsprechen, sie fanden schon lange, dass dieser nervige Klassenkasper endlich einmal eine Abreibung verdient hatte, manche Kinder sahen nur kurz hin, waren dann desinteressiert und gingen weiter, manche hatten Mitleid mit Nino, ja er konnte schon schlimm sein, aber das hatte er nicht verdient, er tat doch niemandem etwas. Samuel, der Drittklässler, dagegen war dafür bekannt, dass er schnell mal zuschlug, jemanden schuppste oder sich auf einen anderen draufsetzte, was sehr beklemmend war, denn Samuel war für die anderen Kinder viel zu groß und zu schwer, kein Wunder, er hätte ja auch eigentlich in die vierte Klasse gehört. „Und da hast du noch eine, du Rotzlöffel, das wird dir eine Lehre sein. Mich einfach nachäffen! Du kleiner mieser …“ „Samuel“ die hohe, schrille, sehr gefährlich wirkende und giftversprühende Stimme der Lehrerin Frau Reuter unterbrach Samuel, wer weiß, was er sonst gerade Nino an den Kopf geworfen hätte. Samuel ließ Nino nicht gleich los. „Sofort aufhören! Was fällt dir ein, dich an einem Jüngeren zu vergreifen?“ Nino zappelte und zuckte immer noch im Schwitzkasten. „Wirst du wohl sofort loslassen!“ Die Lehrerin hatte sich inzwischen weit genug genähert, packte Samuel am Arm und befreite Nino. Die anderen Kinder waren alle einen Schritt zurückgetreten, doch weggehen oder auch nur sich wegdrehen konnten sie jetzt auf keinen Fall, sie mussten sehen und hören, was jetzt passieren würde. Die Lehrerin wandte sich Samuel zu: „Das hat dieses Mal ein Nachspiel, mein Freundchen!“ Samuel versuchte sich aufzulehnen, plusterte sich auf, wollte größer wirken, doch das machte auf die Lehrerin zu seinem großen Bedauern überhaupt keinen Eindruck. Nino, der sich eben noch über die Befreiung freute und endlich wieder, nachdem er schon dachte, nie wieder Luft bekommen zu können, durchatmen konnte, fand die Ansprache der Lehrerin lustig: „Nachspiel, Freundchen“. Die Lehrerin, die bereits mit dem sich wehrenden und protestierenden Samuel in Richtung Rektorat losgezogen war, drehte sich erbost um: „Ich brauche kein Echo, ist das klar?“ Sie blickte Nino mit den Augen eines kampfeslustigen Raubtieres an: „Würdest du das wohl endlich einmal verstehen, Nino!“ Nino wollte schon, aber die Lehrerin könnte doch auch ihn endlich mal verstehen, sie war älter, sie war klüger, aber sie verstand ihn nicht, sie konnte das nicht nachfühlen, wie das war, wenn Nino diesen Druck hatte, aber von ihm verlangte sie immer wieder Verständnis. Nino wollte nicht weiter über diese Ungerechtigkeit nachdenken, er war froh, dem Schwitzkasten und den Schlägen entkommen zu sein, froh wieder atmen zu können. Der Pulk um ihn herum hatte sich inzwischen aufgelöst. Da spürte Nino, dass ihn jemand an den Arm tippte, was ein Zucken erzeugte, er drehte sich um und sah Stefanie. „Mach dir nichts draus. Der Samuel ist blöd. Und die Reuter ist auch nicht besser.“ Nino war überrascht, er war so überrascht, dass sein Herz bis zum Hals schlug. „Stefanie“ es war hoch und laut genug, dass es alle hätten hören müssen, aber die meisten Kinder waren diese Lautäußerungen von Nino schon gewöhnt und achteten nicht weiter darauf. Nino sah das Mädchen an, er war von Stefanies Reaktion gleichermaßen überrascht und begeistert, sie hatte sich auch überhaupt nicht von dem hoch tönenden Ausruf „Stefanie“ irritieren lassen. Stefanie war etwas kleiner als Nino, hatte schöne lange braune Haare, ein schmales, liebliches Gesicht und sah Nino, den sie schon lange einfach süß fand, mit einem freundlichen Lächeln an, sie hatte wohl einige Zeit auf die Gelegenheit gewartet, die sich ihr jetzt bot. Ninos Herz schien in seiner Brust herumzuspringen, als wollte es heraus, er war aufgeregt und zuckte mit den Schultern und den Armen, dabei lächelte er. Das Zucken übersah Stefanie, ihr gefiel Ninos Lächeln, das zwischen den schmalen Lippen die Zähne blitzen und die dunkelbraunen Augen strahlen lies. „Gehen wir ein Stück?“ dabei nahm sie seine Hand und Nino erlebte zum ersten Mal das Gefühl, dass ein ihm fremder Mensch ihn annehmen konnte, so wie er war, mit seiner Unruhe und seinen Zuckungen. Stefanie war ihm vorher nie aufgefallen, er hätte im Augenblick nicht einmal sagen können, ob sie in seiner Klasse war. In seinem Kopf rasten die Bilder aus dem Klassenraum herum und da plötzlich konnte Nino das nette Mädchen sitzen sehen, ganz weit drüben in der anderen Reihe. Die Freude, die seinen Körper mit Wärme durchtränkte, war das schönste Gefühl, dass er seit Monaten hatte. Eigentlich hatte er seit der Schuleinführung noch nie ein so schönes Gefühl erlebt. Nino spürte ein Beben und Zittern in sich, dennoch versuchte er ruhig zu bleiben, neben Stefanie zu laufen und sie nicht zu erschrecken oder zu verscheuchen. Stefanie war froh, endlich auf Nino zugehen zu können und ihm zu zeigen, dass sie ihn mochte. Nino war froh, jemanden kennengelernt zu haben, der sich nicht über ihn aufregte, der sich nicht von ihm und seinem Bewegungsdrang belästigt fühlte, jemanden, dem er nicht peinlich war. Nino hatte den schlimmen Übergriff des gewalttätigen Drittklässlers mit diesen bösen Beschimpfungen, dass sein Gehirn krank wäre, schon fast vergessen, neben Stefanie, die ihn gerade wieder fröhlich und ein bisschen verlegen anlächelte.
Heute war der schönste Tag in Ninos bisherigen Schulleben.

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FINALE

„Hey du Hurensohn, glaubst, du kannst mich provozieren oder was?“ Nino brauchte sich nicht umdrehen, um zu sehen, wer ihn da von hinten bedrohte. Die Stimme sprach für sich. Schon oft hatte Nino diesen großen bulligen Kerl gesehen, der musste in derselben Straße wohnen wie Nino. Immer hatte Nino von ihm aggressive Blicke erhalten und wechselte lieber die Straßenseite. Es musste ja nicht sein, eine Auseinandersetzung mit diesem offensichtlich gewalttätigen Menschen heraufzubeschwören. Ihm das Tourette-Syndrom zu erklären, würde wohl nicht viel nützen, er machte nicht den Eindruck, dass er rationalen Argumenten zugänglich sein würde, und außerdem würde die Zeit bis zum ersten Faustschlag nicht für die Erklärung reichen. Egal, es gab auf der Straße genug Platz. Aber hier war die Situation anders und schwer abschätzbar. Nino war gerade dabei, sein Auto zu waschen, der Platz bis zu den Betonwänden der Waschstelle war eng umschrieben, es gab kaum Ausweichmöglichkeiten und das Auto war ja auch noch da, außerdem stand der Bedrohende ziemlich direkt hinter ihm. Nino spürte, wie Tics in ihm aufstiegen, die konnte er jetzt nicht gebrauchen, nur in diesem Moment wollte es ihm nicht gelingen, diese Energieentladungen in seinen Muskeln aufzuhalten. „Hör auf so blöd rumzuzucken, sonst kriegst gleich eine.“ Nino wusste, dass seine Situation ziemlich ausweglos war. Ein Ausweichen würde es nicht geben. Die einzige Chance, nicht in eine Schlägerei verwickelt zu werden, bestand darin, dass er Zeit gewann, seine Tics unterdrückte und sich so um das Autowaschen bemühte, dass der Angreifer sein Interesse an der Konfrontation eventuell verlieren würde. Es müssten doch auch andere Leute da sein, die eingreifen könnten, die den bulligen kräftigen Mann an einem Angriff hindern würden. Aber nein, wer sollte sich da schon einmischen, wer sollte seine eigene Gesundheit riskieren um einem herumzuckenden und allen auf die Nerven gehenden jungen Mann in einer Auseinandersetzung gegen einen viel kräftigeren, aggressiven Mann beizustehen? Nino spürte Hilflosigkeit und Alleingelassen Sein, er fühlte eine Leere in sich, die nach und nach der Verzweiflung über die Chancenlosigkeit, die Trauer darüber, dass er allein sein würde und die Wut über seine Entscheidung, gerade jetzt sein Auto zu waschen, wichen. Er hasste es, Stärkeren und deren Kampfeslust gnadenlos ausgesetzt zu sein, er fühlte sich klein und hilflos, sah den kleinen Jungen in sich, der auf dem Schulhof damals von dem Drittklässler Samuel verprügelt worden war. Er hatte nie wieder so klein und machtlos sein wollen, schon gar nicht jetzt, da er inzwischen schon ein Mann geworden war. Er hatte immer noch die Hoffnung, dass der bullige Kerl sich inzwischen verziehen würde, aber er wagte es nicht, sich umzudrehen, jede noch so kleine Bewegung in die Richtung dieses schrecklichen Menschen könnte der als finale Provokation empfinden und die Hemmschwelle von der Androhung zur Gewaltanwendung in Sekundenschnelle fallen lassen. Nino merkte schon wieder Tics in sich aufkommen. „Scheiße, Scheiße,… fick dich…!“ Fast zum selben Zeitpunkt spürte er einen heftigen dumpfen Schmerz, der auf einen harten ungebremsten Faustschlag voll Hass, voll von negativen Emotionen folgte. Nino wusste nicht, was er tun sollte, er hob den Arm vor sein Gesicht, doch in diesem Moment sauste ein zweiter noch heftigerer Faustschlag auf seinen Kopf nieder.
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Es war ein Regenbogen. Ein Regenbogen, so schön, klar, deutlich und intensiv, wie er vorher noch nie einen gesehen hatte. Wärme durchfuhr seinen Körper, die Berührung durch Nickys Hand, die beruhigende Stimme Daniels. Ja, jetzt wusste er, dass es wahr war, jetzt wusste er, dass das Leben wunderbar war, jetzt erkannte er, dass es sich lohnte, das Leben und auch sein Tourette anzunehmen. Er empfand diese umwerfende Kraft der Farben und nickte, jetzt konnte er loslassen, indem er sein Leben annahm: „Mein Tourette. Der Regenbogen über meinem Kopf.“

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Tag der Veröffentlichung: 30.03.2011

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