„Dem Angeklagten Andreas Kreissler wird zur Last gelegt …“, die Stimme des fast zwei Meter großen Staatsanwaltes klingt für den jungen Mann laut und bedrohlich. Andreas sitzt in sich zusammengesunken, die Schultern nach vorn gebeugt, das Kinn fast auf die Brust gelegt, den Blick starr auf den Boden gerichtet neben seinem Strafverteidiger auf der Anklagebank in diesem holzdominierten Gerichtssaal. Seine früher fröhlichen, glänzenden Augen sind müde, seine Ohren wollen am liebsten taub sein, nichts mehr hören, nichts mehr wahrnehmen. Auf der von dichtem dunklem Haar umrankten Stirn stehen Schweißtropfen, die langsam über die Augenbrauen und über die für einen jungen Mann außergewöhnlich langen Wimpern in die Augen laufen und dort fast wie Tränen wirken. Immer wieder muss sich Andreas die Augen auswischen und mit dem Tuch, das ihm Kai besorgt hat die Stirn trocknen. Warum nur immer diese Schweißausbrüche, früher hatte er doch kaum je geschwitzt! Und die Füße, die sind dabei ganz kalt, fühlen sich an wie Eisbrocken, scheinen nie wieder warm werden zu wollen. Der ganze Körper spielt verrückt. Andreas hätte nie gedacht, dass er einmal in eine solche Situation geraten könnte. Niemand denkt so etwas.
Und nun ist es also soweit gekommen. Der Staatsanwalt hat sein Versprechen gehalten, er würde ihn auf die Anklagebank bringen und er würde dafür sorgen, dass er überführt und verurteilt wird. Der Zweiundzwanzigjährige lässt seinen Blick vorsichtig durch den Gerichtssaal schweifen. Ein trostloser Anblick, eine Aussicht ohne Aussicht, nichts wird ihn retten, und in diesem tristen Raum soll das Urteil über ihn gefällt werden. Dem Blick des Staatsanwaltes will er lieber nicht begegnen. Davor hat Andreas Angst. Dieser riesige bullige Typ mit seinen stechend blauen Augen, der ihn anklagt, erregt in Andreas das Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Furcht, schon während der Ermittlungen redete der Staatsanwalt Mayer ununterbrochen auf Andreas ein: „es hat keinen Sinn, alles abzustreiten. Geben Sie es zu, das macht es uns allen leichter, kürzt die Gerichtsverhandlung ab und wirkt sich obendrein positiv auf Ihre Strafe aus. Sie haben den Bürgermeister Eberhard Frenzel, um an dessen Geld zu kommen, dass er gerade am Automaten geholt hatte, am 30. April in der Walpurgisnacht kurz nach Mitternacht mit einem Baseballschläger, wenige Meter von seinem Haus entfernt, niedergeschlagen, in Ihr Auto gezerrt, sind in den Wald gefahren und haben ihn dort unter Zweigen, Ästen, Moos und Blättern abgelegt, wo er ohne Hilfe an Unterkühlung starb. Die Schläge auf seinen Hinterkopf, welche Sie ihm beigebracht haben, waren jedoch so heftig, dass er auch daran hätte sterben können.“ „Nein, nein, das kann nicht sein. Ich kann das nicht gemacht haben.“ Andreas hatte sich gegen die Vorwürfe gewehrt, er konnte es nicht gewesen sein, er hatte einen totalen Filmriss, Alkohol sei im Spiel gewesen, er sei betrunken, gar bewusstlos gewesen in jener Nacht. Er hat es nicht getan, Es kann nicht so gewesen sein, wie der Staatsanwalt es darstellte. Aber sicher konnte sich Andreas nicht mehr sein. Er hatte ja keine Erinnerung oder kaum eine Erinnerung an jenen Abend. Mit seinen drei Kumpels Sven, Georg und Roman war er im „Ochsen“ eingekehrt, wie eigentlich fast jeden Freitagabend, hatte dort etwas getrunken, dort kamen noch andere junge Männer dazu, aber weiter reichte seine Erinnerung bei aller Mühe nicht. Doch egal was tatsächlich mit ihm in dieser Nacht passiert war, er hätte niemals dieses Verbrechen begehen können. Er war gewiss kein Unschuldslamm, hatte schon mal Mist gebaut, aber nie ein Verbrechen begangen. Andreas würde nie jemanden etwas zu leide tun.
Die Beweislast allerdings spricht eine ganz andere Sprache. Wenn ihm all diese Beweise vor Augen geführt wurden, musste er es ja selbst glauben, er wird wohl den Bürgermeister überfallen, dessen Geldbörse mit über fünfhundert Euro an sich genommen, Eberhard Frenzel im Wald zum Sterben versteckt haben. Aber wo sollte das Geld dann sein? Andreas bleibt nur, zu hoffen, dass er das alles nicht getan hat, dass sie es ihm nicht nachweisen können, dass er sich in einem bösen Traum befindet und irgendwann schweißgebadet aufwacht.
Die Augen des Staatsanwaltes funkeln siegesbewusst, der Fall scheint sonnenklar. Staatsanwalt Mayer ist von Anfang an überzeugt von Andreas´ Schuld und er ist stolz auf seine gute Arbeit, es ist immerhin ein wichtiger Fall, der Mord am Bürgermeister hat die Gemüter der Bürger der Stadt bewegt. Die Zeitungen haben berichtet und es gab ein großes Interview in der Lokalzeitung. Wohl selten konnte ein Fall so schnell aufgeklärt werden. Das Bad im öffentlichen Wohlwollen tut dem Staatsanwalt Mayer gut. Er hatte in letzter Zeit einige Verfahren verloren, hatte sich deutlich verrannt. Diesmal ist jedoch alles bombensicher und er hat es in Rekordzeit fertig gebracht, den mutmaßlichen Täter zu ermitteln, seiner Auffassung nach zu überführen und auf die Anklagebank zu bringen. Das müsste ihm erst einmal jemand nachmachen! Während seiner Ausführungen glaubt er den Beifall des Publikums zu spüren. Seine Beweisführung ist lückenlos. Der gegnerische Strafverteidiger wirkt dagegen müde und lau. Er würde mit nichts aufwarten können, dass den Richter auch nur einen Augenblick an der Anklage zweifeln lassen könnte. Immer wieder sieht Staatsanwalt Mayer zu Andreas hin, fast tut der ihm ein wenig leid. Aber er hat es sich wohl selbst zuzuschreiben.
Andreas will nicht diesem scharfen schneidenden Blick standhalten, wie es ihm sein Pflichtverteidiger geraten hatte. Andreas kann das nicht, nicht mehr nach all diesen fast schlaflosen Nächten mit den Alpträumen. Immer wieder begegnete Andreas im Traum diesem Augenpaar. Diese Augen bohren sich in seinen Körper, verursachen stechende Schmerzen, bohren sich in seinen Kopf, versuchen sich in sein Gehirn, in seine Erinnerungen hinein zu graben. Nein, es geht heute wirklich nicht, Andreas kann den Blick des Staatsanwaltes nicht erwidern, er kann nicht in diese klaren stechend blauen Augen sehen. In seinen Ohren nimmt Andreas ein Rauschen war, ein wunderbares herrliches Rauschen, es ist so wohltuend, so ist die kräftige durchdringende Stimme des Staatsanwaltes nur noch wie durch einen Schleier und wie von fern zu hören, klingt nicht mehr ganz so bedrohlich, der Körper versucht sich zu schützen. Warum nur schützt ihn sein Gedächtnis nicht vor diesen Anschuldigungen? Warum nur kann er sich an nichts erinnern? Wenn er doch irgendetwas zur Aufklärung beitragen könnte!
Andreas sieht in Gedanken seine Mutter, sie wartet als Zeugin vor dem Gerichtssaal, ihr Gesicht rot und seit vielen Tagen verheult. Sie lässt sich gehen, wenn sie doch aufhören könnte, ununterbrochen zu weinen! Es macht Andreas das Herz schwer. An ihrer Seite Tante Ulla. Ulla, die immer alles regelt, sie wirkt gefasst und versucht die Mutter zu beruhigen und zu trösten. Ohne ihre jüngere Schwester, wäre die Mutter fast handlungsunfähig. Seit ihrer Jugend regelt Ulla alles, alles was mit Ämtern, Formularen, Behördengängen zu tun hat. Die Mutter ist dagegen schon immer im Haushalt gut. Sie ist unübertroffen im Putzen, Aufräumen und Bügeln. Sie kocht und backt, sie macht die besten Pfannkuchen der Welt. Oh ja, so ein paar Pfannkuchen! Die Erinnerung daran lässt Andreas für ein paar Sekunden zu Hause am großen Esszimmertisch sitzen und auf die Pfannkuchen warten, den Duft der Lieblingsspeise wahrnehmend. Doch dann hört er plötzlich einen Schluchzer seiner Mutter und ist im Nu wieder zurück in der Realität, in der Realität die er nicht annehmen will, die er für einen bösen Alptraum halten möchte.
Seit der Verhaftung ihres Sohnes, ist die Mutter arbeitsunfähig, hatte einen Nervenzusammenbruch nach dem anderen und bekam tags und nachts Heulkrämpfe. „Nicht auch noch mein Andreas!“ hat sie immer wieder geschrien, später dann war es mehr wie ein unaufhörliches leises nur durch Schluchzen unterbrochenes Beten geworden: „Nein, nicht auch noch mein Andreas! Nehmt ihn mir nicht weg! Ihr habt doch schon alles genommen! Nein, nicht Andreas!“ Keiner weiß, wen sie mit „Ihr“ meint. Sie sieht schrecklich aus, so verheult. Sie weiß, ihr einziger Sohn Andreas ist kein Verbrecher. Er ist kein Engel, nein das ist er nicht, aber ein Verbrecher ist er erst recht nicht. Ulla sieht alles viel nüchterner, vielleicht ist ja was dran, die Beweise sprechen schließlich alle gegen ihn. Ulla hatte Andreas schon oft gewarnt vor den falschen Freunden und vor seinen „Sauftouren“, wie sie immer sagte. Vielleicht hatten ihn ja seine zweifelhaften Freunde oder Kumpels so betrunken gemacht, und er war nicht mehr Herr über sich selbst. Es wäre immerhin möglich. Ulla traute Andreas vieles zu, wenn er betrunken war. Die Mutter hätte Ulla beinahe aus der Wohnung geworfen, doch sie war von ihr abhängig, sie konnte nicht ohne ihre Schwester. Nichts würde mehr funktionieren. So ist es seit vor zwölf Jahren Andreas´ Vater bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Ulla hatte sich richtig aufgedrängt, alles geregelt, die Mutter und auch den damals zehnjährigen Andreas bevormundet, hatte ihnen klar gemacht, dass sie verloren wären. Andreas hat Ulla nie wirklich gemocht, aber er hat sehr viel von ihr profitiert, vielleicht hat er sie nicht gemocht, weil sie einfach kurzerhand eine Ersatzvaterrolle übernommen hatte. Seine Mutter hat ihm immer leidgetan, nur dieses Heulen das hasste Andreas, er konnte oftmals nicht mit ihr zum Friedhof gehen, weil sie dort immer anfing zu Jammern und zu Wehklagen, Andreas wollte das nicht hören und nicht sehen. Seine Erinnerung an seinen Vater wollte er im Herzen behalten, manchmal war sie getrübt durch den Vorwurf, alleingelassen worden zu sein. Ja, der Vater hatte ihn verlassen, einfach so von heute auf morgen, war einfach nicht mehr da. Andreas erinnert sich an den inneren Druck, an die Schmerzen. Er hatte seinen Vater geliebt, sich an ihm orientiert, gerade hatte er das Gefühl, den coolsten Vater der Welt zu haben, und dann plötzlich war alles aus, und nur noch die wimmernde Mutter und Tante Ulla mit ihren Denkanstößen und Vorwürfen waren da. Wie konnte der Vater nur einfach so aus dem Leben verschwinden und seinen Sohn im Stich lassen!
Während der Staatsanwalt seine Anklage, die Andreas schon auswendig kennt, die er nicht mehr hören will, weiter ausführt, denkt Andreas an Kai. Kai, der immer an Andreas glaubt, der nie aufgibt, der immer für Andreas da ist, und gerade das ist manchmal für Andreas nervig. Warum ist Kai immer da? Andreas kann sich auf seinen älteren Freund verlassen, er braucht nur anzurufen und schon ist Kai da. Manchmal hat Andreas jedoch das Gefühl, Kai würde sich in sein Leben einmischen, ihn kontrollieren ihm vielleicht sogar nachspionieren. Andreas hasst dieses Gefühl, wenn es in ihm aufkommt, kann er Kai nicht in die Augen sehen. Aber er kann gegen dieses Gefühl auch nicht wirklich etwas machen, es ist dann eben einfach da. Dann wieder fühlt sich Andreas oft von Kai verstanden und nur von Kai verstanden, mit ihm kann er einfach über alles reden und braucht nicht zu überlegen, Andreas weiß, dass Kai immer auf seiner Seite sein wird, dass Kai ihn sehr gern hat, ja wie einen kleinen Bruder liebt, bis eines Tages dieses Gefühl zum ersten Mal aufkam, seither gibt es Phasen, da ist es für Andreas schwieriger geworden, mit Kai umzugehen. Aber Andreas weiß, Kai würde sich niemals von ihm abwenden. Ja Kai, er kam vor der Verhandlung kurz zu Andreas. „Nein, Du hast das nicht getan, alle Beweise sprechen zwar gegen Dich, aber Du warst es nicht“, hatte Kai immer wieder gesagt. Kai ist scheinbar der Einzige, der davon überzeugt ist, dass Andreas unschuldig ist, alle anderen halten es zumindest für möglich, dass der Staatsanwalt mit seiner Anklage Recht hat. Andreas will Kai nicht enttäuschen, Kai hat immer so viel für Andreas getan und das zu jeder Tages- und Nachtzeit. Und wenn sich jetzt herausstellen sollte, dass Andreas doch schuldig ist? Nein, das will er Kai nicht antun, er will ihn nicht enttäuschen, Kai ist wichtig für ihn, immer wenn er sich keinem anderen anvertrauen kann, ist auf jeden Fall Kai da, zu ihm kann er immer gehen, er mag ihn, auch wenn er manchmal Abstand will, wegen diesem schlimmen Gefühl.
Endlich ist der Staatsanwalt mit der Verlesung seiner Anklageschrift fertig. Der Richter bittet Andreas in den Zeugenstand und fragt ihn, ob er sich zu den Vorwürfen äußern möchte. Andreas hatte mit seinem Verteidiger besprochen, dass er Stellung nehmen würde.
So wie es ihm der Verteidiger geraten hat, spricht Andreas langsam, den Ton etwas angehoben und betont deutlich, zwischen den einzelnen Sätzen kurze Pausen lassend: „Ja, ich kenne die Anklageschrift und ich möchte dazu auch etwas sagen. Ich bin unschuldig. Ich habe den Bürgermeister nicht umgebracht. Und ich habe auch die Geldbörse nicht an mich genommen. Ich weiß nicht, wie die in mein Auto kam und wie all diese Beweisspuren entstanden sind, aber ich war es nicht.“
„Sagen Sie bloß nicht: das müssen Sie mir glauben“ hatte der Verteidiger Andreas eingetrichtert, „das ist so ein Spruch, den keiner hören will und der überhaupt nichts Positives bewirkt.“ Andreas hält sich daran, keine überflüssigen Floskeln, einfache, klare, Sätze, nachvollziehbare Aussagen, ruhig, um die Gewissheit über die eigene Unschuld darzustellen.
Der Richter sieht Andreas ruhig an, er hat etwas Väterliches an sich. Andreas versucht es und er schafft es, ja dem Blick des Richters kann er begegnen. „Ich weiß, alle diese Beweise sind da und sprechen gegen mich, aber ich habe es nicht getan.“ Und da geschieht, was Andreas auf jeden Fall verhindern wollte, Tränen stellen sich in seine Augen und verschleiern seinen Blick. Er hätte nie geglaubt, dass er heulen würde, doch jetzt war es passiert, seine Augen füllen sich mit Tränen, Andreas schluckt, versucht die Tränen zu stoppen und herunterzuschlucken.
Die Stimme des Richters klingt angenehmer und viel wärmer. Andreas beruhigt sich wieder und beginnt, der Aufforderung des Richters folgend, den Abend des Tattages zu schildern, jedenfalls das zu berichten, an das er sich noch erinnern kann:
„Ich war mit meinen drei Kumpels im „Ochsen“. Wir waren dort eigentlich jeden Freitagabend.“
„Handelt es sich um die drei jungen Männer Sven Dreher, Georg Kaltenbacher und Roman Simkowski, die wir nachher noch als Zeugen vernehmen werden?“
„Ja, genau, mit denen bin ich eigentlich immer da.“ Es entsteht eine kurze Pause, denn Andreas hofft immer noch, ihm würde irgendetwas einfallen, irgendetwas müsste in seine Erinnerung zurückkehren, womit er sich vor dem Gericht und letztlich auch vor sich selbst entlasten könnte.
Der Richter gibt ihm diese Zeit, er drängelt nicht. Erst nach einigen Sekunden fragte er: „was haben Sie dort gemacht?“
„Naja, was man halt so in ´ner Kneipe macht. Wir haben getrunken und geredet und Billard haben wir auch gespielt. An dem Abend war es richtig voll und so sind wir dann wieder an unseren Stammtisch gegangen.“
„Wie viel haben Sie getrunken?“
„Nicht viel, eigentlich nur Bier und am Anfang einen Schnaps, den hatte irgendjemand ausgegeben.“
„Aber es ist doch so, dass Sie angeben, so betrunken gewesen zu sein, dass Sie einen sogenannten Filmriss hatten?“
„Ja das stimmt, ich bin erst zu Hause zu mir gekommen. Ich hab in meinem Auto gesessen und weiß nicht, wie ich dahin gekommen bin, das ist mir eigentlich noch nie passiert. Aber ich habe nicht so viel getrunken, also nicht mehr als sonst…“ Andreas senkt seinen Blick und ist froh, dass die Augen inzwischen wieder trocken sind. Er hätte von sich selbst nicht gedacht, dass er es schaffen würde, so ruhig zu bleiben. Das hat alles der Verteidiger Martin Stocker mit ihm gemacht, er hat ihn beruhigt und vorbereitet, so dass Andreas nicht aufgeregt nervös auftritt.
Der Staatsanwalt Mayer bekräftigt die Aussage: „Das deckt sich auch mit der Feststellung des Wirtes Ralf Korn. Der hat ausgesagt, sie hätten an diesem Abend nur ein paar Bier zu bezahlen gehabt, nicht außergewöhnlich viel sondern außergewöhnlich wenig. Sie waren also nicht so betrunken.“
„Da muss was in dem letzten Glas gewesen sein. Mir wurde plötzlich irgendwie schlecht und schwindelig. Ich musste einfach raus, mehr weiß ich nicht. Ich weiß nicht, wie ich in mein Auto gekommen bin und ich weiß auch nicht, wie ich in dem Auto bis zu mir nach Hause gekommen sein soll. Ich jedenfalls kann nicht gefahren sein.“
„Aber Sie sind gefahren, wie sonst wollen Sie mit dem Auto zu sich nach Hause gekommen sein?“ Der Staatsanwalt redet mit genau dieser furchterregenden Stimme, mit genau demselben, für Andreas unerträglichen Tonfall, wie bei den Verhören. Der Richter wartet einen Augenblick, ob Andreas noch etwas sagt, dann setzt er fort: „Dann sind Sie am nächsten Tag zu Erwin Nehmer, dem Besitzer des Handyshops „NTS“ gefahren, da Feiertag war, haben Sie ihn zu Hause aufgesucht und ihm Geld gegeben.“
„Das stimmt, ich hatte noch vierhundertfünfzig Euro Schulden bei ihm und er wurde schon etwas ungeduldig. Kann ich auch verstehen. Ich wollte ihm das Geld eigentlich schon im März bringen. Aber ich war immer zu knapp mit dem Geld.“
„Und da kamen Ihnen die fünfhundert Euro Bargeld, die Ihr Opfer, der Bürgermeister Eberhard Frenzel bei sich hatte, gerade gelegen.“ Die triumphierende Mine des Staatsanwaltes macht Andreas wütend.
„Nein, ich bringe doch niemanden für fünfhundert Euro um!“
„So? für wie viel Geld denn dann?“ Der Staatsanwalt will Andreas auf jeden Fall aus der Reserve locken, doch Andreas erinnert sich an die Worte seines Verteidigers, er hatte mit ihm trainiert, Andreas ist fest entschlossen, sich nicht durch den Staatsanwalt provozieren zu lassen.
„Nein so, meine ich das doch nicht, ich wollte sagen…“
Endlich greift der Strafverteidiger auch ein und, unterstützt durch einen strengen Blick des Richters, ermahnt er den Staatsanwalt, sachlich zu bleiben.
„Herr Kreissler, sie haben immer zu wenig Geld. Monatelang können Sie die ausstehenden vierhundertfünfzig Euro nicht aufbringen. Aber plötzlich am ersten Mai, und Sie haben es so eilig, das Geld loszuwerden, dass Sie es am Feiertag dem Herrn Nehmer persönlich nach Hause bringen. Ist doch ein merkwürdiger Zufall oder? Wenige Stunden vorher haben Sie beobachtet, dass der Bürgermeister Frenzel Geld am Automaten holt, dieser Automat liegt zufällig genau auf dem Weg zwischen Ihrer Stammkneipe „Ochsen“ und ihrem Haus.“
„Ich hab das Geld nicht von dem Bürgermeister genommen.“
„Woher hatten Sie plötzlich das Geld?“ will der Richter wissen.
„Von Kai. Kai Neumann, er hat es mir geborgt.“
„Am ersten Mai?“
„Nein, schon ein paar Tage vorher. Ich hätte es am Mittwoch schon im Handyladen vorbeibringen sollen. Aber ich habe es vergessen. Erst am ersten Mai ist es mir wieder eingefallen.“
Der Staatsanwalt lässt nicht locker: „Herr Kreissler, der Geldbeutel des Herrn Frenzel wurde ohne das Bargeld in Ihrem Auto gefunden, wenn Sie die vierhundertfünfzig Euro von Kai Neumann bekommen haben wollen, wo sind dann die fünfhundert Euro aus dem Geldbeutel des Bürgermeisters? Wir können anhand der Kontoauszüge nachweisen, dass der Bürgermeister fünfhundert Euro bei sich hatte.“
Andreas blickt auf den Boden. Es ärgert ihn, dass der Staatsanwalt ihn nie ausreden lässt, immer irgendetwas entgegenzusetzen hat. Er stellt sich vor, wie es wäre, wenn er diesen Hans Mayer einfach verstummen lassen könnte, die Lippen würden sich bewegen aber niemand könnte den Staatsanwalt auch nur ein Wort sagen hören. Das wäre eine Wohltat.
„Herr Kreissler?“ der Richter holt Andreas aus seiner Fantasie zurück.
„Ich weiß es nicht…ich will jetzt nichts mehr sagen.“
Andreas setzt sich wieder zu seinem Verteidiger, der lächelt wohlwollend und flüstert ihm zu: „gut gemacht. Besser konnten Sie es nicht machen.“ Andreas beruhigt das nicht. Er sitzt jetzt wieder dem Staatsanwalt Mayer direkt gegenüber, das macht ihm einerseits Angst und lässt andererseits eine ohnmächtige Wut in ihm aufkommen.
Der Richter bittet die Nebenklägerin, die Witwe des Bürgermeisters Karola Frenzel in den Zeugenstand. Nach der Feststellung der Personalien und der obligatorischen Belehrung beginnt die Witwe zu schildern, was sie über den Tattag weiß. Sie erklärt, dass sie und ihr Mann sonst meistens in der Nacht zum ersten Mai auf Veranstaltungen waren. Diesmal gab es nur eine kurze Feier im Rathaus, die schon gegen dreiundzwanzig Uhr zu Ende war. Sie sind schon zeitig nach Hause gegangen, weil sie am nächsten Morgen für drei Tage an den Gardasee fahren wollten. Ihr Mann ging noch einmal los, um Geld zu holen. Warum er den von ihrem Haus viel zu weit entfernten Automaten in der Kantstraße gewählt hatte, kann sie nicht sagen. Es steht fest, dass er dort fünfhundert Euro von seinem Konto abgehoben hat. Frau Frenzel war zwischenzeitlich zuhause eingeschlafen, um drei Uhr aufgewacht und hat bemerkt, dass ihr Mann immer noch nicht wieder zurück war. Sie hat die Polizeiwache angerufen und nachgefragt, ob es vielleicht einen Unfall gegeben hatte. Mehr kann sie über den Tag, an dem ihr Mann ermordet und ausgeraubt worden war, nicht sagen. Ihr Mann kam nicht mehr zurück, aus der Fahrt an den Gardasee wurde nichts. Am zweiten Mai morgens gegen neun Uhr standen zwei Polizeibeamte an ihrer Tür, um ihr die Nachricht zu überbringen, dass ihr Mann von einem Wanderer im Wald in der Nähe der Landstraße nach Neudorf tot aufgefunden wurde und baten sie, sie zu begleiten.
„Dann war ich in dieser furchtbaren Halle und musste meinen Mann identifizieren.“ Frau Frenzel beginnt zu weinen. Der Richter lässt ihr Zeit, sich zu fassen.
„Er sah schlimm aus. Der Kopf so deformiert. Wer macht so etwas? ... Und dann habe ich noch erfahren, dass er an Unterkühlung gestorben ist. Er war zugedeckt mit Moos und Laub und Ästen. Das war … schrecklich … einfach schrecklich.“ Sie blickt zu Andreas herüber: „ich weiß nicht ob Sie es waren, Herr Kreissler…“ Die Frau des Bürgermeisters schluckt die Tränen. Wenn sie Andreas so ansieht, will sie es nicht glauben, dass er diese Tat begangen hat, er hält ihrem Blick stand, weicht nicht aus. Seine jugendlichen Gesichtszüge wirken traurig, nicht böse oder aggressiv. Kann dieser Junge ein kaltblütiger Mörder sein, der ihren Mann wegen fünfhundert Euro getötet haben soll? Sie sieht die Augen des Angeklagten und Zweifel regen sich in ihr, sieht so ein kaltblütiger Mörder aus?
Im Gerichtssaal ist es ruhig, alle warten gespannt darauf, dass die Nebenklägerin Frau Frenzel weiterspricht. „Ich habe nichts gegen Sie, ich kenne Sie ja nicht einmal, ich weiß nur, dass ich einen Sohn in ihrem Alter habe, und es würde mir ein Stein vom Herzen fallen, wenn Sie es nicht getan hätten. Doch wenn Sie tatsächlich meinen Mann getötet haben, bitte Herr Kreissler, dann sagen sie es. Es ist alles furchtbar genug…“ Frau Frenzel versagt die Stimme. Sie ist hin- und hergerissen zwischen der Trauer um ihren Mann, der Wut auf den Täter und dem Mitleid mit diesem in sich zusammen gesunkenen jungen Mann. Sie blickt wieder zu ihm herüber, er erinnert sie so stark an ihren Sohn, je öfter sie ihn sieht um so mehr spürt sie in sich mütterliche Gefühle wachsen.
Andreas erkennt in ihrem Blick, dass sie keinen Hass auf ihn haben kann, er beginnt ihr zu vertrauen. Vielleicht glaubt sie wirklich, dass ein anderer den Mord verübt haben muss. Vielleicht ist sie nicht genauso wie der Staatsanwalt von Andreas´ Schuld überzeugt. Ein angenehmes Gefühl von Vertrauen und Zuversicht keimt in Andreas auf, es tut ihm gut.
„Da hören Sie es, Herr Kreissler, geben Sie sich einen Ruck, sehen sie nicht wie die Ehefrau des von Ihnen ermordeten Bürgermeisters leidet? Kürzen Sie das Verfahren ab und gestehen Sie endlich, das würde sich für Sie sogar strafmildernd auswirken.“ Wieder zerstört die stechende Stimme des Staatsanwaltes in Andreas jeden Anflug von Hoffnung. Wieder überkommt ihn der Hass auf diesen Herrn Mayer und wieder nagen die Selbstzweifel an seinem Verstand.
Der Strafverteidiger bemerkt die Unruhe seines Klienten, legt seine Hand auf seinen Arm, er würde gern zu ihm sagen, es wird alles gut, jedoch lügen liegt ihm nicht. Der Strafverteidiger Martin Stocker glaubt Andreas, er ist davon überzeugt, dass Andreas selbst Opfer ist.
„Die Staatsanwaltschaft macht es sich so leicht wie möglich. Da werden ein paar Spuren gesammelt, zu einem Gebilde der lückenlosen Beweisführung zusammengebastelt, dann wird ein Motiv konstruiert und schon ist der Fall gelöst.“ Der Verteidiger hält einen Augenblick inne. Normalerweise würde ihm jetzt der Staatsanwalt Mayer ins Wort fallen, doch der sitzt mit triumphierendem Blick, gutgelaunt zurückgelehnt auf seinem Platz. Siegessicher, wie nie zuvor strahlt er Gelassenheit aus.
„Wir haben viele Spuren, ja. Aber sind Spuren auch gleich Beweise? Jeder weiß, dass der Fingerabdruck auf einer Mordwaffe nur beweist, dass die entsprechende Person die Mordwaffe in der Hand gehabt hat, nicht dass diese Person auch damit getötet hat.“
„Es geht hier nicht nur um einen Fingerabdruck, es geht um eine erdrückende Beweislast gegen Ihren Klienten.“
„Erdrückend ist die Tatsache, dass Sie aus den Spuren eine Beweislast konstruieren. Nehmen wir nur Ihr Motiv. Wenn mein Mandant es auf die fünfhundert Euro abgesehen hätte, wie Sie ja behaupten, hätte es gereicht Eberhard Frenzel von hinten niederzuschlagen, ihn auszurauben und ungesehen zu verschwinden. Er hätte sich nicht die Mühe machen brauchen, sein Opfer in sein Auto zu zerren, einige Kilometer zu fahren und den Bürgermeister im Wald unter Ästen und Zweigen zu verstecken. Das ist vollkommen unverhältnismäßig. Es gibt keine Zeugen für den Tathergang. Niemand hat beobachtet, wie Andreas Kreissler den Bürgermeister niedergeschlagen und in sein Auto verstaut haben soll. Mein Mandant hätte also mit dem Geld unbeobachtet entkommen können, wenn es so gewesen sein soll, wie Sie Herr Mayer behaupten.“
„Es wurden Spuren im Auto, an der Kleidung, an der Geldbörse, im Wald gefunden. Herr Kreissler ist sehr unprofessionell vorgegangen. Er hat sich nichts dabei gedacht und er war angetrunken, das gibt er ja selbst zu.“
Martin Stocker, der Strafverteidiger hebt die Schultern kurz, als wollte er sagen: na wenn schon. Er kann Andreas Kreisslers Abneigung gegen Staatsanwalt Mayer verstehen. Dieser Mayer ist immer so verbohrt und so auffallend von sich selbst überzeugt, dass man ihm am liebsten eine reinwürgen möchte. Aber Martin Stocker lässt sich nicht provozieren, zu lange übt er diesen Beruf aus, als dass ihn so ein junger Emporkömmling aus der Ruhe bringen könnte.
„Apropos Motiv. Frau Frenzel, es tut mir leid, dass ich diese Frage stellen muss, aber ich bin hier, um die Rechte meines Mandanten zu vertreten und zu verteidigen.“ „Schon gut“, sie nickt. „Ihr Mann hat als Bürgermeister keine Feinde gehabt? Gab es da niemanden, der ein Motiv hatte, Ihren Mann – entschuldigen Sie bitte – aus dem Weg zu räumen?“
„Was soll denn das Herr Stocker, wir haben den Täter, er sitzt da, neben Ihnen auf der Anklagebank. Sie müssen jetzt keine Ermittlungsarbeit aufnehmen.“ Martin Stocker ignoriert den Staatsanwalt, er wird sich nicht auf eines dieser vom Staatsanwalt so geliebten Wortgefechte einlassen, es geht hier um die Zukunft, um das Leben eines jungen Mannes. „Ich meine, gibt es da niemanden, der ebenfalls ein Motiv, vielleicht sogar ein viel stärkeres Motiv gehabt haben könnte?“
„Als Bürgermeister wird man nicht nur von allen geliebt. Natürlich hatte mein Mann politische und wirtschaftliche Feinde. Aber die Polizei und der Staatsanwalt haben doch nachgeforscht, es konnte niemand anderes mit dem Mord an meinem Mann in Verbindung gebracht werden.“
„Aber Sie geben doch zu, dass da der eine oder andere ein viel stärkeres Motiv für die Tat haben könnte, als mein Mandant.“
Frau Frenzel schluchzt, wieder laufen Tränen über die Wangen, über das Gesicht dieser mit ihren fast fünfzig Jahren doch attraktiven Frau. „Ja, … das stimmt schon…“
„Also Herr Stocker, das bringt doch nichts. Sehen Sie nicht, wie sehr Frau Frenzel das alles mitnimmt? Es ist ja rührend, wie Sie sich für Ihren Mandanten einsetzen und hier alles versuchen um von ihm abzulenken. Aber glauben Sie mir, das einzige, was Sie für ihn tun können ist, ihn zu einem Geständnis zu bewegen.“
Der Richter Adrian Gleichmann wirft dem Staatsanwalt einen skeptischen Blick zu, mit dem er hofft, Hans Mayer ermahnen zu können. Auch ihn ärgert die aufbrausende ungeduldige Art des jungen Staatsanwaltes ein wenig.
Der Strafverteidiger erinnert sich, dass Andreas ihm seinen Wunschtraum offenbart hat, in dem der Staatsanwalt plötzlich verstummen würde. Genau das wünschte er sich jetzt auch.
„Dann hebe ich also noch einmal hervor, dass die Frau des Opfers einräumt, dass mehrere dem Opfer bekannte Personen Motive hatten um diese Tat, die wir heute verhandeln zu begehen.“
„Motive ja. Wissen Sie es gab einige Probleme in den letzten drei Jahren und heftige Auseinandersetzungen. Aber es gibt keine Verbindungen zu diesem Mord an meinem Mann.“
„Die ermittelnden Behörden haben keine Verbindung gefunden. Das muss nicht heißen, dass es keine Verbindung gibt.“
Der Richter beendet schließlich die Befragung der Nebenklägerin und ruft als nächste Zeugin Hannelore Kreissler, die Mutter des Angeklagten auf.
Diese Zeugenbefragung erweist sich als sehr schwierig. Hannelore Kreissler ist der ganzen Situation nicht gewachsen. Sie hält die Belastung, diesen Druck kaum aus. Sie weint und jammert ununterbrochen, als sie sagt, dass sie schon ihren Mann vor zwölf Jahren durch einen schrecklichen Unfall verloren hat und jetzt nicht auch noch ihren Sohn verlieren will. „Bitte nehmen Sie mir meinen Andreas nicht weg, er ist doch das Einzige, was ich habe. Er ist ein guter und lieber Junge. Er hat niemanden umgebracht, bitte, das müssen Sie mir glauben. Ich flehe Sie an. Er ist unschuldig. Verurteilen Sie ihn nicht.“ Und wieder Tränen und Jammern: „Was soll ich denn ohne ihn machen. Er kann nicht ins Gefängnis. Er hält es in diesen engen Räumen doch nicht aus. Mein Andreas geht dort kaputt.“
Mit ruhiger und fester Stimme unterbricht der Richter das Wehklagen: „Frau Kreissler, ich kann mir vorstellen, wie schwer das heute alles für Sie ist. Aber Sie sind hier als Zeugin vorgeladen und sind somit aufgefordert, zur Aufklärung beizutragen. Also was können Sie uns über die Geschehnisse am dreißigsten April sagen?“.
Die Mutter schaut zu ihrem Sohn, doch Andreas blickt nur vor sich hin, auf den Boden gerichtet. Es ist ihm zu viel geworden, das Gejammer seiner Mutter will und kann er nicht mehr hören.
Die Mutter berichtet schließlich, dass Andreas typischerweise am Nachmittag von seinen Freunden abgeholt worden war, sie hatten vorgehabt, nach Neudorf in die Billardhalle zum Billardspielen zu fahren und dann später in ihrer Stammkneipe „Zum Ochsen“ einzukehren. Mehr kann sie dazu nicht sagen. Sie hat ein wenig Fernsehen geguckt und ist dann nach Einnahme einer Schlaftablette, da sie seit dem Tod ihres Mannes Schlafstörungen hat, ins Bett gegangen. Etwa halb vier hörte sie dann, dass Andreas wieder zu Hause war. Sie fand am nächsten Morgen die stark verschmutzte Kleidung ihres Sohnes und machte sich sofort daran, die Klamotten zu waschen. Später gegen Mittag fragte sie Andreas, ob er nicht langsam aufstehen und etwas essen wollte. Aber der hatte einen Kater, starke unerträgliche Kopfschmerzen, Gliederschmerzen und ihm war übel. Der Staatsanwalt will wissen, welcher Art die Kleidung verschmutzt war. Die Mutter erklärt, dass ihr Grasflecken aufgefallen waren. Der Staatsanwalt hakt nach und will wissen, ob ihr Blutflecken aufgefallen sind. Die Mutter beginnt wieder zu weinen und schüttelt den Kopf: „Nein, ich habe keine Blutflecken gesehen. Mein Junge hat nichts Unrechtes gemacht. Er ist kein Mörder. Bitte Herr Richter, das dürfen Sie mir nicht antun.“
Der Staatsanwalt stellt fest, dass Blutspuren auf dem Hemd und auf der Hose nachweisbar waren.
Der Strafverteidiger berichtigt: „Diese Blutspuren sind jedoch weder dem Opfer noch sonst irgendwie zuzuordnen. Es ist noch nicht einmal feststellbar, ob sie nicht ohnehin älteren Datums sind.“
Der Staatsanwalt kontert: „Dafür sind die Blutspuren auf dem Baseballschläger Ihres Mandanten, also auf der Mordwaffe eindeutig dem Opfer Eberhard Frenzel zuzuordnen und die Fingerabdrücke darauf stammen von dem Angeklagten.“
Während der Richter das angesprochene Beweisstück in die Verhandlung einfügt, entgegnet der Verteidiger: „Laut Obduktion ist der Herr Frenzel durch Unterkühlung verstorben, also handelt es sich bei dem Baseballschläger nicht um die Mordwaffe.“
Andreas bestreitet zum wiederholten Male, dass dieser Baseballschläger ihm gehört. Er hat nie einen solchen Baseballschläger besessen, er hatte überhaupt nie einen Baseballschläger. Auch die Mutter bestätigt das.
„Wie kommt dieser Baseballschläger dann mit Ihren Fingerabdrücken in Ihr Auto?“ Die Stimme des Staatsanwaltes wird lauter und lässt Andreas zusammenzucken. Und wieder dieser stechende Blick, der Andreas ununterbrochen aufzufordern scheint, endlich diese Tat zu gestehen. Andreas soll endlich einsehen, dass alles Leugnen zwecklos ist. Vielleicht ist es das ja auch. Andreas kann nicht sagen, wie dieser Baseballschläger in sein Auto kam und wie seine Fingerabdrücke darauf kommen konnten. Was für die Anklage ein eindeutiger Schuldbeweis ist, wird für Andreas wohl immer eine Frage bleiben, solange sich keine Erinnerung an diese Nacht einstellt. Selbst der Hypnotiseur, zu dem Andreas auf Anraten Kais gegangen war, konnte Andreas nicht helfen, eine Erinnerung an die Geschehnisse in der Walpurgisnacht aufzurufen. Es blieb bei einer Lücke und es wird wohl auch immer dabei bleiben. Und deshalb denkt Andreas, dass er es nicht gewesen sein kann, denn wie soll er diese Tat begangen haben, wenn er doch ohne Bewusstsein war. Oder war es so, wie der vom Staatsanwalt bestellte Psychologe vermutet, dass dieses Erlebnis für Andreas so gewaltig war, dass er es aus seiner Erinnerung mithilfe von Alkohol gelöscht haben könnte?
„Der Baseballschläger ist ein Beweisstück, das, von dem wahren Täter oder den wahren Tätern präpariert, hinterlegt wurde, um die Ermittler direkt auf die falsch Spur, nämlich zu meinem Mandanten zu lenken. Warum sollte mein Mandant dieses Beweisstück extra für die Ermittlungen im Kofferraum seines Autos liegen lassen, anstatt ihn irgendwo verschwinden zu lassen.
Seht im Kofferraum meines Autos nach, da hab ich den Beweis für meine Tat hinterlegt? Das ergibt doch keinen Sinn. Dann hätte er auch die fünfhundert Euro, die Sie ihm als Motiv unterstellen nicht gebraucht, also das ihm vorgeworfene Verbrechen gar nicht begehen müssen.“
„Der Baseballschläger ist eindeutig die Waffe, mit der der Schädel des Bürgermeisters zertrümmert worden ist, wie das Gutachten der KTU belegt und es sind nur die Fingerabdrücke des Mandanten darauf zu finden.“ Der Staatsanwalt fordert noch einmal die Mutter auf genau zu überlegen, ob der Baseballschläger nicht doch ihrem Sohn gehören könnte. Die verneint weinend.
„Außerdem haben wir Blut des Opfers im Kofferraum Ihres Wagens gefunden, Herr Kreissler, und Faserspuren, die von der Kleidung Ihres Opfers stammen, konnten ebenfalls in ihrem Auto sichergestellt werden. Das Auto konnte Ihre Mutter nicht so schnell säubern, wie Ihr Hemd und Ihre Hose. Wie wollen Sie das erklären?“
Andreas kann dazu nichts sagen. Ohnehin hatte sein Verteidiger vorher mit ihm ausgemacht, dass er nach seiner Befragung durch den Richter das Antworten ihm überlassen soll. In den Gesprächen, die der Verteidiger vorher mit Andreas geführt hatte, war deutlich die Macht zu spüren, die der Staatsanwalt über Andreas hat. Andreas könnte sich durch den Staatsanwalt zu Äußerungen hinreißen lassen, die ihm schaden würden. So schwer es Andreas auch fällt, er versucht, ruhig zu bleiben und seinen Strafverteidiger agieren zu lassen.
„Diese Spuren beweisen, dass das Opfer in dem Auto meines Mandanten transportiert worden ist, aber nicht, wie das Opfer in den Kofferraum gekommen ist. Ebenso kann der wahre Täter den Bürgermeister in den Kofferraum gelegt haben, mit diesem Auto in den Wald gefahren sein, wo ja auch eindeutig Reifenspuren des Autos meines Mandanten gefunden worden sind.“
„Es gibt aber keinen Hinweis darauf, dass irgendjemand anderes als Ihr Mandant mit diesem Auto unterwegs war.“
„Mein Mandant kann sich aber an nichts von dieser Nacht erinnern. Er ist sich sicher, dass er in dieser Nacht nicht mit seinem Auto gefahren sein kann. Er war dazu gar nicht in der Lage.“
Der Staatsanwalt schmettert diesen Einwand vehement nieder. Er fragt stattdessen die Mutter, ob ihr außer der verschmutzten Kleidung sonst noch etwas aufgefallen war. Die Mutter wusste nichts weiter zu berichten. Auf die Frage nach dem Verhalten ihres Sohnes konnte sie nur antworten, dass ihr nichts besonderes aufgefallen sei, wie meistens nach einer Tour mit seinen Kumpels hatte Andreas lange geschlafen war erst gegen dreizehn Uhr aufgestanden und hatte Kopfschmerzen, aber auch das war eher normal, genauso, wie seine Übelkeit. Er konnte an diesem Tag nichts zu Mittag essen, weil ihm übel war.
Nachdem der Richter die Mutter als Zeugin entlassen hat, beginnt sie erneut zu weinen. Sie sieht zu Andreas rüber, dann bewegt sie sich zum Richter zu: „Bitte Herr Richter, mein Sohn ist unschuldig, Sie müssen mir glauben, er hat nichts Unrechtes gemacht, Sie dürfen ihn nicht verurteilen.“
Der Richter bedeutet der Mutter, Platz zu nehmen und sich zu beruhigen, damit die Verhandlung fortgesetzt werden kann. Da bekommt die Mutter erneut einen Heulkrampf.
Andreas ärgert sich über die heulende Mutter. Sie tut ihm leid, aber er kennt sie fast nur heulend, solange er sich zurückerinnert, zumindest seit dem Tod des Vaters, und er will sie so nicht mehr erleben. Andreas wollte, dass seine Mutter auch lachen kann, er wollte, dass sie stolz auf ihren Sohn sein kann. Doch es hat alles nicht so geklappt, wie er es wollte, er konnte sich in der Schulzeit nie dazu aufraffen, richtig zu lernen, obwohl es ihm nicht schwer gefallen wäre. So hat er nur einen sehr mittelmäßigen Schulabschluss hinbekommen. Die Mutter, so glaubt er, hat immer gehofft, dass ihr Sohn den Ehrgeiz seines Vaters geerbt hat. Doch Andreas musste sie da enttäuschen, ehrgeizig und zielstrebig ist er nicht, vielleicht wäre es anders gewesen, wenn der Vater noch gelebt hätte. So war Andreas seit seinem zehnten Lebensjahr ohne Vater, dafür mit einer sich um das leibliche Wohl des Jungen sorgenden jedoch ständig weinenden Mutter aufgewachsen.
Die Mutter wird auf ihren Platz begleitet, wobei ihr ihre Schwester hilft. Der Richter fragt, ob es so geht. Sie nickt und fängt wieder mit dem leisen kaum hörbaren Wimmern an, das hin und wieder durch ein Schluchzen unterbrochen wird.
Der Wirt des „Ochsen“ Richard Mendel wird als nächster Zeuge vernommen, er gibt an, dass Andreas mit seinen Kumpels an jenem Abend im Wirtshaus „Ochsen“ eingekehrt war, nicht außergewöhnlich viel getrunken hatte, bevor er plötzlich verschwunden war. Der Wirt kann sich nicht an den genauen Zeitpunkt erinnern, aber es muss zwischen dreiundzwanzig und null Uhr gewesen sein. „Ich weiß nicht, wann genau und wie er gegangen ist. Ich habe ihn dann einfach nicht mehr gesehen. Seine Freunde waren noch länger da, so bis etwa drei Uhr.“ Zwischendurch hatten sich noch ein paar andere, ihm unbekannte Jugendliche und zwei Männer zu den vier Stammgästen gesellt. Mehr konnte der Wirt nicht aussagen.
Auch die beiden Freunde Sven Dreher und Georg Kaltenbacher können nichts anderes aussagen, es war alles normal, einfach so wie immer, bis auf dass Andreas an jenem Abend verhältnismäßig früh das Wirtshaus verlassen hat. Auch sie können sich nicht mehr daran erinnern, wann genau das war. Es war ihnen an Andreas´ Verhalten auch nichts Besonderes aufgefallen.
Roman Simkowski, der dritte Freund wirkt unkonzentriert und nervös. Andreas wundert sich, dass gerade Roman, der coole Roman im Gerichtssaal einen gehetzten Eindruck macht. Roman lässt sich eigentlich nie etwas anmerken, bleibt immer gelassen, egal, was kommen mag. Und heute redet er schnell, abgehackt, seine Stimme klingt höher als sonst, sein Blick wirkt hektisch, mit den Fingern nestelt er die ganze Zeit über am Hemdensaum. Andreas hat Roman seit seiner Verhaftung nicht mehr gesehen, überhaupt wurde Andreas während der Untersuchungshaft nur von seiner Mutter, Tante Ulla und von Kai besucht. Roman sagt, dass Andreas sich plötzlich merkwürdig verhalten hat, sich dann in sein Auto gesetzt hat und ohne sich zu verabschieden losgefahren ist.
„Was meinen Sie mit merkwürdig verhalten?“ fragt der Richter nach. Roman fährt sich mit den Fingerspitzen unruhig durchs Haar, er überlegt kurz und antwortet schließlich: „Er hat irgendwas von Kopfschmerzen und Schwindel gesagt und er hat dabei so gelallt, so als wenn er besoffen wär, er hat ja auch viel getrunken… aber so viel war´s auch wieder nicht.“
Der Richter hakt nach: „Und Sie haben gesehen, dass Andreas Kreissler mit seinem Auto fortgefahren ist?“ „Ja.“ „War er allein in seinem Auto?“ „Ja, ich glaub schon.“ „Glauben Sie oder wissen Sie?“ „Also er ist allein eigestiegen und dann gleich losgefahren, wenn da niemand dringesessen hat, war er allein.“ „Waren Sie der einzige, der Andreas wegfahren sehen hat?“ „Ja, ich bin mit ihm rausgegangen und hab noch gefragt ob er wirklich schon gehen will. Der geht sonst nie so früh.“
Wieder die schmetternde Stimme des Staatsanwaltes, die Andreas eins ums andere mal zusammenschrecken lässt: „Der Angeklagte behauptet, dass er unmöglich fahrtauglich gewesen sein kann und dass er sich nicht erklären kann, wie er nach Hause gekommen ist. Sind Sie sich sicher, dass Herr Kreissler das Auto selbst gesteuert hat?“ Roman zuckt zusammen, blickt irritiert zum Staatsanwalt. Der Staatsanwalt verunsichert ihn noch mehr. Roman ruckt unruhig auf seinem Stuhl hin und her, blickt nach unten, dann auf seine Finger, dann wieder zum Staatsanwalt Mayer. Andreas schießt plötzlich der Gedanke durch den Kopf, dass Romans Nervosität daher kommen könnte, weil er nicht die Wahrheit sagt. Wenn er wirklich der einzige war, der Andreas fortfahren sehen hat, dann weiß er etwas, was sonst keiner hier weiß. „Roman, sag die Wahrheit. Wie bin ich von dort weg gekommen? Ich konnte doch überhaupt nicht mehr fahren.“ Der strenge Blick des Richters trifft auf Andreas und seinen Strafverteidiger. Martin Stocker nickt ihm zu, beruhigt Andreas und sagt leise zu ihm, dass er nicht auf den Zeugen einreden soll, er wollte doch das Reden seinem Verteidiger überlassen. Andreas ist aufgewühlt, zum ersten Mal glaubt er zu erkennen, dass da jemand etwas weiß, das ihn entlasten könnte. Während dessen ruckt Roman weiter unruhig auf seinem Stuhl hin und her, greift mit seinen Fingern nach einem imaginären Gegenstand, blickt nervös abwechselnd zum Richter und zu Andreas.
„Herr Simkowski, Sie wissen, dass Sie hier die Wahrheit sagen müssen und nichts verschweigen dürfen. Eine Falschaussage vor dem Gericht kann zu einer Freiheitsstrafe führen.“ Der Richter spricht mit ruhiger Stimme in einer angenehmen Stimmhöhe. Er deutet die Unruhe des Zeugen ähnlich wie Andreas Kreissler: „Was belastet Sie?“ Schweiß steht auf der Stirn des Zeugen. Roman zappelt jetzt nicht nur mit den Fingern, er wippt auch mit den Beinen, sein ganzer Körper wird von der Unruhe ergriffen, es sieht so aus als würde er zittern. „Geht es Ihnen nicht gut?“ Roman schluckt und schluckt wieder, schüttelt den Kopf, setzt an zu sprechen aber schluckt wieder. Es sieht so aus, als würde er die Worte, die er zweifellos sagen wollte einfach herunterschlucken. Er stammelt: „Ja … Nein…“ Der Richter winkt den Gerichtsdiener zu Roman. Der erreicht den jungen Mann kurz bevor dieser beinahe vom Stuhl herunterrutscht.
Die Verhandlung wird unterbrochen.
„Der Zeuge Roman Simkowski fühlt sich momentan gesundheitlich nicht in der Lage seine Zeugenaussage zu machen. Er befindet sich aktuell nach einem Kreislaufzusammenbruch im Krankenhaus. Ich schlage vor wir machen weiter mit der Vernehmung des Zeugen Erwin Nehmer.“
Ein großer schwergewichtiger und gemütlich wirkender Mann betritt den Saal. Erwin Nehmer ist der Besitzer des Handyshops NTS (Nehmers Telefon Service). Bei ihm hatte Andreas genau vierhundertneunundachtzig Euro Schulden, nicht nur vierhundertfünfzig, wie schon behauptet wurde. Am Sonntag, den zweiten Mai, klingelte Andreas bei Erwin Nehmer und gab ihm den geschuldeten Betrag. Der Staatsanwalt will wissen, warum der Angeklagte ausgerechnet am Sonntag die Schulden bezahlen wollte und ob das normal sei. Erwin Nehmer lässt sich nicht durch den leicht aggressiven Unterton, der in der Stimme des Staatsanwaltes mitschwingt, nicht aus der Ruhe bringen, er erklärt, dass er Andreas Kreissler schon längere Zeit darum gebeten hatte, die Schulden zu bezahlen. Da er den Jungen schon von klein auf kennt, war es nichts Außergewöhnliches, dass Andreas das Geld an einem Sonntag zu ihm nach Hause gebracht hat. Der Staatsanwalt sagt, dass es sich bei dem Geld um das Geld des Bürgermeisters, welches Andreas Kreissler als Raubbeute an sich genommen hatte, handeln müsste.
„Davon weiß ich nichts“ erwiderte der Handyshop- Besitzer ruhig. Der Verteidiger Martin Stocker unterbricht: „Das ist eine haltlose Behauptung von Ihnen, Herr Mayer. Es ist nicht nachweisbar, dass es sich bei dem Geld um das Geld des Bürgermeisters handelte. Im Übrigen hat Andreas Kreissler bereits erklärt, dass er dieses Geld von Kai Neumann, der das auch nachher als Zeuge bestätigen wird, bekommen hat.“
Höhnisch kontert der Staatsanwalt: „Ach, welch ein Zufall. Der Zeuge Neumann borgt dem Angeklagten Geld, damit dieser seine Schulden bezahlen kann. Der Angeklagte bringt nach dem Überfall auf den Bürgermeister zufällig die fast fünfhundert Euro dem Zeugen Erwin Nehmer… Am Sonntag. Da sind sogar noch ein paar Euro übrig geblieben.“ Andreas weiß schon, was jetzt kommt, der Staatsanwalt wiederholt sich nicht zum ersten Mal: „Ich werde Ihnen sagen, wie es gewesen ist. Sie hatten Druck wegen dieser Schulden. Plötzlich auf dem Weg nach Hause sehen Sie, wie das Opfer Eberhard Frenzel am Automaten in Ihrer Straße Geld abholt. Sie ergreifen die Chance und Ihren Baseballschläger…“ Andreas ist wütend, will gerade dazwischenrufen: ich habe gar keinen Baseballschläger, doch sein Verteidiger hält ihn davon ab. „…schlagen mehrere Male besonders auf den Kopf Ihres Opfers ein, vermuten, dass der Mann tot ist, verstecken ihn, zugegeben etwas unprofessionell im Wald und nehmen das Geld an sich, mit dem Sie dann am darauffolgenden Sonntag Ihre Schulden bei Erwin Nehmer begleichen.“ Der Verteidiger versucht Andreas zu beruhigen. Es ist nicht das erste Mal, dass der Staatsanwalt den Tathergang so schildert. Ironisch fügt Hans Mayer hinzu: „Ach ich vergaß, Sie können sich ja an nichts mehr erinnern. Das würde ich auch sagen. Aber es entlastet Sie nicht. Sie haben bis auf Ihren Gedächtnisverlust nichts entgegen zu setzen. Es wird wirklich langsam Zeit Herr Kreissler, die Tat zu gestehen und uns allen Zeit zu sparen.“
„Sie haben ein großes Problem Herr Mayer. Sie hören nicht richtig zu. Das Geld hat mein Mandant von Kai Neumann bekommen. Mein Mandant ist dem Bürgermeister Eberhard Frenzel weder begegnet noch hat er diesen getötet und beraubt. Er kann sich an diesen Abend nicht erinnern, weil er durch eine Substanz außer Gefecht gesetzt worden war, zum Beispiel durch die als Verwaltungsdroge bekannte und berüchtigte Substanz Prohypnol.“
„Und wie soll Andreas Kreissler diese Substanz eingenommen haben?“ „Auch das haben wir schon zum wiederholten Male erklärt. Wir gehen davon aus, dass ihm diese Droge in eines seiner Getränke getan worden war.“
„Ach ja, und warum sollte das jemand getan haben?“
„Um meinem Mandanten den Mord in die Schuhe zu schieben und falsche Beweise zu legen.“
Der Richter bittet darum, den Zeugen Erwin Nehmer entlassen zu können und ruft Kai Neumann in den Zeugenstand. Kai ist groß, durchtrainiert und wirkt deutlich jünger als achtunddreißig. Er sieht zu Andreas herüber und nickt ihm aufmunternd zu, bevor er sich setzt. Nach der Feststellung der Personalien und der Aufklärung über seine Pflichten wird Kai vom Richter gefragt, in welcher Beziehung er zu Andreas Kreissler steht.
„Ich kenne Andreas seit er acht Jahre alt ist. Ich bin ehrenamtlich Schwimmtrainer und Wasserballtrainer. Andreas trainierte in unserem Verein. Als damals sein Vater tödlich verunglückt war, kam Andreas fast jeden Tag zu uns. Er war durch den Tod seines Vaters plötzlich sehr in sich zurückgezogen und ruhig geworden, wirkte oft traurig und lustlos. Ich kümmerte mich um ihn, wollte dass er wieder Freude und Spaß am Leben hatte. Ja und so sind wir seit langem befreundet.“ Kai sieht dabei wieder zu Andreas. Der richtet seinen Blick auf den Boden. Andreas hat das Gefühl, Kai enttäuscht zu haben. Heute ist wieder einer der Tage, an denen Andreas dieses schlimme Gefühl Kai gegenüber hat. Es ist eine Mischung aus hoher Erwartung, Vertrauen einerseits und Ablehnung und Angst vor Enttäuschung andererseits. Andreas denkt, tief in der Schuld seines Freundes und Gönners zu stehen, sogar irgendwie von ihm abhängig zu sein, und das erweckt in ihm auch immer wieder Misstrauen. Kai ist wahrscheinlich jedoch der einzige, der an Andreas, an dessen Unschuld glaubt.
„Ich kenne Andreas Kreissler so gut, dass ich reinen Gewissens sagen kann, dass er diese Tat niemals begangen haben kann. Da hat jemand den Bürgermeister umgebracht und es Andreas Kreissler in die Schuhe geschoben. Andreas hätte den Mann nicht erschlagen können und schon gar nicht wegen des Geldes. Ich hatte ihm doch Geld gegeben, fünfhundert Euro, damit er seine Schulden bei NTS bezahlen kann.“
„Wann wollen Sie ihm das Geld gegeben haben?“ „Ich weiß nicht genau, vielleicht ein paar Tage vorher, ich glaub´ am Freitag vorher also so am dreiundzwanzigsten.“ „Und Sie können das beweisen.“ „Nein, ich habe Bareinnahmen und so habe ich auch immer etwas Bargeld zu Hause. Die fünfhundert Euro habe ich ihm bar gegeben.“ Der Staatsanwalt setzt Kai unter Druck: „Sie sollten Ihren Freund nicht decken, sie sollten die Wahrheit aussagen. Sie geben diesem jungen Mann doch nicht einfach so fünfhundert Euro.“
„Doch, schon.“ Kai sieht dem Staatsanwalt direkt in die Augen. Er hat damit kein Problem. Diese Augen können ihn nicht einschüchtern oder verunsichern. „Andreas hat eigentlich nie Geld. Ich helfe ihm immer mal aus. Mal gebe ich ihm Geld, mal lade ich sein Handy auf, mal bezahle ich ihm etwas oder geb was dazu, wenn er nicht genügend Geld hat.“ „Und sie bekommen das dann immer zurück.“ „Nein, nicht immer. Meistens schenk ich es ihm.“ „Ach ja“ der Staatsanwalt wird lauter, aber Kai unterbricht ihn: „diese fünfhundert Euro wollte Andreas mir zurückgeben. In kleinen Beträgen, immer mal etwas.“ Der Staatsanwalt spöttelt: „So einen Freund hätte ich auch gerne einmal, der mir immer wieder Geld zusteckt, ohne es zurück zu fordern. Ich glaube Ihnen kein Wort Herr Neumann, Sie versuchen nur, Ihrem Freund zu helfen, aber das wird Ihnen nichts nutzen. Sie können dem Angeklagten helfen, indem Sie ihn dazu bringen, endlich ein Geständnis abzulegen.“
„Ich glaube Ihnen Herr Mayer, dass sie solche Freunde nicht haben. Aber das ist kein Grund, die Ehrlichkeit des Zeugen anzuzweifeln, Sie dürfen denken, was Sie wollen aber es steht fest, dass mein Mandant die fünfhundert Euro von Kai Neumann bekommen hat.“
Kai bittet den Richter um eine Aussage unter Eid. Der Richter vereidigt Kai und nimmt diese Aussage an. Danach wird Kai Neumann als Zeuge entlassen.
Es werden Gutachten verlesen, weitere Zeugen der Ermittlung vernommen. Für Andreas Kreissler sieht es finster aus.
Das Gericht legt eine Pause ein und setzt die Fortführung der Verhandlung für den nächsten Vormittag mit Plädoyers der Anklage und der Verteidigung sowie der Urteilsfindung und Urteilsverkündigung fest.
Andreas wird wieder in seine Zelle geführt. Die Mutter fällt erneut ins Weinen und Jammern. Ihre Schwester Ulla begleitet sie nach Hause.
Kai geht auf den Parkplatz vor dem Gerichtsgebäude, will gerade in sein Auto einsteigen, als er eine ihm völlig unbekannte Stimme vernimmt: „Kai Neumann?“ Kai dreht sich um, eine kleine zierliche, nahezu unscheinbar wirkende Frau mit kurzem braunem Haar kleinem Kopf und Goldrandbrille hat ihn angesprochen. „Kennen wir uns?“ „Nein. Ich habe Sie gerade bei der Verhandlung erlebt. Sie glauben an Andreas Kreissler.“ „Ja. Er ist unschuldig.“ „Leider sind Sie wahrscheinlich der einzige, der so denkt. Ich glaube noch nicht einmal der Verteidiger ist von der Unschuld Ihres Freundes wirklich überzeugt.“ „Andreas bedeutet mir sehr viel. Ich kann die Gedanken daran, dass er unschuldig verurteilt wird, nicht ertragen, doch ich kann nichts anderes für ihn aussagen, als dass er diese fünfhundert Euro von mir bekommen hat, aber selbst meine Aussage unter Eid hat den Richter wahrscheinlich nicht überzeugt. Leider. Ich würde Andreas ein Alibi geben, wenn ich könnte.“ „Ja, das glaube ich. Sie würden viel für ihn tun.“ „Alles. Alles würde ich für Andreas tun. Wer denn sonst? Niemand glaubt an seine Unschuld. Aber er ist unschuldig. Ich weiß nicht, wer den Bürgermeister getötet hat, Andreas war es jedenfalls nicht. Er ist reingelegt worden.“ „Ich glaube, dass Ihr Freund ein Opfer ist, genauso wie der Bürgermeister.“ Kai sieht die junge Frau überrascht an. Er sieht ihr direkt in die Augen. Jetzt erst merkt er, dass diese Frau nur sehr jung wirkt, vielleicht weil sie so zierlich ist. Aber sie hat wohl auch schon einiges durchlebt. Die Frau beeindruckt ihn durch ihre Haltung, ihre Mimik, alles stimmt an ihr, sie ist fest überzeugt von dem, was sie da gerade gesagt hat. Kai, der schon seit Wochen kaum noch schlafen kann aus Sorge um Andreas, durchfährt ein angenehmes Gefühl. Die Frau tritt etwas näher zu Kai heran, reicht ihm die Hand: „Verzeihung, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Elke Hackenberger, freie Journalistin.“ „Sind Sie Gerichtsreporterin? Schreiben Sie über diesen Prozess für eine Zeitung?“ „Das hätte meine Aufgabe sein können.“ Die Journalistin sieht an Kai vorbei irgendwohin ins Leere und denkt kurz über etwas nach. Kai dreht seinen Kopf und sieht in die Richtung in die sich der Blick der Journalistin verirrt zu haben scheint. Es ist nichts Außergewöhnliches zu erkennen. „Was dann?“ Ein wenig hektisch suchen die Augen der Frau die nähere Umgebung ab. Kai spürt, dass sie aus irgendeinem Grunde versucht, sehr vorsichtig zu sein. Sie hat keine Angst, aber sie wirkt sehr wachsam und angespannt, sie wirkt auf Kai wie eine Jägerin, wie eine Katze die etwas beobachtet, was sonst keiner sieht, und im entscheidenden Augenblick blitzschnell handeln wird. „Wir müssen miteinander reden. Aber nicht hier. Wir stehen schon beinahe zu lange zusammen.“ Mit Ihrer Hand sucht sie etwas in ihrer Jackentasche. „Drehen Sie sich bitte nicht um, man beobachtet uns“, Elke Hackenberger drückt Kai einen kleinen zerknüllten Zettel in die Hand. Kai will den Zettel auseinanderfalten und lesen. Die Frau hält seine Hand zusammen: „Nein. Nicht hier. Ich muss jetzt gehen. Rufen Sie mich an. Es ist wichtig.“ Elke Hackenberger, die freie Journalistin reicht Kai zum Abschied noch einmal die Hand dreht sich um und geht quer über den Parkplatz. Sie wirkt weder hektisch noch ängstlich. Aber das hätte Kai nach diesem Gespräch von ihr erwartet. Kai dreht sich um und sucht mit seinen Augen die Umgebung ab, er will wissen, von wem sie beobachtet worden sein sollen, doch er kann nichts entdecken, so steckt er den Zettel in seine Brieftasche und begibt sich auf den Weg nach Hause.
Es duftet nach frischem Erdbeerkuchen, als Kai die Tür öffnet. „Bist Du schon zurück, Kai?“ Lena kommt aus der Küche, um ihren Freund, mit dem sie schon seit vielen Jahren zusammenlebt, zu begrüßen. „Ja.“ Kai ist sonst nicht so einsilbig. Lena ahnt sofort, dass es nicht gut für Andreas aussieht. Beide gehen ins Wohnzimmer, wo schon der Tisch liebevoll und nahezu perfekt gedeckt ist, darin ist Lena unübertroffen. Kai sitzt, am Tisch, trinkt einen Schluck Kaffee, nimmt etwas Kuchen auf die Gabel und blickt traurig vor sich hin. Lena kann die Traurigkeit und die Verzweiflung gut spüren. Sie hatte sich früher oft geärgert, weil Kai viel Zeit mit Andreas verbrachte, aber sie wusste, dass es wichtig für Kai war, sie wusste, dass Andreas für Kai wie ein kleiner Bruder oder gar wie ein Sohn zählte. „Wird er verurteilt?“ „Ja, ich denke schon“, eine Träne rollt Kai über die Wange. „Ich konnte ihm nicht helfen, ich konnte nichts mehr für ihn tun.“ „Und wenn er es doch war?“ „Nein!“ Kai steht wütend auf, geht zum Fenster und sieht nach draußen. „Er wird die Welt nicht mehr so sehen können. So wie ich sie jetzt sehe.“ „Aber die Beweise.“ „Die Beweise, die Beweise, alles fingiert“ Kai dreht sich wieder zu Lena um „versteh doch, Andreas ist kein Mörder, er hat schon Mist gebaut. Aber er ist kein Mörder. Er hatte gar keinen Grund diesen Bürgermeister zu töten.“ Kai hält inne sieht wieder nach draußen, dann als er merkt, dass Lena nichts sagen will, dreht er sich wieder ihr zu: „Wenn es nicht um den Bürgermeister ginge, dann hätten sie anders ermittelt, aber in diesem Fall, da musste ganz schnell ein Schuldiger her, nur damit sie sagen können, der Mord sei aufgeklärt.“ Lena bleibt still. Sie hatten sich auch schon wegen Andreas gestritten, aber Lena hat gelernt, diese besondere Beziehung zwischen ihrem Freund und diesem Andreas zu akzeptieren, ja sogar zu unterstützen. Kai hat sich immer viel mit seinen Schützlingen befasst, mit ihnen zusammen etwas unternommen, ihnen bei ihren Schulsachen und anderen Problemen geholfen oder auch nur geredet.
Kai setzt sich wieder zu Lena an den Tisch. „Seine Freunde haben eigentlich gegen ihn ausgesagt. Und dieser Roman, der ist auch noch umgekippt und liegt jetzt im Krankenhaus.“ „Seine Freunde? Meinst du die Saufbrüder?“ „Ja genau die. Wenn er sich doch nur nicht mit denen so eingelassen hätte. Er hat sich verändert, seit dem er mit denen zusammen ist, hat seine alten Freunde vernachlässigt und ist nur noch mit den drei Blödmännern unterwegs.“ „Also hat er sich diese Situation auch selbst zuzuschreiben.“ „Man hat immer eigene Anteile an Situationen in denen man steckt. Aber Andreas steht unter Mordanklage. Das ist etwas ganz anderes.“ „Ja, entschuldige. Aber kann er es nicht doch auch im Rausch gewesen sein?“ „Lena, bitte, wenigstens Du könntest mir glauben. Andreas ist kein Mörder.“ Kai fällt der Zettel wieder ein. Er sucht ihn aus seiner Brieftasche heraus und entfaltet ihn. „Was hast Du da?“ „Da war so eine Journalistin. Die ist nach der Verhandlung auf mich zugekommen und hat mir diesen Zettel in die Hand gedrückt: Andreas Kreissler wird der Mord angedichtet. Eberhard Frenzel hatte andere Feinde. Rufen Sie bitte diese Nummer an. Nur kurz klingeln lassen, damit ich Ihre Nummer (am besten Handy) habe. Ich melde mich dann bei Ihnen. Geben Sie diese Nummer niemandem weiter. Vernichten Sie den Zettel.“ „Was ist da los Kai? Wer ist diese Frau?“ „Freie Journalistin. Sie glaubt, dass Andreas unschuldig ist. Ich habe das Gefühl, sie weiß irgendetwas.“ „Was?“ „Etwas, was wir alle nicht wissen“, Kai speichert die Nummer in seinem Handy „noch nicht.“
Tag der Veröffentlichung: 29.03.2011
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