Cover

Von einem, der auszog, Lehrer zu werden.


Es war einmal.

Märchen fangen oft an mit: „Es war einmal“, viele von ihnen enden mit „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heut“.
Diese Geschichte beginnt mit: „Es hätte sein können“. Am Ende steht: „Und da sie nicht gestorben sind, mobben sie noch heut.“
Die Geschichte, die ich hier erzähle, hat mit Märchen gemeinsam, dass Dinge geschehen, wie sie eigentlich gar nicht geschehen können und gerade deshalb geschehen.
Lernen kann man aus Märchen viel, aber was kann man aus dieser Geschichte lernen?
Ich sitze vor einem erschreckenden Stapel von Dokumenten, die in der Lage sind, jemanden zu lähmen, jemandem Angst zu machen, jemandem den Mut zu nehmen, jemanden das Fürchten zu lehren.
Es ist kein Märchen, es passiert alles tatsächlich, hier und heute.
Im Märchen gewinnen die Guten.
Aber hier - wer gewinnt hier?
Im Märchen sind die Gegner der Guten die Bösewichter, sie sind eindeutig als Bösewichter zu erkennen und sie verlieren.
Aber hier - wer verliert hier?
Im Märchen können Menschen verzaubert, verflucht oder mit einem Bann belegt werden. Aber hier - ist es ein Fluch, der Felix´ Odyssee begründet?
Im Märchen gibt es Gut und Böse.
Aber hier - was ist hier gut, was böse?
Wir dürfen es uns nicht zu einfach machen, wir dürfen nicht voreilig und endgültig urteilen, wir müssen bereit sein, einmal gefällte Urteile immer wieder zu überprüfen. Wer von uns glaubt, unfehlbar zu sein?
Wer sind wir überhaupt, dass wir glauben in der Position zu sein, Urteile fällen zu dürfen?
Wir teilen die Welt in Gut und Böse ein, wir richten einander. Woher nehmen wir dazu das Recht?
Wir machen uns selbst zu Opfern, wenn wir andere Opfer fordern. Wir sind Opfer und Täter in einer Person.

Vergessen wir Hass und Neid, Konkurrenzdenken und eifriges Anhäufen von materiellen Gütern, dann werden Unmut und Angst von uns weichen. Wir können uns erheben – über uns, über niedere Instinkte, nicht über andere Menschen.
Lernen wir Vergebung, können wir uns vom Kreislauf des Hasses distanzieren.
Beginnen wir endlich, klar zu sehen, mit Liebe zu leben, mit Liebe zu denken, zu fühlen und zu handeln, dann werden wir glücklich und erfüllt leben können. Wir werden leben können ohne Reue, ohne Missmut, wir werden frei sein können davon, anderen wehzutun.
Wer Hass sät, wird Hass ernten.
Wer die bedingungslose Liebe in sich fühlen kann wird über dem Hass stehen.


Felix

Felix ist von einem liebenswerten kleinen, etwas unglücklich wirkenden Buben zu einem stattlichen, durchaus attraktiven Mann herangewachsen. Er mag nach Außen etwas schroff und kühl wirken, ist ein wenig steif, geht nicht einfach so auf Leute zu. In seinem Inneren ist er sensibel und wie jeder Mensch zerbrechlich.
Felix ist groß, schlank, hat breite Schultern, kräftige Arme, eine muskulöse athletische Figur, sein dichtes in der Sonne schwarz glänzendes Haar, welches sich manchmal schwer bändigen lässt, umrahmt ein schmales Gesicht, seine dunkelbraunen Augen sind warm und freundlich, und sie leuchten, wenn er lacht, es ist ein liebenswürdiges gewinnendes offenes Lachen.


(...)

Die Wahl


So kam es also, dass Felix immer noch keinen Plan für die Zukunft hatte. Jeden handwerklichen Beruf könnte er erlernen, aber das war zu einfach und das Abitur sollte nicht umsonst gewesen sein.
„Felix, warum wirst du nicht Kfz-Mechaniker? Autos interessieren dich, du baust gern daran herum“, da hatte seine Mutter recht.
An einem ruhigen Nachmittag saß ich am Computer, als ich durch das weit geöffnete Fenster ein kommendes Auto wahrnahm, das sehr laut war und in einer großen Dampfwolke auf unsere Garageneinfahrt zufuhr. Felix stieg aus seinem Astra aus und war mitten in dem Dampf kaum zu sehen.
„Was hast du gemacht? Versuchst du, dein Auto zu kochen? Ist es bald gar?“, ich musste lachen, obwohl die Lage ziemlich ernst aussah.
„Ich hatte einen Auffahrunfall auf der Autobahn und dabei ist wahrscheinlich der Kühler kaputt gegangen.“
„Oje, ist dir etwas passiert?“ Felix verneinte. Ich ging nach draußen, betrachtete Felix und das Auto: „Und jetzt hast du noch deinen Motor heißgefahren und hingerichtet!“
„Sieht so aus.“
„Felix, warum hast du mich denn nicht angerufen, ich hätte dich doch abgeschleppt. Jetzt ist der Schaden mit Sicherheit viel größer!“
Felix blickte auf das Auto und nickte, ich schüttelte den Kopf. Felix rief nie sofort nach Hilfe, versuchte immer zuerst alles selbst zu schaffen, inzwischen erwachsen geworden, war es sein Bestreben, zu demonstrieren, dass er auf eigenen Beinen stehen konnte. Der Karosserieschaden war kaum der Rede wert und schnell ausgeglichen, der Kühler war schnell ersetzt. Der Motor war hinüber. Das würde nun wirklich teuer werden, doch Felix gab sich nicht geschlagen, steckte nicht den Kopf in den Sand, er war einfach zu geschickt. Er hatte ein paar Tage frei und konnte diese Tage nutzen, um an seinem Auto herum zu bauen. Die Garage wurde okkupiert. Mit einem Astra- Buch, Werkzeug und dem Telefon verschanzte sich Felix in der Garage. Keiner glaubte zu Beginn wirklich an Erfolg, zu unwahrscheinlich war die Aussicht darauf, doch Felix ließ sich nicht beirren. Er zerlegte seinen Motor und begann die Ventile von Hand einzuschleifen, jedes einzelne Teil zu bearbeiten. Wir warfen hin und wieder einen neugierigen Blick in die Werkstatt, konnten uns nicht vorstellen, wie er diesen in scheinbar hunderte Einzelteile zerlegten Motor jemals wieder zusammenbauen könnte, und wenn, würde dieser Motor dann auch wirklich wieder funktionieren? Felix ging immer wieder zur Opelwerkstatt oder telefonierte mit den Mechanikern dort. Die gaben ihm zwar Auskünfte, doch rieten sie ihm eins ums andere mal ab, sagten auch, man habe dazu Maschinen, das würde von Hand nicht gehen, das könne nie funktionieren.
Nach einigen Tagen war das Werk vollbracht, Felix hatte seinen Motor wieder zusammengebaut, kein Teil war übrig geblieben, er führte sein Auto in der Opelwerkstatt vor und obwohl sie es dort immer noch nicht glauben wollten, der Astra war wieder voll fahrfähig, die Einzelteile von Hand beinahe genauer als mit der Maschine wieder ihrer Funktionstüchtigkeit zugehführt, der Motor war absolut perfekt zusammengebaut. Sie staunten und wunderten sich. Auch wir konnten es kaum glauben, obwohl wir schon vorher durch einige solcher kleinen Wunder, mit denen uns Felix immer wieder überrascht hatte, auf so etwas besser vorbereitet waren.
Also warum sollte er nicht Kfz- Mechaniker werden, offensichtlich hatte Felix doch ein großes Talent, er würde einen Beruf ausüben, in dem er perfekte Arbeit abliefern könnte, und er hatte Spaß daran, an Autos herumzubasteln. „Nein, hab ich nicht. Nur wenn es um mein eigenes Auto oder um eins von euren Autos geht. Ich will mich nicht den ganzen Tag für andere Leute dreckig machen, unter Autos herumkriechen, gekrümmt, schmutzig und ölverschmiert nach Hause kommen. Das stelle ich mir nicht für mein Leben vor. Man verdient bestimmt auch viel zu wenig. Und ich kann das ja nebenbei immer noch machen.“ Da hatte er durchaus recht, warum einen Beruf erlernen, den er eigentlich schon ausübte. Er hatte den Mechatronikern bis hin zum Meister etwas vorgeführt, was diese mit ihrer Ausbildung und ihrer Berufserfahrung nicht für möglich gehalten hatten.

Felix bewegte sich gern, wie sah es also mit einem Beruf in Richtung Sport aus?
Sport oder Sportpädagogik. Er wäre viel in Bewegung, hätte ein interessantes Betätigungsfeld und würde vielleicht auch nicht schlecht verdienen.
Also besorgte er sich Bedingungen und den Termin für die Eignungsprüfung. Nach kurzer Zeit des Vorbereitungstrainings war er frustriert, weil er glaubte, die Anforderungen nicht erfüllen zu können. Wir sprachen ihm Mut zu und er sollte eben alles noch mehrmals probieren und immer weiter trainieren.
„Felix, wie oft hast du jetzt schon versucht, diese Anforderung beim Weitsprung zu erfüllen?“ Resignierend antwortete er: „schon mindestens zehnmal, es fehlen aber immer noch ein paar Zentimeter.“
„So? Versuche es weiter. Wenn du es fünfhundertmal versucht hast und immer noch nicht die Marke erreichst, kannst du ja zum Rumjammern wiederkommen“, ich lächelte, klopfte ihm auf die Schulter und fügte noch hinzu: „andere trainieren Jahre.“
Er beherzigte meinen Rat, trainierte in den verbleibenden Tagen hart und er schaffte die Anforderungen und die Eignungsprüfung mit einem durch einen Bänderriss angeschlagenen Bein. Ein Studienplatz wurde ihm zugesichert, wovon er zunächst niemandem etwas erzählte.
Aber da gab es einen weiteren Sportunfall mit der Folge eines zweiten Bänderrisses. Der Arzt hätte ihm geraten, vom Sportstudium Abstand zu nehmen, die Begründung: er würde immer wieder für ein Semester ausfallen und so ein sehr lang ausgedehntes Studium haben, denn seine Bänder seien eine absolute Schwachstelle.
Den zugesicherten Universitätsstudienplatz schlug Felix also aus, ohne weiter darüber nachzudenken, vielleicht hatte er die schriftliche Zusage auch nicht richtig gedeutet. Einige Jahre später erst entdeckte Hannah, seine Mutter, beim Durchforsten der Unterlagen ein Schreiben, in dem Felix ein Studienplatz zum Gymnasiallehrer mit Hauptfach Sport zugesichert worden war. Noch heute will sie es kaum glauben, dass Felix diese Zusage einfach so weggelegt hatte. Es hätte doch vielleicht alles anders kommen können.

Felix musste sich weiter umsehen, was er sonst machen könnte. Wie wäre es mit Musik? Er war gut ausgebildet, musikalisch talentiert, besonders rhythmisch begnadet. Also gab es die Möglichkeit, sich zu Eignungsprüfungen für ein Musikstudium vorzustellen.
Nun verhielt es sich so, dass er eben nicht mehr der blutjunge, gut formbare, willige Bewerber war, nicht so gentle wie ihn Professoren an verschiedenen Hochschulen vielleicht gern hätten. Andererseits nahm er es auch bei der Vorbereitung auf diese Prüfungen nicht gar so ernst, denn dummerweise kam in dieser Zeit ein Mädchen in sein Leben. Felix sah in ihr die erste richtige Freundin. Sie war jünger als er, und sie wollte ihn unbedingt haben. Das schmeichelte Felix, bestätigte ihn in seiner Männlichkeit, ließ ihn die Angst, eventuell doch hässlich zu sein, vergessen, und so war er drauf und dran, seiner Sabrina fast zu verfallen. Dieses Mädchen jedoch kostete die Menschen, die mit Felix engeren Kontakt hatten, aber besonders seiner Mutter, die letzten Nerven. Sabrina entwickelte eine Art Wahn, Felix vollkommen zu besitzen, zu beherrschen ihn für sich allein zu haben. Auf der einen Seite tat sie ihm gut, denn durch sie fühlte er sich endlich als ganzer Mann, andererseits versuchte sie, ihn zu organisieren, zu bestimmen, zu beeinflussen, zu verändern. Und in dem Horrorglauben, ohne seine Sabrina ginge es nicht, war Felix drauf und dran sich in diesem Mädchen vollkommen aufzugeben und alles andere zu vernachlässigen.
Sabrina war sehr ehrgeizig, ihr Haupttalent war Fleiß, damit konnte sie früh ihre Mutter und ihren Vater überflügeln. Sie suchte sich schon als Kind immer Menschen, mit denen sie sich messen konnte, wuchs in ständigem selbstgewähltem Konkurrenzkampf auf. Leider mussten sich bei ihr Gefühle immer einer strengen Diktatur der Struktur unterwerfen. Mir ist das aufgefallen beim Klavierspiel. Schnell konnte sie ein neues Stück musizieren. Neben den vielen Aufgaben spielte sie so nebenher noch ganze Songbooks von irgendwelchen Musicals durch. Wenn Sabrina den Text eines Stückes gelernt hatte, suchte sie gleich nach neuen Stücken. Dass man an der Gestaltung von Musik arbeiten kann, wollte sie nie richtig akzeptieren. Immer wieder erklärte ich ihr, wenn sie nur den Text auf das Klavier übertragen würde, wäre das nichts weiter als Schreibmaschine zu schreiben. Dass jetzt erst die eigentliche künstlerische pianistische Arbeit beginnen würde, wollte sie irgendwie nicht verstehen und annehmen. Das war ihr alles zu verwaschen, nicht greifbar. Felix dagegen war greifbar, und es lohnte sich, diesen attraktiven jungen Mann eingefangen zu haben.
Sabrina zog in Felix´ Zimmer, nahm von allem Besitz, forderte Rücksichtnahme und endlose Treue als Gegenleistung für die Struktur, die sie Felix gab. Sie nutzte Felix aus, um sich spätpubertär gegen ihre Eltern aufzubäumen, zu denen sie aber auch bald wieder zurückkehrte. Blut ist dicker als Wasser. Sie hat bei uns allen unendlich über die Verbohrtheit, Strenge und Unnachsichtigkeit ihrer Eltern gewettert. Bestrafen wollte sie ihre Eltern. Sie erzählte uns, ihr Vater hätte sich gar keine Gedanken um ihre Erziehung gemacht. Ich erklärte ihr, dass das so nicht stimmte, denn ihr Vater hatte sich sehr viel Gedanken über ihre Erziehung gemacht und hatte früher, als wir noch gute Kontakte zueinander hatten, öfters über seine Erziehungsprinzipien gesprochen. Nur hatte ich das Gefühl, dass diese Eltern über all die vielen Anregungen und Prinzipien, die sie den unterschiedlichsten Medien entnahmen, ihre Tochter selbst übersehen hatten. Sie hatten ein Bild von ihrer Tochter, das nicht der Realität entsprach, und so erzogen sie eigentlich an ihrer Tochter vorbei, die dennoch unbeirrt ihren Weg ging und geht und inzwischen mit beiden Beinen fest im Leben steht. Auch sie ist später Lehrerin geworden.
Felix war damals nicht so zielstrebig wie Sabrina, er bewarb sich zwar an verschiedenen Hochschulen für Musik, da ihm jedoch das Zusammensein mit seiner Freundin wichtiger war, nutzte er die Zeit für die Vorbereitungen nicht genug und musste erst drei Eignungsprüfungen verpatzen. Wie dem auch sei, schließlich bewarb sich Felix an der Pädagogischen Hochschule für ein Lehramtsstudium mit den Fächern Musik, Physik und Technik.
Die Eignungsprüfung für Musik schaffte Felix beim ersten Anlauf. Ein Professor hatte dort begeistert zu ihm gesagt: „Sie müssen Musiklehrer werden! Wir brauchen solche Musiklehrer!“ Das baute Felix auf, er war stolz und berichtete mit leuchtenden Augen von der bestandenen Prüfung.
Felix hatte pädagogisches Talent. Er war allerdings nicht so, wie man sich Lehrer allgemein vorstellt, er würde glücklicherweise nie ein typischer „Pauker“ werden. Er schaffte es mehr unbewusst, dass Schüler von ihm überzeugt waren, von ihm lernen wollten. Felix ist kein Mann der Worte, er hat Ausdauer und Geduld, und er hat Talent, und er kann andere an seinem Talent teilhaben lassen. Die Schüler können von ihm lernen, in dem sie gemeinsam mit ihm etwas tun. Felix versuchte, mir Tischtennis und Billard beizubringen, ich verstand sogar irgendwie alles, es überzeugte mich von seinen Fähigkeiten.
„Felix, wer so viel Geduld, Mut, Ausdauer und Liebe hat wie du, kann Lehrer werden.“
Die Betreuung einiger Schüler an meiner Musikschule brachte sein pädagogisches Talent zu Tage.
Felix´ Mutter war heilfroh, dass es endlich mit dem schon lange erwachsenen Sohn, berufstechnisch und wirtschaftlich weitergehen würde.


(...)

Eine neue Liebe

Inzwischen lief die Beziehung zu seiner Sabrina mehr und mehr aus dem Ruder. So sehr Felix auch versuchte, die Beziehung zu erhalten, denn er meinte damals, nur diese eine einzige haben zu dürfen, um nicht so zu werden, wie sein Vater, so sehr er auch in Konfliktsituationen zu seiner Freundin stand, musste er sich doch auch nach und nach dem absoluten Besitzanspruch dieses Mädchens erwehren. Felix trennte sich nach vielen Streits und vielem Hin- und- Her von ihr, was ihm nicht leicht fiel. Die Struktur, die ihm Sabrina gegeben hatte, nutzte ihm sehr viel für den Alltag, für sein Studium, außerdem wollte er eigentlich nicht viele Freundinnen „ausprobieren“. Seine Wahl hätte endgültig sein sollen. Nur war es nicht wirklich seine eigene Wahl. Er war es, der gewählt worden war. Sabrina hatte ihn bei einer Grillparty auf unserer Terrasse kennengelernt. Einige Gäste hatten sich schon eingefunden, was Felix noch nicht registriert hatte, er kam gerade aus der Dusche auf die Terrasse und hatte nur ein Handtuch um seine Hüfte gewickelt. So stand er ein wenig irritiert da in seiner ganzen Pracht, Wassertropfen glitzerten perlenartig auf seinem jugendlich männlichen, muskulösen Körper, auf dem die langsam untergehende Sonne mit Licht und Schatten spielte, die nassen Haare legten sich um sein Gesicht, seine Augen leuchteten, auf seinen Lippen war ein verschmitztes Lächeln zu sehen und es war um Sabrina geschehen. Sie hatte fortan alles daran gesetzt, Felix wiederzusehen, ihn zu erobern, sie hatte es geschafft, hergeben wollte sie ihn nicht mehr. Irgendwann hätte sie Felix die Luft zum Atmen genommen, sie hätte ihn so umsorgt, dass alle sozialen Bindungen und Beziehungen um Felix herum unter ihrer Vorherrschaft zerbrochen wären. Felix sollte nur ihr gehören. Dabei war es ihr völlig egal, dass ihre Eltern Felix nicht mochten, nicht akzeptieren wollten. Ihr Vater konnte mit Felix nichts anfangen. Außerdem war Felix in den Augen der Eltern nicht unbedingt eine „gute Partie“.


(...)


Felix wird Referendar


Das Referendariat in Hattringen lief ganz gut an. In den Klassen kam Felix mit den meisten Schülern zurecht, das Unterrichten fiel ihm nicht so schwer, wie er selbst gedacht hatte, wie wir alle gedacht hatten. Juliane, mit der er inzwischen zusammengezogen war, erzählte er abends von den Erlebnissen seines Tages. Von Juliane erfuhr ich, dass Felix sogar euphorisch von seiner Arbeit berichtete, sie hatte das Gefühl, dass er richtig glücklich war und auch nicht an seiner Entscheidung, Lehrer zu werden, zweifelte. Es machte ihm Spaß, mit den Kindern zu arbeiten. Er hätte sich sogar persönlich noch mehr eingebracht. Eine Trommelgruppe oder eine Band hätte er gern für die Realschule in Hattringen ins Leben gerufen und betreut. Wir haben darüber gesprochen, es wäre eine Bereicherung für die Schule gewesen und Felix war bereit, diese Trommelgruppe zusätzlich zu leiten. Die Rektorin stoppte ihn aber hier, für Felix vollkommen unverständlich und überraschend. Das Gymnasium nebenan habe schon eine Band und eine Trommelgruppe. Kein besonders geschicktes Argument, aber es konnte ja auch sein, dass die Rektorin damit erreichen wollte, dass sich Felix ausschließlich auf das Bestehen des zweiten Staatsexamens konzentrieren sollte.
Das war jedoch falsch gedacht.


(...)


Im Regierungspräsidium

Nach langem Überlegen war die Entscheidung getroffen, Widerspruch einzulegen, vielleicht würde es so die Möglichkeit geben, die entsprechende Stunde noch vor dem Schuljahresende vor einer anderen Prüfungskommission abzuhalten. So könnte sich bis zu den Sommerferien noch alles zum Guten wenden.
Felix legte Widerspruch ein und wurde zum Oberschulamt gebeten. Auf Felix´ Wunsch versprach ich ihm, ihn dorthin zu begleiten, denn Felix hatte schon als kleiner Junge Blockaden, die mitunter dafür sorgten, dass die Worte, die er las, in seinem Gehirn dann keinen Sinn ergaben, dass er unter Stresssituationen zu sehr selektiv hört und versteht, er also manche Dinge einfach nicht aufnimmt.
Auf dem Oberschulamt angekommen, wurde uns gleich erklärt, dass man sich an die neue Bezeichnung „Regierungspräsidium“ zu gewöhnen habe, was oberste Priorität zu haben schien, Beamten sind solche narzisstischen Aufwertungen sehr wichtig. Nachdem wir diese Lektion gelernt hatten und uns fortan im Regierungspräsidium befanden, was uns naturgemäß beruhigte, mussten wir trotz Termin lange warten. Wichtige Leute sprangen ab und zu im Flur herum. Hin und wieder sah man Besucher, die ziemlich ratlos auf der Suche nach der richtigen Tür waren. Warum wir so lange warten mussten, wurde uns nicht erklärt. Der Beamte, der uns vorher über die neue Bezeichnung seiner Arbeitsstätte aufgeklärt und uns zu warten bedeutet hatte, kam wieder auf uns zu und sagte uns, dass er sich jetzt mit dem Vorgang befassen würde, da der verantwortliche Kollege, im Moment unabkömmlich sei. Er führte uns vorbei an einigen Büros, deren Türen teils offen standen. In einem Büro sah Felix den eigentlich verantwortlichen Beamten unabkömmlicher Weise an einem Computer sitzen.
Wir wurden in ein kleines fast leeres Zimmer mit einem Tisch und ein paar Stühlen und der Akte geführt. Dieses Zimmer hatte den Charme eines Verhörzimmers. Der Beamte fragte zunächst, wer denn ich sei, und ob es unbedingt nötig sei, dass ich Felix begleitete. Wir hatten uns vorher darauf geeinigt, dass ich auf jeden Fall dabei sein würde. Der Beamte musste sich noch einmal erkundigen, aber dann ging es klar mit meiner Anwesenheit. Mit einem Lispelfehler behaftet und Schuppen, die aus seinem etwas ungepflegten Kopfhaar und aus seinem wuchtigen Vollbart rieselten, erklärte er uns betont freundlich, dass er uns die Beurteilungen nicht kopieren könne, es sei schon sehr fraglich ob ich als zweite Person Einblick haben dürfe, wir könnten die Beurteilungen nur lesen. Vielleicht müsste er für ein, zwei Minuten das Zimmer verlassen, bot er uns an, als Felix fragte, ob er die Schriftstücke denn Scannen oder fotografieren könne. Scannen würde nicht gehen, aber fotografieren wäre eventuell möglich. Nachdem er uns kurz allein gelassen hatte, lasen wir die Beurteilungen, unser Misstrauen den Prüfern gegenüber wuchs. Unleserlich dahin gekritzelt, enthielten sie keinerlei objektive Einschätzung. Wie lapidar so eine Begründung für eine nicht bestandene Prüfung aussieht! Da war nur Missachtung zu lesen, die abschätzenden Bemerkungen konnten keine tatsächliche Bewertung darstellen. Die Einschätzung war oberflächlich, Unsachlichkeit wechselte sich ab mit Schlecht - Machen und Herabsetzen der Leistung. An Felix wurde kein gutes Haar gelassen. Wenn Pädagogen, die andere Pädagogen ausbilden und auf den Weg bringen sollen, so mit den ihnen und ihrem narzisstischen Hochmut ausgelieferten jungen Menschen umgehen, ist unser Bildungswesen sehr gefährlich für unsere Lehrer und erst recht für die Schüler.
Wir sprachen mit dem Beamten über die Vorwürfe, die Unsachlichkeit der Darstellungen, über die Art und Weise, in der sich die Prüfer geäußert hatten.
Er schlug uns vor, statt Widerspruch einzulegen, vielleicht einfach die anderen Prüfungen abzuwarten. „Wenn sie nur diese eine Stunde noch einmal halten müssen, wird verlängert bis Dezember. Im Dezember haben sie dann die Prüfungsstunde. Ab Januar können sie dann eine Vertretungsstelle übernehmen. Da bekommen sie auf alle Fälle etwas. Die Kandidaten für Vertretungsstellen gehen weg wie warme Brötchen. Und ab Sommer können sie dann eine feste Stelle haben.“
Felix erklärte, dass er das Gefühl habe, gemobbt zu werden, und dass er davon ausgehen müsse, dass die anderen Prüfungen mit ebenso fadenscheinigen Begründungen als nicht bestanden gelten werden. Das glaubte der Beamte, nachdem er kurz etwas verwirrt in die Leere gestarrt hatte, sich aber schnell wieder fasste, nun nicht, das sei ein zu großer Zufall. Felix solle doch nicht so pessimistisch sein und objektiver urteilen. Aber das tat er ja im Gegensatz zu den „Kollegen“, die über ihn das Urteil gefällt hatten.
In diesem Falle müsste noch einmal das gesamte Referendariat wiederholt werden, war die Auskunft des Beamten des Regierungspräsidiums. Weitere Auskünfte konnte der Beamte nicht geben. Er erklärte uns noch das raffiniert ausgeklügelte System der Leistungsziffern und schien ziemlich stolz zu sein, dass er ein solches System durchschauen und erklären konnte, was uns natürlich sehr freute.
Vom Einreichen des Widerspruches riet er zum Abschluss des Gespräches noch einmal eindringlich ab, er hatte seine Aufgabe erfüllt.

Wie im Märchen?

Und so könnte diese Geschichte enden:
Sie lebten fortan glücklich und zufrieden. Gründeten eine Familie bekamen viele Kinder, Felix arbeitete als Lehrer und alle konnten sich mit ihm freuen. Sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende.
Doch diese Geschichte ist wahr, kein Märchen. Deshalb endet diese Geschichte so: Felix bekam eine Krankenvertretungsstelle angeboten, gleich hier bei uns in der Nähe, er würde ab Januar deutlich mehr Geld in der Hand haben als durch sein gekürztes Referendar-Gehalt. Er könnte jetzt endlich auch ein richtiges Familienleben mit eigener Wohnung und vielleicht bald einem Kind führen. Alles ist noch einmal gut gegangen. Sein Durchhaltevermögen, sein Mut, weiter zu machen sollten endlich belohnt werden.
Felix war ausgezogen, Lehrer zu werden.
Felix ist Lehrer geworden.
Aber etwas hat überlebt


Felix und der Schuldienst

Wie groß ist wohl die Wahrscheinlichkeit, dass ein ehemaliges Mobbingopfer wieder Mobbingopfer wird?
Nach allem, was Felix durchgemacht hatte, hat er die für mein Verständnis falsche Entscheidung getroffen.
Wir konnten seinen Entschluss nur akzeptierten.
„Du willst also wirklich in den öffentlichen Schuldienst! Du weißt, dass ich davon nichts halte, und ich glaube, dass du einen Fehler machst. Ob du wirklich verbeamtet wirst, und ob dies eine Sicherheit für deine Familie ist, bezweifle ich auch. Ich finde es ohnehin nicht gut, dass Lehrer Beamte sind. Du kennst meine Meinung dazu. Auch wenn du Beamter wirst, werde ich meine Meinung nicht ändern. Beamte sind Staatssklaven und gleichzeitig Schmarotzer. Sie sind der Sand im Getriebe. Das Beamtentum wird eines Tages alles in unserer Gesellschaft zum Stehen bringen. Wenn du unbedingt verbeamtet werden willst, tu das, ich werde dich auf diesem Weg nicht weiter stützen, sonst in allen Dingen“.
Es klang hart und ich begleitete Felix weiter auf dem Weg ins neue Unglück, konnte ich doch nicht ahnen, dass alles noch viel schlimmer kommen sollte. Wir wussten nicht, welche Person und welche Energie hinter all dem standen. Vielleicht hätte Felix diesem Unheil ausweichen können, aber was ihm passieren sollte, könnte ihm überall passieren, denn sein Widersacher konnte sich auf die Dynamik verlassen, die unbarmherzig funktionieren würde, egal wo. Wir würden wohl nie erfahren, wie es zu alldem gekommen war. Es war Vergangenheit. Das Leben geht weiter, es findet im Hier und Jetzt statt, die Zeit können wir weder anhalten noch zurückdrehen.
Immerhin war die Krankenvertretungsstelle, die Felix antrat, ganz in der Nähe.
Hinter vorgehaltener Hand wurde Felix auch gesagt, dass er an der Schule eine feste Anstellung bekommen könnte, er müsse sich nur rechtzeitig darum bewerben.
Wieder lief zunächst alles ganz gut. Größere Probleme schien es für Felix nicht zu geben. Oder hat er Probleme verharmlost?
Felix hatte jetzt einen Job, er konnte endlich als Lehrer arbeiten, er war verheiratet, lebte mit seiner Frau in einer kleinen Wohnung, sammelte in dieser Wohnung viele Dinge an, die er brauchen konnte und auch solche, die er nicht brauchen konnte. Und er arbeitete an der Familienplanung.
Felix übernahm unter anderem die Musik-Unterrichtsstunden des Rektors der Schule in Ammenstadt, der krankheitsbedingt für längere Zeit ausfiel und wie sich später herausstellen sollte, nur für kurze Zeit und um ein wichtiges Ziel zu erreichen, an die Schule zurückkehrte. Der Rektor dieser Schule war Herbert Morgenstern, ein alter Bekannter.
Felix war verunsichert. Morgenstern hatte ihn doch damals in seinem allerersten Blockpraktikum so auflaufen lassen und jetzt war er auch noch durch den Umstand, dass er es in der Zwischenzeit tatsächlich geschafft hatte, Rektor zu werden, in dieser Realschule in Ammenstadt sein direkter Vorgesetzter. Das war kein gutes Omen! Doch Felix wollte hier in der Gegend bleiben und so eine große Auswahl an Realschulen gab es da nicht.
Ich erkundigte mich, Herbert Morgenstern hatte Probleme mit den Hüftgelenken, es sei ihm nicht gut ergangen, er habe ein oder zwei Operationen über sich ergehen lassen müssen, es wurde gemunkelt, dass er wohl früher oder später in den Vorruhestand versetzt werden sollte. Das war wohl auch der Grund, weshalb Felix hinter vorgehaltener Hand versichert worden war, dass er diese Vertretungsstelle nach den Sommerferien sicher auch als Festanstellung bekommen könnte. Das alles beruhigte Felix, aber es blieb dennoch ein dumpfes, schlecht differenzierbares Gefühl der Unruhe zurück. Immerhin hatte Felix Herrn Morgenstern als einen unaufrichtigen Menschen in Erinnerung, der ihm hintenherum eine reingewürgt hatte, wegen dem Felix damals das erste Blockpraktikum wiederholen musste.
Idealbedingungen wird man nirgendwo finden. Der Unterricht indes schien Felix Spaß zu machen. Er kam mit den meisten Schülern gut aus, hatte viel mit Unterrichtsvorbereitungen zu tun und nahm seine Arbeit ernst. Er sammelte seine Erfahrungen und war auf dem Weg, ein guter Lehrer zu werden. Hin und wieder kam er mit Fragen in Bezug auf die Gestaltung des Musikunterrichtes zu mir und bat mich um Rat. Er wollte seinen Unterricht gut machen, er hatte einen gesunden Ehrgeiz. Vieles besprach er inzwischen auch mit seiner Frau, wobei mich manchmal die BRAVO- Gläubigkeit seiner Juliane verwunderte, irgendwie schien sie in mancher Beziehung in der Spät- BRAVO- Phase stecken geblieben zu sein. Aber so wusste sie wenigstens immer, was und wie die Jugendlichen denken sollten.
Für Felix verschwanden allmählich die Aufregung und der Ärger der vergangenen Monate immer mehr in einer verschleierten Erinnerung.

Der Widerspruch oder: Alte Bekannte bringen sich in Erinnerung


Mit einem dicken Briefumschlag katapultierte sich die Vergangenheit wieder in unser Bewusstsein und verlangte erneut von uns Aufmerksamkeit.
Felix rief mich an: „Ich habe heute Post bekommen. Von meinem Anwalt. Ein dicker Umschlag.“ Es handelte sich um Dokumente und ein Schreiben vom Regierungspräsidium, welche der Anwalt an Felix zur Kenntnisnahme weitergeleitet hatte. Felix hatte vor über einem halben Jahr Widerspruch gegen die Prüfungen in Hattringen eingelegt, darin hatte er auf Unwahrheiten, Ungereimtheiten und Versäumnisse hingewiesen. Inzwischen hatte Felix jedoch seine Prüfungen bestanden, ist mit der geringeren Entlohnung und den höheren Ausgaben klar gekommen, hatte geheiratet und arbeitet neuerdings als Krankheitsvertretung für den Musiklehrer und Rektor Herbert Morgenstern. Was sollte die Antwort auf seinen Widerspruch jetzt bringen?
„Ich glaube, ich sehe mir das Ganze nicht weiter an, macht ja eh´ keinen Sinn“ seine leicht bebende Stimme am Telefon ließ mich erkennen, dass diese Akte einige der noch frischen Wunden berührte und drohte, sie wieder aufzureißen.
„Du hast Recht, was willst du jetzt noch mit dem Widerspruch erreichen. Du könntest versuchen, den Verdienstausfall einzuklagen. Die verlorene Zeit kannst du nicht zurückbekommen. Du könntest dir Genugtuung verschaffen. Aber wozu? In diesen Schriftstücken steht wahrscheinlich viel, worüber du dich nur ärgern würdest.“
„Ja, wozu! Da kommt man sowieso nicht durch!“
„Felix, und in solch ein System willst du einsteigen! Aber vielleicht solltest du dir die Stellungnahmen doch wenigstens einmal genau durchlesen. Vielleicht geben sie uns ein paar Antworten!“
„Meinst du, das lohnt sich?“
„Das können wir vorher nicht wissen. Aber du wirst noch öfter mit Mobbing zu tun haben, da könnte es eine Rolle spielen, ob du dich mit deiner Vergangenheit auseinandergesetzt hast.“
„Okay, mag sein, dass du damit recht hast. Kommst du heute Abend? Lesen wir das ganze Zeug zusammen durch!“
Ich versprach, mit Felix gemeinsam die Akte zu studieren und fuhr noch am selben Abend zu ihm.
Wir richteten uns im Wohnzimmer der kleinen Wohnung ein, zum Leidwesen von Juliane, die wieder eine Folge ihrer Lieblingsserie verpassen würde.
Alle Personen, die Felix in seinem Widerspruch benannt hatte, waren aufgefordert worden, Stellung zu den Ausführungen in Felix´ Widerspruch zu nehmen. Die Kopien dieser Stellungnahmen lagen Felix nun vor, zusammen mit der Bitte, er möge doch seinen Widerspruch zurücknehmen, da nach Durchsicht der Stellungnahmen wohl kaum Aussicht auf Erfolg bestünde.
Felix wollte diese Stellungnahmen nicht weiter allein durchlesen er hatte sie wohl vorher etwas überflogen, war wütend geworden, wollte einerseits nichts mehr davon wissen und andererseits wollte er erneut in den Kampf ziehen. Dabei hoffte er auf meine Unterstützung.
Ich hatte mir vorgenommen, jede einzelne Stellungnahme aufmerksam durchzulesen, hoffte ich doch, Antworten zu finden, Antworten auf Fragen, die Felix in seinem Widerspruch gestellt hatte, Antworten auf Fragen, die uns in Bezug auf das Mobbing gegen Felix immer noch beschäftigten.
Aber das war nicht möglich, die Schriftstücke lasen sich wie diktierte Aussagen. Auf konkrete Vorwürfe, auf fachliche Fragen gingen die Angesprochenen nur ein, wenn sie eine in ihr Konzept passende Antwort wussten. Ansonsten ging es in diesen Schreiben nur darum, sich zu wundern, dass ein so schlechter Referendar, wie Felix ja nun mal offensichtlich in Hattringen gewesen sein musste, überhaupt versucht hatte, Lehrer zu werden. Alle bescheinigten ihm, dass er nicht nur unqualifiziert und uneinsichtig, sondern auch noch unbelehrbar sei und für den Lehrerberuf unbrauchbar. Was mir dabei auffiel war, dass alle versuchten, seine Persönlichkeit so schlecht darzustellen, dass jeder, der diese Stellungnahmen unvoreingenommen und nicht achtsam lesen würde, ein schreckliches Bild von Felix bekommen müsste. Felix´ Wissen würde für den Lehrerberuf nicht ausreichen. Seine Qualifikationen wären schlechter als mangelhaft. Da er unehrlich und uneinsichtig sei, wäre er für Schüler kein gutes Vorbild. Sein Umgang mit Schülern wäre so schlecht, dass ihm jegliche pädagogische oder erzieherische Befähigung aberkannt werden müsste. Er wäre faul, oberflächlich und in der Prognose wäre eine positive Entwicklung seiner Fähigkeiten nicht in Sicht. Vor allem aber sei er ein großer Lügner!
Das war der Kern jeder einzelnen Stellungnahme.
Felix war aufgebracht. Er war wütend und fühlte sich gleichzeitig ohnmächtig. Ich erklärte ihm, dass wohl so ziemlich jeder das so lesen musste. „Felix, hier steht: du bist einfach nur schlecht und nicht entwicklungsfähig. Du bist ein Scharlatan und ein Lügner, auf keinen Fall eine Lehrerpersönlichkeit“.
Die Feststellung, dass Felix ein Lügner sei, hatte eine sehr wichtige Bedeutung, nicht nur für das Niederschmettern seines Widerspruchs, wie wir bald erfahren sollten.
„Die Stellungnahmen sind so schlecht geschrieben, die hätte ein Achtklässler nicht schlechter schreiben können. Fachlich oberflächlich, undifferenziert, abwertend, ablehnend, diktiert“ meine erste Kurzzusammenfassung ließ in Felix Zorn und Wut aufkommen.
Wir begannen, die einzelnen Stellungnahmen differenzierter zu besprechen.
Ich las Felix aus der Stellungnahme seines Prüfers Fliege im Fach Physik vor:
„…Hier ist dem Anwärter seine nur rudimentär ausgeprägte Kompetenz nicht bewusst.“
„…Nicht das Erwähnen einer Bandbreite möglicher Sozialformen, sondern ihr lernförderndes Arrangement und ihr situativ bedingter zielorientierter Einsatz sind Kennzeichen einer ausgeprägten Handlungskompetenz. Dies kennzeichnet eine souverän agierende Lehrerpersönlichkeit. Diese Kompetenz kann ich bei Herrn M. nicht in Ansätzen erkennen.“
Felix schüttelte sich: „Was?“
Ich versuchte, zu erklären: „Intellektuell bösartig formuliert für: du hast von Nix eine Ahnung und taugst nicht als Lehrer.“
Waren die Professoren, welche Felix vorher vier Jahre lang erlebt und ihm sein erstes Staatsexamen zuerkannt hatten blind und dumm? Haben die Prüfer, welche Felix das zweite Staatsexamen nur wenige Wochen nach dem Desaster in Hattringen zuerkannt haben, nicht richtig hingesehen und zugehört?
Felix knabberte in Gedanken an der pulitzerpreisverdächtigen Formulierung, ich machte ihn auf den Finalsatz der Stellungnahme aufmerksam:
„Abschließend möchte ich noch erwähnen, dass die absolut fehlende Einsicht von Herrn M. in seine mangelhaft ausgeprägte Kompetenzen kaum Chancen der Weiterentwicklung erkennen lässt.
Das ist deine Verurteilung zum Versager. Merkwürdig, dass dir nach einer solchen Einschätzung überhaupt noch ein Versuch ermöglicht worden war.“
Es entstand eine kleine Pause, Juliane, die sich inzwischen mit ihrer Situation versöhnt hatte, huschte durch den Raum, brachte Tee und etwas zum Essen.
„Sieh dir die Stellungnahme des GEW-Vertreters Koch an! Der hat dir doch noch Mut gemacht, sich damals bei unserem Gespräch selbst über das schlechte Schulsystem beschwert. Und jetzt spricht er dir jegliches Engagement ab. Der ist einfach umgefallen.“
Felix überflog die Sätze, dann stand er auf ging im Zimmer umher: „Aber der lügt doch! Warum dürfen die einfach so lügen?“
Während Felix empört im Zimmer umherlief las ich weiter: „Hier, Herr Laux, dein Technikmentor erklärt erst einmal, dass die letzte Referendarin, für die er Mentorentätigkeit übernahm, vor sechs Jahren einen sehr guten Abschluss erzielt hatte. Das ist seine Antwort darauf, dass er ja als Lehrer ohne zweites Staatsexamen nicht als Mentor für einen Referendar, der sich aufs zweite Staatsexamen vorbereitet, agieren dürfte.“
„Ja, aber das ist so, das hat mir mein Professor an der PH bestätigt“
Ich las weiter:
„Beim 1. und 2. U-Besuch … bekam ich den U-Entwurf unmittelbar zum Beginn der Stunde zu sehen. … (Seltsame „Abstürze“ seines Computers hätten zu dieser Verspätung geführt!)
Freitag, 08.04.05 - Der Unterrichtsentwurf war wiederum nicht vollständig und rechtzeitig fertig. Er konnte also von mir nicht eingesehen werden.
Felix, weißt du noch, wie das mit diesen Entwürfen war? Ich hatte mich doch darüber gewundert, dass das Niveau so niedrig war. Dann hast du den Entwurf geändert, und wieder hat er von dir verlangt, den Entwurf im Niveau zu senken. Jetzt will er ihn plötzlich zu spät oder gar nicht gesehen haben.“
„So ein Lügner!“ Wütend lief Felix durch das Zimmer, seine Schritte wurden schneller, ich bat ihn, sich zu setzen, weil ich von dem Hinundhergelaufe ganz nervös wurde.
„Und da, auch die Physiklehrerin Frau Schuster hat sich gegen dich gestellt. Du hattest doch mit ihr gesprochen und sie hat dich extra gefragt ob dein Physik-Mentor auch genügend Versuche durchführen würde, die seien für die Prüfungsstunde wichtig. Hör zu, wie sie sich äußert: In der ersten Phase der Ausbildung hatte ich zu Herrn M. keinerlei Kontakt. Er fragte mich nie nach Hospitationsmöglichkeiten oder sonstiger Unterstützung. Auch im Lehrerzimmer suchte er keinen Erfahrungsaustausch oder ein fachliches Gespräch…“
„Was schreibt die da? Das stimmt doch nicht. Sie hat so oft mit mir gesprochen.“
Langsam konnte ich mir bildlich vorstellen, wie das tatsächlich alles abgelaufen war, Felix tat mir leid. Alle hatten sich gegen ihn gestellt. Je mehr wir hier lesen würden, umso geringer würde die Chance werden, auch einmal irgendeine positive Bemerkung zu lesen. Ich blätterte weiter und hatte nun die Stellungnahme von der Schulleiterin Frau Caspers vor mir. Was jetzt kommen würde, konnten wir uns denken:
„Unterrichtsskizzen wurden von ihm trotz Nachfrage nur teilweise angefertigt oder sie „verschwanden“ immer wieder in seinem PC“,
ich versuchte Felix etwas aufzumuntern: „die Frau Caspers hat von Herrn Laux abgeschrieben.“
Einige Sekunden später: „Sieh mal, was die Meisterin der Verleumdungen noch über dich schreibt: Die Ablehnung von Herrn M. wäre für mich natürlich sehr positiv gewesen. Ich hätte mir viel Ärger, zusätzliche zeitliche Belastungen und Verleumdungen erspart.
Sie macht sich keine Gedanken, sie braucht nicht zu befürchten, dass jemand sie enttarnt.“
„Diese Frau regt mich auf. Sie ist ja nicht nur mit mir so umgegangen. Ständig hat sie sich irgendeinen Kollegen aus dem Team rausgesucht und fertig gemacht. Und jetzt tut sie so, als wäre sie die Leidtragende.“
Ich hielt Felix, der gerade wieder aufstehen wollte, am Ärmel fest auch um zu verhindern, dass er gleich wieder im Zimmer auf und abläuft:
„Warte, es kommt noch besser: Fazit: Für sein Unvermögen sind immer alle anderen schuld, nur nicht er selbst. Alle diese Vorfälle bestätigen mich in meinem Urteil, dass Herr M. nicht für das Lehramt geeignet ist und meine Notengebung damit mehr als gerechtfertigt ist.
Was bedeutet mehr als gerechtfertigt? Oh, Felix, die Frau hat dich gefressen. Du taugst eben nicht für das Lehramt. Wie konntest du nur weiter machen und doch das zweite Staatsexamen ablegen?“
Die nächste Stellungnahme war die seines „Ich habe auch noch was anderes zu tun“-Physikmentors Bleich: „Sieh mal Felix, wie pathetisch er sich ausdrückt: „Die Behauptung, ich fühlte mich zeitweilig mit der Betreuung von Herrn M. überlastet, weise ich vorneweg auf das Schärfste zurück und da, Felix, wieder die gleiche abgesprochene Schlussfolgerung: Dass jedoch Herr M. nicht für diesen Beruf geeignet ist, zeigt das Ergebnis seiner Prüfung. Daran kann auch ein 22-seitiger Anwaltsbrief mit haarsträubenden Behauptungen, Schuldzuweisungen an alle anderen und aus dem Zusammenhang gegriffenen Zitaten nichts ändern.
Irgendwie kommt mir das vor, wie von einer dritten Person diktiert. Findest du nicht auch?“
Felix nickte nur.
Wir studierten weiter, ich fand eine neue interessante Stelle: „Wow Felix, wusstet du, dass es Herr Bleich eigentlich gut mit dir gemeint hatte?
Herr M. hat eine merkwürdige Art, die Realität zu verbiegen und andere als Sündenböcke zu stempeln. Ich wünsche ihm, dass er noch lernt, für seine Fehler selber gerade zu stehen und seinen Mitmenschen offen und vertrauensvoll zu begegnen.
Ist das nicht nett, noch ein paar Wünsche und gute Ratschläge zum Schluss?“
Der Prüfungsvorsitzende im Fach Physik Herr Christ kam auch zu dem Urteil, das der Referendar Felix vollkommen untauglich für den Lehrerberuf war. Etwas stach in dieser Stellungnahme heraus: Herr Christ hatte die Prüfungsstunde minutiös beschrieben, wohl weil er damit darauf aufmerksam machen wollte, dass er vom Fach sei und dass er sich sehr gut an Felix und dessen Unvermögen erinnern könne.
„Das Seminar redet sich auch genauso raus, wie dein Technikmentor und die Frau Caspers:
Insgesamt verwundert, dass die Rückmeldungen zur Organisation der Prüfung nach RPO II § 19 von Seiten aller Prüfungskommissionen, aber auch von den RLA des Kurses 310 sehr positiv ausfielen- und nur von Herrn M. erst zum jetzigen Zeitpunkt Kritik geäußert wird.
Was bist du nur für ein schlimmer Mensch, jetzt äußerst du an diesem tollen System Kritik! Das muss doch bestraft werden!“
Auch Herr Blum, der Vorsitzende bei der PARÜT-Prüfung war zu einer Stellungnahme angehalten worden:
„In den Ausführungen … wird der Eindruck erweckt, dass die Prüfungskommission dem Prüfling gegenüber feindselig eingestellt gewesen sei. Dem war nicht so! Die Gesprächsatmosphäre war von Seiten der Prüfer freundlich und wohlwollend. Mit ein Ziel eines solchen Kolloquiums ist es, den Prüfling mit seinen Kenntnissen und Kompetenzen „ins Spiel“ zu bringen. Im Notenfindungsgespräch wurden immer wieder positive Aspekte der Prüfungsleistung gesucht und gewürdigt.
Wie diese Würdigungen aussahen, hab ich ja bei dem Telefongespräch mit Herrn Beierle miterlebt.“
Wieder entstand eine kurze Pause. Juliane, die sich teetrinkend auf dem Sofa platziert hatte, wollte das alles nicht mehr hören, sie hatte Felix während der ganzen Zeit beobachtet und hatte Angst vor der in ihm wachsenden Aggressivität bekommen. Sie verabschiedete sich ins Schlafzimmer. Felix war das auch recht so, er fühlte sich vor den Kopf gestoßen, all die Erinnerungen an Mutlosigkeit, Verzweiflung und Aufgeben-Wollen wurden reaktiviert. Dennoch wollten wir diesen Stapel an Verleumdungen bis zum Schluss durchlesen, auch wenn diese Mut-raubende Beschäftigung einen masochistischen Charme hatte.
Herr Starke, der Lehrbeauftragte im Fach Technik wälzte alles auf Felix´ Schlampigkeit, Unzuverlässigkeit und Unpünktlichkeit ab:
„Anders als vereinbart, legte Herr M. dann aber nur eine knappe Unterrichtsskizze vor. Bis zu dem Zeitpunkt, als er nur wenige Minuten vor Beginn der Unterrichtsstunde in der Schule eintraf, war dort nicht klar, ob er überhaupt erscheinen würde. Dass Herr M. im Nachhinein die Qualität einer Ausbildung anzweifelt, die für ihn nicht mit Erfolg abgeschlossen werden konnte, ist verständlich. In der Erinnerung muss aber festgestellt werden, dass Herr M. insgesamt wenig zum Erfolg seiner eigenen Ausbildung beizutragen bereit war.“
Felix war gerade im Begriff, wieder aufzustehen, ich bat ihn, lieber sitzen zu bleiben und zuzuhören:
„Dein Musikprüfer Herr Oberstädter lässt natürlich auch kein gutes Haar an dir. Aber höre mal zu, was für schöne Visionen er entwickelt:
Der Beschwerdeführer hat richtig erkannt, dass in dieser Stunde keine richtige Gruppenarbeit erfolgt ist. Für die Schüler wäre es aber interessanter gewesen, sie hätten ihre Assoziationen, ihre Ergebnisse und ihre Empfindungen über die Musik mehr mit anderen austauschen können und sie hätten das Gefühl gehabt, dass ihre Antworten für andere wichtig sind, aufgegriffen werden, dass vielleicht sogar darüber gestritten wird. So hätten sie das Gefühl gehabt, dass sie etwas im Unterricht bewirken.
Das hört sich gut an, ich hoffe, Herr Oberstädter hat das auch so gemeint und setzt diesen Traum auch in seinem eigenen Unterricht um. Für eine dieser berüchtigten Prüfungsstunden würde dieses Vorgehen allerdings wohl eher in einer Katastrophe enden.“
Herr Oberstädter hatte im Gegensatz zu den anderen eine etwas sachlichere Stellungnahme verfasst, hatte sich nicht emotional hinreißen lassen, er hatte beschrieben, wie die Prüfung hätte ablaufen sollen, es wäre schön gewesen und hätte sicher zu einer anderen Benotung geführt. Leider lief sie aber so nicht ab. Hätte ich Herrn Beierle nicht bei dem Telefongespräch erlebt, wäre ich nahe dran gewesen, Herrn Oberstädter seine Schilderung abzunehmen. Aber was war mit Felix, hatte er alles nur erfunden? Warum hätte er das tun sollen? Er hatte zu mir Vertrauen. Er wusste, dass er mir die Dinge so erzählen konnte, wie sie geschehen waren, wie er sie erlebt hatte, denn er wusste, ich würde, egal was passiert war, auf seiner Seite bleiben. Seine Schilderung war ganz anders und sie war ehrlich.
Herr Oberstädter war geschickt darin, seine Version der Wahrheit mit sehr menschlich wirkenden Details auszuschmücken.
So stießen wir nun endlich auf die Stellungnahme seines Lehrausbilders in Musik, Herrn Beierle:
„Wenn man den Einlassungen von Herrn M. folgt, müssten in Zukunft die Schüler Lehrproben bewerten.
Was wäre daran so schlimm, wenn man die Schüler, um die es ja bei der Lehrerausbildung geht, die den Lehrer besser kennen, auch befragen würde? Wer hätte wohl davor Angst? Welcher Lehrer sollte sich vor dem Urteil der Schüler fürchten, wenn er den Schülern das Gefühl geben würde, dass sie wichtig sind, dass sie ernst genommen werden, dass sie von ihm angenommen werden, so wie es der Herr Oberstädter in seiner Stellungnahme forderte.“
Felix antwortete: „Darüber haben wir im Seminar auch einmal diskutiert, aber die Diskussion wurde vom Dozenten gleich abgewürgt.“
„Wundert´s dich?“
Felix schüttelte langsam seinen Kopf, der ziemlich schwer geworden zu sein schien und las weiter.
In einem der folgenden Abschnitte zog Herr Beierle die Statistik zu Rate, wonach von zweihundertvierundfünfzig Anwärtern in den letzten Jahren nur vier die Lehrprobe im Fach nicht bestanden hätten, der letzte vor zehn Jahren, und dass der Durchschnitt in den letzten Jahren zwischen 1,4 und 2,8 geschwankt hätte. Ich ruckelte Felix´ Arm und sagte: „Diese Statistik-Bonbons sind geeignet für eine Pressemitteilung, in welcher sich die Bildungsexperten feiern könnten, haben aber in einer solchen Stellungnahme nichts zu suchen. Allerdings zeigen sie deutlich, wie wenig wirkliche Argumente Herrn Beierle zur Verfügung stehen und wie schwach er die Überzeugungskraft seiner eigenen tatsächlichen Argumente selbst einschätzt.“
Felix stand endlich doch auf, öffnete das Fenster, denn wir brauchten frische Luft. Die Lektüre war krankmachend, ich wusste nicht, ob ich jetzt wütend oder traurig war. Felix ging es sichtlich ähnlich, er schien überhaupt nichts mehr zu verstehen. Seine wieder traurig gewordenen Augen suchten nach Hilfe.
Ich legte das letzte Blatt beiseite und fragte: „Was willst du da machen?“
Felix antwortete leicht aggressiv: „Wieder Widerspruch einlegen.“
Ich dachte kurz nach und entgegnete dann: „Felix, du hast jetzt dein zweites Staatsexamen, laut dieser Einschätzungen wäre das zwar absolut nicht möglich gewesen, aber es ist so gekommen. Es liegen Aussagen von Lehrern vor dir. Diese Lehrer sind deine zukünftigen Kollegen. Selbst die, die dir Mut gemacht hatten, sind umgefallen, die von denen du geglaubt hattest, sie könnten objektiv sein, haben sich umgedreht. Die wollen ja auch in dem System überleben, du kannst es ihnen also nicht einmal verübeln. Du siehst wieder in was für ein System du einsteigen willst, aber du willst es dennoch. Leg dieses Paket weg, du kannst nicht dagegen vorgehen, denn du müsstest gegen alle, gegen das ganze System vorgehen. Du willst doch aber in den öffentlichen Schuldienst. Du kannst nicht in ein Haus eintreten, wenn du gleichzeitig versuchst dessen Wände zum Einstürzen zu bringen.“ Es war noch einmal ein Versuch von mir, ihm nahezulegen, seine Zukunft eventuell anders zu planen. Das Studium wäre nicht umsonst gewesen, auch nicht das Referendariat, er hatte viel gelernt, es hatte eine enorme Entwicklung stattgefunden. Felix hätte nicht denken müssen: wenn ich jetzt aussteige, wäre alles umsonst gewesen.
Aber er dachte so.
Also hörte er auf meinen Rat und beruhigte sich wieder.
Uns beschäftigte trotzdem weiterhin die Frage, wie es möglich gewesen war, so viele Menschen in ihrem Urteil exakt auf den gleichen Nenner zu bringen. Wer diese Akte las, musste ein sehr schlechtes Bild von Felix bekommen. Alle Experten waren sich einig. Und vor allem legten sie Wert darauf, festzustellen, dass Felix sich nicht für den Lehrerberuf eignete, und dass es für ihn diesbezüglich nur eine negative Prognose geben könnte. Und als Leser wäre man beinahe bereit, dies zu glauben, wenn nicht alle Experten annähernd das gleiche geschrieben hätten. Felix hatte ja inzwischen die Prüfungen, geschwächt und verunsichert, aber dafür doch ganz gut bestanden! Welche Gruppe von Lehrern, Mentoren und Prüfern hatte sich geirrt, komplett geirrt?
So sehr wir es auch versuchten, befriedigende Erklärungen für das, was in Hattringen geschehen war, konnten wir damals nicht finden.

Augen zu und durch

Felix hatte also vorrübergehend seine Stelle, in der Hoffnung, dass er sich auf das Versprechen, diese Stelle fest zu bekommen, verlassen könnte. Er war frisch verheiratet, lebte mit seiner Juliane in einer kleinen Wohnung, sie richteten sich ein, so gut es eben ging. Immerhin hatte er jetzt ein regelmäßiges Einkommen. Felix war es schon immer wichtig, auf eigenen Füßen stehen zu können. Schon als Schüler, nutzte er jede Gelegenheit aus, sich nebenher auf ehrliche Wiese Geld zu verdienen, um sich Wünsche selbst und ohne betteln zu müssen oder Sponsoren zu suchen, erfüllen zu können. Er war zuverlässig und handwerklich geschickt und wurde deshalb immer gern unter anderem von Handwerkern für Hilfstätigkeiten genommen. So war es ihm später auch möglich, seinen Führerschein und sein erstes Auto mit selbst erarbeitetem Geld zu bezahlen. Finanzielle Unabhängigkeit war ihm immer wichtig.
Felix erzählte hin und wieder von seiner Arbeit, ich hatte das Gefühl, er kam ganz gut zurecht und es machte ihm Spaß. Es schien ihm zu gefallen, wie ganze Klassen funktionierten und zu dirigieren waren, wie Kinder durch seine Anleitung lernen konnten. Und es gab immer wieder Hinweise, dass er bei seinen Schülern auch beliebt war. Er strahlte für die Schüler Ruhe aus und agierte mit einer Art milder Strenge. Er ging jetzt gern zur Schule, als Schüler hatte er dieses Gefühl wohl eher sehr selten, als inzwischen Erwachsener, als Lehrer schon.
Er musste allerdings auch beginnen, die Vergangenheit unbefriedigt und ohne die richtigen Antworten abzuschließen, daran änderte auch das Paket mit den Stellungnahmen seiner Ausbilder und Kollegen aus Hattringen nichts. Felix versuchte, in der Gegenwart zu leben, zu arbeiten und nach vorn in die Zukunft zu sehen. Im Sommer würde er in den öffentlichen Dienst als Beamter übernommen werden, es hatte sich gelohnt, durchzuhalten, all die schlimmen Ereignisse zu ertragen, er war endlich Lehrer und bald würde ihm das niemand mehr streitig machen können.
Falsch gedacht.


Neues Leben

Zu seinem Geburtstag richteten Felix und Juliane eine kleine Feier aus. Das Wichtigste bei diesem Fest war die Verkündung der frohen Botschaft, dass Felix in etwa acht Monaten Vater werden würde. Felix war stolz und glücklich, seine Augen strahlten, sein muskulöser Brustkorb hob sich. Er sollte Vater werden. Wir freuten uns einerseits mit ihm, denn seine Freude, sein Glücklich-sein waren ansteckend, andererseits gab es auch ein skeptisches Gefühl. Noch war nicht ganz klar, ob er in den Schuldienst übernommen werden würde, und so ein Kind muss ja auch versorgt werden. Dass er sich seinen Lebensunterhalt mit Privatunterricht verdienen könnte, bezweifelte er selbst, das erschien ihm zu unsicher, was ja auch ein Grund für die Entscheidung war, alles daran zu setzen, endgültig in den öffentlichen Schuldienst zu kommen.
Zukunftssorgen stellten Juliane und Felix jedoch beiseite, die Freude darüber, dass die Familie wachsen würde, war groß. Sie hatten viel durchgemacht. Die Hochzeit hatte stattgefunden, als Felix gerade durch die Prüfungen gefallen war, er hatte zu diesem Zeitpunkt nicht wissen können, ob er jemals das zweite Staatsexamen bestehen würde. Aber irgendwie war er ein Kämpfer. Also, wie sollte es jetzt noch schlimmer kommen? Er hatte seine Prüfungen schließlich bestanden, arbeitete als Lehrer und immerhin hatte man ihm ja insgeheim eine Stelle zugesichert.
Es tat uns allen auch gut, ihn glücklich und zufrieden mit seinem Leben zu sehen. Er konzentrierte sich auf seine Art voll und ganz auf das zu erwartende Kind. Alles sollte perfekt werden, für das Kind sollte alles bereit sein. Auch wenn es immer wieder den Anschein erweckte, als wolle er Ratschläge seiner Mutter nicht hören und nicht annehmen, kam nach und nach der Hang zum Perfektionismus, den er wohl von seiner Mutter geerbt hatte in ihm durch. Felix war schon vor der Geburt ein stolzer Vater, er konnte die Geburt des Kindes kaum erwarten. Ich weiß nicht mehr genau, wie viele Ultraschallbilder wir zu sehen bekamen, das jeweils aktuellste trug er immer bei sich, und er wurde immer stolzer, je mehr man auf diesen Bildern erkennen konnte.
Seiner Frau indes bekam die Schwangerschaft nicht so gut. Sie musste sich ständig übergeben, was sogar soweit führte, dass sie und ihr Kind ein paar Tage im Krankenhaus künstlich ernährt werden mussten, ihr Körper schien sich gegen diese Schwangerschaft wehren zu wollen. Felix kümmerte sich rührend um seine Frau und das noch ungeborene Kind. Er war neben seiner Arbeit ständig bemüht, alles Mögliche zu tun, damit es den beiden gut geht, er hatte sogar mit dem Konrektor abgesprochen, dass er das Handy im Unterricht bei sich haben durfte, für einen eventuellen Notfall.
Natürlich blieb auch seinen Schülern Felix´ Glück nicht verborgen. Zwei von ihnen bastelten sogar eine Sonne und einen Mond aus Holz, liebevoll bemalt, für den erwarteten Nachwuchs. Auf der Rückseite standen ihre Namen. Felix zeigte mir diese Geschenke ganz stolz. Ich hatte das Gefühl, er wollte mir damit auch sagen: siehst du, es ist doch gut, dass ich Lehrer geworden bin, ich kann Lehrer sein, ich kann ein guter Lehrer sein, ich komme mit den großen Klassen klar. Und die Schüler mögen mich sogar. Deine Zweifel, ob ich all das schaffen würde, waren unbegründet.
Doch ich zweifelte. Natürlich würden die Schüler ihn mögen, nicht alle, aber viele. Dass er wirklich in den großen Klassen gut zurechtkommen würde, erschien mir irgendwie unrealistisch. Diese vielen Kinder, sie schwimmen wie kleinste Teilchen in einem großen Strom, sie haben keine andere Wahl, sie finden kaum zu einer eigenen Identität, ihre Individualität können sie nicht ausprägen. In den Schulen, in den viel zu großen Klassen entwickeln sich viele nicht nach dem Masterplan, den das Leben für sie vorgesehen hat, sie entwickeln sich zu mehr oder weniger gut funktionierenden unwichtigen Menschen. Der Bildungsplan wird ihr neuer Masterplan. Alles, was nicht passt, wird ignoriert oder weggeschnitten. Ihre Freunde werden Handys, MP3- Player, ICQ- Partner – keine realen menschlichen Wesen. Ihre Vorbilder bekommen sie in der BRAVO serviert, wenn nicht da, dann in anderen Medien. Sie identifizieren sich mit ihren Lieblingsstars aus Soaps und leben nicht ihr eigenes Leben. Bis sie mit der Schule fertig sind, lernen sie nicht, in sich hinein zu hören, die eigenen Talente und Veranlagungen zu spüren und ihre eigenen, echten Wünsche zu äußern. Alles wird fremd beeinflusst und sogar ihre Träume werden initialisiert. Ich konnte nicht glauben, dass Felix lange in diesem System glücklich bleiben und seine Arbeit, mit seinem Gewissen vereinbart, ausführen könnte.
Felix jedoch glaubte wieder an das Gute im Schulwesen, er freute sich über die Ergebnisse seiner Arbeit. Ich versuchte immer wieder, ihn auf Dinge aufmerksam zu machen, die ich für problematisch hielt, die er aber verteidigte, weil sie so vorgesehen waren. So hatte er Hefte eingesammelt, um sie zu bewerten, das müsse er machen. Die Bewertung für die Hefte sollte in die entsprechende Fachzensur mit einfließen. Ich fragte ihn, was denn jemand mit einer Zensur anfangen sollte, hinter der sich verbirgt, was der Lehrer von der Ordnung im Heft hielt. Wieso sollte eine Ordnungsnote ins Fachurteil einfließen?
Ich erinnerte Felix an seine PARÜT- Prüfung, um ihn damit zu konfrontieren, was alles geschehen kann, wenn man die Verpackung über den Inhalt stellt: „Ich weiß ja, dass dies ein gesellschaftliches Problem ist. Überall begegnen wir dem Umstand, dass die Verpackung den Wert des Inhaltes mitbestimmt.“
Felix war vielleicht schon zu viel öffentlich angestellter Lehrer. Ganz so viele unbequeme Fragen wollte er sich nun auch nicht stellen. Vorgabe war Vorgabe. Man muss ja nicht immer über alles nachdenken, alles hinterfragen, man muss tun, was man tun muss. Ich sagte ihm, dass ich es gerade bei seiner jüngeren Vergangenheit schade fände, wenn er alles so unkritisch übernähme, was das Schulwesen von ihm forderte.

(...)


Die Ermittlungsakte

Tims Vater hielt Wort, in seiner Funktion als Rechtsanwalt besorgte er die Ermittlungsakte. Wir blätterten darin, überflogen kurz die Schriftstücke. Wir waren verunsichert. Was sollten wir davon halten? Da waren die Schreiben des Rektors, die eine eindeutige Sprache aufzeigten, da waren die sogenannten Geschädigten- Vernehmungen, aus denen nicht wirklich hervorging, wer wodurch geschädigt worden sein sollte, da war der Ermittlungsbericht des Polizisten PHK Linke. Das ganze sollte den Anschein erwecken, dass es sich hier um ein Verbrechen, eine Straftat handelte, dass ordentlich und gewissenhaft ermittelt worden sei und dass der Täter, nämlich Felix einer entsprechenden Bestrafung zuzuführen sei. Die Vorwürfe waren jedoch weder genau zuzuordnen, noch bestätigten sich die Aussagen der Zehn- und Elfjährigen gegenseitig.
Wir setzten uns hin, lasen gemeinsam, und wir versuchten herauszubekommen, was wirklich geschehen sein soll.
Ein Brief des Rektors Herbert Morgenstern an das übergeordnete Schulamt war das erste Schriftstück, welches wir der Akte entnahmen. Es war an den Schulamtsdirektor Otto List gerichtet. Otto List hatte Felix gegenüber die mündliche Suspendierung durchgeführt, sich aber über die Gründe in Schweigen gehüllt mit dem Hinweis: „Das können sie dann alles schriftlich bekommen“, was jedoch bis heute nicht geschehen ist. Otto List, der Schulamtsdirektor wusste also auf jeden Fall Bescheid.
Ich nahm diese „Aktennotiz“ zur Hand, überflog sie kurz, dann wandte ich mich Felix zu: „Sieh mal, hier schreibt Herr Morgenstern: In letzter Zeit häufen sich die Beschwerden und Berichte von Schülern und Lehrern über den „Umgangston“ von Herrn M. … Welche Lehrer kann er damit gemeint haben? Und wie war dein Umgangston Felix?“
Felix wusste keine Antwort. Ich durchstöberte die Akte, um herauszufinden, welche Lehrer sich über Felix beschwert hätten. Nichts, ich fand keinen Namen, nur die Namen von Schülern, die Aussagen bei der Polizei gemacht hatten.
„Warum wurden die Lehrer nicht befragt, das wären doch glaubwürdigere Zeugen. Kinder als Zeugen sind immer schwieriger einzuschätzen. Wurden bewusst nur Elfjährige als Zeugen herangezogen? Hatte sich kein Lehrer gefunden, eine Aussage gegen dich zu machen? Die Lehrer und Mentoren in Hattringen hatten sich damals nicht gescheut, dich als Versager, Nichtskönner und Taugenichts und als Lügner hinzustellen.“
Wir lasen weiter:
„Er beschimpft Schüler/innen mit Ausdrücken der „Fäkaliensprache“ und Begriffen unterhalb der „Gürtellinie“.
Jüngste Vorfälle:
In der Klasse 6b während des Musikunterrichtes geht Herr M. durch die Schülerreihen und sieht, wie ein Mädchen auf ein Blatt eine Person malt.
Daraufhin Herr M.: „Ist das dein Freund?“, worauf das Mädchen erwidert: Aber Herr M., das sieht man doch, es soll ein Mädchen sein!“. Darauf Herr M.: „Dann bist Du ja eine Lesbe!“
Die erwähnte Klasse 6b hatte Felix zuvor nie in Musik unterrichtet, was jedoch bei den Ermittlungen keine Rolle spielen sollte und dass die Bezeichnung Lesbe heutzutage eine sexuelle strafrechtlich zu verfolgende Beleidigung sein soll, wäre uns auch neu.
Die angeblich beleidigte Schülerin wurde später nie nach dieser Situation befragt, es war wohl selbst dem Ermittler zu sehr an den Haaren herbeigezogen. Auch die anderen Schüler der Klasse müssten diese Unterhaltung, laut Herbert Morgensterns Aussage während des Unterrichtes, bestätigen können. Fanden sich dafür keine weiteren Zeugen, weil es nie passiert war? Was hatte dann die unsinnige Unterstellung in dieser Auflistung zu suchen, welches Ziel verfolgte Herbert Morgenstern damit?
„In der Klasse 8b während des Physikunterrichtes fiel schon mehrmals folgender Ausspruch zu verschiedenen Schülern (hier die wörtliche Wiedergabe eines betroffenen Schülers bei mir im Rektorat):
„Hast du Scheiße an der Spitze, warst du in der falschen Ritze“.
Diesen Spruch, der wohl eher aus der Jugendzeit des Rektors stammen dürfte, kannte Felix bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht. Ich fragte Felix: „Hast du eine Ahnung, wie Herr Morgenstern irgendeinen Schüler dazu gebracht haben könnte, so etwas auszusagen?“
Felix hätte gern gewusst, welcher Schüler das Vögelchen der Eingebung gewesen sein soll. Hatte Herr Morgenstern diesen Spruch aus seiner Jugendzeit etwa selbst diesem Schreiben beigefügt, oder hatte er sogar noch einen „betroffenen“ Schüler diesen Spruch zitieren lassen? Wie sich später herausstellte, will der Rektor diese Aussage von einem Schüler, der übrigens bis zu jenem Zeitpunkt noch als versetzungsgefährdet gegolten hatte, später jedoch wunderbarerweise versetzt werden konnte, in seinem Büro, allein und ohne Zeugen bekommen haben.
Einige Zeilen weiter zitiert Herbert Morgenstern angeblich aus einer Unterrichtsstunde in der Klasse 8b, in der unterschiedlich große Thermometer gezeigt worden seien:
„Das ist etwa Kevins Größe“, bei einem etwas kleineren Thermometer: „… und das etwa ist deine Größe“ zu einem anderen Schüler.
Felix konnte sich an diesen merkwürdigen Größenvergleich nicht erinnern. Die beiden genannten Schüler sollten im Laufe der Ermittlungen nie befragt werden.
Müllers Schlussbemerkung, polemisch und erschütternd:
Ich glaube, hier erübrigt sich ein Kommentar!
Mir verschlägt es die Sprache, wie ein Lehrer - quasi als Vorbild - so mit einer Klasse Umgangsformen pflegt.
Felix hielt dieses Blatt in den Händen und wusste nicht, was er sagen sollte. Was wurde ihm denn eigentlich vorgeworfen?
„Selbst, wenn diese Schilderungen der Wahrheit entsprächen, würde es doch keinen Grund geben, dich gleich zu suspendieren. Man hätte erst mal mit dir reden können, dich mahnen können, auf dein Vokabular besser zu achten, besser keine zweideutigen Anspielungen zu machen. Und wie sollen dir diese angeblichen Ausraster nachgewiesen werden?“
Hannah las das Schriftstück noch einmal durch und kam zu dem Schluss: „Natürlich sollten Lehrer nicht so zweideutig sprechen, gerade in einer fünften Klasse sollte ein Lehrer sehr auf seine Wortwahl achten. Aber dieser blöde Spruch mit Scheiße an der Spitze! Hast du das wirklich gesagt?“
Felix schüttelte den Kopf, starrte vor sich hin, überlegte: „Nein ich hab den Spruch bis heut noch nicht mal gehört, ich hab ihn noch nicht einmal selber gekannt.“
„Eben Felix, das ist es, dir werden Worte in den Mund gelegt, mit denen du fertig gemacht werden sollst“, ich versuchte herauszufinden, was hinter dem Ganzen stehen könnte, es gab viele Ideen, aber keine wirklich heiße Spur. Soll das alles gewesen sein? Wegen dieser unhaltbaren und unsinnigen Vorwürfe sollte Felix vom Dienst suspendiert werden?
Wir mochten es nicht glauben, die weitere Entwicklung sollte zeigen, dass Rektor Morgenstern Erfolg haben würde, er konnte sich auf die Oberflächlichkeit der Ermittlungen verlassen! Er konnte auf die sich verselbstständigende Dynamik, die in solchen Fällen einsetzt, bauen. Wir konnten nicht wissen, dass es unglaublich schwer werden und letztlich erfolglos bleiben würde, Felix zu verteidigen. Der Angreifer hatte mit seiner Blitzkriegsstrategie einen Vorteil erworben, der nicht mehr zu brechen war, schon gar nicht mit Vernunft, denn die setzt in unserer Schlagzeilen-gewöhnten Gesellschaft bekanntlich schnell aus.
„Lesen wir erst mal weiter“, sagte Juliane, die die plötzlich entstandene Stille nicht länger ertragen wollte.


(...)


Krisensitzung

Wir waren sprach- und ratlos. Einerseits war uns klar, dass es sich um haltlose, diffuse und nicht übereinstimmende Aussagen handelte. Der PHK Linke behauptete zwar, die Aussagen seien identisch, und sie waren ja auch durch ihn im selben Deutsch verfasst worden, wodurch er vielleicht selbst nicht die vielen Widersprüche innerhalb der Aussagen bemerken konnte, aber die Staatsanwaltschaft oder spätestens der Richter müssten doch erkennen, dass sich aus dem Wirrwarr der Anschuldigungen keine ernsthafte Strafverfolgung ergeben dürfte, der Richter müsste die Klage abweisen und darauf dringen, die Sache innerschulisch zu klären. Selbst laut diesen Aussagen ist doch nichts ernst zu nehmendes vorgefallen. Andererseits ahnten wir, dass auch Staatsanwaltschaft und Richter in so einem Fall, bei solch einem Ausmaß blindlings handeln und urteilen würden.
Felix verlor nach und nach die Orientierung, er dacht angestrengt nach, vielleicht hatte er ja wirklich irgendwann ungewollt einer Schülerin gegenüber solche Worte nachlässig verwendet. Wie sonst sollten die Kinder all diese schlimmen Dinge über ihn berichten? Warum taten sie das? Warum war dann vorher nichts davon zu merken, dass sie sich beleidigt fühlten?
Ich versuchte ihn zu beruhigen, er sollte nicht so hart mit sich ins Gericht gehen, das taten schon seine Gegner: „es ist nichts vorgefallen Felix, du kannst es doch selbst lesen, das alles ist an den Haaren herbeigezogen. Die Kinder widersprechen sich gegenseitig. Es muss für uns darum gehen, herauszukristallisieren, wer hinter alldem steht. Für uns ist das bereits klar, aber wir sollten das beweisen können. Dazu müssten wir herausfinden, wieso Morgenstern solch einen Hass auf dich entwickelt hat“.
„Ich weiß es nicht. Ich hatte doch kaum mit ihm zu tun.“
„Felix, überlege, denke nach, versuche, dich zu erinnern, wann und wie bist du Morgenstern auf die Füße getreten? Das kleinste Detail kann wichtig sein. Irgendetwas muss vorgefallen sein, dass er gerade dich auserwählt hat. Und wir sollten auch noch die Verbindung zu Hattringen herstellen können. Glaub mir, das hängt alles miteinander zusammen.“
Nichts, es wollte Felix einfach nicht gelingen, sich an etwas zu erinnern, was dieses Verhalten von Morgenstern ihm gegenüber hervorgebracht haben könnte, so sehr er sich auch mühte.
Die Aussagen der Kinder setzten ihm schwer zu, er hatte doch ein guter Lehrer werden wollen! Es hatte ihm doch Spaß gemacht, gerade diese Kinder zu unterrichten, er hatte das Gefühl gehabt, dass alles in Ordnung war. Und jetzt, wie stand er jetzt plötzlich da?
Juliane kam mit anderen Argumenten: „Vielleicht haben die beiden Mädchen von dir geschwärmt, und du hast sie zu wenig beachtet, deshalb wollten sie sich rächen?“
„Nein das hätte ich doch bemerkt.“
„Gerade du, du bemerkst nicht, wenn jemand von dir schwärmt. Du hast schon früher nicht gemerkt, wenn sich Mädchen nach dir umgedreht hatten, und dabei schnurstracks gegen einen Baum gelaufen sind, du hast es nicht einmal geglaubt, wenn ich dich drauf aufmerksam gemacht habe. Und wenn dich jemand ausgenutzt hat, hast du es genauso wenig bemerkt.“
„Wieso?“
„Weil du ein falsches Bild von dir selbst hattest, du musst lernen zu erkennen, wie du auf andere wirkst, dann kannst du ihr Verhalten dir gegenüber auch besser einschätzen. Wenn du das schon gekonnt hättest, wüsstest du jetzt, was Morgenstern eigentlich von dir will.“
„Aber die Kinder haben doch diese Aussagen gemacht.“
„Nein Felix, sie wurden zu diesen Aussagen überredet oder gezwungen.“
„Wie, gezwungen?“
„Falsche Erinnerungen! Wir sollten uns nicht auf die Kinder konzentrieren. Sie haben ihre Aussagen gemacht. Es sind Kinder.“
„In so einem Fall muss man diese kleinen Biester wie Erwachsene behandeln. Sie beschuldigen meinen Mann. Sie lügen, damit er suspendiert wird und von der Polizei verfolgt wird. Das sind einfach nur kleine durchtriebene Biester, die sich an meinem Mann rächen wollen, weil er sie nicht genug beachtet hat.“ Juliane empörte sich immer wieder über diese Kinder, sie sah nicht hinter die Kulissen: „Wir müssen eine Gegenanzeige starten. Die müssen merken, dass sie damit nicht durchkommen!“
„Ich glaube nicht, dass es viel Sinn machen würde, die Kinder der Lüge zu überführen, es würde nur heißen: Jetzt beschuldigt er auch noch die armen undschuldigen Kinder! So ein Dreckskerl! Auch der Anwalt Doktor Schuster hat uns davor gewarnt. Wir sollten uns nicht zu sehr auf die Kinder stürzen, sollte es zu einer Verhandlung kommen.“
Ich erinnerte an unser Gespräch in der Anwaltskanzlei. Dr. Schuster, der Anwalt, der sich mit Felix´ Suspendierung befasste, hatte auch davon abgeraten, sich darauf zu verlassen, dass die Kinder bei einer möglichen Verhandlung umkippen und die Unwahrheiten aufdecken, oder der Lüge überführt werden könnten: „Es braucht nur eines der Kinder im Gerichtssaal anfangen, zu weinen und sie haben verloren. Weinende Kinder im Gerichtssaal sind das Schlimmste, was ihnen bei der Verhandlung passieren kann. Andernfalls würde der Richter mit den Schülern auch unter vier Augen sprechen. Was sollte aber dabei herauskommen!“
Hannah hatte eine andere Idee: „Die Kinder bei der Verhandlung zu befragen, bringt nichts, aber wir könnten Glaubwürdigkeitsgutachten erstellen lassen. Da gibt es einen sehr guten Psychologen, Professor von Hackenberg, der ist auch schon durch viele Veröffentlichungen bekannt geworden, er ist eine Koryphäe auf diesem Gebiet.“
„Das wäre eine Möglichkeit, am besten, du versuchst mal mit dem Professor zu sprechen.“
Felix hatte kein gutes Gefühl dabei, einerseits konnte er nicht verstehen, warum die Schüler diese Aussagen gemacht hatten, warum er so hart für etwas bestraft werden sollte, was er nicht getan hatte, andererseits wollte er auch nicht, dass die Kinder zu sehr in Bedrängnis gebracht werden. Juliane konnte sich nicht beruhigen, sie glaubte, dass wir eine Chance hätten, wenn wir gegen die Schüler, gegen den Rektor und gegen alle möglichen Beteiligten klagen würden.
Aber all das würde nichts bringen, nicht nur Dr. Schuster, auch Tims Vater gab den freundlichen Rat, davon abzusehen. Die Schüler haben die ganze Sache nicht ausgeheckt, warum gegen sie vorgehen?
„Glaubt mir, wenn wir beweisen können, dass Herbert Morgenstern hinter allem steht, brauchen wir die Kinder nicht unbedingt. Wir müssen herausbekommen, wie Morgenstern das alles eingerührt hat und vor allem, welchen Grund er dafür hatte.“ Ich war mir sicher: kein anderer wollte Felix etwas zu leide tun als dieser Rektor, und der hatte womöglich auch etwas mit dem fehlgeschlagenen Staatsexamen in Hattringen zu tun: „Vielleicht erfahren wir jetzt auch, wie es mit deinen verpatzen Prüfungen gelaufen ist!“
„Blödsinn, was soll das miteinander zu tun haben! Du fängst immer wieder damit an.“
„Juliane, ich habe da einige Anhaltspunkte, und ich denke, dass sich meine Vermutung in der nächsten Zeit bestätigen wird. Tu das nicht einfach so ab, es macht Sinn. Das ganze liegt wie ein großes Puzzle vor uns, wir müssen es nur noch zusammensetzen“
„Ich weiß nicht, das klingt doch sehr nach Verschwörungstheorie“
„Wie würdest du dieses ganze Fiasko denn sonst bezeichnen. Glaub mir doch endlich, das hängt alles miteinander zusammen.“
Felix sagte kaum noch etwas. Juliane redete im Kreis und kam immer wieder mit den Gegenanzeigen an. Hannah wollte nicht glauben, dass man ihrem Sohn kaum helfen könnte. Sie gab schließlich Felix den Rat, auf alle Fälle einen Psychotherapeuten wegen einigen Supervisionssitzungen aufzusuchen. Hannah befasste sich bereits damit, Felix auf eine mögliche Verhandlung vorzubereiten, auch wenn sie nicht glauben konnte, dass nach all diesen haltlosen Anschuldigungen das Hexentreiben weitergehen würde, doch sie hatte schon zu viel erlebt und gehört: „Es ist wirklich so, Felix, du weißt nicht, wie du auf andere wirkst. Sollte es zu einer Gerichtsverhandlung kommen, kann das aber entscheidend sein. Der Supervisor wird dir dabei helfen, zu lernen, wie du dich darstellst, wie du dich bewegst, wie du sprichst, wie du deine Stimme einsetzt, wie du deine Hände bewegst.“
„Meinst du das bringt was?“
„Natürlich, du könntest zu Frank Jäger gehen, das ist ein ausgezeichneter Therapeut und Supervisor.“
„Vielleicht.“
„Und wenn du erst mal fünf oder zehn Sitzungen bei ihm machst, das wird dir helfen. Ich kann die einen Termin bei ihm besorgen.“
„Aber, dann denken doch alle, ich bin psychisch krank, wenn ich zu so einem Psychiater gehe.“
„Das ist kein Psychiater, das ist ein Psychotherapeut und Supervisor, außerdem muss das niemand erfahren, dass du zu ihm gehst, das ist auch keine Therapie es sind Supervisionssitzungen“.
„Felix, vielleicht kannst du bei diesen Supervisionssitzungen auch besser deine eigenen tatsächlichen Anteile an der ganzen Situation erkennen, und vielleicht findet ihr dabei sogar heraus, wie es dazu gekommen ist, das Morgenstern dich so fertig machen will.“
„Also schön“, Felix war der Widerwille anzusehen, er sei doch nicht psychisch krank, er glaubte nicht, dass das helfen könnte, aber versuchen würde er es.

(...)


(...)


Das war die Vorstufe zum Berufsverbot gegen Felix. Es war noch nicht ausgesprochen aber angekündigt. Was Felix oder seine Anwälte auch immer unternehmen würden, Felix würde niemals mehr als Lehrer an einer öffentlichen Schule in Baden- Württemberg arbeiten dürfen, selbst wenn ein Gericht ihn von den Vorwürfen freisprechen würde. Die Entscheidung war gefallen – unumstößlich.

(....)


Der kleine Raffael

Mitten in all der Aufregung kam Julianes und Felix´ Sohn Raffael zur Welt. Raffael war schon vor der Geburt gebrandmarkt. Zunächst hatte sich Julianes Körper mit der Schwangerschaft nicht recht abfinden wollen, Juliane hatte sich immer wieder übergeben müssen, über Wochen und Monate hinweg hatte ihr Körper kaum eine Mahlzeit annehmen wollen. So war der kleine Raffael schon vor seiner Geburt Patient im Krankenhaus geworden. Jetzt kamen der Stress und unglaublich belastende Zukunftsängste dazu. Die Entwicklung des Jungen wurde von so vielen negativen Dingen beeinflusst, dass wir Angst um seine Gesundheit haben mussten.
Felix brachte Juliane mehrmals ins Krankenhaus, weil die Wehen scheinbar einsetzten. Aber so nervös und katastrophal die Schwangerschaft verlaufen war, so sollte es auch bei der Geburt sein. Immer wieder Fehlalarm.
Während der Tage um den Geburtstermin herum schaukelte sich die Stimmung an Dramatik immer weiter auf. Raffael wollte noch nicht auf die Welt kommen, er schien zu spüren, was ihn dort erwarten würde.
Eines Abends rief Felix mich an: „Wir sind jetzt im Krankenhaus.“
„Ach, wieder einmal.“
„Diesmal ist es wirklich so weit. Heute Nacht wird geboren.“
Wir waren alle gespannt. Blieben neben dem Telefon, versuchten, wach zu bleiben, warteten auf den Anruf.
Erst am anderen Morgen rief dann der völlig übermüdete, entkräftete aber stolze Papa an. „Es ist ein Junge und er ist gesund.“ Es folgten noch die üblichen Angaben über Körpergröße, Gewicht, Kopfumfang und natürlich erzählte Felix, wie niedlich und süß sein soeben auf die Welt gekommenes Söhnchen sei, wie klein doch die Fingerlein und die Füßchen waren. Felix war glücklich. Er konnte über dieses Glück die fatale Situation, in der er jetzt steckte, kurzzeitig ausblenden. Wir durften miterleben, wie fürsorglich er war. Jede freie Minute verbrachte er bei dem neugeborenen Kind. Er schlief im Krankenhaus auf dem Stuhl neben Juliane, er bemühte sich, dass alles ringsherum klappte und in Ordnung war. Felix war zwar jetzt schon zweieinhalb Monate ohne Arbeit, ohne Aussicht auf Arbeit, aber im Moment spielte das keine Rolle. Felix sah in seiner derzeitigen Situation auch eine Chance. Er konnte seinen Job nicht ausführen, das Verfahren war noch in der Schwebe und das für einige Monate. So konnte er die ersten Wochen und Monate bei seinem neugeborenen Sohn sein, eine Chance, die nur den wenigsten Vätern vergönnt ist, und er nutzte sie gern. Das würde zumindest einen Teil dessen wieder gut machen, was dem kleinen Raffael durch die Strapazen, die Mangelversorgung, das Mobbing und schließlich durch die Klage gegen seinen liebevoll fürsorglichen Vater angetan worden war.
Felix kümmerte sich rührend um seine Familie. Man konnte ihm das Glück ansehen. Seine Augen strahlten wieder, sein Gesicht bekam wieder Farbe. Er wirkte nicht mehr so gehetzt. Auch der wenige Schlaf, mit den vielen Schlafunterbrechungen schien ihm sogar eher gut zu tun, die Ringe unter seinen Augen wichen der Freude und dem Vaterstolz. Man konnte meinen, Felix hätte vergessen, in welcher aussichtslosen beruflichen Situation er steckte.
Raffael war ein wunderschönes Baby. Er war klein und zierlich, hatte dichtes schwarzes widerspenstiges Haar, das in der Sonne glänzte und ein kleines schmales Köpfchen. Raffael schlief schlecht, er schien immer wieder schlecht zu träumen, er war unruhig, aber das war zu erwarten gewesen. Das Stillen stellte sich als schwierig heraus, er wollte oft nicht genug trinken.
Wer Raffael sah, schloss ihn sofort ins Herz, er suchte immer nach Geborgenheit, fühlte sich wohl in Gesellschaft guter Menschen.


(...)


Aufatmen

Felix wirkte erleichtert, ja sogar fröhlich, als er mich anrief, seine Stimme überschlug sich fast: „Du musst unbedingt gleich herkommen. Es ist vorbei, wir können feiern.“
„Was ist passiert?“
„Ich hab Post von der Staatsanwaltschaft. Komm her und lies es selbst.“
Ich machte mich sofort auf den Weg. Ein Lichtblick am Horizont? Hat die Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt, trotz der unter Federführung von Onkel Gabriel verfassten Stellungnahme zu den Anschuldigungen?
Felix überreichte mir mit leuchtenden Augen und einem befreienden Lächeln den Brief.
Neben ihm saß seine Frau, ebenfalls vor Freude strahlend, den kleinen Sohn Raffael im Arm. Es war ein ergreifender Anblick. Die kleine Familie war wieder froh, eine große Last war von ihren Schultern abgefallen, eine Last, die sie zu zerquetschen gedroht hatte. Sie saßen aufrecht und befreit, mit einem Lächeln im Gesicht, selbst der kleine Raffael schien sich zu freuen und zu spüren, dass jetzt alles besser werden würde, so als ob er wüsste, was geschehen war.
Ich öffnete das Kuvert und las laut:

Ermittlungsverfahren
gegen Felix M.

wegen Beleidigung

Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt,
das oben bezeichnete Ermittlungsverfahren gegen Ihren Mandanten habe ich mit Verfügung vom 06.10.2006 hinsichtlich

(...)


eingestellt.

(...)


„Und was ist?“ Felix´ Blick traf auf meinen, „feiern wir!“. Die entspannte Atmosphäre, das Lächeln der drei, ließen mich meine Bedenken blitzartig vergessen.
„Es ist vorbei“, Juliane strahlte vor Glück: „siehst du, hat die Stellungnahme doch geholfen.“ „Kann sein, Juliane, vielleicht hat ja dein Onkel gute Arbeit geleistet. Oder sie mussten das Verfahren einfach einstellen, weil sie sich nicht lächerlich machen wollten.“
„Meine Mutter hab ich noch nicht erreicht, aber wenn ich sie erreiche, können wir ja irgendwo essen gehen.“ Felix´ Stimme hatte wieder ihren warmen angenehmen Klang. „Jetzt kann ich ja vielleicht doch noch die Stelle in Tann antreten, falls die noch da ist.“ Felix würde gleich am nächsten Tag dort anrufen. Er blickte liebevoll auf seinen kleinen Sohn: „dann kann ich endlich arbeiten und Geld verdienen und wir müssen nicht betteln. Es ist zwar schön, wenn ich die ganze Zeit bei Raffael sein kann, aber wenn wir nicht wissen, ob wir bald noch irgendetwas bezahlen können, können wir das auch nicht genießen“. Und Felix brauchte auch nicht so weit von hier weg, wenn er die Stelle in Tann bekommen würde.
Trotz der großen Erlösung hatte ich ein ungutes Gefühl, vielleicht war es der Groll, der die ganze Zeit über in mir wuchs, vielleicht war es die Empörung über alles, vielleicht habe ich wirklich begonnen, ein Pessimist zu sein. Ich konnte mich nicht so gelassen freuen wie Felix und Juliane.
„Felix, das Verfahren wurde eingestellt, deshalb bist du aber noch lange nicht rehabilitiert und das Berufsverbot ist auch noch nicht aufgehoben. Die haben so viel Mühe investiert, dich loszuwerden, dich mundtot zu machen. Sie werden dich jetzt nicht gleich mit offenen Armen wieder aufnehmen. Vielleicht solltest du dich nicht zu sehr auf die Stelle in Tann versteifen, du kannst es ja versuchen, aber halt dich nicht daran fest und sei nicht enttäuscht.“
Felix wollte nicht mehr niedergedrückt sein, er wollte sich freuen: „Du bist und bleibst ein Pessimist.“
„Nein, ich bin kein Pessimist, ich bin ein Realist.“
Später kam Hannah zu uns. Sie hatte schon ganz zittrige Knie, als sie den Brief in den Händen hielt und las, musste sie vor Freude weinen. Sie umarmte Felix, drückte ihn fest an sich, und schien ihn nicht mehr loslassen zu wollen.
An diesem Abend wollten wir nur feiern, wir wollten all die schlimmen Dinge für ein paar Stunden vergessen.
Es war außer Geburt des kleinen Raffael das schönste Ereignis der letzten Wochen und Monate.

(...)


Die Suche

Felix konnte sich jetzt nur noch auf die Verhandlung vorbereiten. Sein Familienleben litt unter der enormen Belastung, auch der kleine Sohn Raffael spürte, dass es seinen Eltern nicht gut ging.
Wir halfen Felix bei der Vorbereitung, durchstöberten die Akten, recherchierten im Internet und in der Literatur, sprachen mit dem Rechtsanwalt, wie weiter vorzugehen wäre.
Auf der einen Seite suchten wir nach Veröffentlichungen, die aufzeigen könnten, wie die Schüler tatsächlich reden und denken. Weiter hielten wir Ausschau nach Veröffentlichungen, in denen es um falsche Erinnerungen geht.
Die dritte Aufgabe, die wir uns stellten, war, herauszubekommen, welches die Beweggründe Morgensterns waren.
Würden wir all diese Dinge zusammen haben, so dachten wir, könnte es gelingen, Felix vor Gericht zu rehabilitieren.

Morgenstern

Felix war Morgenstern schon während seines allerersten Blockpraktikums begegnet. Später kam Felix an die Schule als Krankheitsvertretungslehrer, an der Herbert Morgenstern inzwischen Rektor geworden war. Doch Morgenstern selbst fiel durch Krankheit lange Zeit aus. Felix´ Stellung war zunächst gut, er machte seinen Unterricht gut, von Beanstandungen war nichts zu hören, die meisten Schüler waren gern in seinem Unterricht, sie mochten ihn. Dann tauchte Rektor Morgenstern für wenige Stunden wieder in „seiner“ Schule auf und plötzlich sahen sich die Schüler sexuellen Beleidigungen durch den Lehrer Felix M. ausgesetzt, nur erfuhr zunächst niemand offiziell davon. Natürlich ging es angeblich allen Schülern so bis in die höchsten Klassenstufen. Als Zeugen wurden später jedoch nur Schüler der fünften Klasse herangezogen, die waren nämlich leichter zu beeinflussen. Fünftklässlern falsche Erinnerungen einzupflanzen, ist ein Kinderspiel. Es ist wirklich leicht, wenn man die Kinder ein wenig kennt und noch dazu ihr Zutrauen hat oder in der Position ist, dass sie in gewisser Weise abhängig sind, so wie zum Beispiel von einem Rektor, kann man ihnen die verworrensten falschen Erinnerungen einpflanzen.
Gab es wirklich zwischendurch keine Begegnungen mit Morgenstern? Felix konnte sich nicht erinnern. Er wirkte einfach blockiert.


(...)


Finale

„Die Richterin?“ „Ja es ist eine Richterin, keine guten Neuigkeiten für Sie, Herr M. Die Verhandlung wird Richterin Großmann führen, eine furchtbare, schnell überforderte Frau. Ich hatte schon oftmals das zweifelhafte Vergnügen mit ihr in der Zeit, da sie noch Staatsanwältin war. Dass sie inzwischen Richterin geworden ist, habe ich erst kürzlich erfahren. Sie verliert schnell den Überblick, wird dann immer etwas hysterisch und ist eine Männerhasserin. Aber es kommt noch schlimmer. Sie war Referendarin bei Staatsanwältin Wolf, die Anklägerin in ihrem Verfahren. Großmann wird Wolf auf gar keinen Fall widersprechen, sie wird sich in allem ihrer ehemaligen Mentorin anschließen. So gesehen können sie gar keine schlechteren Karten haben Herr M.“
„Das war´s dann wohl“ resignierte Felix. Der Anwalt Dr. König versuchte Felix zu ermutigen: „wir haben einiges in der Hand. Es wird schwer werden, aber es ist nicht aussichtslos“. Das war eine von den schlechtesten Neuigkeiten, aber wohl unabwendbar. Durch diese Hölle musste Felix gehen.

(...)


Die Verhandlung, die nicht stattfand.


Der Tag der Verhandlung rückte näher, wir sprachen noch einmal mit dem Rechtsanwalt und dann halfen wir Felix, sich auf die anstehende Gerichtsverhandlung, in der er seine Unschuld beweisen wollte, vorzubereiten.
Wir hatten Fotos gemacht, auf denen Felix mit einer Bassflöte in seiner Hand zu sehen war. Diese Fotos zeigten, wie bizarr und gleichermaßen grotesk die Behauptung der Ankläger war, Felix habe mit eben diesem Instrument Größe und Form seines Geschlechtsteiles demonstrieren wollen, ein Elefant hätte da nicht mithalten können. Gern deuten Schüler einer fünften Klasse so etwas um und finden das lustig, aber in diesem Fall war es nicht mehr lustig, es sollte vor Gericht verhandelt werden. Jeder Blasmusikverein würde Gefahr laufen, dass seine Mitglieder allesamt nach einem Konzert angezeigt werden, sie hätten auf der Bühne geblasen. Es war einfach unglaublich, dass Felix verurteilt werden sollte, weil er eine Bassblockflöte im Unterricht gezeigt hatte, und wie sich inzwischen herausstellte, gab es sogar eine schuleigene Bassblockflöte, die Morgenstern extra für die Schule besorgt hatte. Es war ihm kurz zuvor sehr wichtig gewesen, dass seine Realschule mit so einem vermeintlichen Sexspielzeug ausgestattet sein musste. Morgenstern hatte diese Blockflöte persönlich geordert, ein Schelm, der Schlimmes dabei denkt.
Dann hatten wir die Tatsache, dass ein Strafantrag ungültig war. Vor Gericht hätte Dr. König auf die Widersprüche in den einzelnen Aussagen aufmerksam machen können.
Er würde Morgenstern auf dessen Urkundenfälschung ansprechen und würde mit Hilfe des Briefes, den Morgenstern an das Regierungspräsidium verfasst hatte versuchen, diesen seiner Mobbingabsichten und Missetaten zu überführen.
Und wir hatten die „Erinnerungen“ der Kinder selbst. Zweifellos haben diese Kinder solche und ähnliche Worte oft genug gehört, auch wenn deren Eltern behaupten würden, dass das Vokabular ihrer Kinder solche Worte nicht beinhalte. Die Kinder wachsen heute damit auf, diese Worte, auch die sexuell bezogenen Worte und Redewendungen sind Teil ihres Wortschatzes. Selbst viel jüngere Kinder, beispielsweise Kindergartenkinder verwenden Worte wie Sex, ficken, Begrüßungsformeln wie „he, du alter Wichser“ und Beschimpfungen wie „Hurensohn“, „Schlampe“ …
Diese Schüler haben diese Worte gehört, sogar hunderte Male, selbst wenn sie es wirklich wollten, sie könnten sich nicht erinnern, ob gerade ihr Lehrer Felix M. diese Vokabeln verwendet hatte.
Julianes Bruder überließ mir für ein paar Stunden CDs der Megastars der deutschen Hiphop- Szene. Diese CDs waren den Kindern frei zugänglich, es waren CDs von Bushido, Aggro Berlin und anderen, also von Musikern, die in den Medien hochgelobt und gefeiert wurden, genau zu jener Zeit. Bushido hatte sogar eine Sonderausgabe der BRAVO.
Ich nahm mir die Zeit, einige Titel genau anzuhören und zu analysieren, woher der Erfolg kam, auf dem sich diese Musiker sonnen konnten, aufmerksam geworden war ich auf das Problem unter anderem durch den Beitrag „Voll Porno“, erschienen in der Zeitschrift „Der Spiegel“, den ich kurz zuvor gelesen hatte.
Es war furchtbar, ich konnte keine CD ganz anhören, weil es mich ärgerte. Felix sollte verurteilt werden für die angebliche Verwendung bestimmter Worte und hier waren Medienstars, die die schlimmsten Vokabeln absolut zwanglos, freimütig und großzügig, nachweislich auf Tonträgern, die jedem Kind zugänglich waren, verwendeten, und die wurden gefeiert von den Medien und verdienten damit ihr Geld, unerhört viel Geld. Ich hatte mich hingesetzt und ein paar Zitate aus den Titeln aufgeschrieben. Diese Zitate sollten belegen, dass die Schüler solche Worte nicht von Felix, wohl aber von ihren hochgelobten und gefeierten Idolen kannten.
Da wurden über sich in das Gehirn hämmernde oder schleichende geloopte Musikfetzen mit wohlklingender markanter Stimme und deutlicher Aussprache die unglaublichsten Sachen in die Gehörgänge der Konsumenten, meist Kinder und Jugendliche zwischen zehn und zwanzig Jahren, geschleust und in deren Bewusstsein eingepflanzt. Nein, die Kinder, die diese Musik täglich zur Entspannung beim Hausaufgabenmachen hörten, konnten unmöglich sicher erklären, wann, wo, von wem und wie oft sie solche Sachen gehört hatten:
Nach diesen drei CDs und der dazugehörigen Erklärung der BRAVO- Sonderausgabe für Bushido, der auch noch mit unzähligen Preisen überschüttet und geehrt wurde, beendete ich meine musikalische Lektüre, es hatte gereicht, ich brauchte jetzt auch nicht mehr unbedingt weiter hören. Im Mittelpunkt der Texte waren Sex, Gewalt, ständig wiederkehrende Verwendung „schlimmer Worte“, Worte für deren angeblichen, nicht nachweisbaren Gebrauch Felix morgen vor Gericht stehen sollte, Bushido, Kool Savas andererseits reichlich belohnt wurden, mit Preisen und Unmengen von Geld. Mütter wurden beleidigt, Tiere quälen wird toll gefunden, man brüstet sich damit, dass man der Beste ist im Drogen an Kinder auf dem Schulhof verticken.
Wir legten diese Zitate auch Rechtsanwalt Dr. König vor. Er war sichtlich angewidert. Dr. König war ein integrer, feiner, wohlerzogener Mann, der glaubhaft tatsächlich in seiner frühen Jugend von solchen Ausrastern der Jugendkultur verschont geblieben war.
Es bleibt auch dahin gestellt, ob dies wirklich sinnvolle, wichtige und duldbare Bestandteile der Jugendkultur sein müssen. Jedoch müsste Felix dann von diesen Vorwürfen freigesprochen werden. Wenn er sich als Lehrer tatsächlich so ausgedrückt hätte, hätte es eine Abmahnung geben müssen von der Seite der Kollegen und Vorgesetzten, dass man ein solches Benehmen nicht dulden würde. Nur, darum ging es nicht. Auf keinen Fall hätte von Seiten der Staatsanwaltschaft bei Vorhandensein einer so gefeierten Kultur Felix derart angeklagt werden dürfen.


(...)


Die Tür öffnete sich:
„Nein, da können sie nicht runter gehen.“Rechtsanwalt König war kreidebleich: „Es ist alles schwarz. So etwas habe ich noch nie erlebt. Eine große schwarze aufgehetzte Menge, fehlt nur noch, dass sie ihre Sensen und Morgensterne mitgebracht hätten. Und die Presse ist da, drei Tageszeitungen und der Rundfunk ist im Anmarsch.“ „Presse? Rundfunk? Wo kommen die her, hat Morgenstern die informiert!?“ „Ja, natürlich, Ich denke schon.“ „Was jetzt?“ fragte Hannah. „Wenn wir da runtergehen in den Verhandlungssaal, gefüllt mit dieser schwarzen aufgebrachten Menge, halten sie keine fünf Minuten durch, Felix. Da fallen sie zusammen.“ „Was nun? Was haben wir für eine Wahl?“ Hannah wurde jetzt selbst sehr nervös, kämpfte schon mit Tränen. „Wir können den Strafbefehl annehmen und die Verhandlung absagen lassen.“ „Oder?“ das war für mich zunächst keine wirkliche Wahl. „Wir können runter gehen, werden verlieren, gehen in Berufung. Aber das wird lange dauern. Wir können dann gewinnen, vor dem Berufungsgericht, das ist dann eine ganz andere Situation.“ „Wie stehen die Chancen? 50 Prozent?“ Rechtsanwalt König hielt kurz inne „Nein, weniger, … viel weniger.“ Wir waren ratlos, Felix war enttäuscht. „Es wäre besser, sie würden annehmen, Felix, diese Verhandlung stehen sie nicht durch, auf gar keinen Fall.“
Stille. Pause für einige unerträglich lange Sekunden.


(...)


Wie entscheidet sich Felix? Das Buch ist im Handel erhältlich: ISBN 978-3-86634-700-7

Vielen Dank für Euer Interesse

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 25.03.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /