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Prolog




Er



Es war ein Tag wie jeder andere.


Der Regen prasselte auf die Erde, als gäbe es kein Morgen mehr. Die mit grauen Schlieren versehene Fensterscheibe spiegelte mein Gesicht wieder. Müde betrachtete ich mich. Meine grünen Augen starrten mir entgegen, die dunklen, ungewaschenen Haare standen zerzaust und verfilzt in alle Richtungen ab. Eine dunkelgraue Spur, vermutlich Ruß, zeichnete eine meiner Wangen und zog sich bis zu meinem Mund, dessen Lippen rau und von meinen Zähnen zerbissen waren. Auf der anderen Seite betrachtete ich zum x-ten Mal meine Narbe. Mein Mal. Mein Fluch.
Ein s-förmiger Schnitt zog sich von meinem Augenwinkel bis zum Unterkiefer. Umgeben von schwarzen Strichen, die die Narbe zu einem Bild vollendeten. Die Schlange.
Mit einem bitteren Lachen kehrte mein Blick zu meinen Augen zurück, die hell aufleuchteten. Als sie ein fast weiß wirkendes Grün erreicht hatten, erloschen sie. Nichts als ein düsteres Moosgrün blieb zurück, genauso wie ein makelloses Gesicht. Das Mal war verschwunden, meine Verwandlung vollbracht. Meine menschliche Hälfte zurück.
Ich ging zu dem klapprigen Tisch zurück, der an der nördlichen Seite meines Zimmers stand und ließ mich lustlos auf dem genauso heruntergekommenen Sessel davor nieder. Alles in diesem Raum war schäbig. Meine Notunterkunft war eben genau das. Eine Notunterkunft. Langsam ließ ich meinen Blick über die Einrichtung schweifen.
Rechts neben dem Ding, das sich Schreibtisch schimpfte und das mit Zetteln, Fotos und Stiften übersät war, hing eine, für die Verhältnisse recht modern wirkende Pinwand, die vollgestopft mit Fotos, herausgerissenen Zeitungsartikel und Notizen war. Der Rest der Bruchbude war spärlich eingerichtet. Neben dem schmalen Klappbett stand nur eine alte Holzkiste, in der sich meine wenigen Habseligkeiten befanden.
Gemächlich kehrte mein Blick zurück zum Tisch. Ich legte meinen Kopf schief, während ich ein kleines Foto betrachtete, das mir gegenüber an der Wand hing. Vorsichtig löste ich die Klebestreifen, die es fixierten und fokussierte es genauer. Ein Mädchen war darauf abgebildet. Es lächelte, blickte aber nicht den Fotografen an, sondern ließ ihren Blick auf etwas in der Ferne verweilen. Trotz der Schwarz-weiß Aufnahme konnte man ihre dunkle Haarfarbe und ihre leuchtenden Augen erkennen. Sie war es. Die Eine. Meine.

Kapitel eins


Aurea



Es war ein Tag wie jeder andere.


Obwohl die Jalousien und die Vorhänge zugezogen waren, merkte ich, dass es regnete. Das stetige Plätschern des Wassers durch die Regenrinne hielt mich oft nächtelang wach. Mit einem Seufzen öffnete ich den Kleiderschrank und wühlte nach etwas passablem zum Anziehen. Ich hatte nur noch 10 Minuten, bevor ich fix und fertig hinter dem Tresen stehen und Gäste bedienen sollte. Eine unmögliche Angelegenheit, allein für den Weg in die Arbeit kostete mich 25 Minuten.
„Verdammt“, fluchte ich, „wo ist meine gottverdammte Schürze? Sora!" Ich hörte ein Fluchen, ein Knallen, als eine Tür gegen die Wand stieß und ein Poltern, als sie plötzlich in meinem Zimmer stand, schnaufend wie ein Rhinozeros.
„Was zur Hölle ist los? Ist was passiert?!" Sie hatte die Hände auf die Oberschenkel gestemmt, hechelte nach Luft und war nur mit ihrem übergroßen Schlafshirt bekleidet. Belustigt hob ich eine Augenbraue.
"Hast du von einem Marathonlauf geträumt?"
"Nein?! Ich bin von deinem Schrei aus dem Bett gefallen, Stronzetta

! Ich hoffe du hast einen triftigen Grund, in aller Früh durch die Wohnung zu schreien."
"Wo ist meine Schürze?"
"Woher soll ich das wissen? Seh ich aus wie dein Kleiderschrank oder was?“
Ihre Augen verdunkelten sich langsam aber stetig während sie die Augenbrauen über der Nase zusammenzog. Das bedeutete nichts Gutes. Dieser Gesichtsausdruck kündigte eine lange und emotionsgeladene Schimpftirade auf Italienisch an. Manchmal war es eben doch ein Erlebnis, mit einer waschechten Roma zusammen zu leben.
„Che cazzo vuole? Pensi que sia responsibile per tutti i problemi che hai eh? Mammamia!“, (Was willst du? Denkst du, dass ich für all deine Probleme zuständig bin?)

zeterte sie los, die Arme wild fuchtelnd über dem Kopf erhoben, was angesichts ihres Aufzuges ziemlich amüsant aussah.
Mühsam unterdrückte ich ein Kichern, schnappte meine Tasche und ging auf sie zu.
„Calma te, carina. (Beruhig dich, Süße)

Ich werd‘ mir von Claire eine ausleihen. Sorry nochmal fürs Wecken, ich mach’s wieder gut.“ Mit einem Kuss auf die Wange verabschiedete ich mich von meiner Mitbewohnerin und besten Freundin und verschwand durch die Wohnungstür, die mit einem lauten Krachen hinter mir zufiel. Es gab doch nichts Schöneres als Italienisch zum Frühstück.

Natürlich war ich viel zu spät dran. Der morgendliche Disput mit Sora hatte meiner ohnehin schon ausgewachsenen Verspätung nicht gut getan, und so kam ich eine halbe Stunde zu spät zum Beanheads Coffee. Mein Arbeitslatz war ein ziemlich angesagter Schuppen in Sacramento, ein kleines Café in der Madison Ave, in dem besonders viele Studenten abhingen. Der Hauptgrund dafür war wohl, dass das Café in der Nähe des Studentenviertels war, auch meine Universität lag dort. Die Sacramento State University. Ich war gerade mitten im ersten Semester meines Kunststudiums, wobei ich nebenbei auch noch Geschichte studierte.
Genug erzählt, mein Chef ist durch das Klingeln der Eingangstür auf mich aufmerksam geworden und baute sich gerade vor mir auf. Irgendwie erinnerte mich sein Gesichtsausdruck und seine Körperhaltung an Sora vorhin, und ich musste mir schon wieder ein Kichern unterdrücken.
„Aurea! Was zur Hölle bildest du dir eigentlich ein? Das ist schon das zweite Mal diese Woche dass du zu spät kommst. Ich dachte du brauchst diesen Job?!“
Oh, der war vielleicht sauer. Seine kurzen, hellbraunen Haare standen in alle Richtungen ab, ein deutliches Zeichen dafür, dass es schon ordentlich stressig zuging im Laden. Seine Beanheads-Schürze wies trotz der dunkelbraunen Farbe eindeutig Flecken auf, und sein hellgraues Shirt hatte auch schon bessere Tage gesehen. Ich unterbrach meine Musterung und blickte ihm wieder in die hellblauen Augen, die mich finster anstarrten. Verdammt, jetzt musste ich mir schleunigst eine Ausrede einfallen lassen.
„Tja, Jeff. Natürlich brauche ich diesen Job, du weißt genau dass ich ohne ihn aufgeschmissen wäre. Aber die Uni ist gerade ziemlich hart, und ich weiß, dass das keine Ausrede ist, aber ich habe gestern bis in die Nacht hinein diese verdammte Geschichte der Kunstbetrachtung der Renaissance und der Antike des 18. Jahrhunderts …“ Er unterbrach mich einer abwinkenden Handbewegung.
„Schon gut, ich versteh dich ja. Wär ja nicht so als wüsste ich nicht wovon du redest. Aber du musst in Zukunft pünktlich sein, ich kann nicht immer für dich gerade stehen.“
Überglücklich fiel ich ihm kurz um den Hals, um daraufhin sofort in den Umkleiden zu verschwinden.
Jeff war ein etwas ungewöhnlicher Boss. Mit seinen gerade mal 28 Jahren hatte er das Sagen über das überschaubare Café und seinen vier Mitarbeitern. Claire, John, Syn und mir. Alle vier waren wir Studenten, und witziger Weise auch noch an derselben Universität, was bei dem Angebot an Universitäten und Colleges schon erstaunlich war. Jedoch belegten wir unterschiedliche Studiengänge. Mit meinen 19 Jahren war ich die Jüngste im Team, was jedoch keinen sonderlich störte. Wir arbeiteten hier wie in einer kleinen Familie.
Ich konnte wirklich froh darüber sein, hier zu arbeiten, denn anders könnte ich mein Studium und meine Wohnung nicht finanzieren. Von zu Hause war Unterstützung undenkbar. Nicht etwa, weil ich und meine Familie im Streit auseinander gegangen sind oder weil sie mich aus irgendeinem Grund verstoßen hatte, sondern einfach, weil ich keine Familie hatte. Nicht im normalen Sinn einer Familie.
Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben, irgendein Problem mit der Nachgeburt und der Nabelschnur, was ich nie richtig verstanden hatte. Auf jeden Fall habe ich sie nie kennengelernt. Ich habe nicht einmal ein Foto von ihr, mein Vater hatte sie alle verbrannt, als er mit mir als Säugling in unser Haus am Stadtrand zurückkehrte. Der Tod meiner Mutter nahm in so stark mit, das er schon bald in eine tiefe Depression fiel, die ihn nicht nur den Job und unser Haus, sondern auch sein Leben kostete.
Ich habe von alldem nichts mitbekommen, da ich mit 2 Jahren zu meiner Großmutter Maryann kam, die am anderen Ende der Stadt wohnte, sich seitdem um mich gekümmert hat und mir, als die Zeit gekommen war, von meinen Eltern und ihrer tragischen Geschichte erzählt hat. Sie ist auch die einzige Person, zu der ich einen familiären Bezug habe. Nun ja, und als ich dann mit Sora in die Innenstadt gezogen bin um zu studieren, ist unser Kontakt ein wenig abgebrochen, da die Entfernung für Kurzbesuche zu weit und mein Terminkalender für längere Telefonate zu voll war. Trotzdem versuche ich, in jeder freien Minute, kurz Hallo zu sagen.
Genug von mir, ich sollte endlich hinauf und anfangen zu arbeiten. Oben im Lokal angekommen, wurde ich sofort von Syn begrüßt.
„Rea, schön dass du auch mal auftauchst. Kannst auch gleich ins Lager gehen, die Lieferung müsste jeden Moment ankommen“, grinste er mich an, nachdem er mir leicht auf den Hintern geklopft hatte. Ein Macho von den Ohren bis zu den Zehen, hoffnungslos. Ich warf ihm schnell einen Luftkuss zu, bevor ich mich daran machte, das Lager aufzustocken.

Stunden vergingen und Kunden lösten sich der Reihe nach ab. Es war ein ruhiger Tag, nicht mal eine halbe Stunde lang war der Laden komplett gefüllt. Nicht unbedingt ideal fürs Geschäft, aber zumindest war immer was los. Tage, an denen stundenlang kaum ein Kunde kam, waren der Horror. Es gab wirklich nichts Schlimmeres für einen Kellner, wenn nichts los war, man langweilte sich zu Tode, zählt die Sekunden oder machte Arbeiten doppelt. Das einzig Positive an solchen Situationen ist, dass ich mich mit meinen Kollegen unterhalten kann.
Die Eingangstür wurde geöffnet und das bekannte Klingeln ertönte. Mit einem Lächeln auf den Lippen drehte ich mich zum Gast um, den Lappen mit dem ich die Arbeitsfläche abgewischt hatte noch in der Hand.
„Hallo, was kann ich dir bringen?“ Da wir hier ausschließlich Studenten bedienten, war es schon Gewohnheit, die Kunden zu duzen. Bis jetzt hatte sich noch niemand beschwert.
Vor mir stand ein wahres Kunstwerk von Mensch. Ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren blickte mich aus großen, dunkelbraunen Augen an, die stark und dunkel geschminkt waren. Von ihren Handgelenken bis zu den Trägern ihres grauen Shirts war sie komplett tätowiert. Auch von ihrem Hals bis zu ihrem Ausschnitt zierten Tätowierungen ihren Körper. Die vielen bunten und schwarzen Bilder und Striche schienen auf den ersten Blick kein sinnvolles Bild zu ergeben, doch mir viel ein Symbol auf, das besonders hervorstach. Unter ihrem Kinn auf der Brust, genau an der Stelle wo sich die inneren Enden der beiden Schlüsselbeine befanden, saß ein Drache, der so lebensecht wirkte, dass ich mich über eine plötzliche Feuerfontäne aus seinem Mund nicht gewundert hätte.
Bewundernd betrachtete ich das Fabelwesen, als mich ein kurzes Räuspern in die Realität zurückholte.
„Alles in Ordnung bei dir?“ Hochrot wandte ich mich wieder dem Gesicht des Mädchens zu, das mich belustigt musterte.
„Äh, sorry. Ich wollte nicht so starren, aber dieses Tattoo ist einfach … wow. Die Linienführung ist so akkurat und doch so gefühlvoll … Gratulation an den Künstler.“ Vorsichtig lächelte ich zurück.
Ein großes Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Mädchens aus, als sie mir antwortete.
„Danke, ich liebe Soku. So heißt der Drache“, fügte sie auf meine fragende Miene hinzu. „Mein bester Freund hat ihn gezeichnet, er hat wahnsinnig viel Talent. Ich werde ihm dein Kompliment ausrichten. Wird ihn bestimmt freuen, er ist sowieso der Meinung, dass sein Können zu wenig honoriert wird.“
Auf diese Aussage hin musste ich lachen, und sie stimmte mit ein.
„Also, was hättest du gern?“ fragte ich sie, um auf ihre eigentliche Absicht zurück zu kommen.
„Ein Cappuccino zum Mitnehmen wäre perfekt.“
Lächelnd machte ich mich an die Zubereitung, während sie sich mit mir über die Gegend unterhielt.
Als ich ihr den Pappbecher in die Hand drückte und das Geld entgegennahm, blinzelte sie mir zu und sagte „Wir sehen uns bestimmt wieder, und danke nochmal.“
Nickend hob sie den Becher in meine Richtung und verschwand durch die Tür.
Freudig summend machte ich mich ans Saubermachen und suchte Syn, der sich irgendwo im Lager verkrochen hatte. Immerhin war es schon 20 Minuten nach 6, und der Laden sollte schon längst geschlossen sein.
Nachdem ich alle Sessel auf die Tische gestellt und den Boden gekehrt hatte, schaltete Syn das Licht und die Maschinen aus und ging mit mir zur Ladentür.
„Hat ja mal wieder super geklappt heute mit uns zwei, oder?“ lachte er und kniff mich in die Wange.
„Ja, klar“, murmelte ich abwesend und kramte in meiner Tasche nach meinem Handy, um Sora zu fragen was sie Abendessen wollte.
„Hallo! Erde an Aurea! Ist alles in – Hey, was ist das?“ verwundert hielt er die offene Tür in der Hand und blickte auf den kleinen weißen Umschlag, der auf dem kleinen Absatz vor dem Café lag.
In feiner Handschrift stand ein einzelnes Wort darauf, dass ich aus der Entfernung nicht entziffern konnte.
Syn bückte sich geschmeidig und hob in auf.
„Hey, da steht dein Name drauf Rea“
Verwundert betrachtete ich das schön geschriebene „Aurea“ und nahm das Kuvert in die Hand.
Vorsichtig öffnete ich den Klebestreifen und nahm ein kleines graues Kärtchen aus festem Karton heraus, auf dem weitere Worte in der schönen Schrift geschrieben standen.

Du allein. Bist es.
Bist sie. Die Eine.
Seine.




Kapitel 2


Aurea



Die Sekunden verstrichen.


Und noch immer starrte ich auf das kleine, rechteckige Stück Papier und konnte mich nicht bewegen.
„Süße, was ist los? Was steht drauf? Hast du einen heimlichen Verehrer?“
Syn grinste mich mit seiner üblichen unbeschwerten Art an.
Ich konnte ihm nicht sofort antworten. Die wenigen Zeilen haben mich derart aus dem Konzept gebracht, dass ich keinen zusammenhängenden Gedanken mehr auf die Reihe bekam. Ich betrachtete Syn’s Gesicht. Er hielt seinen Kopf leicht schief, sodass ihm seine etwas überlangen blonden Haare in die Stirn fielen. Seine hellen Augenbrauen waren über den dunkelblauen Augen, die einen fragenden Blick auf mich warfen, zusammengezogen. Er hatte seine vollen Kusslippen zu einem süßen Lächeln verzogen, und mir fielen zum ersten Mal, seit wir uns kannten, seine Grübchen auf. Mann, was hatte der Typ für ein Gesicht, ein Traum für alle Mädchen. Nur schade dass ich nicht auf Sunnyboys stand.
Verwirrt über meinen plötzlichen Gedankenumschwung schüttelte ich den Kopf und kehrte in die Realität zurück. Zu dem Stückchen Karton in meiner Hand. Was hatte das zu bedeuten?
Wer war ich? Was war ich? Was meinte der Absender damit? Und wer zur Hölle war der mysteriöse ER, von dem die Rede war?
Als ich bemerkte, dass Syn mich immer noch fragend beobachtete, reichte ich ihm wortlos das Kärtchen und blickte nun meinerseits fragend. Was wohl er dazu meinte?
„Wow. Ganz schon krass. Ich meine, soll das irgendwie romantisch sein? Obwohl es ja offensichtlich noch eine dritte Person involviert ist, immerhin wird von dem ominösen Herrn hier in der dritten Person gesprochen“ Erneut bildeten sich kleine Denkerfalten in seiner Stirn, während er nachdenklich die Zeilen betrachtete.
„Ich habe keine Ahnung, was das soll. Ich meine, will mir da jemand Angst einjagen? Soll das irgendeine Art Drohung sein?“
„Schon möglich. Warte am besten einfach ab, ob noch weiter Nachrichten eintrudeln. Vielleicht hat sich ja wirklich nur jemand einen Scherz ausgedacht.“, schloss Syn und tätschelte meinen Kopf während er den Laden abschloss.
„Bis Morgen dan, Rea!“

Mit einigen Mühen gelang es mir, den Schlüssel im Schloss unserer Wohnungstür umzudrehen. Verärgert über die erneute Verzögerung trete ich sie schlussendlich auf, was sie mir mit einem lauten Krachen, als sie gegen die Wand schlägt, dankt. Super, schon wieder war das Loch in der Wand ein Stück tiefer.
Laute Rockmusik drang durch den Flur, unmerklich von einer nicht schalldichten Zimmertür gedämpft. Als ich das Lied erkannte, besserte sich meine Laune schlagartig.
Mit einem Enthusiasmus, den ich mir nach dem heutigen Tag nicht zugetraut hätte, riss ich Soras Zimmertür auf und fand sie, wie nicht anders von mir erwartet, laut mitgrölend und headbangend in auf dem chaotischen Boden wieder.

I was lost, I went down
I was sustained by the sound,
by the angels singing me to sleep,
now my feet are leaving the ground.



„Am I dead or am I dreaming instead?“, sang ich die nächsten Zeilen mit und sah sie fragend an.
Sie schien sofort zu merken was los war, drehte die Anlage auf humane Lautstärke zurück und setzte sich auf ihr Bett. Als ich mich ihr gegenüber in den Schneidersitz setzte, seufzte ich erst mal tief.
„Sora, was würdest du sagen, wenn ich einen Stalker hätte?“
Ihr Gesichtsausdruck wandelte sich wie ein Päckchen Daumenkino. Zuerst sah sie mich verwundert an, dann kam die geschockte Variante bis sie schließlich bei der hellauf begeisterten Miene hängen blieb.
Oddio

! Was sagst du da? Ein Stalker? Oh mein Gott wie aufregend! Das ist ja noch besser als ein Verehrer, der ist viel hartnäckiger! Das ist bestimmt ein total sexy Typ der dich bei der Arbeit gesehen hat und sich sofort in dich verknallt hat! Oh mein Gott, wie …“
Schnell unterbrach ich diesen wahren Wasserfall an unangebrachten Meldungen.
„Sora, das ist absolut NICHT aufregend! Hörst du dir eigentlich selbst zu? Und nur um Missverständnisse gleich aus dem Weg zu räumen, es ist nicht direkt ein Stalker. Syn hat heute dieses Kuvert vor dem Laden gefunden, als wir gerade schließen wollten.
Ihr war ihre Enttäuschung direkt anzusehen, als ihre Seifenblase von einer Stalker-Romanze zerplatzte. Durch und durch eine emotionale Italienerin eben.
Doch als sie den Umschlag öffnete und die Nachricht las, hellte sich ihre Miene sofort wieder auf.
Oddio

! Das ist ja noch viel spannender! Das klingt so richtig nach Schicksal, nach Bestimmung, nach Prophezeiung. Oh cara, che meraviglioso

!“
„Das ist überhaupt nicht wunderbar! Was soll das, machst du dir keine Sorgen, dass das irgendein kranker Perverser ist? Ich mein, lies dir das doch mal durch: Du bist die Eine. Seine. Ich mein, in welchem Jahrhundert leben wir denn?“ verzweifelt warf ich meine Arme in die Luft, um ihr den Ernst der Lage klar zu machen.
Sie runzelte die Stirn und schien ernsthaft darüber nachzudenken. Ein kleiner Schritt Richtung Erfolg. Doch nein, sie schüttelte nur den Kopf und ihre dunkelbraunen Locken hüpften von einer Schulter zur anderen.
„Ich glaube, du interpretierst da zu viel hinein, Re. Nimm nicht alles so ernst, wart doch erst mal ab, was als nächstes passiert. Vielleicht wartet ja wirklich dein Principe Azzurro

auf dich.“
Stöhnend drehte ich die Augen gen Himmel und ließ mich zurück auf ihr Bett fallen. Na Klar. Mein Traumprinz. Meine Hand folgte meiner Bewegung und blieb, meine Augen verdeckend, auf meinem Kopf liegen.
„Jetzt komm schon Re. Hüpf unter die Dusche und komm essen. Ich hab gekocht, Farfalle alla Sora. Und danach gibt’s Torta di Fragole. Ich hatte heute Heimweh.“
Ich könnte sie küssen. Schnell richtete ich mich auf, umarmte sie schnell und lief in mein Zimmer um mir ein paar Klamotten zu schnappen.
Ich liebte ihr Essen. Es war – so typisch Italienisch. Obwohl sie verdammt viele verschiedene kulinarische Spezialitäten aus allen Herren Länder drauf hatte, konnte man immer einen typischen romanischen Touch darin finden. Besonders schlimm war es, wenn sie mit ihrer Familie telefoniert hatte. Dann gab es eine Woche lang nur Italienisch, ausnahmslos. Was mir nur Recht war, ich war eine totale Niete in der Küche.
Ich roch schon den feinen Geruch der Pasta mit den Pilzen, als ich aus der Dusche stieg, ein Handtuch um den Kopf gewickelt. Während ich mich abtrocknete betrachtete ich mein Gesicht im Spiegel. Meine Haare waren denen von Sora ähnlich, nur dass mein Braun etwas dunkler und meine Augen hell waren. Es gab nichts Besonderes an mir, ich hatte braune Haare und grüne Augen. Meine schmalen Augenbrauen zogen einen feinen Rahmen um meine etwas zu großen Augen, meine Nase war vorne leicht nach oben gebogen und mein Lippen waren schmal und aufgebissen. Eine schlechte Angewohnheit, wenn ich nervös war. Heute war wohl wieder so ein Tag dafür.
Schnell zog ich mir ein dunkles Bandshirt und eine weite Jogginghose an und stürmte in die Küche.
Dort wartete Sora schon auf mich, vor ihr zwei Teller mit Riesenportionen dampfender Nudeln.
Gierig betrachtete ich die kleinen Schmetterlingsnudeln, die mit einer hellen Pilz- und Kräutersauce überzogen war.
„Du bist die beste, Sora!“ rief ich, als ich die Gabel in die Hand nahm.
Sie nickte nur und begann, ihre Portion zu essen.

Als ich das letzte Stück von meinem Erdbeerkuchen verputzt hatte, ließ ich mich in den Sessel zurückfallen, legte stöhnend die Hand auf meinen Bauch und schloss die Augen.
„Sosehr ich dein Essen liebe, Sora. Ich glaube noch länger tut mir das nicht gut.“
Sie kicherte nur und meinte was von wegen ich solle einfach mal wieder Sport machen.
„Ich hoffe, du bist bereit für heute Abend?“
„Heute Abend?“ verwirrt blickte ich sie an und öffnete vorsichtig ein Auge. Was hatte sie vor?
„Fiesta? Du und Ich? Heute Abend? Hallo, auf den Schock mit deinem Verehrer brauchst du heute etwas. Ob Alkohol oder männlichen Bettwärmer, irgendwas wird sich schon finden.“
Party? Heute? Ich konnte mich ja nicht mal mehr vom Stuhl ins Bett bewegen.
„Duu, Sora, ich glaub das wird heute nichts. Tut mir ja wirklich leid, aber ..“
„Nichts Aber. Hopp, du bewegst dich jetzt, und wenn ich dich bis in die Disko schleppen muss.“, meinte sie und zerrte mich von meinem bequemen Stuhl auf. Dabei war es gerade so angenehm.

Eineinhalb Stunden später standen wir vor dem Club. Gestylt und in Mörderschuhen. Ich hätte Sora erwürgen können. Die Musik drang durch die Tür und der Bass ließ die Straße davor leicht vibrieren.
Ich ging hinter meiner vermeintlich besten Freundin hinein und gab meine Jacke bei der Garderobe ab. Als ich mich umdrehte, war Sora schon verschwunden. Vermutlich sofort auf die Tanzfläche, aber auf diesen Kulturschock brauchte ich erst mal was zum Trinken.
Bei der Bar angekommen, überlegte ich noch, was ich den trinken wollte, als mich der Barkeeper auch schon zwinkernd nach meinen Wünschen fragte. Anscheinend hatte Sora mit meinem Outfit gute Arbeit geleistet. Ich lächelte zurück und bestellte einen Caipirinha.
Entspannt lehnte ich mich auf dem Barhocker zurück und überschlug meine Beine, vorsichtig darauf bedacht dass das seltsame Stück Stoff, das sich Kleid schimpfte, nicht zu viel zeigte.
Langsam ließ ich meinen Blick durch den Club schweifen. Theoretisch hatte Sora Recht. Ein bisschen Gesellschaft würde mir nicht schaden. Männliche erst recht nicht. Durch das Studium und die Arbeit kam ich viel zu selten auf meine Kosten. Also suchte ich nach einem passenden Kandidaten, doch die Auswahl war äußerst bescheiden.
Die wenigen Herren, die in Frage kämen hatten bereits eine Begleitung oder hingen an irgendeinem wackelnden Arsch auf der Tanzfläche, und der Rest der männlichen Schöpfung hatte dem Alkohol schon zu viel zugesprochen. Mit einem Seufzen drehte ich mich wieder um, um die Getränkekarte der Bar zu studieren.
„Nichts Passendes dabei?“ fragte mich der Barkeeper amüsiert.
„Nicht wirklich“ antwortete ich mit einem Lächeln, und nahm ihn näher in Augenschein.
Gar nicht so schlecht, dachte ich mir, als ich ihn betrachtete. Seine dunklen Haare kamen frisch vom Frisör, seitlich recht kurz und oben mit Gel durcheinandergebracht. Aus den Augen, deren Farbe ich aufgrund des schlechten Lichtes nicht eindeutig erkennen konnte, blitzte der Teufel raus. Ich konnte mir gut vorstellen, dass ich mit ihm viel Spaß haben könnte.
Er bemerkte meine Musterung und quittierte sie mit einem Lachen und einem von-oben-bis-unten Blick seinerseits.
In dem Moment wurde ich von hinten stürmisch umarmt und eine völlig außer Atem geratene Sora lachte über meine Schulter.
„Ich bin so was von durstig. Madonna

, du musst unbedingt mit mir tanzen gehen, die Musik ist der absolute Hammer. Und – oh, que dio

, wer ist denn das? Sesso puro, ti dico.


Gott sei Dank konnte nur ich ihre Worte verstehen und Gott sei Dank war es dunkel. Sonst hätte man jetzt eine einmalige Chance gehabt eine wandelnde Tomate zu sehen.
Obwohl sie in gewissem Maße Recht hatte, der Typ war purer Sex.
Lachend drehte ich mich wieder der Menschenmasse zu, während Sora wie wild drauflos zu flirten begann. Äußerst wirkungsvoll, bei ihrem italienischen Akzent, darauf flogen die Männer wie Bienen auf einen Becher Honig.
Ich registrierte erneut die Besucher, als ich plötzlich stockte. Mein Blick war bei einer Person hängen geblieben, die gerade gekommen war und sofort auf die mir gegenüberliegende Bar zusteuerte. Sein Gang war geschmeidig und elegant und hatte doch etwas Lauerndes, Gehetztes an sich. Eine Kombination, die mir nicht sofort eingehen wollte.
Als er sich etwas bestellte und sich mit dem Gesicht zu mir niedersetzte, stockte mir erneut der Atem. Seine dunklen Haare standen ein wenig vom Kopf ab, als wäre er gerade mit beiden Händen durchgefahren. Er trug eine dunkle Jeans und ein ebenfalls dunkles Sakko mit einem grauen Shirt. Ich konnte es nicht genau erkennen, aber ich glaubte Tattoos an seinem Hals und Ausschnitt zu erkennen. Als hätte er meinen Blick gespürt, wandte er sich plötzlich mir zu und durchbohrte mich mit seinem. Es war, als würden seine Augen einen kleinen Moment aufleuchten, doch wahrscheinlich bildete ich mir das nur ein. Schnell wandte ich mich ab und widmete mich wieder meinem Cocktail. Das war eindeutig sicherer. Wer weiß zu was ich noch fähig war wenn ich ihn noch weiter anstarren würde.

Nach ein paar Stunden Powertanzen und sehr viel Alkohol sank ich erneut erschöpft auf einen Barhocker. Sora ließ sich zuerst neben mir nieder, doch es dauerte nicht lange, bis sie kurz mit dem Barkeeper verstand. Na da schien einer von uns ja Glück gehabt zu haben.
Seufzend trank ich einen Schluck von meinem MaiTai. Den gutaussehenden Typen hatte ich seit dem ersten Blick nicht mehr gesehen, wahrscheinlich ist gleich darauf wieder verschwunden.
Schön langsam verlor ich die Lust an Party, also schrieb ich Sora eine SMS und machte mich auf zur Garderobe, um meine Jacke zu holen. Gerade als ich in die Ärmel schlüpfte, erklang mein Lieblingslieg aus den Boxen. Lächelnd schloss ich den Reißverschluss der Lederjacke und machte mich auf den Weg nach draußen.
Während ich die Straße entlang ging, sang ich leise das Lied weiter.
„I’m begging, so please come here soon ..“
„So why you good girls like bad guys? Wirklich? Warum ausgerechnet dieser Song?“
Ertönte plötzlich eine tiefe und heisere Stimme hinter mir, die mich erschrocken herumfahren ließ.
Vor mir stand niemand anders als der attraktive Typ aus der Disko, süffisant lächelnd und hochgezogenen Augenbrauen. Seine Augen lagen in tiefen Schatten, auch unter seinen markanten Wangenkochen konnte man eine leichte Verdunklung sehen.
Er hatte die Ärmel seines Sakkos hochgekrempelt und die Hände lässig in den Hosentaschen vergraben. So lehnte er vor mir an der Hausmauer und betrachtete mich wartend.
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Also blieb ich stumm und blickte ihn nun meinerseits abwartend an. Erstaunt über meine spektakuläre Reaktion stieß er ein unerwartetes Lachen aus und kam näher. Kurz vor mir blieb er stehen und legte einen Finger unter mein Kinn. Nun konnte ich seine Tattoos erkennen, die sich nicht nur von seinem Hals Richtung Brust ausweiteten, sondern auch seine Arme hinunterwanderten. Irgendwie erinnerte mich das an das Mädchen von heute im Café.
„Du bist süß“ flüsterte er in mein Ohr, bevor er mich abrupt losließ, auf der Stelle kehrt machte und hinter der nächsten Hausecke verschwand. Ich stand da, verwirrt, erstarrt und absolut fassungslos. War heute Tag der Kuriositäten?

Impressum

Texte: alle Rechte liegen bei mir
Bildmaterialien: alle Rechte liegen bei mir
Tag der Veröffentlichung: 04.02.2013

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