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Prolog


„Ich werde dich immer lieben, das weißt du.“
Ich liebe dich. Du weißt, dass du mich auch liebst“

Im Grunde genommen die gleichen Aussagen, mit der gleichen Bedeutung, fast demselben Wortlaut. Ausgesprochen von zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und sich doch so ähneln.

Der Eine, mitfühlend und zuvorkommend, nachgebend und blind ergeben. Der Andere, nehmend und bestimmend, verletzend und dominant.

Ein Bruder, der leise liebt, zärtlich, immer darauf bedacht, keine Gefühle zu verletzen. Im Gegensatz der andere Bruder, der sich nimmt, was er will, ohne auf andere zu achten.
Eine Liebe, die vorsichtig und doch tief empfindet, gegen eine leidenschaftliche und heftige Liebe.

Gut gegen Böse?


Zwei Menschen, die sich von klein auf kennen.
Zwei Brüder, die gemeinsam aufgewachsen sind, gemeinsam gespielt und gelebt,
gemeinsam gefreut und gelitten haben.
Durch Blut miteinander verbunden.
Blut, das bekanntlich dicker als Wasser ist. Blut, das Elixier allen Lebens.
Blut, das für die einen mehr bedeutet als anderen bewusst ist.

Und doch wurden die beiden Geschwister getrennt.
Vor langer Zeit, durch schicksalhafte Geschehnisse.
Verfeindet, mit unbändiger Wut in ihren Herzen. 
In dem einem mehr als im anderen.

Die Zeit heilt alle Wunden.
Doch Zeit ist relativ. Besonders, wenn man unendlich viel davon besitzt.
Manchmal heilt die Zeit nicht, sondern verletzt. Verstärkt bestehende Schmerzen,
steigert sie ins Unermessliche.

Zwei Brüder, vor langer Zeit getrennt, nun wieder vereint. Durch die Liebe.
Der Liebe zu ihr.

Zwei Sätze, voller Liebe, demselben Sinn.
Gerichtet an sie.

Antonett.

Kapitel eins


Nenne dich nicht arm, weil deine Träume
nicht in Erfüllung gegangen sind;
wirklich arm ist nur, wer nie geträumt hat.“
Marie von Ebner-Eschenbach

 

Ring. Ring. Ring.
Der Wecker läutete. Verdammt. Sie wollte noch weiter schlafen. Noch weiter träumen. Schon wieder dieser seltsame Traum. Wer war dieser mysteriöse Mann? Sie sollte später darüber nachdenken. Antonett kämpfte sich auf, zwang sich die Augen zu öffnen und aus den Decken zu krabbeln.
    Unter dem Klamottenberg, der sich vor ihrem zu großen Bett türmt, suchte sie wahllos etwas zum Anziehen und schleppte sich ins Bad. Oh mein Gott.
    So schlimm kann man doch nicht aussehen? Nicht mal nach einer durchzechten Nacht. Antonett spritzte sich Wasser ins Gesicht und putzte sich die Zähne.
   Nach einem schnellen Frühstück - Cappuccino und ein Brownie vom Vortag - schnappte sie sich ihre Handtasche und verließ die Wohnung. Auf dem Weg zur U-Bahn schlängelte sie sich den Weg durch den regen Verkehr auf dem Gehsteig, doch kurz vor der Treppe zur Unterführung rempelte sie einen hochgewachsenen Mann an und verschüttete ihren Cappuccino über seinen teuer aussehenden Ledermantel.
     „Oh mein Gott! Das tut mir schrecklich Leid!“ Antonett kramte ein Taschentuch hervor und versuchte, den Kaffeefleck aus dem Mantel zu reiben. Ohne großen Erfolg.
     „Hey, kein Problem. Den wollte ich sowieso wegwerfen.“ Ein voller, geschwungener Mund lächelte sie an, als sie aufblickte. Und erst die Augen. Verdammt, was waren das für Augen. Dunkelbraun, sodass sie fast schwarz wirkten. Nein, sie waren schwarz. Sie lagen in einem dunklen Schatten, als wären sie geschminkt.
     Sein markantes Gesicht wurde von einer schwarzen Haarpracht umrahmt, und einzelne Strähnen hingen ihm in die Augen. Sein muskulöser Körper steckte in einem schwarzen Shirt und einer dunklen Röhren-Jeans, die in ebenfalls schwarzen Lederstiefeln endete. Antonett verschlug es regelrecht die Sprache.
    „War nett, dich kennen zu lernen. Adiós.“ Und schon war dieser Traum von Mann in Schwarz auf und davon. Mit fahrigen Bewegungen sammelte sie den Inhalt ihrer Handtasche zusammen, die bei dem Zusammenstoß heruntergefallen war und erwischte gerade noch rechtzeitig die U-Bahn zu ihrem Büro.

Ein erfrischender Duft von Orangenblüten schlug ihr entgegen, als sie die Tür öffnete, ein deutliches Zeichen dafür, dass ihr bester Freund und Fotograf bereits da war.
   „Guten Morgen!“ Der hochgewachsene, gutaussehende Mann saß hinter seinem Schreibtisch und tippte konzentriert auf seinem Laptop. Die große Brille war bis zur Nasenspitze vorgerutscht und seine unordentlich gestylten, dunkelblonden Haare schimmerten golden in der Morgensonne, deren leuchtende Strahlen durch das geöffnete Fenster das geräumige Büro durchfluten.
    „Hey Hon. Gut geschlafen? Oder hast du wieder von deinem Typen geträumt?“ Jason blickte nicht von seiner Arbeit auf, als er ihr antwortete, und seine gespielt beiläufige Frage verbarg den eifersüchtigen Unterton nicht.
    „Als ob du das wissen willst. Wie geht es dir?“ Antonett beugte sich über den Laptop, um ihn auf die Wange zu küssen und schnappte sich eine Hand voll Entwürfe und Fotos. „Gut danke. Das sind Kendras Ideen für den Coffee.Dream-Spot. Ich finde sie super, da sollten wir dran bleiben.“ Die Entwürfe waren echt nicht schlecht.
    Kendra hatte eine eigene Sicht auf Dinge, was sie noch wertvoller für Antonetts Werbeagentur machte. „DeRêve et Amies“, eine kleine Agentur, in der nur Antonett und ihre Kollegen Kendra und Jason arbeiteten, war nicht gerade kurz vor dem Durchbruch, im Gegenteil, Antonett musste jeden Penny zweimal umdrehen, doch ihr gefiel das Arbeiten. Aus familiären Gründen hatte sie ihr Medizinstudium abgebrochen und durch Zufall ihre Passion für die Werbung gefunden. Als Jason dann die Idee hatte, eine eigene Firma zu gründen, kratze sie alle Ersparnisse zusammen. Die Geburtsstunde von „DeRêve et Amies“, für die sie nun seit zwei Jahren alles gab.
     Und genau das sollte sie jetzt tun, anstatt hier rumzusitzen und bescheuerten Träumen nachzuhängen. Sie startete ihren Computer und öffnete die Mappe mit den Entwürfen.

.. Ein Auto rast mit zu hoher Geschwindigkeit an der Straßenecke vorbei. Die Laternen flackern unheimlich, Nebel zieht auf.
   Wie in einem Horrorfilm. Antonett zieht ihren Mantel noch enger um ihren schlanken Körper und beschleunigt ihre Schritte. Hoffentlich erwische ich die U-Bahn noch.
     Irgendwo ertönt eine Sirene. Ein kalter Schauer läuft Antonett über den Rücken und ihre Nackenhaare stellen sich auf. Sie blickt zum 10. Mal über die Schulter, doch wie auch schon zuvor ist sie die Einzige auf der Straße.
     Ein plötzlicher, kräftiger Windstoß wirbelt Antonetts Mantel auf und zwingt sie für einen kurzen Moment stehen zu bleiben. Schon wieder hat sie das Gefühl, nicht allein zu sein. Und diesmal scheint sie Recht zu haben- Plötzlich steht ein großer Mann vor ihr und versperrt ihr den Weg.
     „Was-„ Doch eine kräftige Hand an ihrem Mund hindert sie am weiter sprechen. Eine tiefe Stimme flüstert ihr zu: „Keine Angst Kleine. Ich werde dir nichts tun. Ich werde nur …“
     
Das Flüstern endet in einem tiefen Knurren, als sich ein von einer schwarzen Kapuze verdeckter Kopf ihrem Hals näherte …


    „Was?„ Antonett schrak hoch. Verwirrt blickte sie auf das Chaos vor ihr: sie war auf dem Schreibtisch eingeschlafen. Zettel lagen verstreut auf dem Boden, Stifte und Kugelschreiber bildeten zusammen mit Büroklammern und Fotos ein Durcheinander auf dem Schreibtisch.
     Just in diesem Moment öffnete sich ihre Tür und Jase kam schwungvoll herein. „Das hier müssen wir noch abschicken, Alles Okay Honey?!“
    Er ging um den Tisch und zog Antonett sanft in seine Arme. „Hey, hast du wieder geträumt?“ Sie atmete langsam aus, ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie den Atem angehalten hatte. Als sie aufsah, blickte sie direkt in Jasons mitternachtsblauen Augen, die sie besorgt beobachteten. Jase strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr und half ihr auf. Verwirrt setzte sie einen Schritt vor den anderen und versuchte, das Fenster zu öffnen. Sie brauchte dringend frische Luft, um einen klaren Kopf zu kriegen. Doch aus irgendeinem Grund klemmte es und Antonett ließ erschöpft davon ab.
      Das war neu. So extrem waren ihre Träume noch nie gewesen. Das war das erste Mal, dass sie danach so desorientiert war. Wie spät war es überhaupt? Als hätte er ihre Gedanken gelesen, ertönte Jasons Stimme hinter ihr: „Es ist schon nach 6 Uhr, ich wollte dich gerade abholen, wir waren doch zum Essen verabredet!“
     „Verdammt, das habe ich komplett vergessen.“ In Wahrheit hatte sie eigentlich keine Lust darauf, mit ihm essen zu gehen, sie wusste nur zu gut, wie das enden würde. Er kam einfach nicht damit klar, dass sie nichts für ihn empfand, zumindest gab er nicht auf. Aber da sie nun schon zugesagt hatte, musste sie sich wohl oder übel ihrem Schicksal fügen.
     Mit einem tiefen Seufzer packte sie ihre Handtasche zusammen und stieg hinter Jason die Treppen hinunter.

Wie oberflächlich hier alles war. Die Einrichtung des Restaurants, in dem sie Jase gegenübersaß, war mehr als nur kitschig und übertrieben. Billiger, goldbemalter Stuck und gleich gefärbte Tür- und Fensterrahmen wurden von schweren, roten Vorhängen übertönt. Den Tisch, der mit einer rotgoldenen Tischdecke gedeckt war, zierten viel zu viele Kerzen, die von dem billigen Besteck auch nicht schöner wurden. Aber ihm schien es zu gefallen. Sie bemerkte, dass sie seiner Lobeshymne auf sein Football-Team nicht gefolgt war, also versuchte sie, sich wieder auf das Gespräch zu konzentrieren.
    „Ich sag‘s dir, die Jungs sind einsame Spitze. Natürlich erst, nachdem ich sie auf Zack gebracht habe. Wenn man bedenkt, was die davor zusammengespielt haben, können sie froh sein, dass ich mich geopfert habe, sonst wären sie heute noch … „
   Oh mein Gott. Sie konnte unmöglich den ganzen Abend damit verbringen, sich über Football zu unterhalten. Wenn sie nicht sofort eine Entschuldigung fand, um kurz von hier zu verschwinden, würde er noch bemerken, dass sie ihm kein einziges Mal zugehört hatte.
   „Hey, Jase, Ich bin kurz auf der Toilette.“ Verwirrt blickte er ihr nach, wie sie schnellen Schrittes auf die Toiletten zu steuerte.
   Als sie vor dem Spiegel stand, versuchte sie, ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Verdammt. Nicht schon wieder. Sie hätte gedacht, diese Schwindelanfälle wären besser geworden. Sie war schon immer von der eher schwachen Sorte gewesen. Schon in der Grundschule wurde sie gehänselt, als Bleichgesicht bezeichnet. Eine Tatsache, die sie nur noch zäher gemacht hatte. Später dann nahm sie Kickboxstunden, ging ins Fitnessstudio, trainierte verbissen bis sie auf die Uni kam. Seit sie ihre Firma hatte, hing sie mit dem Training ein wenig hinterher. Das sollte sich jetzt ändern.
    Als sie sich Wasser ins Gesicht spritzte und ihr Make-up überprüfte, bemerkte sie eine Bewegung hinter sich. Doch als sie herumwirbelte, war nichts zu erkennen.
    Oh Mann. Jetzt wirst du auch noch paranoid, Antonett. Diese Träume machen dich noch mürbe, das kannst du dir im Moment echt nicht erlauben, also reiß dich zusammen, verdammt noch mal.
    Entschlossen schritt sie zur Tür, um prompt gegen eine Wand aus Muskeln zu rennen. Muskeln in schwarze Seide gepackt. Verdammt gut riechende Muskeln. Verdammt sexy Muskeln. Und der Kerl, der zu diesen Muskeln gehörte, war niemand anders als der Unbekannte, mit dem sie heute schon mal zusammengekracht war.
     Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, als sie eine lahme Entschuldigung stammelte.
„Na so ein Zufall.“ Lächelnd blickte er sie mit einem intensiven Blick an, der ihren Puls mehr als nur beschleunigte.
     Immer noch lächelnd, beugte er sich hinunter und küsste sie völlig unerwartet auf die Wange.
„Antonett DeRêve, ich freu mich schon, dich näher kennen zu lernen.“
   „Bitte .. Was? Woher kennen Sie meinen Namen? Und was erlauben Sie sich eigentlich …“ Sie blinzelte verwirrt, und plötzlich stand sie allein vor den Toiletten.
    Was zum Teufel … Das konnte doch nicht sein? Wie – Wie war das möglich? Aber er war nicht mehr da. Keine Spur von ihm zu sehen. Hatte sie sich das eben nur eingebildet? Aber sie konnte die Wärme von seinen Lippen immer noch an ihrer Wange spüren.
     Verstört kehrte sie zu ihrem Tisch zurück, wo Jase gerade mit einer hochgewachsenen Blondine ein sehr lebhaftes Gespräch führte.
     „Jason?“ Überrascht drehte er sich um. „Oh, An …“
Irgendwie schien er plötzlich sehr verlegen zu sein. Hatte er sich endlich damit abgefunden, dass sie kein Interesse hatte?
     „Ich bin dann mal weg, Hny. Viel Spaß noch.“ Lächelnd blickte sie zu der Blondine und zwinkerte ihr zu.
Sie nahm ihre Handtasche und machte sich auf den Weg zur Garderobe, um ihren dunkelgrauen Wollmantel zu holen.

Herbst. Eine faszinierende Jahreszeit. Nebelschwaden durchzogen die verlassenen Straßen und Gassen. Grüne, saftige Wiesen und dunkle, satte Wälder verloren ihr Leben für kurze Zeit, um sich für den Frühling zu erholen, Bäume warfen ihre Blätter ab um nicht zu verdursten. Eisige Winde trieben loses Laub durch düstere Landschaften.
   Und doch ist der Herbst alles andere als hässlich. Antonett fühlte sich verdammt wohl, wenn sie im verlassenen Park der Stadt stand, die Augen schließen konnte und der Wind mit ihrem Haar spielte. Wenn er ihren Mantel aufwirbelte, ihr Gesicht umschmeichelte und langsam durch ihre Klamotten drang, erinnerte sie sich wieder daran, wie es war, ein Mensch zu sein. Antonett hatte sich schon lange von einem normalen Leben verabschiedet, irgendwann hatte sie einfach eingesehen, dass jemand wie sie niemals normal sein wird, geschwiege denn kann. 
    Ein Mensch, mit dieser verabscheuungswürdigen Fähigkeit, wird immer hervorstechen, sosehr er sich auch einzufügen versuchte. Schon als kleines Mädchen konnte sie niemand verstehen noch akzeptieren. Nicht einmal ihre eigene Familie hatte Verständnis dafür, dass ihr Kind, ein Kind aus ihrer makellosen Familie, abnormal war.
   Nicht, dass sie nicht hervorstechen hätte sollen. Eine Tochter des Hauses DeRêve hatte anders zu sein. Besser. Von klein auf wurde ihr eingetrichtert, wie abstoßend das normale Volk war, zu unwürdig, um sie auch nur anzusehen. Antonett konnte sich nie damit anfreunden, wie ihre Eltern andere Leute behandelten, wie sie sich als auserwählt fühlten, nur weil auf ihrem Konto mehr Geld und auf ihrem Stammbaum adeliges Blut zu finden war. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie, zusammen mit ihrer kleinen Schwester Violet, von zu Hause abgehauen wäre. Doch dann wurde ihr diese Entscheidung unfreiwillig abgenommen.
    Und sie hatte einfach aufgegeben. Hatte Violet aufgegeben.

Als ein heftiger Windstoß ihren Mantel anhob, musste sie plötzlich an ihren Traum denken, den sie diesen Nachmittag in ihrem Büro hatte. Sie öffnete langsam ihre Augen und blickte über die Schulter, doch sie war allein, verdammt verlassen in diesem dunklen Park, der auf einmal trostlos und finster wirkte. Langsam bewegte sie sich auf die Straßen zu, bei jedem Blick über die Schulter beschleunigte sie ihre Schritte.
   Als sie die Straße erreichte, die sie auch im Traum entlang gegangen war, überkam sie ein beklommenes Gefühl. Sie spürte, dass sie nicht allein war, als sie plötzlich jemand am Oberarm packte und am Weitergehen hinderte.
   Ihr Schrei wurde von niemandem gehört, da ihr Mund von einer kräftigen Hand verschlossen wurde. Sie wand sich, wehrte sich. Sie kämpfte, und hatte nicht die geringste Chance. Dieser Mann, wer auch immer es war, war viel größer und stärker als sie. Doch sie gab nicht auf, sie konnte nicht aufgeben, nicht noch einmal. Doch als eine dunkle, tiefe Stimme ihr zuflüsterte, versteifte sich alles in ihr.
   „Keine Angst Kleine, ich tu dir nicht weh, ich will nur … Ich brauche nur etwas von dir.“ Sie kannte diese Stimme. Sie würde diese rauchige Stimme überall erkennen. Ihre Angst wurde schwächer, als sie seine beruhigenden Worte hörte, doch als er ihr Haar zur Seite schob und ihren schmalen Hals freilegte, kehrte sie doppelt so stark zurück.
    Ihr Puls schlug heftig, man konnte es deutlich unter der dünnen Haut des Halses sehen. Als sie aufblickte, sah sie gerade noch das helle Aufblitzen in den Augen ihres Entführers, bevor er seinen Kopf senkte und sie einen stechenden Schmerz an der Stelle ihrer Ader spürte.  
   Sie keuchte auf, als er den ersten kräftigen Zug von ihrem Blut nahm und sich von ihr nährte. Ihr etwas nahm, von dem sie nicht einmal geahnt hätte, dass jemand es wollen würde.
    Sie klammerte sich an ihm fest, doch sie wusste nicht, ob sie ihn davon abhalten wollte, weiter zu trinken, ob sie Gefallen an seiner Tat fand oder ob sie fürchtete zu fallen. Gerade als sie dachte, den Bezug zur Realität zu verlieren und in Ohnmacht zu fallen, spürte sie, wie er von ihr abließ und mit seiner Zunge sanft über die Wunde fuhr.
    Als sie die Augen öffnete, saß sie an eine Mauer gelehnt auf dem Bürgersteig, den Mantel halb ausgezogen und verdreckt, desorientiert und verwirrt. Hatte sie geträumt?



Kapitel zwei


Weil das Unerwünschte nicht immer das Falsche ist,
ist das Erwünschte nicht immer das Richtige“
Christa Schyboll

 

Tários schritt energisch in seine Wohnung. Um den Dreck, den er auf seinem Weg hinterließ, kümmerte er sich wenig. Seine Finger zitterten vor unterdrückter Wut, als er sein schweißnasses Hemd, welches seine, dank der Erregung kurz vor dem Ausbreiten stehenden Flügelansätze, kaum verbergen konnte, aufknöpfte.
    Maldição.
Der wummernde Bass von Volbeat, der den Boden unter ihm erbeben ließ, beruhigte ihn kaum. Er versuchte, seinen rasenden Puls zu mindern, indem er an einen verlassenen, einsamen Wald dachte, doch nichts konnte das Verlangen nach dieser Frau schwächen oder gar verdrängen.
    Seine Fangzähne fuhren ganz aus seinem Oberkiefer, während er seine geballte Faust gegen den hölzernen, robusten Türpfosten schlug. Mit einem tiefen, animalischen Knurren schloss er krampfhaft die Augen, als sich seine pechschwarzen, seidenen Flügel schmerzhaft entfalteten. Seine Schultern zuckten, als die Knochen seiner Teufelsschwingen länger wurden und seine mitternachtsgleichen Federn durch die Luft schlugen.
    Er konnte absolut nichts dagegen tun, genauso wie er nicht verhindern konnte, dass seine sonst schwarzen Augen sich in einen Abgrund mit purpurroten Tiefen verwandelten. 
   Sein Zustand sprach von größter, körperlicher Erregung, wie sie nur im Kampf ums Überleben oder in äußerster sexueller Ekstase auftrat. Dass sein Verlangen nach dieser Frau ihn schon so transformierte, ohne dass er auch nur einen Teil ihrer Leidenschaft erahnen konnte, nur allein durch den kurzen Geschmack ihres Blutes, hieß bei Gott nichts Gutes.
    Bei Gott? Eine solche Kreatur entsprang wohl eher dem Teufel
Antonett DeRêve. Diese Frau, mit ihrem hüftlangen, ebenholzschwarzem Haar, war etwas Besonderes. Wenn er es nicht schon an ihren außergewöhnlichen Augen erkannt hatte, dann war der Geschmack ihres Blutes wohl eindeutig. Idiota.
    Nur das Blut einer Nachtwandlerinhatte einen besonderen Geschmack, und ebenso die Augen einer solchen Seltenheit waren von nichtmenschlicher Farbe. Antonett’s Augen hatten die Farbe von frühreifen Limetten und feurigem Chilirot, das ihre Pupillen in Flammen aufgehen ließ. Was auch den extravaganten Duft ihres Blutes erklärte. Der erfrischend saure Limettengeschmack, vermischt mit dem brennend scharfem Chili, umschmeichelte immer noch Tários‘ Zunge.
     Nachtwandlerinnen waren das größtenteils menschliche Gegenstück des Stammes, dem Tários angehörte. Seine Rasse war eine Art von Dämonen, sein Stamm eine kleine Gruppierung der ihrigen aus den entlegensten Winkeln der Welt.
    Mit ihren beindruckenden Flügeln, die bei jedem Einzelnen von ihnen anders gefärbt waren, ihren scharfen Fangzähnen und raubtierhafter Kampfhaltung, waren sie seit Jahren gefürchtete Alpträume, die von den Menschen nicht wahrgenommen wurden.
    In diesem Fall war dem Stamm die Vernunft der Sterblichen zu Gunsten, denn sollte die Existenz solcher Geschöpfe öffentlich werden, wären eine Massenpanik und fatale Vernichtungsattacke die Folge.
     Doch das Volk der Dämonen ist nicht immer als böse betrachtet worden. Zu Anbeginn der Zeit wurden sie als Geist der Abgeschiedenen oder als Geist der Verstorbenen bezeichnet, die als menschliches Gewissen gehandelt wurden. Solche Schicksalsgeister, wie man sie damals nannte, waren unsichtbare Begleiter der Menschen, die ihnen halfen, mit den täglich anfallenden Entscheidungen zu Recht zu kommen.
     Eine Theorie, die der Wahrheit nicht ganz fern war. Der offiziellen Geschichte nach, die sich die Dämonen seit Jahrhunderten erzählten, waren die ersten Dämonen gefallene Engel, in gewisser Hinsicht. Damals, als die Erde gerade am Entstehen war, wachten zehn Wesen über die Vorgänge der Erschaffung. Der Lohn für diese Arbeit war einem Leben im Paradies gleichzusetzen, die Erfüllung jeglicher Wünsche in einem Reich, das die tollkühnsten Träume in den Schatten stellte, vom Allerhöchsten selbst versprochen. Doch fünf der Wächter konnten ihre Gier nicht zurück halten und fingen an, sich Teile der Welt unter den Nagel zu reißen. Durch diese durchtriebenen Taten handelten sie sich die Missgunst des Allerhöchsten zu, wodurch sie vom Reich der Wächter verstoßen wurden.
     So kam es, dass sich diese fünf Wesen von dem, was die Menschen Himmel nannten, abwandten und sich in den Tiefen der Erde verkrochen, um sich dort ihre eigene Welt aufzubauen. Über Jahre hinweg lebten sie dort, friedlich, im Einklang mit der Natur. Sie bereuten ihre Taten damals, und doch waren sie glücklich darüber, ihr eigenes Reich erschaffen zu haben. Eine Tatsache, der niemand Glauben schenkte, denn die Wesen des Himmels, die anderen fünf Wächter, ließen nichts unversucht, die in Ungnade gefallenen zu diskriminieren. Mithilfe von menschlichen Gefolgsleuten, die einer neuartigen Religion angehörten, versuchten sie, sich als das absolut Gute und Richtige darzustellen.
     Mit Erfolg, denn noch heute preisen ihre Gehilfen sie als Engel an, und jeder gläubige Mensch vertraut ihne und bittet sie um Hilfe. Die anderen Wächter jedoch werden seit jeher als Dämonen bezeichnet, als Diener des Teufels und des ultimativen Bösen. Sie wurden Opfer zahlreicher Verwünschungen und Beschimpfungen, erhielten ein Image, das sie bei Weiten nicht verdient hatten.
     Nicht dass die Wahrheit irgendjemanden von diesen Predigern interessiert hätte.
Nachtwandlerinnen also waren Menschenfrauen, die sich durch spezielle äußerliche Merkmale von normalen Sterblichen unterscheiden, doch wurden sie auch mit außergewöhnlichen Fähigkeiten ausgezeichnet. Solche Gefährtinnen, wie man sie häufiger nannte, waren in der Lage, sich in Dämonen zu verwandeln, wenn sie ein Stammesmitglied liebten und sich mit ihm durch eine heilige Zeremonie verbanden.
    Ein Teil eines solchen Bundes war der Blutaustausch, und er hatte bereits unbeabsichtigt damit begonnen.
Merda. Wie konnte er Idiota nur eine Wandlerin als Nahrungsquelle missbrauchen? Er hätte sie nicht mehr erniedrigen können.
    Ein zweites Mal ließ er seine Faust auf das knorrige Holz niederkrachen.
„Hey Mann, alles okay mit dir?“ Er hatte in seinem Rausch nicht mitbekommen, wie sich die Tür zu seinem Quartier geöffnet hatte. „Merde. Verdammt, Tários, was zur Hölle ist mit dir passiert? Du siehst echt beschissen aus.“
    Tários drehte sich um und blickte seinen Kampfbruder mit glühendem Blick an. Maxime, ein großer, sehniger Krieger aus dem Süden Frankreichs, zog nur amüsiert eine Augenbraue hoch. „Kümmer dich um deinen eigenen Arsch, Amigo.“
    „Würd ich ja gern, mon frère, aber da du leider bei deiner stürmischen Ankunft das gesamte Gebäude versaut und dabei unter anderem Damon aufgeweckt hast, hätte er mich nicht beauftragt herauszufinden, was zur Hölle du schon wieder verbockt hast. Mann, ich hoffe für dich, du hast einen triftigem Grund. Der Typ ist auf Hundertachtzig.“
   "Caralho pa fodece. Ich … Ich hatte ein Problem heute da draußen. Ich hab ordentlich Scheiße gebaut, Amigo. Vor ein paar Tagen habe ich eine Frau kennengelernt. Sie ist mir wortwörtlich über den Weg gelaufen.
     Verdammt, und ich hab mir bei Gott nichts weiter dabei gedacht, als ich heute von ihr getrunken habe. Nur, maldição, sie ist eine verdammte Gefährtin. Ich weiß, dass ich es bemerken hätte müssen, aber … Verdammt.“
    Maxime versuchte erst gar nicht, sein Grinsen zu verbergen. „Na, das wird Damon ja beruhigen, eine Gefährtin für unseren lieben Tários.“
     Mit einem tiefen Knurren sprang Tários auf und stürzte sich auf seinen besten Kumpel. Kichernd kroch der Franzose unter ihm hervor und deutete auf Tários Flügel.
    „Scheint ja was Besonderes zu sein, deine Kleine. Wann stellst du sie mir vor?“
Tários‘ Blick hätte Feuer zu Eis erstarren lassen können, doch Maxime zuckte nicht einmal mit der Wimper, als er sich unter ihm zur Seite rollte und aufstand.
    „Wir sehen uns bei der Nachtschicht“, zischte Tários.
Mit diesen Worten knallte er die Tür hinter dem anderen Krieger zu.

Maxime fuhr, als wär der Teufel persönlich hinter ihm her. Mit gefährlichen Manövern lenkte er den schwarzen Geländewagen durch den Nachtverkehr der Stadt, doch die beiden anderen Dämonen verzogen keine Miene.
    Tários murmelte nur gedankenverloren vor sich hin, was ihm den einen oder anderen Seitenblick des dritten Kriegers einhandelte.
    Logan fuhr sich mit einer Hand durch seine dichte, dunkelbraune Mähne und checkte noch einmal sein Waffenarsenal durch. Unter seinem Ledermantel trug er zwei halbautomatische Schusswaffen, verschieden große Messer, die Scheiden um seinen Bauch und Oberschenkel geschnallt, und andere diverse Nahkampfausrüstungen, mit denen jeder von ihnen ausgestattet war. Logan jedoch hatte zusätzlich noch zwei Dolche, mit zwei langen, extrem dünnen und scharfen Klingen, die er in den Ärmeln seines Mantels versteckt hielt. Festgeschnallt an seinen Armgelenken, waren sie eine mörderische Verlängerung seiner Hände, mit denen er Gegner effizient, schnell und brutal tötete.
     Solche Krieger waren weiß Gott wie nötig, denn seine Rasse war nicht die einzige, die unbemerkt neben den Menschen lebte. Vor ungefähr tausend Jahren stießen ein paar Dämonen bei einem Erkundungstrip an der Oberfläche auf übermenschliche Schwingungen, die nichts mit denen, die sie und die Engel auszeichneten, gemein hatten. Sie fanden heraus, dass die Wege des Allerhöchsten nicht immer durchsichtig waren, als sie zum ersten Mal auf Lykanthropen stießen.
     Es stellte sich heraus, dass die Dämonen es mit allerhand anderen Mythen zu tun hatten, wobei sie sich schön langsam damit abgefunden hatten, alle paar Jahrhunderte neue Wesen kennenzulernen. Und diese Treffen gingen meist alles andere als friedlich aus.
    Was mit dem Wunsch, ein ruhiges Leben unter der Erde zu führen, begonnen hatte, war zu einem haarsträubenden Kampf ums nackte Überleben geworden. Die Dämonen waren durch ihre dickköpfige Überheblichkeit und ihrer Überzeugung, gleichauf zu stehen wie die Engel, nicht gerade dafür geschaffen, sich Freunde zu machen. Besonders nicht mit dem überaus intuitiv handelnden Volk der Lykanthropen, einer menschlich aussehender Horde, die sich einmal im Monat in eine wilde Bestie verwandelten. Ein Kampf mit einem solchen Rudel war für alte Dämonen wie seiner Truppe ein netter Zeitvertreib. Und Gott sei Dank war heute Vollmond.

„Hoffentlich kriege ich heute einen Lykan zwischen die Klauen, wenn wir dir Höhle auseinandernehmen.“ Logans Stimme war durch sein Knurren kaum zu erkennen. Der kälteste aller Krieger war gnadenlos im Kampf und immer auf Ärger aus. Er kam erst kurz vor Sonneneinbruch ins Hauptgebäude der Krieger zurück, kostete jede Minute, die er mit dem Bekämpfen von Feinden verbringen konnte, vollkommen aus.
    Tários fühlte sich genauso, nach dem ganzen Schlamassel heute mit Antonett brauchte er einen richtig blutigen Kampf, um sich von seiner Wut auf sich selbst abzureagieren.
    Als Maxime den Rover mit quietschenden Reifen zum Stehen brachte, sprangen Logan und Tários aus dem Wagen und überprüften die Lage, während der Franzose seinen Rucksack mit dem C4 Sprengstoff aus dem Kofferraum holte. 
    „Na dann lasst uns mal ein kleines Feuerchen machen, was Leute?“ Maxime kicherte leise, als er hinter den anderen zwei in Richtung Wald schlich.
   Es war unnatürlich still zwischen den Herbstbäumen. Kein Knacken im Unterholz, kein Schrei eines verlorenen Vogels, kein einziger Tierlaut war zu vernehmen. Noch nicht einmal Blätter rauschten, die Natur hatte sich mit der Gefahr abgefunden und sich zurückgezogen. Ein sicheres Zeichen dafür, dass sie auf der richtigen Spur waren.
   Tários bewegte sich lautlos vor seinen Brüdern tiefer in die Dunkelheit, bis sie zu einer Stelle gelangten, die selbst den gefühlslosesten der Krieger schlucken ließ. 
    Eine tiefe, breite Furche führte durch leblose Bäume, die ihre Blätter schon vor langer Zeit verloren zu haben schienen, durch Nebelschwaden, die sich an vereinzelten Ästen festhielten, als wollten sie diesen Ort zumindest ein wenig vor der Welt verstecken, auf eine Versenkung zu, in der sich alles Licht in der riesigen Öffnung einer Höhle im Gestein verlor.
    Der Boden war ausgetrocknet und voll totem Laub, kein Anzeichen von Moos oder Gras zeugte von der Anwesenheit eines Lebewesens, und sei es auch noch so klein, alles hatte das Weite gesucht. Und jene Glücklosen, die zu langsam waren, lagen verstreut zwischen den Baumgerüsten: Manche vollends verwest, nur noch die Knochen waren übrig, andere zerfetzt, ihre letzten fleischlichen Überreste in Vergessenheit geraten, da die Fährte einer größeren Beute aufgeschnappt wurde.
    Der Graben zur Höhle wurde jedoch nicht nur von Tierskeletten geziert, auch Teile von Menschen, ob Knochen oder halbangenagte Gliedmaßen, fanden hier unachtsam zwischen Ästen und Tierkadavern geworfen ihre letzte Ruhe. Hoffentlich.
    „Meu Deus“. Tários bekreuzigte sich mechanisch bei diesem grauenhaften Anblick, und auch seine Brüder murmelten leise Gebete in ihrer Muttersprache.
    „Also hatte Jamie wohl recht mit seiner Vermutung. Hohl mich der Teufel wenn wir hier nicht auf ein paar beschissene Wölfchen stoßen.“ Logan gab den anderen ein Zeichen zu warten und schlich vorsichtig auf den hinteren Teil der Felswand zu, in der sich die Höhle befand. Wenige Minuten darauf kam er zurück, um Bericht zu erstatten.
     „Sieht hinten nicht viel besser aus, Jungs. Überall das gleiche Chaos. Soweit ich gesehen habe, gibt es auch keinen anderen Ausgang als diesen hier. Ich schätze wir sollten unser Glück versuchen.“ Sein Grinsen leuchtete vor Vorfreude.
    Tários und Logan schritten auf den Höhleneingang zu und verschwanden in der Dunkelheit, während Maxime den Plastiksprengstoff vorbereitete.
     Sobald sie das schummrige Tageslicht des Waldes hinter sich gelassen hatten, befanden sie sich in einem tiefen Schwarz, dass keine Umrisse zu erkennen gab. Doch dank ihrer scharfen Augen können Dämonen in jeder Dunkelheit ohne Hilfe scharf sehen, was bei Aktionen wie diesen von großem Nutzen war.
    Tários ging voran, immer weiter drangen sie in die Tiefen der Behausung, die Waffen entsichert und im Anschlag. Nach wenigen Schritten hörten sie sie.
    Schmatzende Geräusche zeugten von einem wahren Festmahl, wenn man es so bezeichnen konnte. Die Krieger hörten, wie sich ein mittelgroßes Rudel um Beute zu streiten schien, wie Sehnen rissen, Knochen ausgerenkt und ganze Gliedmaßen abgetrennt wurden.
    Kräftige Kiefer wurden in Fleisch gehauen und herausgerissene Stücke mit knurrendem Brüllen gefressen. Lykanthropen bei Vollmond wurden vollkommen von ihren animalischen Instinkten geleitet, da war kein Platz mehr für das bisschen Vernunft, dass ihnen im nüchternen Zustand eigen war.
    Tários hob seine Daewoo, deutete Logan ihm zu folgen und näherte sich dem Schauerplatz. Sein Bruder hatte seine Klingen bereits ausgefahren und hob nun noch seine Beretta.
     Als sie um die letzte Wendung der Höhle kamen, die sie noch von den Lykanthropen trennte, hatten sie freie Sicht auf drei ausgewachsene Werwölfe, die sich um einen vollkommen entstellten Menschen stritten. Der blutüberströmte Korpus war kaum noch als solcher zu erkennen, ihm fehlten Gliedmaßen, sein Brustkorb war von den scharfen Krallen zerfetzt. Gerade als einer der Bestien ein weiteres Stück Fleisch herausriss, eröffnete Tários das Feuer. Der Lykan fiel augenblicklich tödlich getroffen um, sein markerschütterndes Heulen machte die anderen beiden auf ihre Angreifer aufmerksam. Bevor die Krieger jedoch auch sie ausschalten konnten, sprangen die Wölfe aus dem Weg und griffen nun ihrerseits an. Einer der beiden bekam Logan am Unterarm zu fassen und grub seine überdimensionalen Fänge in dessen Fleisch. Doch bevor die Bestie die Chance bekam, die Schnauze samt Fleisch zurück zu reißen, durchtrennte der Krieger die Kehle des Lykan mit seinen Klingen.
     Auch Tários war schneller als sein Gegenüber. Er wirbelte herum, bevor dieser auch nur den Hauch einer Chance zum Angriff hatte und erlegte ihn mit einem donnernden Kugelhagel.
     Als beide Krieger kurz Luft hohlten, hörten sie das Knurren eines verdammt großen Rudels, dass sich noch in den Tiefen der Höhle befand.
     „Scheisse Logan, da kommen noch mehr!“ brüllte Tários und sprintete hinter dem anderen Krieger her auf den Ausgang zu, das Fauchen der Kreaturen im Nacken.
     Draußen angekommen, rief er dem dritten Krieger zu: „Maxime, knall die verdammte Höhle in die Luft!“
Der Franzose zögerte keine Sekunde, einen Augenblick später ertönte hinter ihnen ein lauter Knall und einzelne Gesteinsbrocken flogen ihnen um die Ohren.
    „Oh Mann, können wir das nochmal machen?“ lachte Logan und seine beiden Brüder fielen in das Gelächter mit ein. Genau dieser Erfolg hatte ihnen seit Langem gefehlt.  
   „Wer kommt noch mit auf die Jagd?“ fragte Maxime, doch Tários winkte ab.
„Ach komm schon Kumpel, eine heiße Vene und eine willige Wirtin wirst du doch nicht abschlagen, oder?“  
     Logan grunzte nur „ Vergiss den Typen, der wird seine Aggressionen schon nicht abbauen wollen. Bleiben mehr Bräute für uns.“



Kapitel drei

Die Musik drückt das aus,
was nicht gesagt werden kann und
worüber es unmöglich ist,
zu schweigen.“

Victor Hugo

 

Musik ist die größte Malerin
von Seelenzuständen
und die allerschlechteste
für materielle Gegenstände.“

August Wilhelm Ambros

 

Vereinzelte Sonnenstrahlen stahlen sich durch den dünnen Vorhang in Antonetts Schlafzimmer und schienen auf ihr im Traum verkrampftes Gesicht. Mit einem leisen Stöhnen drehte sie sich auf die andere Seite des Bettes, um prompt auf den Boden zu knallen.
    „Autsch.“ verwirrt blickte sie um sich. Ihre verknotete Decke war mit ihr zusammen vom Bett gerutscht, unter ihr spürte sie die harten Konturen von den Büchern und Ordnern, die sie in ihrem Arbeitsrausch mit ins Bett genommen hatte.
    Doch all der Ehrgeiz und die Intensität, mit der sie sich in das Projekt stürzte, ließ sie die Ereignisse der letzten Tage nicht vergessen.
    Noch immer hatte sie Alpträume von der verhängnisvollen Begegnung in jener kalten Herbstnacht, wo sie dieser Unbekannte festgehalten und – und ihr Blut getrunken hatte.
    Er hatte tatsächlich an ihrer Vene gesaugt. Sie hatte die zwei Einstichwunden an ihrem –hals gesehen. Zwar verblasst und unnatürlich schnell verheilt, doch unverkennbar. Das machte doch alles keinen Sinn, welcher Psychopath streifte hier nachts durch die Straßen und trank das Blut anderer Menschen? Und wie konnte er sie beißen? Ein normaler Mensch war zu so etwas doch nicht möglich oder? Sie konnte sich das nicht erklären.
    Ein Teil ihres Verstandes flüsterte ständig dieselben Wörter.
Blutsauger.
Vampir.
U
ntote.
    Doch solche Wesen existierten nicht, konnten nicht existieren. Das waren alles nur Schauermärchen, die man kleinen Kindern erzählt, um sie vor Unfug zu bewahren. Stoff für Horrorfilme und Gruselgeschichten, aber keine Realität.
    Egal wie oft sie darüber nachdachte, sie kam auf keine logische Erklärung für diese Nacht.
Wiederwillen stand sie auf und schlurfte in die Küche, um irgendetwas zum Frühstücken zu suchen. Als sie an ihrer Küchentheke vorbeikam, fiel ihr Blick auf einen Stapel ungeöffneter Briefe, die auf den Zeitungen der letzten Tage lagen.
    Verdammte Rechnungen. Sie musste sich wirklich etwas einfallen lassen, um zu neuen, größeren Aufträgen zu kommen. Wenn das so weiter ging und sie mit den Rechnungen andauernd im Verzug war, sah es sehr schlecht aus mit der Zukunft von „DeRêve et Amies“
     Als wäre das ihr kleinstes Problem.
Ihr Blick fiel auf einen kleinen Bilderrahmen aus dunklem Holz, auf dem eine großgewachsene Jugendliche zu sehen war, die ein Mädchen im Arm hielt. Die beiden schienen unverkennbar Schwestern zu sein, und ihren ausgelassenen Gesichtern nach zu urteilen, war der Moment, den die Kamera einfing, ein glücklicher.
     Antonett kamen die Tränen, als sie das Bild von Violet betrachtete. Sie konnte sich immer noch nicht damit abfinden, dass ihre Familie sie so verstoßen hatte, alles daran gesetzt hatte, sie von ihren Einbildungen abzuhalten. Sie konnte sich an den Tag vor drei Jahren noch erinnern, als wäre er gestern gewesen. Hörte immer noch die Schreie ihres Vaters, das vorgetäuschte Schluchzen ihrer Mutter. Konnte den fassungslosen und entsetzten Blick ihrer damals fünfzehn jährigen Schwester nicht vergessen.
Hexe.
Missgeburt.
Schande für die Familie.
     In gewisser Weise hatten sie mit ihren Beschuldigungen ja Recht. Sie war nicht normal. Jemand mit solchen Fähigkeiten war verabscheuungswürdig. Jahrelang hatte sie versucht, Verständnis zu finden, schon als kleines Mädchen. Mitgefühl gesucht wo ihr nur Hass entgegenschlug.
     Noch heute hatte sie Albträume, von den Methoden ihrer Eltern, aber auch von denen der Psychologen in der Psychiatrie. Neuartige Experimente um ihr den Wahnsinn auszutreiben. Bis sie mit fünf Jahren begriffen hatte, dass ihr niemand Glauben schenken würde.
     Das war der Moment, an dem sie zum ersten Mal ihre Gabe leugnete.
Als Belohnung dafür, endlich zur Vernunft gekommen zu sein, bekam das kleine Mädchen ein Geschwisterchen. Ein Geschenk, das für Antonett bald alles zu bedeuten begann.
    Ein Trumpf, den ihre Eltern auszuspielen bereit waren, denn sie hatten ihrer Heilung, wie sie es öffentlich nannten, nie Glauben geschenkt.
    Ihre Eltern hatten ihre Fähigkeit und ihre Ängste geleugnet, doch dass sie vorbei waren, glaubten sie erst recht nicht.
    Welch eine Ironie.
In den darauffolgenden Jahren perfektionierte Antonett ihr Schauspiel als brave Tochter mit adeligem Blut. Sie ließ sich nichts zu Schulden kommen, kümmerte sich um ihre kleine Schwester Violet, beendete die Schule mit Auszeichnung und begann ein Medizinstudium.
     Ihre Eltern heuchelten ihren Stolz nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern lobten sie auch zu Hause. All das machte Antonett jedoch nicht glücklich, zu schwer waren die Vergehen ihrer Familie in der Vergangenheit. Also plante sie schon lange ihre Flucht aus dem goldenen Käfig, zusammen mit Violet, die ihr überall hin gefolgt wäre.
     Bis zu jenem schicksalhaften Tag. Bis zu Violet‘s 15. Geburtstag.
Dem Tag, an dem alles ans Licht kam.

Als sie eine Stunde später die Tür zu ihrem Büro öffnete, war sie kaum besser gelaunt als nach dem Aufwachen. Antonett ließ die Tür hinter sich zuknallen und trottete zu ihrem Schreibtisch, wo ein weiterer Stapel Arbeit auf sie wartete.
    Verdammt. Sie ließ sich mit einer Mutlosigkeit auf den Sessel sinken, die fast schon an Verzweiflung grenzte. Mit einem tiefen Seufzer schloss sie die Augen, lehnte sich zurück und fasste sich an den Kopf. Keine Sekunde später wurde die Tür mit Schwung geöffnet und Jase kam gut gelaunt wie eh und je herein gewirbelt.
    „Guten Morgen meine Hübsche. Gut geschlafen?“ Er trat hinter sie und küsste sie auf die Wange.
„Natürlich, wie immer“, den laschen Ton ihrer Antwort bemerkte er nicht.
    „Ich habe heute eine Anfrage rein bekommen, die National Bank möchte eine Werbekampagne mit uns machen, soll ein riesen Ding werden. Was hältst du davon?“ Er räumte unüberhörbar ein paar Akten in ihren Wandschrank.
     „Die National Bank? Das Geld könnten wir gut gebrauchen. Verdammt, was sage ich, wir haben den Auftrag bitter nötig. Aber für diese Bank? Wie stellen sie sich das vor?“ Antonett versuchte, sich ihre Verzweiflung nicht anmerken zu lassen.
      Seit Jahren bestand ihre kleine Firma nun schon, und sie konnte sich immer noch damit rühmen, dass sie nur Aufträge annahm, die für sie moralisch vertretbar waren. Für Firmen, die ihr nicht geheuer waren oder deren Ruf ihnen schon vorauseilte, arbeitete sie grundsätzlich nicht.
     Die National Bank war nicht nur eine der größten Banken in dieser Gegend, sondern eben auch jene, die hunderte von Menschen durch einen riesen Neubau obdachlos gemacht hatte, andere Kleinunternehmen sabotierte und danach aufkaufte und alles andere als seriös war.
    Doch egal wie sehr sie sich anstrengte, wie sehr sie alle Möglichkeiten abwog, sie würde nicht darum herumkommen, für die National Bank zu arbeiten.
     „Verdammt nochmal!“ Mit einem wütenden Schrei schleuderte sie den nächstbesten Gegenstand gegen den alten Aktenschrank an der Wand. Mit einem lauten Krachen zerschellte die Schneekugel in tausend Scherben.
    Entsetzt starrte Jason seine beste Freundin und Chefin an. „Gott, Antonett. Was ist los mit dir? Ich meine, ich verstehe ja dass es dir mächtig gegen den Strich geht, diesen Auftrag anzunehmen, mir geht es ja nicht anders. Aber du bist doch sonst keine, die einfach so ausrastet. Ist etwas passiert? Willst du mit mir darüber reden?“
    Sein mitleidiger Blick suchte den ihren, seine Besorgnis stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„Nein Jase, alles in Ordnung. Ich bin nur etwas durch den Wind. Ich werde ein bisschen Luft schnappen gehen. Vielleicht kriege ich dann den Kopf frei.“ Sie wich seinem Blick aus, um sich nicht doch noch zu verraten und nahm ihre Handtasche und ihren Mantel vom Haken.
   „Ciao, bis später.“ Sie ließ einen ziemlich verwirrten und beunruhigten Jason zurück.

Draußen regnete es in Strömen. Anonett zog sich die Kapuze über den Kopf und stöpselte ihre Kopfhörer ein. Als die ersten Gitarrenriffe durch ihre Ohren strömten, schloss sie die Augen und blieb auf dem Gehsteig mit ausgebreiteten Armen stehen. Gott. Wie sie diese Musik liebte. Wie immer, wenn sie Probleme hatte oder über irgendetwas nachdachte, half ihr nichts besser als die harten Klänge lauter Rockmusik.
    Die doch meist sanften Zwischentöne so mancher Metalbands waren ihr persönliches Entspannungsrezept.

Release me.

Mit festem Schritt ging Antonett durch die Straßen.

I try to appellate the holy sound of it.

Sie bemerkte ihre Umgebung nicht, sie achtete weder auf die anderen Passanten um sie herum noch auf den lauten, hupenden Straßenverkehr.
    Sie setzte einfach weiter einen Schritt nach dem anderen auf den harten Pflastergehweg.
Ihr wird keine andere Wahl bleiben, als diesen Auftrag der National Bank anzunehmen. Die Rechnungen saßen ihr im Nacken und zerrten an ihren Nerven. Gott, wie ihr das zum Hals raushing, ständig dafür sorgen zu müssen, das genug Geld für die Fixkosten da war, ständig mit der Angst leben zu müssen, bald auf der Straße zu landen.
    In Zukunft musste sie sich wieder mehr aufs Geschäft konzentrieren. Auch wenn sie sich schon in ihre Arbeit stürzte, es war nicht genug. Sie musste 200 % geben, um die Firma nicht nur über Wasser zu halten, sondern dauerhaft führen zu können.
    Was so viel hieß wie absolut keine Ablenkung. Schon gar nicht von heißen Typen, die einfach so mir nichts, dir nichts, durch ihre Träume spazierten und ihr Blut tranken. Obwohl sie sich immer noch nicht sicher war, ob das letztens ein Traum war oder nicht.
    Scheisse, sie dachte schon wieder an diesen Mann. Sie konnte sich einfach nicht erklären, was er mit ihr angestellt hatte. Antonett konnte nicht einmal behaupten, dass sie sich vor ihm fürchtete. Nein, ganz im Gegenteil. Was auch immer er mit ihr gemacht zu haben schien, sie hatte alles andere als Angst vor ihm.
     Sie bekam ihn nicht mehr aus dem Kopf. Seinen atemberaubenden Geruch, seinen durchdringenden Blick, die harten Konturen seines durchtrainierten Körpers. Doch das, was sie zu ihm hinzog, ging über das Äußerliche hinaus. So wenig sie es erklären konnte, wie sie einen ihr so völlig unbekannten Menschen so nah an sich ranlassen konnte, so war der Ursprung eines jeden Gedanken an ihn in ihrem Herzen.
    Sie hatte keine Ahnung, wie zur Hölle das möglich war. Sie hatte sich schon als Kind dagegen gewehrt, jemanden zu nahe an sich heranzulassen. Zu groß waren die Enttäuschungen gewesen. Selbst Violet, der einzige Mensch, den sie tief in ihrem Herzen trug, hatte sich von ihr abgewandt.
    Wie kam es also, dass ein dahergelaufener Fremder so mir nichts dir nichts direkt in ihr Innerstes kam? Sie kannte ihn ja noch nicht einmal, verdammt noch mal.

dreading the final moments
Where I have to be and see you die - in asylum
I live a lie
Don’t you know I’m in love with you?
And I wasn’t ready for Asylum

„Warum nicht?“
Antonett hörte die Stimme in ihrem Kopf, konnte sich aber nicht vorstellen, wie zur Hölle das möglich sein sollte. Die Musik von Disturbed war nicht mehr zu hören, nichts als Stille drang aus den Kopfhörern.
    Was war das? Wo kam diese Stimme her?
„Warum warst du nicht bereit für – für die Irrenanstalt?“
    Was zur Hölle ging hier vor? Als Antonett sich hektisch umblickte, bemerkte sie, dass sie wieder im Park gelandet war. Doch weit und breit war keine Hilfe in Sicht, da war nur sie.
    Sie allein mit dem Nebel. Wo kommt dieser verdammte Nebel auf einmal her? Wo ist der Regen? An irgendetwas erinnerte sie diese Stimme. Sie war sich sicher, dass sie sie noch nie zuvor gehört hatte, und doch kam sie ihr erschreckend vertraut vor.
    Angespannt wartete sie darauf, diesen rauchigen Klang noch einmal zu hören. Ein tiefes Lachen bahnte sich seinen Weg in ihr Gehirn.
   Was willst du?
Keine Antwort.
   Gott, wie bescheuert bin ich eigentlich? Ich versuche doch tatsächlich mich mit einer Stimme zu unterhalten, die ich mir einbilde.
„Du bildest sie dir nicht ein, Kleine, und das weißt du auch. Ich bin ganz in deiner Nähe …“  
     Panisch blickte sie in alle Richtungen, drehte sich ständig im Kreis, aus Angst, seinen Atem plötzlich im Nacken zu spüren.
    „Aber aber“, tadelte die Stimme in ihrem Kopf. „Wer wird denn hier Angst bekommen? Ich hab dir doch schon gesagt dass ich dir nichts tun werde.“
    „Wo bist du? Verdammt nochmal, zeig dich gefälligst, ich weiß, dass du hier irgendwo bist!“ schrie sie aus voller Kehle. 
     „Meine Kleine, du kannst mich nicht sehen, ich bin direkt in deinem Kopf“ säuselte die Stimme.
Das reicht. Abrupt drehte sich Antonett herum und nahm ihre Beine in die Hand. So schnell sie konnte, rannte sie in die Richtung, aus der sie gekommen war. Sie bildete sich ein, in ihrem Nacken einen heißen, keuchenden Atem zu spüren, als wäre der Körper der Stimme immer noch hinter ihr her.
    Der Regen hatte sich in einen gewaltigen Sturm verwandelt, der Wind heulte neben ihr durch die Bäume und harte Regentropfen peitschten ihr ins Gesicht. Immer wieder blickte Antonett panisch über die Schulter, doch sie konnte nichts erkennen.
   Nichts als die dunkle Nacht und der vom Wind gebeutelte Wald waren hinter ihr. Sie war kurz davor, aufzuatmen und zu verschnaufen, als sie plötzlich mit etwas zusammenkrachte.
   Ohne Vorwarnung krachte sie auf den feuchten Waldboden und sah nur noch schwarz. In ihrem Kopf dröhnte es, als wäre ein Schwarm wild gewordener Hornissen ausgebrochen.
    Antonett blinzelte, versuchte, den grauen Nebelschleier vor ihren Augen zu vertreiben um zu erkennen, mit was – oder wem - sie da zusammengestoßen war. Vor ihr stand, unerschütterlich und mit finsterem Blick, niemand anders als der exotische Fremde. Wieder einmal.
    Sie schüttelte verwirrt den Kopf: „Was -, Wo kommen Sie auf einmal her?“ fragte sie ihn benommen. Doch er schien sie nicht zu beachten. Mit zusammengekniffenen Augen fixierte er etwas hinter ihr, ein dunkles Knurren drang tief aus seiner Kehle.
    Antonett blickte hinter sich, doch sie konnte nichts erkennen, was eine solche Reaktion rechtfertigen würde.
      „Was zur Hölle willst du hier?“ Seine Worte waren kaum zu verstehen.
„Mit wem reden Sie? Da ist doch niemand, niemand außer …“ Ein eisiges Gefühl breitete sich in Antonett aus. Sie hätte die Stimme beinahe vergessen, die sie vor wenigen Minuten tyrannisiert hatte. Hätte beinahe vergessen wie sie von dieser imaginären Person verfolgt wurde.
    „Was ich hier will? Was denkst du denn, was ich hier will?“ Das spottende Lachen erklang erneut in ihrem Kopf. Aber warum antwortete sie auf die Frage von diesem Mann? Die Stimme war doch nur in ihrem Geist, nur sie konnte sie hören. Oder?
    „Überschätz dich nicht, Kleine. Nicht nur du kannst mich hören. Auch dieses schwache Stück Scheiße da vor dir versteht mich. Nicht wahr?“
     Das tiefe Knurren erklang wieder. Sie blickte verstört auf den Mann vor ihr. Warum traf sie immer wieder auf ihn? Und was hatte er mit dieser unheimlichen Stimme zu tun?
     Plötzlich fiel ihr ihr Traum wieder ein. Moment mal, Traum? War es tatsächlich nur ein Traum, oder hatte dieser seltsame Unbekannte tatsächlich ihr Blut getrunken?
     „Was höre ich da? Tários, Junge, du hast tatsächlich ihr Blut getrunken? Ach wie süß. Ist das deine neue Flamme? Oder warte mal, wenn ich sie mir genauer ansehe … Das wird ja immer besser, hast du endlich deine große Liebe gefunden? Eine hübsche Gefährtin hast du da. Sollte ich mir mal ausleihen. Scheint ziemlich heißblütig zu sein, wenn du verstehst, was ich meine.“
     Tários, so schien der Mann zu heißen, warf ihr einen kurzen verwirrten Blick zu.
"Was willst du hier, caralho par fodece. Verschwinde, bevor ich dir den Arsch aufreiße.“ Seine Stimme war kaum wiederzuerkennen, sein tiefes Grollen verschluckte jedes zweite Wort.
    „Tja, das hatte ich gerade vor. Wir sehen uns schon wieder, dann kannst du dich in aller Ruhe mit meinem Allerwertesten befassen. Genauso wie du, meine Hübsche.“
  Mit diesen Worten schien sich der dumpfe Nebel vor ihr zu verdichten, und eine hünenhafte, verschwommene Gestalt bewegte sich so schnell auf sie zu, dass Antonett blinzelte, nur um festzustellen, dass sie allein mit diesem Tários war. Nur ein dumpfer Schmerz an ihrem Hals, der plötzlich aufgetaucht war, blieb. Woher kam der plötzlich? Sie fuhr mit ihrer Hand vorsichtig unter ihr Kinn und erkannte eine feine Blutspur an ihren Fingern. Hatte sie sich beim Sturz verletzt? Oder wurde sie schon wieder gebissen? Von dieser seltsamen Gestalt, die zu dieser unheimlichen Stimme gehören schien? Oder etwa wieder von Tários?
     Als sie zu ebendiesem aufblickte, erschrak sie über sein schmerzverzerrtes Gesicht. Antonett versuchte, sich vorsichtig aufzurappeln.
    „Geht – Geht es Ihnen gut? Haben Sie sich verletzt?“ Vorsichtig hob sie eine Hand, um nur kurz vor ihm wieder innezuhalten.
    Er hatte die Augen fest geschlossen, sein Kiefer war so verspannt, dass sie die feinen Adern an seiner Wange erkennen konnte. Auch hatte seine Mundpartie eine seltsame Form, neben den natürlichen Wangen- und Kieferknochen stachen noch zwei weitere Konturen hervor, die sich Antonett nicht erklären konnte. Sie verliehen seinem sonst schon wilden Aussehen eine raubtierhafte Note, als würde er sich sofort auf jeden stürzen, der ihm zu nahe kam. Seine starken Arme waren krampfhaft angespannt und seine großen Hände zu Fäusten geballt. Er sah aus, als würde er starke Schmerzen erleiden.
    „Gott, was ist mit Ihnen los? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als sie aufgestanden war, doch schön langsam kehrte wieder Kraft in ihre Lungen zurück. Doch seine Antwort ließ sie erneut zurückschrecken.
     „Verschwinde. Hau ab, Maldição, bevor ich mich vergesse und dir etwas antue!“ Sein Fluch kam gepresst aus seinem verkrampften Mund, und genügte, um sie nach diesem emotional aufreibenden Erlebnis von sich zu stoßen. Nach einem kurzen letzten Blick über die Schulter nahm Antonett erneut ihre Beine in die Hand und rannte aus dem Wald.

Kapitel vier

Musik:
This is usually the part where people scream
Alesana

Er hörte ihre hastigen Schritte, wie sie, so schnell sie konnte, davon lief. Vor ihm. Vor dem Monster, das er war. Nichts anderes stellte er dar. Ein furchterregendes, verabscheuungswürdiges Scheusal. Er hatte kein Recht darauf, sie zu begehren. Nichts, rein gar nichts rechtfertigte sein starkes Bedürfnis, ihr hinterherzurennen. Ihr hinterherzurennen und sie zu trösten, sie in den Arm zu nehmen und ihre sanfte Haut zu berühren. Ihr zu sagen, dass nichts und niemand ihr je etwas anhaben kann, solange er nur da sei.
    Lächerlich. Das, wovor sie am meisten Angst haben sollte, war er. Und offensichtlich hatte sie diese auch. Sonst wär sie wohl kaum so schnell davongerannt. Obwohl sie noch nicht einmal wusste, was er war.
     Doch, sosehr er sich das auch einzureden versuchte, er selbst war nicht ihre einzige Gefahr.
Maldição.
    Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er sich täuschte, nur träumte, halluzinierte oder was auch immer. Alles war besser als die Realität. Besser als Er.
    Er konnte nicht wirklich hier sein. Es war schon einige Zeit vergangen, seit Tários ihn das letzte Mal gesehen hatte, und er konnte sich noch gut an den Ausgang dieses Treffens erinnern.
    Nie würde er vergessen. All das Blut.
Er hatte ja früher schon miterlebt, wie brutal er sein konnte, wie hemmungslos, erbarmungslos und ohne Gnade. Doch damals, in Arles, vor rund 160 Jahren … 
    Wenn er die Augen schloss, sah er sie immer noch vor sich. Hörte ihre Schreie, ihr Flehen.

 

Arles, Frankreich, 1851

Ein beklommenes Gefühl überkam Tários, als er die Treppen seines rustikalen Herrenhauses hinauflief. Das leise Wimmern, dass er schon von der Straße aus gehört hatte, wurde lauter. Er stieß die Tür auf, und blähte die Nasenflügel. Der Geruch des frischen Blutes löste fast augenblicklich seine Transformation aus, seine Fänge fuhren aus und seine Augen färbten sich.
    Er bekreuzigte sich beim grauenvollen Anblick seiner Haushälterin. Marie, eine gutmütige, 50 Jahre alte Seele, lag, achtlos an die Wand gelehnt, da. Ihr Kleid, welches die traditionelle Tracht des Südens von Frankreich darstellte, war getränkt von ihrem eigenen Blut, das aus mehreren Bisswunden an ihrem Körper lief.
    Als er vorsichtig ins Haus vordrang, fuhr ihm eine weitere Dosis frischen Blutes in die Nase. Auch konnte er den Tod riechen, der wie eine verhängnisvolle Gewitterwolke über dem Haus hing. 
   Als er in die Küche trat, verschlug es dem abgehärteten Mann die Sprache. Auf dem Boden waren dutzende Blutspuren, als wäre ein kleiner Körper mehrmals darüber geschleift worden. An der Fensterscheibe waren blutrote, winzig kleine Handabdrücke, als hätte das Opfer mehrmals versucht zu fliehen.
   Verzweifelt sah er um sich, hoffend, um seinen Verdacht nicht bestätigt vor zu finden. 
„Bitte, deus, bitte nicht die Kinder…“ sein Murmeln brach abrupt ab, als er hinter dem Tisch einen kleinen Körper fand.
   Der zarte Mädchenkorpus war kaum noch als solcher zu erkennen. Das kleine Kleid war vollkommen zerfetzt und blutdurchtränkt, die Haut darunter nicht vom Blutrot des Stoffes zu unterscheiden. Zahlreiche Wunden, in das Fleisch gerissen mit brutalen Fängen, bluteten immer noch. Doch das Herz hatte aufgehört zu schlagen. Nach dem aussichtslosen Kampf, dem Kampf ums pure Überleben, den das kleine Ding so unerschrocken gefochten haben musste, war es vorbei.
   „Estelle, oh mein Gott, Estelle …“ Tários ging in die Knie, unfähig etwas zu tun. Unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Estelle, sein Mädchen, seine kleine Prinzessin, lag hier vor ihm. Zerfetzt, zerfleischt, von einem Ungeheuer, wie er eines war.
   Unbändige Wut begann, sich einen Weg durch seinen Körper zu fressen. Von seinem Herzen ausgehend, loderte eine gefährliche Hitze in ihm auf, die seine Transformation vollendete. Mit einem Brüllen zerrissen seine Flügel sein Hemd und begannen, sich auszufalten.
    Energisch schritt er das Haus ab, auf der Suche nach diesem Mörder, doch auch nach den anderen Leichen, die er noch aufzufinden vermutete. Sein Herz zog sich bei dem Gedanken zusammen, seinen Sohn, Jean, und seine geliebte Frau Jolie ebenso zugerichtet zu finden wie Estelle. Doch das Wimmern, das er noch vorhin vernommen hatte, lies ihn hoffen. Lies ihn das Hoffnungslose hoffen.
    Als er das Schlafzimmer betrat, tat sich ihm erneut die Hölle auf. Tários sah seinen 15-jährigen Sohn in der Luft baumeln, an den Beinen aufgehängt. Seine beiden Arme lagen nutzlos neben dem Bett, brutal abgerissen. Nur übermenschliche Kraft konnte zu solcher Gewalt fähig sein. Tários schluckte schwer, während er die dünnen, aber doch schon kräftigen Glieder seines Sohnes betrachtete, die Knochen und Sehnen, die Venen und Arterien, deren Enden unnütz hervorstanden.
   Mit Tränen in den Augen blickte er auf sein eigen Fleisch und Blut, blickte in Jeans Gesicht und sah ungläubig, wie sein Sohn ihm ins Gesicht sah.
    „Vater .. ich …“ Jean krächzte, während er röchelnd Luft holte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte er es erneut.  
   „Vater, ich konnte … konnte … sie nicht beschützen. Es tut … tut mir so ..“ die Stimme erstarb.
Tários sah den Funken hinter Jeans Augen erlöschen, und ein Teil in ihm brach bei diesem Anblick. Sein Sohn hatte versucht, seine Familie zu beschützen. Hatte versucht, seine Arbeit zu erledigen, während er auf Erkundungstour war.
    „Tários, Geliebter.“ Das Wimmern ertönte erneut. Tários wirbelte herum, als er die brüchige Stimme seiner Frau hörte.
   Jolie saß mit gefesselten Händen auf dem Boden, zusammengekauert und aufgelöst, ihr zartgrünes Lieblingskleid ebenfalls blutgetränkt. Doch nicht von ihrem eigenen, das erkannte er sofort. Dem Blut fehlte die eindeutige Note ihres Dufts, der Geruch von Mandelholz und Gras. Nur ein Hauch davon heftete an ihr, das Blut ihrer beiden Kinder. Sie musste bei beiden Gewalttaten in unmittelbarer Nähe gewesen sein. Ihr mahagonifarbenes Haar hatte sich aus dem sittlichen Knoten gelöst, lose Strähnen fielen in ihr tränenüberströmtes Gesicht.
     „Jolie, Liebste“ Mit einem Satz war er bei ihr, löste ihre Fesseln und schloss sie in seine Arme.
„Tários, er ist hier. Du hast mir so viel von ihm erzählt, und nun ist er hier. Er hat gesagt ... Er hat gesagt er wäre noch lange nicht fertig. Mon dieu, er hat Estelle …“ ihre Stimme brach, erneut erschütterte sie ein Weinkrampf. 
    „Pssst, meu amor, ich bin ja da.“ Er versuchte vergeblich, sie zu trösten.
Er hat Estelle umgebracht. Und Jean, oh mein Gott, Jean. Er hat ihm einfach … einfach die Arme ausgerissen.“ Sie sah ihn mit leeren Augen an. Ihre einst so lebhaften und moosgrünen Augen waren nun nur noch stumpfe grüne Flächen, denen jegliches Leben fehlte.
    Tários verkrampfte sich innerlich, bereit, dieser Missgeburt von Mörder jeden Körperteil einzeln auszureißen, als er hinter sich eine ihm nur zu bekannte Stimme hörte.
    „Hallo Bruderherz.“

Mit einem lauten Krachen schloss Antonett die Wohnungstür hinter sich. Vor Angst zitternd und völlig außer Atem sank sie mit dem Rücken zur Tür zu Boden.
   Was war da eben passiert? Allem Anschein nach kannte dieser Tários die Stimme, die sie in ihrem Kopf gehört hatte.
    Wie sich das schon anhörte, die Stimme. Schön langsam begann sie, den Verstand zu verlieren. Als wäre es nicht schon genug, dass sie von Vampiren träumte. Jetzt hörte sie auch schon Stimmen.
    Verdammt noch mal.
Mit einem leisen Stöhnen kämpfte Antonett sich auf und ging in die Wohnung. Nachdem sie ihren Mantel und ihren Schal ausgezogen hatte, suchte sie im Kühlschrank nach etwas Essbaren, doch außer einem halben Liter Milch und einem Naturjoghurt gähnte dieser vor Leere. Sie vernachlässigte ihr Training und aß nicht regelmäßig. Sie sollte wirklich mehr für sich tun.
    Schnell schnappte sie sich das Joghurt und setzte sich auf die Couch, wo ihre Arbeitsunterlagen schon auf sie warteten.
   Antonett blätterte die ersten paar Zettel durch, die Jase ihr heute gebracht hatte. Die Vorschläge der National Bank waren alles andere als angenehm. Jedes noch so kleine Detail war vorgegeben, nichts der Kompetenz der kleinen Firma überlassen.
    „Sollen sich diese Idioten die Werbung doch selber machen“, fauchte Antonett, während sie die Unterlagen auf den Tisch pfefferte.
    Sie entsorgte den Joghurtbecher und schlurfte ins Bad, wo sie die Dusche aufdrehte. 
Gerade als sie sich auszog und bei der Unterwäsche angelangt war, klingelte es plötzlich an der Tür. Genervt ignorierte Antonett es, in der Hoffnung, der unerwartete Besucher würde von ihr ablassen. Doch das Klingeln wurde immer stürmischer, bis es zu einem anhaltenden, nervenaufreibenden Ton anschwoll. Mit einem gezischten Fluch wickelte Antonett sich ein Handtuch um den Körper und tapste zur Tür.
    Hoffentlich schreckt das diesen Quälgeist ab.
Antonett öffnete die Tür einen Spalt breit, um dem Besucher schnell abzuwimmeln, als sie erkannte, wer da vor ihrer Wohnung stand.
    „Tá … Tários?“ Ungläubig starrte sie den Mann vor ihr an, unfähig, den vor Erstaunen weit geöffneten Mund zu schließen.
    Tàrios stand vor ihr, ein Schrank von einem Mann, unerschütterlich und furchteinflößend, mit einem Blick, den sie unfähig zu deuten war.
   „Was machen Sie hier?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als sie sich nach ungemütlichen Minuten des Schweigens zum Reden durchgerungen hatte.
    „Kann ich reinkommen?“ ungeachtet ihres Aufzuges, schritt er an der verdatterten Antonett vorbei in ihre Wohnung und steuerte zielstrebig aufs Wohnzimmer zu.
    Vorsichtig schloss sie die Tür und folgte ihm mit langsamen Schritten. Beim Eingang ins Wohnzimmer stoppte sie, unschlüssig darüber, was hier gerade geschah.
    „Was machen Sie hier?“ wiederholte sie ihre Frage von vorhin, nicht sicher, ob sie eine Antwort erwarten sollte.
    „Dich sehen, was denn sonst, Kleine.“ Seine rauchige Stimme bescherte ihr wohlige Schauer, die ihr Rückgrat entlang fuhren.
      „Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.“
Antonett glaubte, ein Aufblitzen in seinen Augen zu erkennen, als er bedächtig auf sie zukam, ihre Augen kein einziges Mal loslassend.
    Als er vor ihr hielt, musterte er zum ersten Mal ihre Kleiderwahl, streifte mit seinem feurigen Blick ihre nackten Waden, fuhr weiter über ihre Knie und die Oberschenkel, die von der Mitte weg von ihrem schwarzen Frotteehandtuch verdeckt wurden. Als er ihr Dekolleté erreichte, spürte Antonett, wie ihr eine leichte Röte ins Gesicht fuhr. Sie war so gebannt von seinem Gesichtsausdruck während seiner Visite, dass sie seine Hand nicht bemerkte, die sich plötzlich sanft um ihre Wange legte.
    Genauso plötzlich, wie seine Finger ihre Haut berührten, war der Kontakt auch schon wieder abgebrochen, denn Antonett zuckte erschrocken zurück.
    „Was wollen Sie hier? Sie können hier nicht einfach so reinspazieren! Schon gar nicht nach dem was vor hin passiert ist!“ Antonetts Wut über seine Unverfrorenheit begann, die Oberhand über ihre Angst zu gewinnen.
   „Was war das eben? Woher kam dieser Jemand, der da gesprochen hatte, der in meinem Kopf geredet hatte? Wie ist so etwas möglich, und warum zum Teufel kennen Sie ihn?“
    Fasziniert legte Tários den Kopf schief und beobachtete sie eine Weile belustigt.
Doch als er versuchte, den Mund zu öffnen um ihr zu antworten, packte sie ihn bei den Armen und versuchte, ihn zur Tür zu drängen.
    „Warte, Kleine! Lass es mich erklären!“
Da sie viel zu schwach für einen Koloss wie ihn war, machte es ihm keine Mühe, ihre kläglichen Versuche, ihn hinauszubefördern, zu unterbinden.
     Nun umfasste er seinerseits ihre Arme und hielt ihren Blick gefangen.
„Ich weiß nicht, warum er mit dir geredet hat oder wie er es geschafft hat, in deinem Kopf zu reden. Aber ich wer er ist. Er ist mein Bruder.“
     „Ihr Bruder? Scheint ja nicht gerade ein liebevolles Verhältnis zwischen euch zu herrschen.“
Schnell senkte Tários den Blick, doch Antonett konnte gerade noch die aufblitzende Wut darin erkennen.
     „Das tut jetzt nichts zur Sache. Deswegen bin ich nicht hier, Kleines.“
Sie wollte gerade etwas Spöttisches antworten, als ihr sein verschmitztes Lächeln auffiel. Es war ihr ohnehin schon schleierhaft, woher sie vorhin den Mut genommen hatte, ihm zu kontern, doch dieser Blick entwaffnete sie vollends.
    „Du gehst mir nicht mehr aus dem Sinn, Antonett. Schon als du mir das erste Mal im wahrsten Sinne über den Weg gelaufen bist, hat mein Herz einen Satz gemacht.“
    Schon allein bei der kitschigen Wortwahl wollte sie schlagfertig antworten, doch als er ihre Hand in seine nahm und beide auf seine Brust legte, blieb ihr jede Entgegnung im Hals stecken.
    Sie schluckte hörbar, was die Situation noch unangenehmer für sie machte. Tários lächelte, sah ihr tief in die Augen und senkte seine vollen, erotischen Lippen auf die ihren. Als sie sich trafen, fielen alle etwaigen Bedenken von Antonett ab, jedes aber, jedes Vorurteil, alles war nur noch Rauch, als Tários sie sanft küsste. Doch sie wollte mehr.
    Mit einem leisen Aufstöhnen krallte sie ihre Finger in seine schwarze Mähne, zog ihn so nah wie möglich an sich um ihn fordernd und leidenschaftlich zu küssen. Seine Zunge erforschte ihren Mund, und er hob sie mit beiden Händen hoch, um sie noch näher bei sich zu haben. Als sie ihre Beine um seine Hüften schlang, hörte sie sein kehliges Aufstöhnen.

Tários hatte keine Ahnung, welcher Teufel ihn geritten hatte, diese Frau zu besuchen. Nachdem sie vor ihm davongelaufen war, nachdem sein Bruder plötzlich aufgetaucht war, war er als hochexplosives Dynamitfass umhergeirrt. Während er sich noch überlegte hatte, wo er eine passable Ablenkung, wie zum Beispiel ein Rudel Lykane, finden konnte, stand er schon vor dem Wohnblock, von dem er wusste, dass Antonett DeRêve darin wohnte.
   Und nun stand er hier, ihre Beine um seine Hüften geschlungen, in einem leidenschaftlichen Kuss mit seiner wohl verhängnisvollsten Bekanntschaft.
    Meu deus, wie sich diese Frau auf ihm bewegte.
Tários stand kurz davor, den Verstand zu verlieren. Was unweigerlich zur Folge hätte, dass diese Frau heute Nacht noch die Seine werden würde. Maldição.
    Das konnte er ihr nicht antun. Mit einem tiefen Knurren löste er ihre Arme von seinem Nacken und hob sie von seinen Hüften herunter.
    Sie protestierte mit einem leisen Stöhnen und sah ihn unter tiefliegenden Wimpern an.
Deus, dieser Blick macht jedem Mann Feuer unter dem Hintern, selbst so einen Gefühlsklotz wie mich.
   Er hob sie sanft auf seine Arme und suchte das Schlafzimmer, um sie ins Bett zu bringen. Doch dort angelangt, deckte er sie anständig zu, während er angezogen daneben stehen blieb.
    „Was ist los?“ Ihre raue Stimme zerrte erneut an seiner Selbstbeherrschung.
„Ich muss wieder los.“
    Verdammt billige Ausrede, du Vollidiot. Doch sosehr er sich auch zwang, er konnte sich nicht losreißen.
Er setzte sich auf den kleinen Hocker, der neben ihrem Bett stand, und sah ihr zu, wie ihr nach nur wenigen Minuten die Augen zufielen.
    Deus, sie musste vollkommen erschöpft sein. Kein Wunder, bei dem, was sie heute erlebt hatte. Nicht jeder verkraftet das Auftauchen einer Stimme in seinem Kopf.
   Als er sicher war, dass sie eingeschlafen war, erhob sich Tários. Er war gerade bei der Schlafzimmertür angelangt, als er ein leises Wimmern vernahm.
    In einem Sekundenbruchteil war er wieder am Bett, und sah mit Entsetzen, wie sich Antonett unkontrolliert herumwälzte und unverständliches Zeug murmelte.
    Plötzlich schoss sie auf, starrte in die Dunkelheit und flüsterte: „Nein, lass sie gehen, nicht sie. Bitte, nimm mich, aber nicht sie, nicht sie …“
    Tários wusste nicht, was er unternehmen sollte, als sie sich zurück aufs Bett fallen ließ und leise zu weinen begann. Hilflos legte sich Tários neben sie und nahm sie unbeholfen in die Arme.
    Er strich ihr langsam über den Rücken und flüsterte ihr, so hoffte er, tröstende Worte zu. Allmählich begann sie sich zu beruhigen, ihre Atmung normalisierte sich und auch ihr Puls verlangsamte sich.
    Tários fiel ein Stein von der Brust.
Doch plötzlich schien sie zu bemerken, dass etwas nicht stimme und erwachte. Als sie realisierte, wer da neben ihr lag, zuckte sie zurück und starrte ihn mit großen Augen an.
    „Was- ?“ verwirrt betrachtete sie sich, nur in Unterwäsche und danach ihn, der vollständig bekleidet neben ihr saß. Sie schien sich langsam zu erinnern.
    „Haben wir nicht …?“ Interessanterweise meinte er, Enttäuschung in ihrem fragenden Blick zu erkennen.
„Nein.“ Seine Stimme klang sehr viel rauer, als er beabsichtigt hatte. Meu deus, das war aber auch ein Anblick.
  Antonett saß vor ihm, nur im grauen Spitzen-BH und einem minimalistischen Höschen. Ihre mitternachtsschwarzen Haare waren zerzaust und standen wild von ihrem Kopf ab, was eine bestimmte Körperregion bei ihm wieder zum Leben erwachen lies.
    Sie schien das zu bemerken, denn ohne ihre vorherige Schüchternheit, bewegte Antonett sich langsam auf ihn zu. Sie nahm seine zu Fäusten geballten Hände in ihre, löste seine Finger und legte sie auf ihre Schultern. Den Blick, den sie ihm dabei zuwarf, würde Tários so schnell nicht mehr vergessen.
    Sein tiefes Knurren schien sie von ihrem Vorhaben nicht ab zu bringen, sondern vielmehr anzustacheln. Sie schlang ihre schlanken Arme um seinen Hals und küsste ihn mit einer Intensität, die ihn überraschte. 
    O que diabos.
Wenn er nicht sofort von hier verschwand, würde er nicht nur ihre Welt zerstören.
   Zum zweiten Mal in dieser Nacht raffte Tários all seine Selbstbeherrschung zusammen und löste ihren Klammergriff mit einer sanften aber bestimmten Bewegung. Noch bevor sie protestieren konnte, sah er ihr tief in die Augen und versetzte sie in eine leichte Trance.

 

Kapitel fuenf

Der Mensch ist ein sprachbegabtes Tier
und wird sich immer durch das Wort verführen lassen“
Simone de Beauvoir

 

Das Ziel genau anvisiert, die schwarze Mitte der Zielscheibe fest im Blick. Mit verkniffenem Gesichtsausdruck umklammerte Tários seine Daewoo, spannte den Hahn und drückte den Auslöser durch. Mit einem dumpfen Knall ging die Handfeuerwaffe los, genau ins Schwarze.
   „Hey min Ven, was ist los? Du stehst schon seit Stunden hier im Trainingsraum. Du nützt uns absolut gar nichts, wenn du nicht hundertprozentig da bist. Also ab ins Bett mit dir.“
    Mit einem lauten Knurren fuhr Tários herum, seine Augen glühende purpurne Höllen.
Rasmus, ein hünenhafter Krieger aus Dänemark, machte einen Satz rückwärts.
   „Pokkers. Scheisse, Kumpel, was ist passiert? So wie du aussiehst, hast du schon seit einer Woche nichts mehr getrunken. Was zur Hölle ist los mit dir?“
    Er konnte nicht antworten.
Sosehr er es wollte, sosehr er es beschwichtigen, als nicht weiter schlimm abtun wollte, er konnte nicht antworten.
    Seine verlängerten Fänge pochten, umklammerten schmerzhaft seine Zunge, sodass er keine Worte formen konnte. Nur ein knurrendes Fauchen verließ seine gefletschten Lippen.
   Gottverdammt. Er war eine Schande für jeden Krieger. Nicht nur, dass es ihm verdammt dreckig ging, er konnte noch nicht einmal seine Kollegen beruhigen, konnte seine größte Schwäche nicht verbergen.
    Nein. Nicht jetzt, verdammt.
Mit einem weiteren markerschütternden Knurren schmetterte Tários die Waffe an die Wand. Er nahm, schon wieder, jegliche Selbstbeherrschung zusammen, die noch irgendwo in seinem wertlosen Körper steckte, um die Worte auszuspucken.
   „Alles in Ordung, Kumpel. Ich mach mich gleich auf die Socken, um Nahrung zu suchen. Kein Grund zur Sorge, Amigo.“
   Während er das sagte, zwang Tários seinen Mund zu einem kläglichen Grinsen, dass seine übermäßig transformierten Fänge mehr als deutlich zu erkennen gab.
     Rasmus schien nicht den Eindruck zu haben, als würde er ihm glauben, doch er kannte seinen langjährigen Kameraden zu gut, um noch weiter nachzubohren. Wenn er Probleme hatte, musste er entweder darüber sprechen oder selber sehen, wie er damit zurechtkam.
     Auch Tários war das bewusst, und er hatte bei Gott nicht vor, irgendjemandem seinen persönlichen Dämon zu zeigen.
     Niemand sollte mich je so zu Gesicht bekommen.
Und genau deswegen sollte er in Zukunft einen großen Bogen um Antonett machen. Gestern Nacht war es in mehr als einer Hinsicht fast zur Katastrophe gekommen.
    Wenn sein Bruder auch nur einen Hauch von einem Wind davon bekam, wie Tários zu der hübschen Frau stand, war es um ihr Leben geschehen. Er konnte es nicht noch einmal durchmachen. Schon zu oft hatte dieses Monster sein Leben zerstört. Hatte erreicht, dass er nicht nur Furcht, sondern schon eine innere Abwehr gegen jegliches Gefühl zu einer Frau entwickelt hatte. Weshalb er sich nicht erklären kann, warum zur Hölle diese Frau ihm so unter die Haut ging. Sie geisterte in seinen Gedanken herum, als hätte sie jedes Recht der Welt, sein neuer Mittelpunkt zu sein. Und wenn er ihr erst gegenüberstand, ihre durchdringenden exotischen Augen fest auf die seinen gerichtet, dann hatte er alle Mühe, sich und erst recht seinen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen.
     Maldição.
Ein weiterer Grund, Antonett zu meiden. Denn sollte er in ihrer Gegenwart je die Kontrolle über sich selbst verlieren, dann konnte sie ihr Leben ebenfalls vergessen. Auch wenn er sie nicht töten würde, so würde er sie zu der Seinen machen, sie bis an ihr Lebensende an ihn binden.
     Was in etwa aufs Gleiche rauskam.

Es regnete.
Ein Dichter würde wohl sagen, der Himmel würde weinen. All die kleinen, goldgelockten Engel würden sich gegenseitig, in tiefster, herzzerreißendster Trauer trösten. Selbst Gott selbst würde all seinen Kummer über der Erde ausschütten. Und unten, auf der Erde, würden all die kleinen Lebewesen, all die Blumen und Pflanzen, Sträucher und Wälder ihre Blätter wie Arme ausbreiten, um all die Sorgen, die Tränen und den Kummer aufzunehmen, als Zeichen der Liebe, als Nahrung und Überlebensgrundlage.
    Ein Pessimist wäre der Meinung, dass der Weltuntergang nicht mehr lange auf sich warten ließ. Man könne es daran erkennen, dass selbst der Himmel aufgegeben hatte. Die höchste Ebene der Erde würde sich allen nutzlosen Dingen entledigen, all das unnütze Wasser, einfach über die Wolken auf die Erde geleitet. Was auch immer wir Menschen damit anfangen sollen.
    Ein Wetterforscher wäre wahrscheinlich begeistert. Eine einmalige Gelegenheit für jeden von uns, einen monsunähnlichen Regensturm hautnah mit zu erleben. Er würde auf seinem Dach, eingewickelt in einen hässlichen, gelben Plastikmantel samt Gummistiefel, mit einem Fernglas in der Hand stehen und sich Notizen zur Niederschlagsmenge, der Windstärke und den Blitzmustern machen.
     Jeder hat seine eigene Meinung zum Regen. Jene von Antonett war im Moment höchste Verbundenheit, nichts könnte ihre Stimmung besser zur Geltung bringen.
    Als sie heute Morgen aufwachte, eingewickelt in ihrer Decke und nur mit Unterwäsche bekleidet, war sie verwirrt. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, ins Bett gegangen zu sein, geschweige denn, was davor passiert war.
     Schön langsam machte sie sich ernsthaft Sorgen um ihren Zustand. Dass jetzt auch noch Erinnerungslücken zu den Schwächeanfällen dazukamen, schien ihr nicht gerade ein Zeichen der Besserung zu sein. Aber was sollte sie schon tun? Die Ärzte, bei denen sie sich untersuchen ließ, konnten keine Ursachen für ihre Beschwerden finden, mit ihrem Körper war medizinisch gesehen alles in bester Ordnung.
     Vermutlich hängt es mit meiner Gabe zusammen. Warum sollte ich denn auch normal sein.

Eine halbe Stunde später saß die junge Frau am Frühstückstisch, eine dampfende Tasse Kaffee vor sich und einen Zettel in den Händen.

 

Tut mir leid, Antonett. 
Ich konnte einfach nicht - Ich kann - Ich musste
Ich werde dich nicht mehr belästigen,
machs gut. - Tários

    Tários? Wie kam der Zettel auf ihren Tisch?
Plötzlich kamen die Erinnerungen an letzte Nacht zurück.
    Sie, wie sie gerade im Bad war, kurz vorm Duschen. Tários, der vor ihrer Tür stand, dann mit ihr in der Wohnung, in einen innigen Kuss vertieft. Wie sie im Schlafzimmer landeten, und sie plötzlich einschlief. Wo war er hingekommen? Warum war sie eingeschlafen?
    Und was zur Hölle hatte es mit dieser Notiz auf sich?
Sie konnte sich bei bestem Willen nicht vorstellen, was sie falsch gemacht hatte, dass er sie in Zukunft in Ruhe lassen würde. Wahrscheinlich war er entsetzt davon, wie schnell sie sich ihm an den Hals geworfen hatte.
    Sehr gut, An. Du hast es echt drauf.
Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck wusch sie das dreckige Geschirr, das sich in den letzten Tagen in ihrer Spüle angesammelt hatte. Als wäre es nicht schon genug, dass sie innerlich im Chaos versank, jetzt lebte sie schon in einem.
    Irgendetwas stimmte nicht mit diesem Tários. Zuerst tauchte er an allen möglichen Orten auf, und als sie von dieser verdammten Stimme davonlief, war er schon wieder da. Er redete sogar mit ihr. Stritt sich aufs heftigste mit einer Stimme, von der sie überzeugt war, dass sie nur in ihrem Kopf existierte, dass sie sich nur etwas einbildete.
    Und als wäre das noch nicht genug, um ihr den Tag endgültig zu vermiesen, erinnerte sie sich an den Traum, den sie hatte, von Tários, wie er ihr Blut trank.
    Obwohl, war es wirklich ein Traum?
Wie um sich selbst zu beweisen, dass sie nicht verrückt wurde, öffnete sie die Schranktür und kramte den Wollmantel hervor, den sie in diesem „Traum“ trug. Er war vollkommen verschmutzt, Dreck und vertrocknete Blätter bildeten ein verschnörkeltes Muster. Er schien sie daran erinnern zu wollen, dass sie das nicht geträumt hatte, sondern tatsächlich in der Gasse an der Wand gelehnt aufgewacht war.
   Doch ihr Verstand verbot ihr solche Gedanken. Es gab keine Vampire. Das waren verdammte Gruselmärchen, aber keine Realität. Das war schlichtweg unmöglich. Biologisch, ethnisch, psychologisch. Kein Mensch glaubte daran, oder würde ihr und ihrer Geschichte Glauben schenken. Sie glaubte ja noch nicht einmal selbst daran.
   Und doch musste sie an ihre Recherchen denken. An ihre Funde, die sie vor Jahren in Südfrankreich und in Portugal gemacht hatte.
  Wider besseren Wissens holte Antonett die Kiste hervor, die alte Zeitungsausschnitte und Bilder aufbewahrte.
    Sei breitete die Funde aus Frankreich nebeneinander auf, Berichte aus dem 19. Jahrhundert, die von einer grauenvollen Bluttat erzählten, Bilder einer Familie, die vollständig ausgelöscht wurde. Ein kleines Mädchen, das zusammen mit ihrem Bruder und der Mutter schrecklich zugerichtet gefunden wurde, und einem Vater, dessen Spur sich ins nichts verlor.
    Sie schienen nichts mit dem Fall aus Barra gemein haben, die sie aus dem kleinen Städtchen in der Nähe von Aveiro gefunden hatte.
   Dort wurde im Jahre 1673 eine Familie von wilden Tieren angegriffen. Die Eltern wurden auf grauenvolle Weise zerlegt, ebenso die Tochter der Nachbarsfamilie, eine bildhübsche junge Frau namens Cía. Die beiden Söhne des getöteten Ehepaares waren spurlos verschwunden. Den Berichten nach wurde vermutet, dass sie von den Tieren verschleppt und im Wald umgebracht wurden, doch nie fand man ihre sterblichen Überreste.
   Antonett war damals durch Zufall darauf gestoßen, und hatte den Berichten keine größere Bedeutung zugemessen, doch irgendwas an ihnen hatte sie nicht los gelassen.
    Doch warum kramte sie diese alten Stücke jetzt heraus? Was soll das alles mit ihren jetzigen Problemen zu tun haben?
    Diese ganzen Horrorgeschichten setzten ihr ganz schön zu.
Mit einem lauten Krachen knallte Antonett den Deckel auf die Kiste und verstaute sie wieder in der hintersten Ecke ihrer Wohnung.
    Jetzt ist Schluss mit der Grübelei, du sollst arbeiten.
Sie öffnete ihre Wohnungstür, um die Post hereinzuholen.
    Großteils waren es sinnlose Postwurfsendungen, Werbeprospekte diverser Läden in ihrem Bezirk. Diesen Teil warf Antonett ohne einen weiteren Blick in die Altpapierkiste. Die ungemütlichen Briefe, wie Rechnungen und Mahnungen, kamen auf einen gesonderten Stapel, genauso wie Briefe von der Arbeit, die auf unerklärliche Weise den Weg ins Büro nicht gefunden hatten.
     Bei all dem Sortieren fiel ihr Blick auf ein Kuvert, ohne Adresse oder Absender.
Neugierig geworden öffnete sie den Brief, und faltete einen Bogen weißen Papiers auseinander. Darauf war weder eine Anrede noch ein Abschiedswort, sondern nur ein Gedicht gedruckt.

Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde!
Es war getan fast eh gedacht;
Der Abend wiegte schon die Erde
Und an den Bergen hing die Nacht
Schon stand im Nebelkleid die Eiche
Ein aufgetürmter Riese, da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah.

Dich sah ich, und die milde Freude
Floß von dem süßen Blick auf mich;
Ganz war mein Herz an deiner Seite
Und jeder Atemzug für dich.
Ein rosafarbnes Frühlingswetter
Umgab das liebliche Gesicht,
Und Zärtlichkeit für mich - ihr Götter!
Ich hofft es, ich verdient es nicht!

Ihr kam das Gedicht bekannt vor, und nach nochmaligem Lesen fiel ihr auch wieder ein, woher.
Es war „Willkommen und Abschied“ von Goethe, doch es fehlte einiges.
    Was hatte das zu bedeuten? Warum schickte ihr jemand Teile eines Liebesgedichtes?
Antonett war sich sicher, dass es nicht von Tários war, er würde ihr kaum einen Abschiedsbrief hinterlassen und gleichzeitig ein Liebesgedicht in den Briefkasten werfen.
    Und sie konnte sich nicht vorstellen, dass Jason jetzt schwere Geschütze auffuhr. Er würde sein Leben lang der unromantische Macho bleiben, der er war.
    Eins war jedoch klar. Wer auch immer der Absender war, er wusste, wo sie wohnte, und ist vor kurzem vor ihrer Tür gewesen.
    Was zur Hölle ist nur mit meinem ruhigen, normalen Leben passiert?
Noch während sich diese Gedanken in ihrem Kopf formten, wurde ihr selbst bewusst, dass sie nie ein normales Leben gehabt hatte.

Kapitel sechs

Begegnungen, die die Seele berühren,
hinterlassen Spuren, die nie ganz verwehen.
(Unbekannt)

Tegan wusste nicht genau, was er eigentlich vorhatte
Seit zwei Stunden rannte er nun schon durch die Straßen der Stadt, in der er seinen Bruder gefunden hatte. Ohne Ziel vor Augen, ohne Mission. Obwohl, das stimmte nicht ganz.
     Unbewusst hatte er sehr wohl ein Ziel. Diese mysteriöse junge Frau, die nicht nur seinen Bruder kannte, sondern auch noch eine Gefährtin war. Irgendetwas an ihr gab ihm das Gefühl, das etwas ganz und gar nicht stimmte. Er wusste nur nicht was.
     Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis er das herausgefunden hatte.
Er hätte eigentlich gedacht, dass sein Bruder nicht mehr fähig war, eine Beziehung zu einem Menschen oder einer Gefährtin aufzubauen. Man sollte doch meinen dass das, was er ihm in der Vergangenheit angetan hatte, reichen müsste, um ihm den Lebensmut endgültig zu nehmen. Doch er schien unverwüstlich.
     Als wüsste ich es nicht besser.
Immer schon war Tários der schwächere der beiden Brüder gewesen. Am Anfang war daran natürlich das Alter schuld, doch schon bald, als auch Tários zu einem Erwachsenen herangereift war, zeigte sich die nahezu perfide Ähnlichkeit der beiden. Ihr Körperbau, ihre Ausstrahlung, ihr Aussehen. Sie hätten für zweieiige Zwillinge gehalten werden können. Doch trotz den Parallelen war Tários körperlich größer, seine Muskeln ausgeprägter und schien eine unverwüstliche Standhaftigkeit auszustrahlen. Der ältere, und trotzdem kleinere Bruder Tegan jedoch wirkte fast schon link, mit seiner sehnigen Statur und seinem Blick, der schon vor seiner Verwandlung einem Raubtier glich. Er war wendiger und schneller als sein Bruder, was ihm immer schon einen erheblichen Vorteil verschafft hatte.
     Etwas, das ihrer damaligen Umwelt nie aufgefallen war. Immer wurde der jüngere, größere und stärkere der beiden Geschwister als nächstes Familienoberhaupt gehandelt, als vertrauenswürdiger, fähiger Nachfolger.
     Nur Tegan wusste, wie schwach Tários wirklich war.
Doch irgendwann, würde die Wahrheit über ihre Vergangenheit ans Licht kommen und die Gerechtigkeit siegen. Davon war Tegan fest überzeugt.
     Sonst hätte ich mich gleich selbst umbringen können.

 
     Antonett war auf dem Weg ins Büro. Sie hatte gerade einen erneuten Arztbesuch hinter sich und musste sich beeilen, um noch rechtzeitig zum Meeting mit der National Bank zu kommen.
     Der Spezialist, von dem sie sich heute behandeln hatte lassen, war, zu ihrer Überraschung, alles andere als gründlich gewesen. Seine Vorgänger waren ihr da schon um einiges professioneller und souveräner vorgekommen. Jede Untersuchung begann normalerweise mit einem eingehenden Gespräch, bevor man sie an die Geräte anschloss. Sie war es schon gewöhnt, dutzende kleine Klebepads an den Körper geheftet zu bekommen, die dann mit langen Schläuchen zu einem Monitor führten, der minutiös Piepgeräusche von sich gab. Auch wenn sie, nur mit einem Arztkittel und Kopfhörern bekleidet, in eine Röhre geschoben wurde, wo mit lauten Sirenen- und Klopftönen ihre Gehirnbewegungen aufgezeichnet wurden, hatte sie kein Problem damit.
     Aber dieser Quacksalber war ein einziges Phänomen. Sie hatte seine Anzeige in einer Fachzeitschrift entdeckt, die sie bei einem seiner Kollegen im Wartezimmer gelesen hatte. Im Nachhinein konnte Antonett sich nur wundern, wie er es in ein solches, eigentlich souverän wirkendes Magazin geschafft hat, aber wahrscheinlich war, wie so oft, Geld die Lösung für alle Barrieren.
     Als sie durch Tür kam, war sie die einzige Patientin und wurde gleich ins Behandlungszimmer gebeten, wo, hinter einem mit Akten, Büroutensilien und medizinischen Geräten überfüllten Schreibtisch, ein großer, hager wirkende Mann saß. Seine schütteren grauen Haare standen teilweise in alle Richtungen ab und waren an manchen Stellen platt an den Kopf gepresst. Er schob sich seine runde Brille zurecht und musterte sie zuerst von oben bis unten.
     „Ach, Sie müssen das Fräulein DeRêve sein. Kommen Sie und setzen Sie sich doch. Lassen Sie sich voll und ganz auf die Behandlung ein.“ Seine Stimme war alles, nur nicht das, was Antonett sich erwartet hatte. Als würde man ein gelbes Quietsche-Entchen zu Tode quälen und nur langsam Töne entweichen lassen.
     Erstaunt über die Geräusche, die das Entchen von sich gab und verwirrt über seine seltsame Begrüßung, ließ sich Antonett auf den großen, orangen, und für eine Arztpraxis absolut unpassenden Ohrensessel nieder und ertrug eine Stunde der seltsamsten Behandlung, die sie je erlebt hatte.
     Danach war sie keinen Deut intelligenter als vorher, nur dass die Anwendung von Räucherstäbchen, seltsamen Salben in noch abstruseren Mustern um ihren Bauchnabel gezeichnet und dem Abschrubben des Knies mit einer Drahtbürste nicht unbedingt fördernd für ihre Beschwerden waren. Die Diagnose des Arztes war noch unterhaltsamer. Er war der Meinung, dass sie vollkommen überreagierte. Sie solle sich mehr entspannen, dann würden die Symptome von allein verschwinden.
     Pah, als wäre Stress die Ursache für meine Probleme.
Das war das letzte Mal, dass sie einen Doktor aufgesucht hatte. Die nahmen sie ja ohnehin nicht ernst.
     Antonett nahm die Abkürzung durch den Wald. Der Wald, in dem sie vor drei Tagen Tários begegnet war. Sofort lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Sie wandte sich um, konnte jedoch auf dem schmalen und verlassenen Waldweg niemanden erkennen.
     Sie beschleunigte ihre Schritte und presste ihre Umhängetasche noch enger an ihren Körper. Erneut fühlte sie sich beobachtet und wandte sich um.
     War da nicht ein Schatten?

 
Was für ein Glück.
     Unbewusst war Tegan bei seiner Erkundungstour wieder im Wald gelandet, in dem er Tários wiedergefunden hatte und prompt war ihm die schöne Unbekannte über den Weg gelaufen.
     Obwohl die Phrase „über den Weg gelaufen“ wohl etwas unpassend war, immerhin konnte sie ihn nicht sehen. Seine Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, war ihm in solchen Situationen eine besondere Freude. Nie konnte man Frauen besser beobachten.
     Langsam, und darauf bedacht, keinen Laut von sich zu geben, trat Tegan näher an sie heran.
Sie war wirklich eine Schönheit. Kein klassischer Model Typ, wahrscheinlich würde sie den Grünschnäbeln der heutigen Zeit nicht einmal auffallen. Nur jemand, der schon viel erlebt und viele schöne Frauen kennengelernt hatte, konnte die perfekt abgestimmte Mischung zwischen innerer und äußerer Schönheit erkennen.
     Jemand wie ich.
Oder eben mein Bruder.
     Tegan betrachtete ihre vor Schreck geweiteten Augen. Ihre Pupillen waren ungewöhnlich groß, der chilirote Rand leuchtete noch intensiver neben dem giftigen Grün. Panisch ließ sie ihren Blick hin und her wandern, sie suchte immer noch den Grund für ihre Paranoia.
     Du wirst mich nicht finden, Süße.
Er ließ seinen Blick von ihren Augen über ihre spitze Nase und ihren süßen, geröteten Wangen zu ihrem Mund wandern. Diese Lippen straften ihre unschuldigen Wangen Lügen, sie waren Verführung pur. Tegan fuhr sich unbewusst mit der Zunge über die Unterlippe, sein Atem beschleunigte sich. Augenblicklich bildeten sich Fantasien in seinem Kopf, die alles andere als jugendfrei waren und ausnahmslos von dieser Schönheit in seiner Umarmung handelten.
     Er schüttelte kurz den Kopf und vertrieb die erregenden Bilder, er hatte jetzt weitaus wichtigeres zu tun.
Sich ihren Körper näher an zusehen, zum Beispiel. Dass allein der Anblick ihrer Lippen schon solche Ausmaße annahm, verwirrte Tegan. Ihre Figur bot da schon mehr Fläche für Kopfkino. Auf den ersten Blick schien sie zierlich und verletzlich, aber bei genauerem Betrachten konnte man die Muskeln erkennen, die sich an ihrem kleinen Körper abzeichneten.
     Sie trug eine knappe, schwarze Lederjacke, die ihren Oberkörper kaum vor dem beißenden Wind schützte. Darunter konnte Tegan ein dunkelblaues Shirt erkennen. Ihre trotz ihrer kleinen Größe langen Beine steckten in engen, hellblauen Jeans, ihre Füße in hohen, braunen Raulederstiefeln. An ihrer rechten Schulter hing eine schwarze Umhängetasche, die sie eng an sich gepresst hielt.
     Noch immer blickte sie panisch um sich, während sie schon einige Meter hinter sich gebracht hatte. Ohne zu wissen, dass das, wovor sie solche Angst hatte, immer dicht bei ihr war.
    
     Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass etwas oder jemand ihr verdammt nahe war.     
Abermals blickte sie sich suchend im Wald um, abermals konnte sie nichts ausmachen.
      War es möglich, dass die Stimme von damals sie erneut heimsuchte?
Plötzlich konnte sie ein Flimmern vor sich erkennen, die schemenhafte Gestalt eines Mannes flackerte keinen Meter von ihr entfernt auf.
     Das war unmöglich. Schon seit Jahren war ihre Gabe nicht mehr hervorgekommen. Das letzte Mal vor drei Jahren, in der Nacht als sie ihre Familie verließ. Sie hatte sich immer schon gewundert, warum so lange nichts mehr passiert war. Jahrelang hatte sie immer wieder lebhafte Fantasien, wie ihre Eltern es nannten. In Wahrheit jedoch konnte Antonett immer wieder Menschen sehen, die andere nicht warnahmen. Im alltäglichsten Leben, ob beim Einkaufen, in der U-Bahn, auf der Straße. Sie waren meist in großer Eile oder mit den seltsamsten Dingen beschäftigt. Einmal sah sie zum Beispiel einen alten Mann, der direkt vor der Treppe zu einer U-Bahn  Station auf dem Boden saß und seltsame Münzen, auf einem alten Stoffballen ausgebreitet, genauer unter die Lupe nahm. Ein anderes Mal lief ein junges Mädchen in einem hellblauen Prinzessinnenkleid an ihr vorbei, mit hellrosafarbenen Flügeln auf den Rücken geschnallt. Sie trug ein kleines Bündel im Arm, das einer Puppe glich.
     Am faszinierendsten jedoch war, dass die anderen Menschen sie nicht zu bemerken schienen. Sie würdigten sie keines Blickes, manchmal liefen sie sogar durch sie hindurch, als wären sie wirklich nicht existent. In solchen Momenten glaubte Antonett selbst an die Theorie, dass sie sich alles nur einbildete.
     Doch sie wusste, dass es keine Fantasie war. Diese Wesen existierten wirklich, was auch immer sie waren und warum auch immer Antonett sie sehen konnte.
     Aber was hatte dieses Flackern jetzt vor ihr zu bedeuten?

 
     Irgendetwas stimmte nicht, stimmte ganz und gar nicht. Aus unerfindlichen Gründen hatten sich die Augen der Schönheit plötzlich fokussiert und fixierten einen ganz bestimmten Punkt.
     Und dieser Punkt war niemand anders als Tegan.
Wie war das möglich? Nicht nur, dass Dämonen generell für Menschen unsichtbar waren, wenn sie nicht erkannt werden wollten, hatte Tegan doch noch zusätzlich die Gabe, sich vor seinesgleichen zu verbergen. Er war also theoretisch doppelt vor einer Entdeckung abgesichert.
     Doch trotzdem konnte diese Frau ihn erkennen.
Maldicao
     Er trat einen Schritt zurück, und wurde prompt von ihr verfolgt.
Das war unmöglich. Er legte den Kopf schief und versuchte herauszufinden, wie das sein konnte.
     Plötzlich sah er, wie sich der panische Ausdruck in ihren Augen legte, sich ihr Mund öffnete und er hörte ihre brüchige Stimme.
     „Wer bist du?“

 
     Es war unglaublich. Antonett schien wirklich wieder eine Vision, wenn man sie denn als solche bezeichnen konnte, zu haben, doch sie unterschied sich von den anderen.
     Das Flackern, mit der sie begonnen hatte, schien nachzulassen, und sie konnte einen jungen Mann erkennen. Er war durchschnittlich groß gebaut und hatte eine wilde, schwarze Strubbelmähne. Seine Kleidung schien, anders als die der bisherigen Wesen, recht modern, aber ziemlich dunkel zu sein. Sie konnte nicht genau erkennen, was er trug, aber es schien eine Lederjacke zu sein, kombiniert mit dunklen Hosen und hohen Armeestiefeln.
     Das faszinierendste aber an ihm war die Tatsache, dass er sie zu beobachten schien. Ihre bisherigen Begegnungen hatten sie überhaupt nicht beachtet, geschweige denn angesehen, doch dieser Mann schien mit seinem fesselnden und starren Blick ihre Gedanken lesen zu wollen.
     Antonett konnte sich ihren Mut nicht erklären, aber als er einen Schritt zurück machte, folgte sie ihm. Irgendetwas an ihm schien sie so stark zu faszinieren, dass sie ihre vorherige Angst komplett vergaß. Sie versuchte, seinen Blick zu halten und öffnete den Mund, um die entscheidende Frage zu stellen.
     „Wer bist du?“
Diese drei Wörter schienen ihn komplett aus der Bahn zu werfen. Geschockt blickte er sie mit großen Augen an, als wäre sie hier das Übernatürliche. Der attraktive Mann öffnete den Mund, und schloss ihn wieder, was ihm eine große Ähnlichkeit mit einem Karpfen verlieh.
     Antonett konnte sich nicht mehr beherrschen und hielt sich die Hand vor den Mund, als ihr ein mädchenhaftes Kichern entfuhr.

 
     Ich glaub‘ ich bin im falschen Film.
Tegan fuhr sich mit der rechten Hand durch die Haare und zerzauste sie noch mehr, als die Schönheit vor ihm zu kichern anfing. Schon ein seltsamer Humor, den diese Dame hier besaß. Nicht jeder fängt zu lachen an, wenn plötzlich jemand wie aus dem Nichts vor einem auftaucht.
     Er war auch nicht gerade die vertrauenswürdigste Erscheinung, immerhin hatte er sich sagen lassen, dass er eine besonders dunkle Aura besitzen solle. Und trotzdem stand sie vor ihm und lachte. Zuerst wollte sie ihr niedliches Kichern noch mit der Hand zurückhalten, aber nun lachte sie aus vollem Hals. Tegan kam die Situation zunehmend bizarrer vor.
     Irgendetwas schien wirklich nicht in Ordnung zu sein mit dieser Gefährtin, die hier ohne ersichtlichen Grund gerade auf den Boden gesunken war und sich den Bauch vor lauter Amüsement hielt. Mittlerweile hatte sie auch schon Freudentränen im Gesicht, die ihr langsam, mit ein wenig schwarzer Wimperntusche, die Wangen hinunter rann.
     Plötzlich realisierte Tegan, dass sie nicht vor Freude weinte. Ihr Lachen hatte aufgehört und war in leise Schluchzer übergegangen.
     Was war denn nun wieder los?

 
     Antonett kannte sich nun überhaupt nicht mehr aus. Was war nur los mit ihr? Warum weinte sie auf einmal? Sie war wirklich alles andere als normal.
     Was sollte der junge Mann nun von ihr denken?
Ist das dein Ernst? Du sitzt hier heulend vor einem Wesen, von dem du Nichts weißt, und machst dir Sorgen darum, was er von dir denken soll?
     Es war wirklich lächerlich. Aber als sie erkannte, dass der Mann sie beachtete, hatte sie für einen kurzen Moment ein Gefühl der Verbundenheit gespürt, als kenne sie ihn schon ein Leben lang, nicht als hätte sie seit Jahren niemanden mehr an sich rangelassen.
     Und nur, weil sie eine, mit Sicherheit nicht vorhandene, Nähe gespürt hatte, warf sie alle Vorurteile gegenüber Fremde über Bord, ignorierte die Warnsignale ihres Hirns, die aufgrund der Tatsache, dass sie ihn nur durch ihre Gabe sehen konnte, wie verrückt aufheulten und versuchte auch noch, mit ihm Konversation zu führen.
     Dass sie daraufhin, ohne ersichtlichen Grund auch noch zu lachen angefangen hatte und nun hier heulend am Boden lag, waren nur weitere Indizien dafür, dass es mit ihrer geistigen Gesundheit weit her war.
     Den letzten Rest an Mut zusammenkratzend, wollte sich Antonett, um ein wenig Haltung bemüht, aufrichten, als sie die leichte Berührung einer Hand an ihrer Schulter spürte.
     Verdutzt blickte sie auf, direkt in die grünen Augen des attraktiven Mannes.
Er lächelte ihr zaghaft zu, was bei seinen markanten Kieferknochen irgendwie verdammt verführerisch aussah. Antonett schluckte hörbar, was zur Folge hatte, dass er, sich seiner Ausstrahlung bewusst, sein Lächeln noch breiter strahlen ließ und ihr seine ausgestreckte Hand hinhielt.
     Ohne groß darüber nach zudenken, ergriff Antonett sie, und wurde prompt mit viel Schwung in eine aufrechte Position gezogen. Überrascht über diese plötzliche Bewegung, verlor sie das Gleichgewicht und fiel gegen seine harte Brust.
     Ihr war zuvor gar nicht aufgefallen, dass er so muskulös war. Sie krallte ihre Hand in sein Shirt und atmete tief ein. Nicht unbedingt eine kluge Entscheidung. Sofort wurde sie von einer Wolke herben Duftes umhüllt, der leicht an eine Blume erinnerte, deren Name Antonett nicht einfallen wollte. Sie zog erneut diese wunderbare Luft tief ein und wurde sich plötzlich noch mehr des attraktiven Männerkörpers vor sich bewusst. Sie spürte seine starken Hände, die sie am Fallen hindern wollten, mit einer so heißen Intensität an ihrer Hüfte, dass Antonett meinte, schon Rauch aufsteigen zu sehen. Der Brustmuskel unter ihrer verkrampften Hand schien sich anzuspannen, der Fremde sich noch näher an sie zu lehnen. Sie glaubte, seine streichelnden Finger an ihrem Rücken zu spüren und bildete sich einen heißen Atem an ihrem Hals ein.
     Das alles spielte sich in weniger als einer Sekunde ab, bis Antonett den Kopf leicht schüttelte und wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehrte. Sie befreite sich augenblicklich aus seinen Armen und handelte sich ein belustigtes Schnauben seinerseits ein.
     „Ähm, tut mir leid dass, … dass ich … ähm. Tut mir leid dass ich die Kontrolle über meine Gefühle verloren habe.“
     Na, das war doch gar nicht mal so schlecht.
Antonett spürte, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht stieg, als er sie, immer noch ohne ein Wort zu sagen und mit hochgezogenen Augenbrauen musterte.
    „Ich geh dann mal.“
Sie hob ihre Tasche auf, die bei ihrem Gefühlsausbruch auf den erdigen Waldboden gefallen war und machte auf dem Absatz kehrt.
     Antonett ignorierte die Tatsache, dass sie eigentlich neugierig auf ihn und seine Geschichte war, dass sie, bevor sie ihn gesehen hatte, panische Angst gehabt hatte und dass sie gerade höchst erotische Empfindungen in seiner Nähe gespürt hatte.
     Sie dachte nur noch daran, möglichst schnell von ihm, seiner Vergangenheit und seiner Aura zu verschwinden.

 
     Tegan stand immer noch da, mitten im Wald, einen Arm ausgestreckt, als wollte er sie aufhalten. Er konnte seine Verwirrung und gleichzeitige Belustigung nicht verbergen.
     Was war das nur für ein bezauberndes Geschöpf? Für einen kurzen Moment gab sich Tegan Gefühlen hin, die er sich seit langer Zeit nicht mehr erlaubt hatte.
     Er versuchte, ihren verführerischen Duft noch einmal aufzuschnappen, spürte ihren zarten, warmen Körper noch unter seinen Händen und rieb sich geistesabwesend über die Brust, die sie nur wenige Minuten davor fest in der Hand hatte. Seine linke Brust, nur knapp über seinem Herzen, das bei dem Gedanken daran, dass sie trotz seiner Aura und seiner plötzlichen Erscheinung Vertrauen zu ihm aufgebaut hatte, kurz aussetzte.
     Als Tegan realisierte, was genau sich da in seinem Inneren zusammenbraute, schüttelte er energisch und wütend den Kopf, um etwaige Gefühlsduselei im Keim zu ersticken. Sie war zwar begehrenswert, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass er sie nur benutzen wollte.
     Das war der ursprüngliche Plan. Sie zu finden, sie zu umgarnen und sie gegen seinen kleinen Bruder zu verwenden.
        Und er wäre nicht Tegan Sangue de Outono, wenn er von seinem Plan abkommen würde.

Kapitel sieben

„Wie unglückbringend, liebe Mutter,
ist Feindschaft zwischen Brüder,
und wie schwer hält die Versöhnung. 
Friedrich von Schiller

 

Antonett erreichte die Straße, und konnte ihre Erleichterung über das geschäftige Treiben, das sie hier erwartete, kaum verbergen.
    Sie holte tief Luft und hielt für einen Augenblick inne. Vor ihr lieferten sich Taxis, Autos und Radfahrer ein Wettrennen, lautes Hupen und das Dröhnen der Motoren übertönten ihren lauten Herzschlag. Antonett schloss kurz die Augen und ließ die Welt vor ihr auf sie wirken. Der Geruch der Abgase dominierte die Luft, auch leichter Verwesungsgeruch drang in ihre Nase, vermutlich stand sie direkt neben einer Mülltonne. Ein wenig entfernt schrie eine Frau einer Gruppe von lärmenden Kindern etwas zu, was mit lautem Stöhnen und Protesten aufgenommen wurde. Links und rechts von ihr strömten Menschen vorbei, sie konnte ihre durcheinandergewürfelten Gespräche hören, registrierte jedoch nur einzelne Gesprächsfetzen.
     „Haben wir jetzt alles gekauft? Du weißt genau, wie Mom wieder ausrasten wird, wenn wir noch einmal losmüssen“
     „Ich glaub es einfach nicht. Kannst du dir vorstellen, dass er mich einfach so stehen gelassen hat? Mich?!“
     „Wenn du nicht sofort still bist, hast du für die nächsten zwei Wochen Hausarrest. Und glaub ja nicht, das Daddy da irgendwas anderes sagen wird!“
    Antonett bekam nicht mit, was das Kind darauf antwortete, da ein Junge auf einem Skateboard sie mit seinem Rucksack traf, was Antonett kurz zum Taumeln brachte.
     Diese kleine Berührung holte sie wieder in die Wirklichkeit zurück, sie öffnete abrupt die Augen und registrierte, dass einige Passanten, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf einen Bus warteten, sie schon seltsam musterten.
     Also machte Antonett sich auf den Weg ins Büro. Ein kurzer Blick auf ihr Handy sagte ihr nicht nur, dass sie für das Meeting schon viel zu spät war, sondern dass sie auch sechs Anrufe in Abwesenheit hatte. Sie strich über den Touchscreen und musste feststellen, dass sie ausnahmslos von Jason stammten.
     Antonett beschloss, nicht sofort  zurück zurufen. Sie war sowieso nur noch 5 Minuten vom Standort ihrer Agentur entfernt, da konnte sie sich die Standpauke auch persönlich abholen. Und die würde es in sich haben.

 
     Nachdem Tegan weiter durch den Park geschlendert war, hatte er immer noch keinen blassen Schimmer, was mit dieser Frau los war. Beziehungsweise wie sie es geschafft hatte, ihn trotz seines Schutzes zu erkennen.
     Noch nie war ihm so etwas untergekommen. In all den Jahren, die er nun schon auf der Erde weilte, hatten sich die Nachtwandlerinnen immer wie normale Menschen verhalten. Natürlich waren sie durch besondere Fähigkeiten ausgezeichnet, aber die beschränkten sich normalerweise auf außerordentliche Schnelligkeit, überdurchschnittliche Intelligenz oder Heilkräften. Keine einzige, die er bisher kennengelernt hatte, hatte eine solch starke Aura ausgestrahlt. Eine Aura, die offenbar nicht trog, immerhin konnte sie ihn sehen.
     Erneut schüttelte Tegan den Kopf. Er musste sich näher informieren, bevor er sich den Kopf über so etwas zerbrach. Vielleicht gab ja die Vergangenheit der Frau Aufschluss über dieses Phänomen.
     Doch zuerst sollte Tegan sich mal seinem Bruder widmen. Immerhin hatten sie sich seit rund 160 Jahren nicht mehr gesehen. Seit diesem lästigen Zwischenfall in Arles. Manchmal konnte die Familie wirklich ein Hindernis sein.
     Wer wusste das besser als Tegan.
Oder mein kleines Brüderchen.
     Er unterdrückte ein Kichern bei dem Gedanken daran, was sein naiver kleiner Bruder schon alles für seine Familie auf sich genommen hatte.
     Tegan schüttelte den Kopf kurz nach rechts, um seine Gedanken klar zu bekommen, schloss die Augen und breitete die Arme aus. Wenn er in sich ging, konnte er ein feines Summen ausmachen, das tief in seinem Inneren wie eine kleine, lodernde Flamme saß. Durch ihre Blutsverbindung und die Tatsache, dass sie Brüder waren, wurde mit ihrer Verwandlung zu Dämonen ein tiefes Band geschmiedet, das sie immer verband, egal, wie viele Kilometer zwischen ihnen lagen. Tegan brauchte also nur genau auf das Sirren zu hören, das ihm verriet, wo sich sein Bruder gerade aufhielt. Tários hatte es immer abgestritten, das eine solche Verbindung existierte oder gar möglich sei. Vermutlich wollte er einfach jeglicher Verbundenheit zu seinem Bruder absagen.  Sein Fehler, wie Tegan fand. Immerhin konnte Tegan so immer und überall herausfinden, wo sein Bruder war und ihn überraschen. Würde Tários nur etwas von seiner Sturheit zurück stecken, würde er es sofort bemerken, wenn Tegan in seiner Nähe war.
     Überrascht hielt er inne. Laut der warmen Stelle in seinem Inneren, war Tários gar nicht weit entfernt. Genauer gesagt, streifte er gerade mit zwei anderen Dämonen durch das andere Ende des Parks.
     Ein verschmitztes Grinsen breitete sich auf Tegan’s Gesicht aus.
Na, wenn das kein Zufall ist. Heute ist wohl mein Glückstag.

 
     Tários stapfte über die wenigen Wurzeln der Bäume, in einigem Abstand zu seinen Freunden. Logan und Rasmus waren weiter vor ihm, jeder intensiv und unabhängig vom anderen beschäftigt. Logan spielte mit seinen Dolchen herum, schnippte hier ein Ästchen ab und ritzte da ein Kreuz in die dunkle Baumrinde. Er wirkte gelassen und verspielt, Charakterzüge, die so gar nicht zu dem abgebrühten Krieger passen wollten. Doch Tários wusste, dass es nur Schein war. Logans abwesende Bewegungen zeugten von einer unterdrückten Wut, die die gespielten Gesten nicht komplett verbergen konnten. Aber das war allein Logans Problem. Er war nicht der Typ dazu, mit anderen über seine Gefühle zu reden, was eigentlich typisch für ihre Art war, und Tários würde nicht nachbohren.
     Jeder von ihnen musste mit seinen eigenen Dämonen der Vergangenheit klar kommen.
Rasmus wiederrum war der mit Abstand kindischste ihrer Truppe. Egal welche Konsolen die Menschen auf den Markt brachten, ob Spiele, Features oder anderen technischen Schnickschnack, Rasmus hatte es so geschwind in seinen Klauen, das sich manchmal sogar seine Freunde über die Schnelligkeit wunderten. Es wurde wirklich allerhöchste Zeit, dass dieser Dämon eine Gefährtin bekam, die ihn ordentlich erzog und zurechtstutzte, es konnte ja nicht ewig so weiter gehen wie schon seit, nun ja, einer Ewigkeit.
     Auch jetzt hatte er wieder so eine Spielerei in den Händen. Er rannte durch den Wald, zwischen den Bäumen hindurch und hielt ein kleines Kästchen in der rechten Hand, das er immer wieder in die Luft hielt, als suche er Empfang.
     Das Gerät gab ab und zu ein Piepsen von sich, das sehr an einen Zeitbombenticker erinnerte.
Obwohl Rasmus vorhin von einer „total abgefahrenen Erfindung“ gesprochen hatte, die anscheinend andere Dämonen innerhalb kürzester Zeit aufspüren sollte, konnte Tários seine Zweifel an der Funktionstüchtigkeit des Gerätes kaum verbergen.
     Immerhin handelte es sich diesmal um kein menschliches Schaffenswerk, sondern um ein Produkt aus dem Labor ihres Technikgenies Jamie. Jedoch hatte dieser es als „unnützes Drecksding“ beschimpft und im Container entsorgt.
     Plötzlich spielte der Apparat verrückt. Ein lautes Dröhnen ertönte, begleitet von einer hellen Allarmlampe, die abwechselnd rot und orange blinkte.
     Rasmus stieß einen Schrei aus, der einem kleinen Kind auf dem Spielplatz Konkurrenz gemacht hätte.
„Oh mein Gott! Es funktioniert! Ich wusste es!“
    Logan hob nur gelangweilt eine Augenbraue, verzog spöttisch die Mundwinkel und widmete sich wieder seinem Kunstwerk, das er gerade mit verdächtiger Vehemenz in einen Baum ritzte.
     Auch Tários konnte seine Belustigung kaum verbergen. Vermutlich waren die Sicherungen in dem Gerät nun vollends durchgebrannt, was die absolut unnötige Lautstärke erklären würde. Oder es funktioniert tatsächlich in irgendeiner Weise und hatte einen Raben oder eine Fledermaus aufgespürt. Obwohl es schon sehr unwahrscheinlich wäre, eine Fledermaus in einem Park anzutreffen, aber es wäre das einzige Lebewesen, dass einem Dämon noch ähnelte. Tários überlegte immer noch über den Grund, warum das Gerät anschlug, als Rasmus plötzlich mit seinem Siegesgeheul verstummte.
     Tários blickte auf, um die Ursache zu suchen, und auch Logan richtete seine volle Aufmerksamkeit auf die Richtung, in die Rasmus starrte.
     Man konnte zwischen den Bäumen nichts erkennen, da der Wald plötzlich von Nebel durchzogen war.
Es war wirklich klischeehaft. Immer, wenn es spannend oder gruselig wurde, kam plötzlich dieser Nebel von irgendwo her. Tários konnte sich nicht erklären, warum.
     Er schloss zu seinen Kameraden auf und machte sich ebenfalls für einen Kampf bereit. Er hatte gerade seine Daewoo erhoben, als sich schon eine schemenhafte Gestalt durch die grauen Wolken abzeichnete.
     Er spürte, wie sich seine Freunde anspannten und tat es ihnen augenblicklich gleich, als das Wesen näher kam.
Sie konnten schon erkennen, dass es sich um einen Mann handelte, der gelassen auf sie zu schritt.
     Nur noch wenige Sekunden, und sie würden sehen, wer es war.
Tários überkam ein flaues Gefühl im Magen, und er strich sich über die Mitte.
     Noch während er sich fragte, was das zu bedeuten hatte, schritt die Gestalt durch die letzten Schwaden und gab sich zu erkennen. 
     Tários verschlug es die Sprache.
Obwohl er es schon geahnt hatte, obwohl er wusste, dass er wieder hier war, überkam es Tários wie ein Schock, als er seinen Bruder plötzlich vor sich sah.

     
    Bedächtig, schön einen Schritt vor den anderen setzend, bewegte sich Tegan auf die drei Dämonen zu. Obwohl er kleiner und unmerklich weniger muskulös war, strahlte er eine Selbstsicherheit aus, die Luzifer selbst Konkurrenz gemacht hätte. Wenn es ihn denn geben würde und nicht ihre Rasse die Tiefen der Erde bewohnen würden.   
  Ein spöttisches Lächeln auf den Lippen, blieb Tegan stehen, die Beine breit gespreizt in einem sicheren Stand, die Hände locker in der Hose vergraben, und betrachtete die Krieger, die in einem schön symmetrischem Dreieck vor ihm standen.
     Wie süß, diese Formation hatten sie bestimmt oft geübt.
Rechts vor ihm stand ein Hühne von einem Mann, er maß sicher eineinhalb Kopf mehr als Tegan, seine blauen Augen blitzten Tegan angriffslustig unter hellblondem Stoppelhaar entgegen. Er meinte auch, ein wenig Überraschung und Verwirrung in seinem Blick lesen zu können. Vermutlich war seine Ähnlichkeit mit Tários doch nicht so gering. Der Wikingerverschnitt hielt sich breitbeinig in Angriffsstellung, eine Hand an seiner rechten Hüfte, vermutlich am Waffenholster, während seine linke einen seltsamen kleinen Kasten umklammert hielt, das minutiös ein nervtötendes Piepsen von sich gab und rotorange leuchtete.
     Ach das war das seltsame Geräusch von vorhin.
Tegan schwenkte hinüber auf die linke Seite des Dreiergespanns, bewusst Tários in der Mitte übergehend.
     Na der schien ihm schon eher gewachsen zu sein. Im Gesichtsausdruck des dunkelhaarigen Dämons las Tegan die gleiche Kälte, dieselbe Abgebrühtheit die auch ihn geprägt hat. Aus seinen bronzefarbenen Augen sprach tiefer Schmerz und der Resignation der Hoffnungslosigkeit. Verwundert über diese Ähnlichkeit hob Tegan verblüfft eine Augenbraue, und der Krieger schien sie zu teilen, zeigte sie jedoch nur in einem kurzen Zucken der Augenlider. Tegan’s Blick schweifte über seinen Körper und blieb kurz an den Ausbuchtungen an den Handgelenken hängen, bis er die Spitzen der beiden versteckten Dolche erkannte.
     Amüsiert stieß Tegan ein anerkennendes Lachen aus. Er mochte diesen Typen.
Er hatte Geschmack.
     Nun widmete er sich seinem kleinen Bruder. Und genoss es so richtig.
Tegan sah Tários in die Augen, die sich vor Unglauben und kaum unterdrückter Wut weiteten, er glaubte sogar ein wenig Furcht darin erkennen zu können.
     Tários hatte die Hände zu Fäusten geballt und schien sich kaum noch ruhig halten zu können. Doch schien er unbedingt vor seinen Kumpeln verbergen zu wollen, dass er Tegan kannte.
     Wie niedlich. Als würde ich dir diesen Gefallen tun, Bruderherz.

 
     Tegan konnte, sehen, wie die Anspannung seiner Kriegerbrüder von Sekunde zu Sekunde stieg. Von seiner eigenen ganz zu schweigen.
     Er sah seinem Bruder in die dunkelgrünen Augen. Augen, die er schon seit seiner Geburt kannte. Augen, die ihm belustigt aufgeholfen hatten, wenn er als kleiner Junge stolperte, die ihn angestrengt angefunkelt hatten, wenn sie mit ihren Holzschwertern Krieg gespielt hatten, die ihn als junger Mann den Rücken gedeckt hatten. Augen, die ihn voller Hass nach dem Tod ihrer Eltern angeblickt hatten, die ihn hämisch grinsend ins Gesicht gelacht hatten, als er Jean und Estelle tot aufgefunden hatte.
     Diese Augen blickten ihn auch jetzt wieder an. Kalt, abschätzend und leicht amüsiert. Tegan schien Tários‘ Situation in vollen Zügen zu genießen.
     Er wusste, dass er den Verwandtschaftsgrad nicht würde verbergen  können, Tegan schien nur darauf zu brennen, mit der Wahrheit rauszurücken.
     Bevor er noch weiter über eine Lösung grübeln konnte, richtete Rasmus das Wort an Tegan.
     „Wer zur Hölle bist du, und was willst du hier?“
Kurz musste Tários über die ungestüme Art seines Freundes schmunzeln.
     Tegan schien ebenfalls amüsiert, er hob erneut eine Augenbraue als er antwortete.
„Keine Ahnung, was dich das angehen sollte.“
     Tários erkannte, wie sein Kumpel sich anspannte und die Hand sich um seinen Dolch verkrampfte. So verspielt Rasmus auch sein konnte, wenn er wütend wurde, ging sein Temperament mit ihm durch.
     Bevor er jedoch unüberlegt handeln konnte, ergriff Logan das Wort. Äußerst ungewöhnlich, wo er sich doch hauptsächlich im Hintergrund hielt, wenn es um diplomatische Diskussionen ging. Für gewöhnlich fackelte Logan nicht lange.
     Doch Tários war vorhin, bei Tegan’s entwürdigender Musterung, eine gewisse Anspannung zwischen den Beiden aufgefallen, ob nun aus Anerkennung oder Missbilligung.
     „Sag uns einfach, was du in diesem Teil dieser gottverlassenen Gegend zu suchen hast, und damit hat’s sich“ knurrte Logan in seiner ungehobelten Art.
     Tegan blickte ihn amüsiert an, legte den Kopf auf die andere Seite, als schien er angestrengt über seine Antwort nachzudenken, als er dann doch den Mund öffnete.
     „Was ich hier zu suchen habe? Ganz einfach. Ich bin hier, um meinem kleinen Bruder einen Besuch abzustatten, nicht wahr, Tários?“
     Tários konnte die Schadenfreude nicht ertragen, die sein Bruder mit jeder Faser versprühte.
     Mit einem Ruck drehten sich Rasmus und Logan zu ihm um, beinahe synchron. Rasmus‘ Entsetzen war schneller als Logan gelassene Überraschung. Doch keiner von beiden sagte etwas. Keiner der Krieger redete gern über seine Vergangenheit. Wenn jemand Neues zur Truppe stößt, muss er keinen Lebenslauf vorlegen und seine gesamte Vorgeschichte erzählen.
     Obwohl sie Freundschaften geschlossen hatten und sich sehr nahe gekommen waren, wusste nicht jeder über jedes noch so kleine Detail Bescheid.     Aber das plötzlich Tários Bruder auftauchte, von jemandem, der eigentlich immer wie ein Einzelgänger gewirkt hatte, ließ Verblüffung aufkommen.
     „Tegan. Was willst du hier?“
Erneut verzog sein Bruder den Mund zu einem breiten Grinsen.
     „Das gleiche wie immer, Bruderherz. Dir dein Leben zur Hölle machen"

Kapitel acht

„Furcht besiegt mehr Menschen
als irgendetwas anderes auf der Welt." 
Ralph Waldo Emerson

 Die zwei Anzugträger der National Bank waren zuerst überrascht, als die Chefin der Werbeagentur, die sie engagieren wollten, zum ersten Meeting nicht erschien, doch als der Ersatz in Form eines nervösen Mannes einen Fauxpas nach dem anderen hinlegte, schlug ihre Stimmung in ungehaltenen Zorn über. 
Solche Unfähigkeit konnten sie nicht länger tolerieren.
Jason verfluchte Antonett dafür, dass sie anscheinend der Meinung war, ihre Anwesenheit wäre hier nicht von Nöten. Alle Unterlagen, die mit dem Auftrag der National Bank zusammenhingen, waren nicht im Büro zu finden, was nur bedeuten konnte, das Antonett sie dabeihatte. Erneut  versuchte Jase, sie zu erreichen. Er hatte gerade ihre Nummer gewählt und sich zu den beiden wartenden Herren umgedreht, um ihnen erneut entschuldigend zu zu lächeln, als sie auch schon ihre Aktenkoffer packten und im Begriff waren zu gehen.
Entsetzt legte Jason sein Handy auf den Tisch, um sie aufzuhalten, als die Tür aufging und Antonett eintrat.
  Als hätte das Schicksal heute kein Erbarmen, traf sie dabei mit der Tür, die sie schwungvoll öffnete, den Arm eines NB-Typen. Man konnte ein lautes Knacken vernehmen, als der Betroffene auch schon aufheulte.
„Verdammte Scheisse! Können Sie nicht aufpassen? Was ist das hier für ein inkompetenter Saftladen? Vergessen Sie den Auftrag, ich habe keine Ahnung, wie man jemals auf die Idee gekommen ist, Ihre Agentur zu beschäftigen!"
Mit diesen Worten griff er mit seiner noch heilen Hand nach dem Aktenkoffer, der zu Boden gefallen war, und stapfte zur Tür hinaus. Sein Kollege folgte ihm, bevor er jedoch die Tür schloss, giftete er die beiden noch einmal an: „Glauben Sie ja nicht, dass dieser Vorfall unbeachtet bleibt. Das wird noch Folgen haben!" 
 Mit einem lauten Krach schloss er die Tür hinter sich und hinterließ zwei ratlose, teilweise entsetzte Gesichter. Antonett drehte ihren Kopf leicht zu Jase, als beide auch schon vergeblich versuchten, ein prustendes Lachen zu unterdrücken.
  Es schien, als würde die Anspannung, die beide so beschäftigte, in einem Brocken abfallen.
Antonett ließ sich, vom Lachen erschöpft, tief luftholend auf einem Stuhl fallen und konnte nicht verhindern, dass sie über den Vorfall erleichtert war.
 Wie oft hatte sie sich gefragt, wie sie den Auftrag für die National Bank umgehen konnte? Nun, eine Lösung für dieses Problem hatte sie ja nicht gerade bekommen. Ihre Rechnungen bezahlten sich nun mal nicht von selbst. Auch der Skandal, den die National Bank unweigerlich aus diesem Vorfall machen würde, war nicht gerade förderlich für ihre Aufträge.
„Was zur Hölle machen wir jetzt?“ Jason schien auf denselben Punkt gekommen zu sein wie sie. 
„Ganz ehrlich? Keine Ahnung. Zuerst einmal die Aufträge bearbeiten, die wir noch nicht fertig haben. Von allein macht sich die Arbeit ja nicht.“, erwiderte Antonett mit einem Lächeln


Bei den Worten seines Bruders drehten sich Logan und Rasmus mit einem Knurren wieder zu ihm. Es war egal, ob Tários je etwas über ihn erzählt hatte, niemand bedrohte einen der ihren. Die Waffenbruderschaft der Krieger war dicker als Blut.
 Tários unterdrückte ein verräterisches Schlucken und zwang sich, eine undurchsichtige Miene aufzusetzen. Vergebliche Mühe, wie er wusste. Tegan blieb nichts verborgen.
  Er entschied sich dafür, zu bluffen.
„Wie willst du das anstellen, Tegan? Ich habe keine Familie gegründet, die du massakrieren könntest, keine Geliebte, die du dir unter den Nagel reißen könntest und die Krieger hier, nun, ich würde mir an deiner Stelle zweimal überlegen, ob du sie angreifst, du Hurensohn.“
 Logan blickte Tários ob seiner Aufzählung mit hochgezogener Braue an, sagte aber nichts. Tegan jedoch schien nur noch mehr amüsiert.
 „Seit wann fluchst du, Solitários? Aber nicht dass du dir das von mir abgeschaut hast? Und nur so nebenbei, wir haben die gleiche Mutter, pateta. Aber schön. Ich weiß, dass du keine Familie hast, wenn doch, würde sie nicht mehr leben. Aber was das ‚keine Geliebte‘ angeht, nun ja. Was ist denn mit der schönen Gefährtin, die du so heldenhaft im Wald verteidigt hast?“
  Während Logans Braue noch weiter in die Höhe schoss, unterdrückte Tários verzweifelt jede Regung seines Körpers, sich der Argusaugen seines Bruders stechend bewusst. Er durfte einfach nichts verraten, er würde sie in Gefahr bringen, in tödliche Gefahr, er musste es schaffen, er …
 „Gott, entspann dich, Kleiner. Ich hab doch selbst gesehen, dass sie nicht in deiner Liga spielt. Sie ist viel zu grazil, um mit deinen plumpen Bewegungen umgehen zu können. Ich jedoch, ich könnte ihre versteckten Talente aus ihr „herauskitzeln“, wenn du verstehst, was ich meine.“
Tários versuchte weiterhin, seinen Körper unter Kontrolle zu halten, während sein Verstand fieberhaft nach einem Ausweg suchte. Würde er Tegan widersprechen, wäre sein Interesse offensichtlich. Aber er konnte ihm auch nicht einfach so zustimmen. Was, wenn er wirklich ihre Nähe suchte? Wie könnte sich Tários das jemals verzeihen? Aber er musste sich schnell entscheiden, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. 
„Ich kannte sie nicht, ich habe nur den Schrei einer Frau gehört. Dass ausgerechnet du die Bedrohung warst, war mir nicht bewusst. 
 Er hoffe inständig, das Tegan ihm glauben würde und nicht weiter nachbohrte. 

Tegan konnte die Anspannung, die Tários ausstrahlte, regelrecht riechen.
Dieser Idiot. Glaubte er wirklich, dass er damit irgendwas verbergen konnte?
 Als hätte Tegan noch eine Bestätigung gebraucht. Er wusste auch so, dass Tários Interesse an dieser Schönen hatte.
Das sagte ihm seine Intuition.
Aber es war doch amüsant zu sehen, wie sein kleiner Bruder sie vor ihm beschützen wollte.
„Nun, es interessiert mich eigentlich einen Dreck, ob du sie willst oder nicht. Ich werde sie so oder so kriegen. Wenn ich dich damit verletze – gut, zwei Fliegen mit einer Klappe, wie man so schön sagt.“
Tários‘ Wut zeichnete sich deutlich in seinem Gesicht ab, sehr zur Belustigung Tegan’s.
Manipulation war doch eine schöne Sache.


Tários konnte es nicht glauben.
Tegan’s Unfähigkeit zu fühlen oder Empathie zu empfinden ermöglichte es ihm immer wieder, andere Menschen in seine Falle tappen zu lassen.
Er entschloss sich, einfach nicht zu antworten. Wenn Tegan in Spiellaune war, zog man sich am besten zurück.
Als hätte sein Schicksal heute Mitleid mit ihm, klingelte sein Handy in diesem Augenblick.
Es war Damon.
„Ja?“
„Wo zur Hölle steckt ihr? Ihr hättet schon vor einer Stunde zurück im Hauptquartier sein sollen! Glaubt ihr, ich mache diese Anordnungen zum Spaß?!"
„Nein, wir – wir sind schon auf dem Weg.“
Zähneknirschend beendete Tários das Telefonat
„Wir müssen los.“
„Damon?“ fragte Rasmus.
„Jap.“ Knurrte Tários knapp und machte auf dem Absatz kehrt.
Was wollte man mehr. Vom Gefühlstechtelmechtel mit dem verhassten Bruder zum Teamgespräch mit einem ziemlich angepissten Boss. Ja, das Schicksal war heute wirklich auf seiner Seite.
Die beiden anderen folgten ihm sofort, als auch schon Tegan’s Stimme ertönte.
„Die Rolle des Schoßhündchens hat dir schon immer gestanden, Tários!"


Mit einem Stöhnen ließ Antonett den überdimensionalen Stapel an Ausgangspost auf den Schreibtisch fallen, das dafür eigentlich vorgesehene und viel zu kleine Fach einfach ignorierend.
„ Sagst du Kendra morgen, dass sie die als erstes zur Post bringt?“
Jason antwortete nur mit einem kurzen „Mhm“, immer noch konzentriert über dem PC hängend.
„Brauchst du noch lange für diesen Text?“ Antonett schaute ihm über die Schulter.
„Nein, der Text ist so gut wie fertig. Ich muss nur noch das Layout anpassen, dann bin ich für heute durch. Fahr du ruhig schon, morgen ist ein harter Tag für dich.“
Antonett kniff kurz die Augen zusammen bei der Erwähnung des Geburtstages ihrer Schwester. Auch wenn Jason nicht die ganze Geschichte kannte, wusste er doch dass es kein Feiertag für Antonett war.
„Okay, dann bin ich weg. Bis morgen!“
Sie drückte ihm einen Kuss auf die unrasierte Wange und verließ das Büro.

Während sie die Treppen zur Eingangstür hinunterstieg, durchkämmte sie ihre Handtasche nach ihrem  Handy.
„Verflucht. Ich hatte es doch gerade noch – ah, da ist es ja.“
Als sie es endlich in ihrer Hand hatte und mit der anderen die Tür aufdrückte, suchte sie in ihrer Kontaktliste nach der Nummer von Violet. Noch während ihr Mobiltelefon wählte, wusste Antonett schon, dass es wie immer ablaufen würde.
„Der von Ihnen gewählte Teilnehmer ist nicht mehr verfügbar.“
Obwohl die Nummer schon Jahre alt war, sie schon zig Mal versucht hatte, ihre Schwester zu erreichen und jedes Mal die gleiche Meldung kam, konnte Antonett nicht aufhören. Sie war ihre kleine Schwester, verdammt noch mal.
Mit einem enttäuschten Seufzen kappte sie die Verbindung und steckte das Handy wieder zurück in ihre Tasche.
Als sie den Weg zu ihrer Wohnung fortsetzte, konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurück halten. Antonett wusste nicht, wie lange sie noch so weiter machen konnte. Wenn sie nicht bald ein Lebenszeichen von Violet erhielt, …
Mit einem leisen Aufschluchzen hob sie ihren Kopf, da sie ihre Straße erreicht hatte, und erkannte, dass ein Mann vor ihrer Tür stand.
Auf den ersten Blick dachte Antonett, dass es Tários wäre. Die gleiche Statur, der gleiche Körperbau. Doch als sie näher kam und der Typ sie anschaute, blickten sie grüne Augen interessiert an. Nun erkannte sie auch, dass er kleiner war als Tários. Unwesentlich, aber doch kleiner.
Doch noch während der Mann den Mund öffnete, um sie anzusprechen, erkannte Antonett, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte. Er war die Vision aus dem Park.
„Hey.“ Seine tiefe Stimme stand in einem solchen Kontrast zu seinem Äußeren, dass es Antonett kurz die Sprache verschlug. Diese Sanftheit, die in diesem einen kurzen Wort steckte, wollte nicht so recht zu seinem rauen Aussehen und der kühlen Abgebrühtheit in seinen Augen passen.
Abwesend wischte sie sich über die Wangen, um die Spuren ihres kurzen Gefühlsausbruchs zu entfernen, mehr ein Automatismus als eine bewusste Geste.
„Ähm, hallo.“
Unsicher, was sie von der ganzen Sache halten sollte und erst recht, was von ihr erwartet wurde, strich Antonett ihren Mantel glatt.
Als er nichts erwiderte, sondern sie nur mit durchdringenden Augen anstarrte, klemmte Antonett ihre Handtasche noch enger an ihren Körper und steuerte die Tür zum Vorraum ihres Wohnblockes an. Sie hatte das beklemmende Gefühl, dass hier irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugeht, was in Anbetracht ihrer ersten „Begegnung“ auch kein Wunder war.
Bevor sie jedoch die Hand nach der Türklinke ausstrecken konnte, verstellte er ihr den Weg und streckte seinerseits den Arm aus, in ihre Richtung.
„Ich bin Tegan. Tut mir leid, wenn ich dich hier so überfalle, aber ich suche dich schon lange.“ Als er erkannte, dass sie das in keiner Weise beruhigte, schob er eine weitere Erklärung hinterher.
„Ich habe es gerade in deiner Agentur versucht, aber da muss ich dich knapp verfehlt haben. Dein Kollege war jedoch so freundlich, mir deine Adresse zu geben, damit ich dich doch noch erwische. Das ich allerdings vor dir da bin, hätte ich nicht gedacht.“
Dass er ihr gegenüber permanent das „Du“ verwendete, schien Antonett im ersten Moment nicht so sehr zu stören, jedoch wurde ihre Neugier geweckt. Warum war ein Typ wie dieser auf der Suche nach ihr?
„Was genau wollen Sie von mir?“
„Ich brauche eine gute Agentur für mein Unternehmen. Unsere neue Produktlinie soll eine komplett andere Kampagne führen und dafür wollen wir deine Hilfe. Deine bisherigen Projekte haben mich einfach umgehauen. Aber warte mal, haben wir uns nicht schon einmal gesehen?“
Als er sie neugierig noch genauer zu betrachten schien, fühlte sich Antonett noch unwohler in ihrer Haut. Spielte er etwa auf die Begegnung im Park heute Morgen an? Was sollte sie darauf antworten? Ja, natürlich, Sie waren die seltsame Vision die mich angestarrt hat? Ganz genau. Als wäre es nicht schon genug, dass sie den Verstand verlor, das musste sie nicht auch noch wildfremden Typen an die Nase binden. Dass sie nichts erwiderte, schien ihn kaum zu stören. War wohl ein Meister in Selbstgesprächen. Oder vielleicht hatte er einen stummen Freund. Wer wusste das schon.
„Stimmt, du bist mir im Park entgegen gekommen. Warst seltsam verwirrt, als du mich dann gesehen und angestarrt hast. War alles in Ordnung? Du warst danach so schnell weg. Ich mein, ich versteh‘ ja, dass man nicht alle Tage so einen Typen wie mich zu Gesicht bekommt, aber wegrennen ist eigentlich nicht die Wirkung, die ich sonst auf Frauen habe.“
Wo Antonett bei seinen ersten Sätzen noch verwirrt war, dass er das Ganze als normale und vollkommen natürliche Begegnung abtun wollte und sie sich fragte, ob ihr Verstand ihr einen Streich gespielt hatte, so konnte sie bei dem fulminanten Finale seiner Rede nur noch kopfschüttelnd eine Augenbraue hochziehen. Für wen hielt er sich, einen verdammten Filmstar? Diesem Typ schien es an Selbstbewusstsein nicht zu mangeln, vermutlich hatte er die Arroganz mit dem Löffel gefüttert gekriegt. Denn anders konnte sich Antonett diese Überheblichkeit nicht erklären.
„Vermutlich sind Ihre sonstigen Bekanntschaften einfach zu unterbemittelt, um ihre Aufgeblasenheit zu erkennen und schnellstmöglich das Weite zu suchen.“
Mit diesen Worten schlug Antonett seine immer noch ausgestreckte Rechte aus dem Weg, schloss die Tür auf und ließ sie mit einem lauten Knall hinter sich zufallen.

    

     

Impressum

Texte: liegen alle bei mir.
Bildmaterialien: dragonofnight (vielen Dank dafür (: )
Tag der Veröffentlichung: 02.11.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
For all the lovers out there.

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