Die Furien des 2. Weltkriegs, die versuchten mir meine Jugend zu rauben, übten ihr grausames Handwerk nicht nach der Parole “Jedem das Gleiche” aus. Obwohl sie überall ihre Bombenlasten hätten ausspeien können, so verschonten sie gönnerhaft, gnädig, kleine Städtchen mit ihren bescheidenen Kirchtürmen, Dörfer verloren inmitten weiter Felder, um ihre geballte Konzentration auf Großstädte zu richten, wo sie einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung in ihrer tödlichen Umarmung im Nu zermalmen konnten. Alles in allem, wo sich ihr Handwerk lohnte.
Doch einmal losgelassen, wer kann die Furien wieder bändigen? Vielleicht liegt es daran, daß die Vernichtungsfreude bei Kriegsanstiftern und ihren Hörigen von jeher größer war als die Befriedigung des Aufbauens. Schließlich flüstern die Furien ins willige Ohr, daß weder Geduld noch Verstand zur Vernichtung von Menschenleben, von Hab und Gut, erforderlich sind. Ihr sonstiges Schweigen, ihre schläfrigen Augen, verraten nicht, daß der Bumerang, verhüllt in ihren Taschen, ihr Lieblingsspielzeug ist – nicht daß sie miteinander damit spielen. Wenn sie ihn schleudern, ist es für sie eine ernste, wohl gezielte Waffe, die an einen willigen Empfänger geht, der sich der eigentümlichen Eigenschaft nicht bewußt ist, daß er die ihm anvertrauten Truppen vor dieser tückischen Abnormität nicht schützen kann. Jeder Krieg unterliegt dem Bumerang-Effekt. Sieg oder Niederlage spielen keine so große Rolle im Weltgeschehen, wie man denkt. Nur die Furien lachen, weil der machtsüchtige Mensch durch Jahrhunderte nicht gelernt hat, ihrem hetzenden Geflüster zu widerstehen, und sie weiterhin dafür sorgen werden, daß der Weltfriede eine Utopie bleibt. Schließlich ist die Zerstörung der ganzen Menschheit ihr Ziel. Sie haben den Menschen die Waffen dazu in die Hand gelegt. Jetzt brauchen sie nur noch zu warten.
Fuer mich brachte der 2. Weltkrieg die Erkenntnis, daß man nie voraussehen konnte, wo und wann sich die Furien jeweils austoben würden. Das Ziel der Bevölkerung in den Großstädten war, dem grausamen Tod, der Feuersbrunst, auszuweichen, schnellstens zu flüchten. Aber es gab keine Anzeichen dafür, wann der nächste Angriff erfolgen würde. Die Furien waren stumm. Je älter ich werde, um so klarer erscheint es: sie hatten es auch auf mich, klein und unbedeutend, wie ich war, abgesehen. Noch heute - und die Kriegserinnerungen gehen viele Jahre zurück - bin ich erstaunt wie es mir gelang ihren Klauen zu entschlüpfen! Es hatte nichts mit klarem Denken zu tun. Früher hätte ich es Zufall genannt, aber heute weiß ich, daß ich mich in Gottes Händen befand, als ich den Platz vermied, an dem sie mich hätten erwischen können. – zweimal sogar. Es war nicht mein eigenes Blut, das in dieser grimmigen Zeit floß, aber symbolisch gesehen, watete ich mit meinen Füssen durch das Blut der Familie Frank. In dem vorherrschenden Chaos war mein Glaube an den Führer nicht wacklig geworden – er war nie vorhanden. Ich glaubte an Gott. Die beiden Glaubensbekenntnisse ließen sich schlecht vereinbaren.
Wenn ein starker Glaube sich vererben sollte, was ich nicht annehme, dann kam er von meinem Vater, einem seelenguten und gottesfürchtigen Mann. Schade, daß ich ihn nie fragen konnte, woher sein Glaube kam, ob er während der Kindheit wuchs, oder ob sich Gott ihm im ersten Weltkrieg offenbarte, als er monatelang im Trommelfeuer lag. Eine Kugel kam geflogen, und es war klar, daß sie ihm galt. Er warf sich im rechten Moment nieder, ohne natürlich zu wissen, daß es der rechte Moment war, und diese Kugel streifte ihn unter dem Kinn, um dann in seine Schulter einzudringen. Erschütternd natürlich das Nachspiel, wo er heftig blutend und kaum atmend, auf einem Haufen toter Kameraden aufwachte, die man, Spaten gezückt, in die wartende offene Erde versenken wollte. Ein Soldat des Beerdigungskommandos merkte, daß sich der blutüberströmte Mann, mit den toten Kameraden fast verwachsen, noch rührte und zog ihn ins Leben zurück. War das der Moment, wo der Glauben meines Vaters keimte oder wuchs, ohne Zweifel das perfekte Bett, um Gott zu finden.
Wie gern würde ich ihn fragen, wenn er mir nicht so früh genommen worden wäre. Ich würde ihn mit Fragen bombardieren. Zwar wußte ich, daß eine Kugel die Schulter meines Vaters durchdrungen hatte, weil er als ausgezeichneter Schwimmer sein ganzes Leben lang, nur mit einem Arm kraulte, auch hatte mir meine Mutter erzählt, daß mein Vater lange nach Beendigung des Krieges an Alpträumen litt. Aber die Geschichte seiner Rettung hörte ich nur kürzlich von meinem Bruder Wilhelm, der als Teenager das Versteck meines Vaters aufspürte, wo eine Pistole verborgen mit seinen Kriegsmemoiren lag. Mein Bruder ist auf diese Weise in die Erinnerungen meines Vaters eingedrungen, die er in seiner festen Hand in straffer Sütterlinschrift eingetragen hatte.
Nein, ich glaube nicht, daß ein tiefer Glaube erblich ist. Er kommt in unserer kleinen Seele mit uns auf die Welt und wächst mit uns heran – im kindlichen Leben fast unbeachtet – ein wahres Gottesgeschenk, das uns in die Wiege gelegt wurde und auf unseren Wegen begleitet. . Vielmehr halte ich es für möglich, daß mein Glaube durch eine Seelenverwandtschaft mit dem meines Vaters verankert war. Nun trete ich in Gedanken den Rückweg in den 2. Weltkrieg an, der mich der Dinge beraubte, die ich für lebensnotwendig hielt, nur um herauszufinden, daß es auch ohne sie ging. Wenn es im wahren Sinn um die tägliche Sorge ums Leben geht, verlieren Dinge an Wichtigkeit, von denen sich der Mensch für Geld und gute Worte nicht trennen würde.
Ganz allgemein von wichtiger Rolle in unserem Leben, wuchs es während der Kriegsjahre zu Lebensgröße heran. Der falsche Zeitpunkt raffte uns im Handumdrehen hinweg. Da wir als armselige Geschöpfe keine Kontrolle darüber hatten, liefen wir eben - Rennen, von Panik getrieben, gehörte zunächst zum nächtlichen Sport, später zur 24- Stundenrunde. Aber bei all der sinnvollen Lauferei und perfekter Vorausplanung, der allergrößten Vorsicht, konnte uns der richtige Zeitpunkt am richtigen Ort entgehen. Eine kleine ungewollte Wendung in der Tagesordnung konnte sich schicksalhaft auswirken, unser Weiterleben günstig beeinflussen oder unseren Lebensfaden im Nu abschneiden. Nicht das der Tod in Aachen unerwartet auf uns zugekommen wäre, denn in der Luft lag Todesangst. Obwohl man sich dagegen sträubte, man atmete sie unwillkürlich ein.
Ich erinnere mich an Frau Hansen, eine flüchtige Bekannte, die in unserer Strasse wohnte. Eines Tages liefen wir – meine Mutti und ich – ihr in die Finger und es entspann sich eine Unterhaltung über dieses und jenes, hauptsächlich jedoch über den Krieg. Wie klar kann ich mich auf ihre Worte besinnen, obwohl mir lediglich in Erinnerung blieb, daß ihr Gesicht von rötlichem Haar umrahmt war. Aber was sie sagte, habe ich nie vergessen. Malte sie den Teufel an die Wand mit ihren schicksalsschweren Worten? Wie furchtbar es doch sein mußte, wenn man in einem Keller bei unerträglicher Hitze gefangen war, und die Kellerdecke, die sich unter den brennenden Ruinen eines eingestürzten Hauses wölbte, zu bröckeln begann, Feuer gierig durch die Ritzen leckte und ein Entkommen unmöglich machte? Beim ersten Aufheulen der Sirenen lief Frau Hansen mit ihrem 10-jährigen Sohn genau wie wir zu einem Tunnel in der Kamperstrasse, der sich 28 Meter unter der Erde befand. Wenn man den Tunnel rechtzeitig genug erreichte, fühlte man sich in seinen Tiefen sicher und wohl, nachdem einem die Nachtluft beim schnellen Lauf den Schlaf aus den Augen gewischt hatte.
Dieses wohlige Gefühl der Sicherheit war durchaus berechtigt, denn der Tunnel hielt einem Teppich von 30 Bomben schwersten Kalibers im April 1944 stand, Bomben, die so dicht gesät waren, daß drei sich in einem Krater vereinigten, dessen gewaltige Proportionen von Sachverständigen des 3. Reiches besichtigt, wenn nicht sogar bewundert wurden. Man muß annehmen. daß es ihnen einiges zu denken gab. Die Nachrichten sprachen von einem Angriff, der die erwartete Invasion vorbereitete. Der damals übliche Ausdruck für schwere Luftangriffe auf deutsche Städte war „Terrorangriff“. Im Allgemeinen erfuhr das Land durch eine Sondermeldung über eine während der Nacht, zerstörte Stadt - genau wie über die Siege und Niederlagen unseres Heeres.. Ich erinnere mich heute noch an Stalingrad, wo wir um meinen ältesten Bruder Herbert bangten, obwohl wir nicht wußten, ob er sich überhaupt in der bedrängten Stadt befand. Das Radio brachte laufend Sondermeldungen über unsere tapferen Soldaten, die auf dem Altar des 3. Reiches so unnötig und grausam geopfert wurden. Natürlich durfte man Sondermeldungen nicht auf die Waagschale legen und auf ihre Genauigkeit überprüfen, denn sie erreichten uns meist in verbrämter Form, hinter denen sich die wahre Sachlage oft verbarg. Es versteht sich von selbst, daß das siegreiche Heer, zu Beginn des Krieges, keine Beschönigung der zahlreichen Sondermeldungen nötig machte. Der Tunnel, der uns das Leben rettete, nahm seinen unterirdischen Verlauf an der Bahnstrecke entlang, die von Aachen nach Herbesthal, der nächsten Grenzstadt in Belgien, führte. Zu dieser Zeit gab es natürlich keine Grenze, weil Belgien zu den besetzten Ländern gehörte. In dieser schicksalsträchtigen Nacht, erreichten Mutti und ich den Tunnel rechtzeitig. Wir verbrachten unsere Nächte nicht zu Hause, sondern im 3. Stock eines in der Nähe des Tunnels gelegenen Hauses, wo uns Freunde ein Schlafzimmer zur Verfügung stellten. Wir schliefen in unseren Kleidern und waren durch Übung an ein schnelles Heruntersausen der zahlreichen Treppen in vollkommener Dunkelheit gewöhnt. Unglücklicherweise befand sich der Eingang zum Tunnel hinter einem Eisenbahnübergang, der von einem äußerst gewissenhaften Bahnbeamten überwacht wurde. Wenn man aus gewisser Entfernung das unmelodische Klingeln der herunter gelassenen Schranken hörte, so sank einem das Herz in die Hose, die eisige Hand der Furcht beengte unsere Atemwege und beschleunigte unsere Schritte. Der Optimist glaubte daran, daß die Schranken wieder hochgehen würden, bevor das Brummen der feindlichen Flieger hörbar wurde. Der Pessimist sah das alles ganz anders an – er war davon überzeugt, daß ein langer Güterzug ihn von dem erstrebten Ziel, dem Nest der Sicherheit, für immer fernhalten würde. Mutti und ich standen oft mit klopfendem Herzen und gespitzten Ohren an der geschlossenen Schranke. Hauptsache ist, daß wir uns am 11. April 1944, der Nacht der grausigen Nächte, zeitig genug in Sicherheit bringen konnten. Wir hockten auf dürftigen Bänken im trüben Licht von Kerzen, den Rücken an die kühlen Wände gelehnt, als wir ein eigenartiges Donnern über unseren Köpfen hörten. Es stoppte, um sich zu wiederholen, wieder und wieder drang das gedämpfte Grollen zu uns. 30-mal im Ganzen. Nicht das wir zählten. Es wurde später von Sachverständigen festgestellt, wie viele Volltreffer die Standhaftigkeit des Tunnels getestet hatten. Ich sah nach oben und bemerkte, wie haarfeine Risse im Zickzack-Bogen über die Decke flitzten. Ich wußte nicht, daß es sich um Volltreffer auf den Tunnel handelte, sondern nahm an, daß irgendwo in der Stadt Bomben explodierten. Wir saßen nahe am Kreuzgang, da; wo die Dreieinigkeit von Bomben einen gewaltigen Eindruck auf jeden machte, der den Krater später sah. Der Tunnel schien zu erbeben – oder war es mein klopfendes Herz - aber tief in der Erde hatten wir Sicherheit gefunden. Wie eigenartig, daß ein Gedanke mich vorwiegend bewegte, ich brauchte mir um meinen Vater keine Sorgen mehr zu machen. Sein Tod bei einem Bombenangriff am 14. Juli 1943 befreite mich jetzt von solchen Gedanken. Damals war er zu Hause geblieben. Jetzt war er von solch irdischen Gefahren befreit.
In diese Gedankengänge vertieft, bemerkte ich nur allmählich, daß Frau Hansen und Sohn nicht auf ihren üblichen Sitzen saßen. Was war bloß los? Sie liefen schneller als wir und saßen meist schon bei unserer Ankunft auf ihren Plätzen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, daß ihre Plätze je leer gewesen. Doch in dieser schicksalsschweren Nacht waren Mutter und Kind nicht da. Der Sohn lag in hohem Fieber mit Scharlach zu Hause, und natürlich war die Mutter bei ihm geblieben, als der gnadenlose Bombenteppich sich über unserem Stadtteil ausbreitete. Das Schicksal, dem Frau Hansen mit aller Kraft auszuweichen suchte, hatte sie trotz aller Vorsicht eingeholt. Die anwesenden Hausbewohner verbrannten im Keller unter den feurigen Ruinen des eingestürzten, vierstöckigen Hauses. Das Glück, hatte Mutter und Sohn verlassen. Es handelte sich doch nur um ein paar Tage, aber die Bombengeschwader warteten nicht auf krankes Kind! Ich habe mich später öfter gefragt, ob Frau Hansen oder auch ihr Sohn eine Vorahnung hatten. Eine Vorahnung hätte ein klareres Bild von ihrem Ende hinterlassen, das sich von der Angst und Panik, die wir alle fühlten. unterschied. In dieser Zeit gab es so viele Möglichkeiten, das Leben zu verlieren, während Frau Hansen doch die eigentliche Szene beschrieb, die ihr und ihrem Sohn das schreckliche Ende bildlich gemacht hatte. Als wir von der erlösenden Entwarnung hörten, bahnten wir uns zögernd einen Weg nach draußen, wo uns eine grauenvoll veränderte Landschaft erwartete. Wir waren auf Schlimmes vorbereitet. Als erstes mußten wir über die Leiche des gewissenhaften Bahnwärters klettern, die am Eingang zum Tunnel lag. In letzter Minute hatte er scheinbar Schutz gesucht. Zu spät! Was er als Pflicht betrachtete, sein Opfer, war umsonst gewesen. in fühlbarer Nähe eines sicheren Ortes gab er sein Leben unsinnig für einen Zug hin, der es gar nicht bis zum Bahnübergang geschafft hatte. Die Zerstörungswut vieler Bomben hatte den Zug zum Halten gebracht und die Passagiere wie Puppen in die Fenster geschleudert, wo sie blutend, von Scherben zerrissen, hingen oder, es im Tode ins Freie schaffend, grotesk zersprengt, auf dem steinigen Boden lagen.
Wir mußten uns unseren Heimweg über Trümmer und verkohlte Möbel bahnen. Unsere schöne Stadt lag, von Rauch verhüllt, zu unserer Rechten. Aber dann – ja, dann gab es kein Zuhause mehr. Vor uns lag ein Trümmerhaufen. Wir waren wieder ausgebombt. Es war auch das 2. Mal, daß wir knapp mit unserem Leben davon kamen. Die Bombe hatte in den Luftschutzkeller eingeschlagen. Mutti und ich waren der Hölle der völligen Vernichtung entronnen. Irgendwie kann ich mich nicht daran erinnern, wo wir den Tag verbrachten. Die Bilder des Grauens, der Not und Erschöpfung, haben sich irgendwie miteinander verwoben, ineinander verzerrt und keinen klaren Eindruck hinterlassen. Allerdings muß ich hier erwähnen, wie gut organisiert und schnell die Nazibehörden mit Butterbroten oder auch Kesseln mit warmem Essen zur Hand waren. Auch besorgten sie den Bedürftigen im Handumdrehen Quartiere bei wenig erfreuten Haus- oder Wohnungsbesitzern. Wir müssen bedenken, daß alles in den Händen der NSDAP lag. Der Ortsgruppenleiter organisierte und gab. Als Ausgebombte wandte man sich an ihn, um neue Lebensmittelkarten, Gutscheine für Kleider usw. zu erhalten Ich kann mich nicht so richtig erinnern, wie wir schließlich in Hahn landeten. Hahn ist ein idyllisches kleines Dorf, das man mit der Straßenbahn innerhalb von 45 Minuten erreichen konnte. Marita Bauwens, meine herzensgute Schulfreundin, bot uns ein herzliches Willkommen. Wie sie uns fand, ist mir heute noch ein Rätsel. Wir verbrachten einige Wochen mit ihr, ihrer Schwester Else und ihrer Mutter, die ihre Tage in einem Rollstuhl verbrachte, von dem ihre abgemagerten Beine leblos herabhingen. Jedoch muß ich zugeben, daß die gelähmte Frau, unverblümt in ihrer Kritik der Regierung war. Ihr Lieblingssatz war “Warum machen sie nicht Schluß, diese Verbrecher?” Die gleiche Frage bewegte uns auch, aber wir brachten sie nicht zum Ausdruck. Sie bezeichnete Hitler als Monstrum und brachte mich durch die Heftigkeit, mit der sie über die Nazis schimpfte, oft zum Lachen.
Gut, daß uns keiner hörte, denn sowie ich mich erinnere, war mithören strafbar, ganz gleich ob es sich dabei um BBC oder Kritik des Führers handelte. Frau Bauwens kannte keine Vorsicht. Es waren die Zeiten, in denen ich nicht an einen weiteren Morgen glaubte, und mir in keiner Weise vorstellen konnte, daß der Krieg und damit unsere jämmerliche Lebensweise, jemals ein Ende finden würde. Meine Fantasie reichte nicht so weit, mich in eine bessere Zukunft zu versetzen.
Besonders traumatisch ist für mich die Erinnerung an den 14. Juli 1943, als wir zum ersten Mal ausgebombt wurden. Es war die Todesnacht meines Vaters, in der englische Flugzeuge 500 Sprengbomben, 110 000 Brandbomben und 21 000 Phosphorbomben auf Aachen warfen. Von der Luftmine gar nicht zu sprechen, die meinem Vater das Leben kostete. Aachen mit seiner grandiosen Kathedrale, dem Stolz der Stadt, liegt im sogenannten Dreiländereck, das von Deutschland, Belgien und Holland gebildet wird. Unglücklicherweise befand sich der Westwall in der Nähe der Stadt, die Befestigung, die Amerikaner und Engländer Siegfried-Linie nannten und in dem beliebten Lied “We are going to hang our wash on the Siegfried Line“ hoffnungsfroh und siegessicher sangen. Es bestand absolut kein Grund dafür, die Siegfried-Linie so verachtend zu betrachten. Wie sich später herausstellte, würde es ein teurer Waschtag für beide Seiten werden. Die froh ausziehenden Soldaten wußten nicht, daß die Wäsche eines Tages in Blut gewaschen würde.
Die Bedeutung der Stadt im Kriegsgeschehen ließ sich schon daran erkennen, daß sich mehr Bunker in ihren Straßen, als in anderen Städten befanden. Die Bunker hatten 4 Stockwerke, ungemein dicke mit Stahldrähten durchwobene, Wände und Dächer. Sie waren mit kleinen Luftlöchern versehen. Keineswegs schön, aber sie sahen vertrauenerweckend und stabil aus. Wer sie auch immer baute, hatte ohne Zweifel die vollkommene Sicherheit der Bevölkerung im Sinn. Schlampereien ließ sich keiner einfallen, aus dem verständlichen Grund, daß sich der Bauherr durch irgendeine Bereicherung am Baumaterial die Todesstrafe eingehandelt hätte. Betrug wie heute gab es in solchen Dingen nicht. Hitler führte ein strenges Regiment. Der Wert der Bunker bewährte sich, sonst hätte der Luftkrieg viel mehr Opfer in Aachen gefordert. Ich kann mich noch immer an den Geruch “unseres” Bunkers erinnern, die feuchte Zementluft, die einem entgegenschlug, wenn man ihn betrat. Was für ein Glück für die Stadtbewohner, die in der Nähe eines Bunkers wohnten und ihn bequem bei Alarm erreichen konnten. Leider hatte man uns keinen Bunker vor die Tür gebaut. Für uns war die Entfernung zu gross, um den nächsten Bunker zu erreichen. Es handelte sich nur um ein paar Minuten, aber ein paar armselige Minuten erhöhten das Risiko zu sehr. Somit verbrachten Mutti, ich, und einige Nachbarn unsere Nächte im Bunker in der Südstrasse auf den uns dort zugewiesenen Pritschen. Ich kann mich immer an eine große Schnarcherei in unserem Bunker erinnern. Meine Mutter schnarchte in unregelmäßigen Zeitabständen mit. Man wußte nie, wann sie loslegte. Frau Navy und Fräulein Wolff, unsere Nachbarn, regten sich oft furchtbar über Muttis schnarchen auf. Sie fanden es unverschämt. Ich weiß nur noch, daß mich ihr verärgertes Geschwätz immer riesig amüsierte und kicherte oft unter meiner Decke. Natürlich hätte ich dem Bunkerbett meiner Mutter einen heftigen Tritt von unten versetzen können, und hätte sie zweifellos auch beim Schnarchen gestört. Aber ich dachte nicht daran. Ich fühlte mich eng mit meiner Mutter verbunden und dazu berufen, ihren Schlaf zu überwachen. Außerdem litt ich im zarten Alter von 14 Jahren nicht an Schlaflosigkeit. Solang ich mich im Bunker sicher fühlte, fiel ich schnell in den Tiefschlaf.
Worüber ich mich aber im Bunker besonders wunderte, war Frau Wagner. Sie war fett. Nicht dick, nein so richtig fett. Ich wunderte mich, wie sie in diesen hungrigen Zeiten soviel Speck ansetzen konnte. Es war natürlich nicht ihr Gewicht, das mich störte, sondern der aufdringlich unangenehme Geruch ihres Körpers. Scheinbar wusch sie nur ihr Gesicht, aber drang mit dem Waschlappen nicht an die intimen Körperteile weiter unten vor. Gut, daß sie nicht in unserer Nähe schlief. Leider drängte sich im Vorbeigehen die Wolke mit der sie sich umgab, in mein Geruchsfeld ein und blieb dann in meiner empfindlichen Nase lange hängen. Nach draußen zu laufen, um ein paar Mal tief einzuatmen, wie es uns aus gesundheitlichen Gründen angeraten wurde, war auch keine Lösung. Das Beste war noch immer einen großen Bogen um ihren rundlichen Körper zu machen. Aber es gab ja zu dieser Zeit, außer Frau Wagner‘s, nur sehr wenige davon.
Aber dann kam der Luftangriff des 14. Juli, als wir um meinen Vater in unseren Haus große Ängste ausstanden, aber in keiner Weise auf den Schock, der uns erwartete, vorbereitet waren. Ich erinnere mich so klar an die Erstarrung, das Nichterfassen, als wir in den frühen Morgenstunden, um das große Wohnhaus bogen, das unsere Sicht blockierte. Die 6 Gebäude, die in einiger Entfernung in einem Blumenfeld lagen, waren verschwunden. Eine Luftmine, die durch den beim Explodieren entstehenden Luftdruck tötet, war in der Seite unseres Hauses eingeschlagen. Eigenartigerweise fielen der Bombe mehr Menschen in einiger Entfernung zum Opfer als in unmittelbarer Nähe. Es lag daran, daß der Luftdruck sich unregelmäßig verteilte. Die Toten saßen aufrecht auf ihren Stühlen, als ob sie bei einer kleinen Berührung die Augen aufschlagen würden, nur durch das Blut, das aus Mund und Nase rieselte, zeigte sich der Tod an. Meinem Vater hatte sich der Tod ganz anders genähert, und ich weiß bis heute nicht, ob ihn der Luftdruck tötete, oder ob er von der eingestürzten Kellerdecke .erdrückt worden war. Die letztere Version wurde uns von Herrn Fuchs dramatisch nahe gebracht. Er behauptete, mein Vater hätte gerufen: “Kamerad Fuchs hilf mir!” Vielleicht war mein Vater in seinen letzten Stunden in den ersten Weltkrieg zurückversetzt worden, wo die Kameraden um ihn herum lebten und starben. Mein allgemein beliebter Vater hatte eine freundliche Natur, aber unter normalen Umständen hätte er Herrn Fuchs nie als Kamerad bezeichnet. Herr Fuchs und seine ganze Familie hatten die Bombe in einem Kellerraum, der von unserem nur durch eine dünne Wand getrennt war, überlebt. Ein unglaubliches Wunder!. Jedoch nahm ich es dem Herrn Fuchs übel, daß er mir den Glauben an den langsamen Erstickungstod meines Vaters aufdrängen wollte. Ich mußte mich an meiner eigenen Version festhalten, daß mein Vater genau wie die andern einen schnellen, gnädigen Tod durch den Luftdruck gefunden hatte. In meinen Augen war Herr Fuchs unzuverlässig, weil er im Suff immer seine unschuldige Frau verprügelte, was wir durch die Wände, die unsere Schlafzimmer trennten, hören konnten. Erika Fuchs, meine beste Freundin, erwähnte nie etwas davon, was sich nächtlich hin und wieder in ihrem Zuhause abspielte. Und ich war diskret genug, nicht danach zu fragen. Aus diesem Grund war Herr Fuchs für mich ein unzuverlässiger Zeuge. Meine eigene Version des Geschehens gab mir Trost.
Es war eine schwüle Sommernacht, in der die Blumen inmitten all der Vernichtung unbekümmert weiterblühten, als wir unseren guten Papa und mit ihm unser gesamtes Hab und Gut verloren. Meine Mutti und ich blieben verarmt zurück. Zum Trauern blieb uns wenig Zeit. Die Ungewißheit des Weiterlebens beschäftigte unsere Gedanken. Die Erkenntnis, wie viel mein Vater mir bedeutet hatte, kam für mich erst viel später. Er wurde in einer feierlichen Massenzeremonie beerdigt, bei der ich mich fest auf ein Nichts konzentrierte, das sich über das Aufschreien der gnadenlos Beraubten, die Trauermärsche und die leeren Worte der Redner erhob. Diese Gabe, vorübergehend in ein Nichts zu verschwinden, ist mir seitdem geblieben. Sie führte wohl später im Leben zum meditieren und eigenartigen, psychischen Träumen und Erlebnissen. Jedoch kam mir stark zum Bewußtsein, daß ich von jetzt an die Stütze meiner Mutter sein mußte, als sie versuchte sich von mir loszureißen, und ich befürchtete, sie würde sich auf den versinkendem Sarg meines Vaters stürzen. Jedoch begnügte sie sich mit liebevollen Abschiedsworten und legte ihre Hände ein letztes Mal auf den Sarg in dem ihr Mann lag, den wir nach seinem Tode nicht mehr gesehen hatten. Es war zu diesem Zeitpunkt, dass Mutti und ich uns aneinander klammerten und in all den kommenden Jahren gegenseitig Halt gaben. Es
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 04.03.2014
ISBN: 978-3-7309-8897-8
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