Tausend Worte fallen mir in diesem Moment ein, doch keines kann meine Situation beschreiben. Verlassen warte ich darauf, meine Entscheidung zu treffen, und sobald ich meinen Fuß bewege, höre ich den Schrei der Steine, bis zu ihrem Aufprall. Dabei war vor Kurzem alles noch so einfach... doch diese Nacht werde ich nie vergessen können.
Kurz nach meinem einundzwanzigsten Geburtstag suchte ich vermehrt nach Orten, an denen ich alleine sein konnte. Mein Vater gab mir seinen alten Roller, mit dem ich auch an diesen Ort fuhr, eine einsame Klippe, weit weg von jeder Menschenseele, um über die schwerste Entscheidung meines Lebens nachzudenken. Ist es doch die einzige, die je eine Rolle spielen wird in unser aller Leben. Ich sei sein ganzer Stolz und er könne gar nicht glauben, dass ich die schlauere Tochter bin. Nur, weil es mir gelungen war, ein Stipendium zu erhalten. Mehr Glück als Können, bei all den vielen Mitbewerbern. Mein Leben war ein wie ein Traum, ohne dass es mir je bewusst war. Von klein auf behütet und inspiriert zu Größerem. Doch leider ist das College zu weit weg und ich konnte nicht länger bei meinen Eltern wohnen. Also musste ich in eines dieser blöden Wohnheime ziehen, eingesperrt in einer Schule.
Es begann letzte Woche, nach dem Unterricht suchte ich meine Ruhe. Obwohl wir fast alle über zwanzig sind, fühlt es sich an, als wäre ich wieder im Kindergarten. Ein Drama folgt dem nächsten, Beziehungskrisen, das Wetteifern um die besten Noten, Freunde die keine sind. Immer mehr zog ich mich zurück und suchte die Stille. Und an einem Ort fand ich sie letztlich: die Bibliothek. Silentium und hunderte Bücher, all das Wissen versammelt an diesem behaglichen Ort. Doch – wie sollte es auch anders sein – wurde mir selbst mein letzter Rückzugsort genommen.
Wie jeden Tag suchte ich sie auf und nach einigem Stöbern hatte ich auch eine gemütliche Ecke gefunden, in der niemand störte. Zu nahe am Eingang hört man nur diese tobsüchtigen Idioten. Auch ein leises Kichern aus den Regalen und ein Knistern aus dem Boden vermochten meine Ruhe nicht zu stören. Für gewöhnlich war ich so vertieft in die Bücher, dass ich so etwas einfach ignorieren konnte. Es war mein letzter Tag in der Schule, als das Lachen plötzlich lauter wurde und ich aufschreckte. Natürlich fiel der Ärger des Bibliothekspersonals auf mich und ich fing mir eine Verwarnung ein. Still sein sollte ich doch gefälligst, und die anderen nicht stören! Genervt holte ich mir noch eine Tasse Kaffee und las weiter. Zumindest versuchte ich es, doch meine Gedanken waren viel zu verstört von dem Schrei und ich musste jeden Satz unzählige Male lesen, um ihn zu verstehen. Das dauerte und so vergaß ich die Zeit. Plötzlich fuhr ich hoch. Um mich herum war nun alles still. War ich so vertieft in diese Geschichte gewesen? Der Stille folgte ein Gähnen und ich gestand mir ein, es heute nicht mehr zu schaffen etwas zu lernen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich wohl eingenickt gewesen sein musste, denn in ein paar Minuten würde die Bibliothek schließen. Also packte ich meine Sachen zusammen und machte mich auf den Weg zurück in mein Zimmer. Doch ich schaffte es noch nicht einmal bis zum Ausgang, ehe alle Lichter abgeschaltet wurden und ich allein in der Dunkelheit stand.
Obwohl meine Augen nichts mehr erkennen konnten, fühlte ich mich irgendwie beobachtet. Mein Handy schenkte mir genügend Licht, sodass ich die richtige Richtung zwischen den hohen Regalen ausmachen konnte. Nie konnte man mir zum Vorwurf machen, ein Kind der Angst zu sein, doch in diesem Moment habe ich mich gefürchtet. Abgelenkt von meiner eigenen Furcht stolperte ich über ein Buch und fiel auf den kalten Boden. Mein Kopf streifte anscheinend ein Eck des Regals, denn alles drehte sich und es dauerte ewig, bis ich es schaffte mich aufzurichten. Endlich hatte ich den Ausgang erreicht, doch waren die langen Gänge zwischen den Büros und Seminarräumen keine willkommene Abwechslung. Ohne Fenster war ich in fast völlige Finsternis gehüllt, nur mein Handy schenkte mir einen Lichtschein. Nichts unterbrach die Stille. Und nie vorher hätte ich mir es gewünscht einen dieser spätpubertären Idioten zu sehen. Die Türe eines Zimmers öffnete sich mit einem leisen Quietschen und sofort leuchtete ich mit meinem Handy darauf. Fast war mir, als würde ich im Inneren etwas hören. Ist dort jemand? Meine Neugier bezwang meine Angst und ich trat hinein.
Ein Typ aus meinem Grundkurs stand mitten im Raum und starrte mich wortlos an. Sein Blick zeigte ein Entsetzen, als hätte der Tod höchstpersönlich die Türe geöffnet. „Lass mich in Ruhe! Geh weg!“ Was auch immer er in seiner Hand hielt ließ er fallen und rannte zu den Fenstern. „Komm nicht näher! Ich springe!“ Seine Stimme brach ab, sie war mehr ein verzweifeltes Kreischen. „Was redest du denn da, komm vom Fenster weg, das ist gefährlich!“ Die Worte kamen wie ferngesteuert aus meinem Mund. Ich wollte seine Hand greifen und ihn wegzerren, aber ehe ich mich in seine Richtung bewegen konnte, warf er sich gegen die Scheibe und das Glas zersprang. Panisch starrte ich ihn an, konnte meine Augen nicht abwenden, musste es doch sehen, sehen was dort geschah. Im selben Moment überkam mich Übelkeit beim Anblick seines Körpers, der im zerbrochenen Glas hängenblieb. Er schrie lautstark vor Schmerz. Seine blutüberströmte Hand zuckte in meine Richtung. „Wir werden alle brennen wegen dir, du bist die Sünde!“ Die Worte zu hören war leicht, sie zu begreifen etwas anderes. „Ich suche Hilfe! Halte durch!“ Ohne zu zögern rannte ich zurück in den finsteren Gang und schrie um Hilfe. Trotz der Finsternis meinte ich, eine Silhouette zu erkennen, eine Person, die zusammengekauert in einer Ecke saß. Hat er es auch gesehen? War er dort? Ich griff seine Schulter. „Ich brauche Hilfe, bitte!“ Ohne seinen Körper auch nur ein Stück zu bewegen, dreht er seinen Kopf zu mir. Sein Gesicht war leer und doch starrte es mich an. „Was ist das?!“ Panik ergriff mich und ich rannte – weg, einfach nur weg. War das real? Wie konnte er seinen Kopf so weit drehen und wo war sein Gesicht?
Ich hatte die Glastür des Gebäudes bereits erreicht und konnte die Bäume im Innenhof ausmachen, doch ließ mich das Gesehene nicht los. Haben mir meine Augen in der Dunkelheit und meiner Angst vielleicht nur einen Streich gespielt? Es gab keine andere plausible Erklärung. Ich musste der Sache auf den Grund gehen. Was, wenn dort wirklich jemand verletzt war? Zögerlich ging ich zurück. „Die Pforte ist geöffnet!“ Eine Stimme, direkt aus der Wand. Gesichter bilden sich auf den weiten Flächen, Augen, die zu mir sehen und mich beobachten. Schritt für Schritt. Sie wiederholen ihre Worte. „Die Pforte ist geöffnet!“ Ich öffne die erste Türe, deren Klinke ich greifen kann, und lehne mich von innen dagegen. „Hört auf!“ Seltsame Geräusche und lautes Geschmatze in der Finsternis vor mir. Zitternd drücke ich auf mein Handy, um etwas zu erkennen. Mehrere Mädels aus meiner Schule liegen auf dem Boden, um irgendetwas herum. Auf den zweiten Blick sehe ich, dass auf den Fliesen entlang ein Strom Blut fließt. Mechanisch erhöhe ich die Leuchtstärke meines Handys. Das Pochen meines Herzens übertönt alles und eines der Mädchen sieht mit blutverschmiertem Gesicht in meine Richtung. Ihr rechter Arm ist halb abgetrennt und in ihrem Hals ist eine tiefe Schnittwunde. Fauchend und gurgelnd kriecht sie genau auf mich zu, langsam, wie in Zeitlupe. Auch die anderen wenden ihre Blicke zu mir. Eine von ihnen kann gehen, doch ihr Knie knirscht und bei jedem Schritt bricht es nach innen zusammen. Raus, einfach nur raus! Ich schlage die Türe zu und werfe mich mit meinem ganzen Körper dagegen. Die Gesichter an den Wänden sind verschwunden und aus der Toilette kommt kein Ton mehr. Doch werde ich die Türe nicht öffnen! Niemals! Aus dem Zimmer, in dem sich der Junge in die Scheibe geworfen hat, flackert ein schwacher Lichtschein. Meine Kehle ist zugeschnürt und ich habe das Gefühl zu ersticken. Dennoch ich gehe hinein. Der Körper brennt in den Scherben. Sein Gesicht ist zerschmolzen wie heißes Wachs und der Großteil seines Körpers ist bereits verschwunden. Meine Knie geben nach und ich starre ihn an, zusammengekauert und unfähig mich zu bewegen.
Plötzlich ertönen Schritte auf dem Flur. Zunächst nur leise, doch sie werden immer lauter. Ich habe genug. Ich stolpere zur Tür, hinaus aus dem schrecklichen Raum. „Ich sehe dich!“, ertönt auf der anderen Seite, gefolgt von einem leisen Kichern. Das dünne Blickfenster der Tür zerspringt und eine Hand streckt sich hindurch, ergreift meine Haare und schmettert meinen Kopf gegen das massive Eichenholz. Benommen wälze ich mich auf dem Boden, während sie sich laut quietschend öffnet. Ein Mann kommt herein und starrt mich an. Sein Mund ist geöffnet und seine Mundwinkel reichen bis zu den Ohren, die Augen fehlen und an ihrer Stelle ist ein frischer, tiefer Schnitt, quer über der Stirn. Er wirft sich vor mich auf den Boden und seine Hände drücken meine Brüste. Gerade noch bei Bewusstsein fühle ich, wie er meine Kleidung zerreißt.
„Wir haben ein Signal! Kommen sie schnell!“ Wirre Stimmen um mich herum. Ein unangenehmes, penetrantes Piepsen. „Hallo! Können Sie mich verstehen? Mein Name ist Dr. Dreier, ich bin Ihr behandelnder Arzt. Sie sind gestern Nacht mit dem Notarzt zu uns gekommen. Wie fühlen Sie sich?“ Es dauerte eine Weile, bis die Worte zu mir durchdrangen. „Mein Kopf... ahh. Was ist... passiert?“ Meine Zunge wollte mir nicht gehorchen. Ich hatte Durst. „Das ist nicht einfach zu erklären. Geben Sie mir Bescheid, wenn sie sich bereit fühlen.“ Langsam kehrten die Bilder der letzten Nacht zurück, Stück für Stück, wie bei einem Puzzle. Mit Mühe versuchte ich, die Worte zu formulieren: „Ich erinnere mich... doch werde ich nie bereit sein... es zu hören.“ Der Arzt zögerte, „An was denken Sie, sich zu erinnern?“ Die Bilder waren jetzt deutlich. Wie schwarze Blitze durchzuckten sie meine Gedanken. „Ich war in der Bibliothek. Da war dieser Junge, der brennend im Fenster hing und...“ Kopfschüttelnd legte der Arzt seine Hand auf meine Schulter, „Bitte versuchen Sie, sich zu beruhigen. Jemand hat Ihnen heimlich Drogen verabreicht. Was auch immer sie denken zu wissen, ist nicht real. Der Hausmeister fand Sie gestern Nacht bewusstlos in der Bibliothek. Der Täter hatte bei seiner Flucht wohl den Alarm ausgelöst. Es tut mir leid. Morgen werde ich einen Psychotherapeuten zu Ihnen schicken. In solchen Momenten hilft es, mit jemandem zu reden.“
Doch ich brauche keine Hilfe, weder jetzt noch als ich vor ein paar Wochen im Krankenhaus erwachte. Sie sagten, ich hätte einen Horrortrip gehabt, doch ist die Realität der wahre Horror. Worte konnten mir nicht helfen, sie konnten mich nicht retten und ich will nie wieder mit jemandem ein Wort wechseln. Im Spiegel sehe ich mich nicht mehr, nur einen Schatten meines Selbst, das in dieser Nacht niedergebrannt wurde. Und niemand traut sich, die Asche wegzukehren. Wie soll man weitermachen, wenn man seinen Willen verloren hat. Nichts ist wie vorher. Mit dem Roller bin ich heute Morgen losgefahren und habe diesen Ort gesucht. Ich bin keine Trophäe, für niemanden! Und endlich fällt mir auch ein passendes Zitat ein: Lass einfach los.
Texte: Sandra W., John G.
Tag der Veröffentlichung: 08.07.2019
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