„Beeil dich doch mal!“, zischte Jane ihrer Freundin Zoe zu.
Zoe grummelte irgendetwas, beeilte sich jedoch, mit Jane Schritt zu halten.
Sie waren gerade die oberen Stufen des Stadtmuseums hoch geeilt. In wenigen Minuten sollte die Führung beginnen.
Eine Führung, auf die sich Jane schon seit Wochen freute. Sie hatte ihre Freundin Zoe überredet mitzukommen, wäre letztendlich aber auch ohne sie gegangen, denn zum ersten Mal, solange sie sich erinnern konnte, gab es eine besondere Führung in dem alten Museum.
Schon vor Wochen hatten Plakate für das Ereignis geworben und Jane hatte die Gelegenheit sofort ergriffen und sich angemeldet.
Es war eine spezielle Privatführung einer Reisegruppe mit einem seltsamen alten Namen, den sich kaum einer behalten konnte.
Das Werbeplakat versprach: „Kommen sie vorbei und lassen sie sich in die faszinierende Welt der alten Griechen führen. Detaillierte Einblicke in die Welt der Sagen und der Mythologie. Diese Führung könnte ihr Leben verändern!“
Jane war sofort begeistert und für sie stand fest, dass sie an dieser Führung teilnehmen würde.
Ihr war bewusst, dass kaum jemand in der Stadt solch einen Wind wie sie machen würde. Aber sie wusste auch, dass kaum jemand solches Interesse an der griechischen Mythologie zeigte wie sie.
Ihre Freundin Zoe wusste dies auch und hatte sich aus diesem Grund auch von Jane überreden lassen mitzukommen.
Sie hoffte wirklich, dass es nicht allzu langweilig werden würde.
Misstrauisch sah Zoe sich in dem Foyer des Museums um, als die beiden Mädchen endlich zu einer kleinen Gruppe von Menschen stießen.
Sie alle waren noch in leise, murmelnde Gespräche vertieft, weshalb Jane sich sicher war, das ihr Führungsleiter noch nicht aufgetaucht war. Erleichtert ließ sie die Schultern sinken und entspannte sich ein wenig.
Zoe schaute sich unterdessen die kleine Gruppe an.
„Sind ja nicht grad viele. Und nicht grad die jüngsten!“
Jane stieß ihr in die Seite, doch Zoe sah sie nur skeptisch an.
„Wehe, ich langweile mich!“, sagte sie noch an Jane gewandt, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf einen jungen Mann, der gerade aus einem anderen Raum heraus auf sie zu kam.
Als er sie erreicht hatte, schaute er kurz auf Jane, dann sprach er zu der versammelten Gruppe:
„Guten Tag, meine Damen und Herren. Ich heiße Ronald Chains und bin für den heutigen Tag ihr Begleiter, werde sie in die alte Zeit der Griechen entführen, ihnen die Sagen und Legenden einiger Wesen näherbringen und sie vor allem mit der Geschichte der griechischen Götter konfrontieren! Ich hoffe, dass sie die Führung genießen werden, bei Fragen, wenden sie sich doch bitte einfach direkt an mich.“
Er lächelte freundlich und die meisten erwiderten dieses Lächeln höflich.
Nach einem kurzen Moment der Stille, kramte der Mann einige Notizkärtchen aus der Tasche und sah dann wieder zu ihnen auf.
„Dann wollen wir mit der Reise mal beginnen!“
Er drehte sich um und lief auf den ersten Raum rechts von ihnen zu.
Große Steinbögen teilten die Räume voneinander und als Jane an dem vorbeiging, der den ersten Raum vom Foyer trennte, fielen ihr einige Kerben in dem Stein auf. Da die Gruppe aber zielstrebig hinter Mr. Chains herging, blieb ihr nicht die Zeit, sich die Unebenheiten genauer anzusehen, als Zoe sie schon hinter den andern herzog.
Die Gruppe sammelte sich vor einem großen Schaukasten, der fast die gesamte hintere Wand des Raumes einnahm.
Zoe und Jane quetschten sich so nah es ging vor die Wand und bestaunten das Innere des Kastens.
Es war eine Zeichnung, auf einem alten Stück Stoff, die schon sehr durchscheinend und schwer zu erkennen war.
Angestrengt kniff Jane die Augen zusammen und versuchte Details auf der Zeichnung zu erkennen.
Sie sah links eine Art Mann aus Stein, der halbgeköpft durch eine Sichel, die noch an seiner Kehle lag auf einer Art Thron saß.
Neben ihm saß eine Frau, die Haare hochgesteckt und um den Leib ein grünliches Gewandt.
Sie sahen nicht direkt aus wie Menschen, ähnelten ihnen aber sehr.
Beide wirkten grob gemalt, die Farben waren nicht leuchtend oder deutlich, sondern blass und verschwommen. Jane vermutete, aufgrund des Materials, des Zeichenstils und der Darstellung, dass es sich um ein sehr altes Werk handeln musste.
Sie blickte weiter das Bild entlang, dort sah sie denjenigen, der die Sichel hielt. Eine Person, die nicht menschlich schien, wie auch die anderen beiden, aber deutlich menschlichere Züge aufwies als seine Gegenüber.
Er lächelte zu der Frau hinüber und hielt die Sichel kraftvoll mit beiden Händen.
„Hier sehen wir die erste Station unseres Rundgangs. Dieses Werk zeigt die Enthauptung des Uranos.
Uranos ist bekannt als Urgottheit oder auch als Himmel, seine Gemahlin Gaia, hier neben ihm zu sehen, ist auch bekannt als Erde. Rechts von ihnen ist Kronos dargestellt. Ihr jüngster Sohn. Ein Titan.
Es ist eine ziemlich lehrreiche und ironische Geschichte…
Rauch stieg auf, er spürte die Hitze der Flammen. Sein Vater lachte nur.
Kurz kamen ihm Zweifel. Würde er es schaffen?
Dann sah er den Blick von Gaia. Sie glaubte an ihn. Sie hatte ihm gesagt, er müsse es machen.
Schließlich war es geschehen. Er hatte angefangen, seine Geschwister zu verschlingen. Uranos wollte seine Macht behalten. Kronos hob die Sichel. Seine Mutter Gaia hatte sie ihm gegeben. Sie hatte ihm gesagt, dass Uranos Angst um seine Macht hatte. Dass er aus Angst seine eigenen Kinder vernichten wollte. Und so war es nun auch geschehen. Uranos hatte angefangen die gezeugten Titanen, Atlas, Rhea, Prometheus – seine Geschwister – zu verschlingen!
Es war seine, Kronos‘ Aufgabe, dies zu beenden.
Uranos blickte erstaunt zu seinem Sohn hinab. Er wollte wirklich sein Ende, er hatte gewusst, dass seine Kinder nach seiner Macht griffen so gut sie konnten.
Und es würde sein jüngster Sohn sein, der ihm das Ende bringen würde.
Kronos holte weit aus und trennte Uranos‘ Kopf von dessen Körper ab.
Gaia sammelte die Blutstropfen auf. Sie würde sie nutzen.
Sie schuf die Erynien – die Furien -, die Giganten und die Eschennymphen.
Uranos war besiegt. Die Zeit der Titanen war gekommen. Das goldene Zeitalter!
So gebar seine Schwester und Geliebte Rhea ihm die zwölf olympischen Götter.
Doch auch ihn packte die Angst. Die Angst um die Macht.
Und er tat es Kronos gleich und begann, seine Kinder zu verschlingen.
Eins nach dem anderen.
Rhea konnte es nicht mit ansehen. Sie trauerte um ihre Kinder, genauso wie Gaia es einst tat.
Und genauso wie sie, betrog sie ihren Gefährten.
Sie gab Kronos einen Stein anstelle von Zeus, den Kronos gierig verschlang.
Rhea brachte ihren Sohn Zeus auf die Insel Kreta, wo er aufwuchs.
Als er alt genug war, kehrte Zeus zurück, um, wie ihm prophezeit wurde, seine Geschwister zu befreien und gemeinsam mit ihnen, den Herrscher Kronos zu stürzen.
Zeus schaffte es, seine Geschwister zu retten und ein Kampf zwischen den olympischen Göttern und den Titanen brach aus. Zehn Jahre dauerte er an.
Es war ein harter Kampf, doch schließlich gelang es den Geschwistern, mithilfe der Kraft der Zyklopen, die die Götter befreit hatten, ihre Vorfahren zu besiegen. Sie schickten sie für alle Ewigkeit in den Tartaros, den düstersten Ort der Unterwelt.
Und somit war die Zeit der Götter gekommen. Sie zogen auf den wolkenumhangenen Olymp, der ihr zukünftiger Machtsitz sein würde.
Die Zeit der Olympischen Götter war gekommen!
Mit seinen beiden Brüdern teilte Zeus sich den Kosmos.
Er beherrschte den Himmel. Sein Zeichen war der Herrscherblitz. Geschaffen durch die Arbeit der Zyklopen, ebenso wie die Waffen seiner Brüder: Der Dreizack und der Hadeshelm.
Poseidon, zur Hand den Dreizack, wurde Herrscher über die Meere.
Hades, bewaffnet mit dem Hadeshelm, der den Träger unsichtbar macht, wurde Gebieter über den gleichnamigen Hades, die Unterwelt.
Das silberne Zeitalter war gekommen!
Jane ergriff ein Schaudern, als Mr. Chains geendet hatte. Sie sah sich einen Moment lang verwirrt um.
Sie war so in seine Erzählungen vertieft, dass sie sich gefühlt hatte, als ob sie dabei gewesen wäre.
Sie hatte das Museum und die Leute um sich herum vollkommen vergessen und als sie sah, wie die anderen sich verdutzt umsahen, wurde ihr klar, dass sie nicht die einzige war, der es so erging.
Zoe tauschte einen kurzen Blick mit ihr.
Beiden Mädchen wurde klar, dass dies eine Führung werden würde, wie sie sie noch nie zuvor erlebt hatten.
Texte: Luisa Weich
Tag der Veröffentlichung: 03.10.2013
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