Angestrengt darauf bedacht, keinen Ton von sich zu geben, hielt Curzio sich den Mund zu.
Hätte er die Möglichkeit, würde er schreien. Sein Bruder rannte so schnell er konnte weiter, hinter sich fünf Männer.
Sein Vorsprung verringerte sich in jeder Sekunde mehr.
Curzios Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Wie konnte er seinen Bruder aus dieser Lage befreien?
Mit einem lauten Schrei warf sich plötzlich einer der Verfolger auf seinen Bruder. Er bekam ihn an den Beinen zu fassen und beide stürzten zu Boden.
Die anderen Männer erreichten ihren Kameraden und schlugen auf den Flüchtling ein.
Curzio musste einschreiten.
„So, was ist jetzt mit dir, juckt es dich noch immer in den Fingern?“, sprach einer der Männer zu dem am Boden liegenden Jungen.
Dieser konnte nicht antworten, da einer der Angreifer ihn mit voller Kraft ins Gesicht trat.
Curzio fluchte innerlich.
Es war ihm unmöglich, einzugreifen und seinem Bruder zu helfen.
Die Männer zerrten ihn auf die Beine.
„So, dann werden wir wohl den Übeltäter der letzten Raubzüge endlich geschnappt haben!“, brummte ein bärtiger Mann, der den Jungen im Genick hielt.
„Sag, hattest du Komplizen?“, fragte der Mann und sah sein Opfer misstrauisch an.
Der Junge hob langsam den Kopf und blickte den Mann abwertend an.
Curzio konnte sehen, wie seine Augen den Bruchteil einer Sekunde zu ihm hinüber huschten, doch dann schüttelte sein Bruder den Kopf.
„Ob wir ihm glauben sollen?“, fragte der Mann, der ihn zu Fall gebracht hatte.
„Es bleibt uns nichts anderes übrig. Aber bestimmt wird er noch reden, falls er gelogen hat, denn dafür hat er jetzt genügend Zeit!“
Die Männer lachten und der Junge wurde weiß.
Auch Curzio merkte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Im nächsten Moment schleiften die Männer seinen Bruder mit sich, in Richtung Marktplatz.
Curzio folgte ihnen durch abgelegene Gassen und beobachtete seinen Bruder und die Männer. Als diese ihr Ziel, eine Kutsche, die aussah wie ein Gefangenentransporter, erreicht hatten, öffnete einer der Männer die Tür und ein anderer schubste den schwer verwundeten Jungen in das Gefährt.
„Schöne Fahrt!“, sagte der bärtige Mann und schloss sich lachend seinen Gefährten an, die sich von der Kutsche entfernten und auf ein Gasthaus zusteuerten.
Curzio holte erleichtert Luft.
Er konnte seinen Bruder noch immer befreien.
Aufgeregt sah er sich nach einem Hilfsmittel um, um das Schloss an der Tür aufzubrechen.
Gerade als er ein stabil aussehendes Stück Holz entdeckt hatte, näherte sich ein Mann der Kutsche. Nervös beobachtete Curzio, wie sich der Mann auf den Kutschbock setzte. Curzio fluchte und eilte, jedem Risiko zum Trotz, auf die Kutsche zu.
Doch es war zu spät.
Der Mann schnalzte zweimal laut mit der Zunge und die Pferde galoppierten los.
Curzio schrie verzweifelt auf und sah sich um. Einige Leute beobachteten ihn misstrauisch, sodass er sich in den Schatten eines alten Hauses rettete. Verzweifelt rutschte er an der Wand hinab.
Er war weg. Sein Bruder war tatsächlich weg.
Nach einigen Augenblicken, in denen Curzio verstört in die Luft gestarrt hatte, rappelte er sich auf.
Er würde die Verfolgung aufnehmen und seinen Bruder finden…
Venedig,
Im Jahre
1786
„Hilfe! So helfen sie mir doch! Mein Hund, er ist verletzt. Hilfe!“
Die Menschen auf dem Marktplatz eilten zu dem Jungen, der auf dem Boden saß und die Pfote seiner Mischlingshündin hielt.
Während sich alle um ihn drängten, sah er, wie eine dunkle Gestalt aus einer Gasse huschte und sich der Menschenmenge näherte. Um die Menschen weiter abzulenken, wehklagte der Junge wieder. Die Gestalt schnappte sich im Vorbeigehen zwei prall gefüllte Lederbeutel. Gerade wollte sie nach dem dritten Beutel greifen, da drehte sich die Besitzerin um. Sie sah die Gestalt, welche sich als ein Junge mit abgetragener Kleidung herausstellte einen Moment sprachlos an. Der Junge griff sich schnell den Lederbeutel und rannte im Zick-Zack durch die Schar der Schaulustigen.
„He! Haltet den Dieb! Da, er versucht abzuhauen!“
Die Menschen drehten sich um und sahen dem Dieb hinterher. Der Junge in ihrer Mitte nutzte die Gelegenheit, gab seinem Hund ein Zeichen und die Beiden huschten in eine dunkle Gasse.
Sie liefen die Seitenstraße entlang, bogen zweimal nach links und einmal nach rechts ab und hielten dann beim Palazzo Loredan, an der Riva del Carbon, vor der verschlossenen Tür eines alten, unbenutzten Gefängnisses.
Es war heruntergekommen und viele der Bretter an der Vorderseite waren durch neue ersetzt worden, sodass ihr Anblick auf eine seltsame Art und Weise zusammengewürfelt aussah.
Der Junge sah kurz über die Schulter und verschwand dann in dem Gebäude. Lautlos lief er eine schmale Treppe hinunter, dicht hinter ihm sein Hund. Die Wände neben ihm wiesen teilweise Löcher auf und die Stufen unter ihm wurden an einigen Stellen von großen leeren Stellen durchzogen.
Als er unten ankam und an den Zellen vorbeilief, rief er: „Hey, ich bin’s, Efrem. Es gab Probleme!“
Ein blondes Mädchen streckte neugierig den Kopf aus einer Zelle und sah ihn fragend an.
Es hatte blaue Augen, die klug und zugleich verletzt aussahen. In ihnen spiegelte sich die Vergangenheit ihrer Besitzerin wieder.
„Was ist passiert?“, fragte eine Stimme, die aus den höher gelegenen Zellen kam. Efrem versuchte seinen Anführer und Freund Curzio zu entdecken, sah aber nichts.
„Mhm, anfangs lief alles glatt. Face und ich haben die Aufmerksamkeit der Leute auf uns gezogen, aber dann hat eine Frau bemerkt, wie Ric ihr den Geldbeutel abnehmen wollte. Er ist weggerannt, aber ich weiß nicht, ob sie ihn noch erwischt haben oder nicht!“
„Okay. Lea, du beziehst oben Wache. Gib sofort Bescheid, wenn Rico wieder da ist!“, sagte die Stimme, und das blonde Mädchen eilte nach oben.
„Lucio?“, fragte Curzio und trat aus der Dunkelheit zu Efrem.
Er war groß und dünn, gleichzeitig jedoch muskulös. Seine schwarzen Haare standen ein wenig ab und seine dunkle Kleidung machte es unmöglich, ihn im Schatten zu erkennen.
Konzentriert sah Efrem sich um und versuchte Lucio in der Dunkelheit ausfindig zu machen. Gerade dachte er, eine kurze Bewegung hinter Curzio gesehen zu haben, als eine leise Stimme sagte: „Ja?“
Efrem zuckte erschrocken zusammen und drehte sich um.
Ein großer Junge, mit ebenfalls schwarzen Haaren trat aus dem Schatten hinter ihm. Er trug seine Haare Schulterlang und aus tiefen braunen, fast schwarzen Augen blickte er Efrem misstrauisch an. Keiner wusste viel über Lucio, doch da er von Anfang an mit Curzio zusammen gewesen war, stellte auch niemand Fragen.
Er redete wenig, und war eher ein Einzelgänger. Er ging der Gruppe aus dem Weg, wann immer er die Möglichkeit dazu hatte, doch wenn es drauf ankam, konnte man sich voll und ganz auf ihn verlassen. Und was das Stehlen anging, war nur Curzio ihm gewachsen.
Lucio war unauffällig und schnell. Der perfekte Spion und Dieb.
„Lucio, du gehst raus. Guck, ob du Ric irgendwie helfen kannst. Bleib aber unauffällig. Komm ab und zu vorbei und erstatte Bericht, falls es nötig ist. Sollte Rico hier auftauchen, achte auf Face, ich werde sie dann losschicken!“, sagte Curzio.
Lucio nickte und verschwand dann wieder in der Dunkelheit.
„So, jetzt heißt es warten!“, sagte Curzio dann zu Efrem und seufzte.
Mit schnellen Schritten eilte er eine dunkle Seitenstraße entlang, die zum Marktplatz führte. Sein Atem ging stoßweise, als er schließlich an der letzten Abbiegung anhielt, die ihn noch vom Markt trennte.
Es war ein großer Platz mit vielen kleinen Läden, die die verschiedensten Dinge zum Verkauf anboten.
Von Lebensmitteln bis hin zu Edelsteinen und kostbaren Stoffen.
Auf dem Markt drängten sich viele Leute. Die meisten von ihnen waren prunkvoll eingekleidet, doch hier und da sah man auch normal gekleidete Bürger.
Normalerweise lungerten die Menschen in Grüppchen um die Verkaufsstände herum, doch nun hatten sich die meisten in einem Kreis zusammengescharrt.
Dies machte ihm auch deutlich, dass er seinen Auftritt um ein Haar verpasst hätte. Efrem saß schon neben Face auf dem Boden und rief um Hilfe. Zur Unterstützung winselte Face kläglich.
Hastig huscht Rico auf den Markt und nähert sich der Menge. Efrem sieht ihn und jammert noch ein wenig lauter.
Schnell hat Rico es geschafft, unauffällig zwei Lederbeutel zu ergreifen und einzustecken. Gerade packt er den dritten, als sich die Besitzerin umdreht und ihn entsetzt ansieht.
Energisch reißt er den Beutel an sich und rennt dann, so schnell er kann und den Menschen ausweichend, davon.
Nach einem Ausweg suchend, blickt er sich um.
Die Gassen links von ihm fallen in sein Blickfeld und Erleichterung durchströmt ihn.
Er steuert auf das irreführende Straßensystem von San Salvadore zu, da er dort seine Verfolger, falls es welche geben sollte, schnell abhängen kann.
Schon ruft die Frau: „He! Haltet den Dieb! Da, er versucht abzuhauen!“
Rico beschleunigt seine Schritte und biegt in die erste Seitenstraße des „Labyrinths“ ein.
Ab hier dürfte es seinen Verfolgern schwer fallen, ihn im Auge zu behalten.
Schneller und vor allem näher, als er gedacht hätte, ertönen jedoch hinter ihm schwere Schritte.
So wie es sich anhört, sind es ungefähr vier Leute, doch nach zehn Minuten reduziert sich der Lärm.
Rico verschwindet immer schnellstmöglich hinter der nächsten Ecke und schlägt abwechselnd Haken nach links und rechts.
Dennoch halten sich die übrigen Schritte hartnäckig hinter ihm.
Nicht mehr lange würde er ihnen entkommen. Da kommt ihm plötzlich eine Idee.
Bei der nächsten Ecke sieht er auf das Straßenschild, das an einem hohen Pfosten hängt und durch Regen und Unwetter kaum noch zu erkennen ist.
Er befindet sich an der Ecke zur Basilica di San Marco.
Um zum „Tänzelnden Schwan“, der Dorfkneipe, zu gelangen, muss er nur zwei Straßen weiter zum Campo Guerra. Vor dem Eingang des Gasthauses standen oft leere Fässer – ein sehr gutes Versteck und seine letzte Hoffnung. Denn dort kann er die Beute verstecken und niemand kann ihm dann mit Sicherheit den Diebstahl nachweisen.
In Windeseile rennt Rico einige Gassen entlang.
Als er sein Ziel erreicht hat, überfällt ihn ein Gefühl der Erleichterung. Wie erhofft lehnen die Fässer an der Wand und stellen somit das perfekte Versteck für seine Beute dar.
Schnell wirft er die Lederbeutel hinein und huscht dann in das Gebäude.
Teilnahmslos langsam schlendert er zur Theke und lehnt sich gemütlich an den Tresen. Durch ein verdrecktes Fenster kann er sehen, wie seine Verfolger seinen Zufluchtsort erreichen, sich suchend umblicken, jedoch zum Glück nicht herein kommen.
Nach einigen Minuten gaben sie ihre Verfolgung auf, unterhielten sich noch kurz und verschwanden dann zurück in Richtung Markt.
Erleichtert stieß Rico die Luft aus, die er unmerklich angehalten hatte, und verließ dann das Gebäude. Als er draußen ankam, griff er kurz in eins der Fässer und verschwand dann mit seiner Beute in einer leeren Gasse.
Nervös drehte Curzio eine alte Münze zwischen den Fingern. Dieses Warten konnte einen wirklich verrückt machen. Auch Efrem war nervös. Curzio sah hoch und beobachtete ihn, während er von einem Zellenende zum andern lief.
Anscheinend gab er sich selbst die Schuld, dass Rico jetzt nicht hier war.
Natürlich war das Unsinn und Curzio hätte ihm gerne ein paar aufmunternde Worte gesagt, doch er wusste ganz genau, wie Efrem sich gerade fühlte. Auch er hatte diese Angst vor einer langen Zeit gespürt. Bei der Erinnerung daran zog sich sein Magen krampfhaft zusammen. Der Unterschied zu der Situation damals und der
jetzigen bestand darin, dass er damals wirklich die Schuld an allem gehabt hatte.
Damals war er noch recht jung gewesen und hatte gerade seine Eltern verloren. Zusammen mit seinem kleinen Bruder war er auf den Straßen von Venedig gelandet und hatte sich von Anfang an alleine für sich und seinen Bruder durchschlagen müssen.
Durch die Notsituation hatte alles begonnen.
Zuerst kleine Gaunereien, die kaum der Rede wert waren, doch mit der Zeit entwickelten sie sich zu heranwachsenden Taschendieben.
Tagsüber blieben sie meist im Verborgenen und sammelten ihre Kräfte, doch sobald es Nacht wurde, war niemand mehr vor ihnen sicher.
Fast ein ganzes Jahr lang schafften sie es so, sich durchzukämpfen und am Leben zu bleiben.
Doch dann kam der Tag, an dem Curzio eine Entscheidung traf, die er sein ganzes weiteres Leben zutiefst bereute.
Schon oft hatte sein Bruder ihn gebeten, mal alleine auf Streifzug gehen zu dürfen. Bis zu dem besagten Tag hatte Curzio nicht klein beigegeben. Jedoch hatten sie zuvor eine ziemlich große Beute gemacht, und das Hochgefühl hatte dem Jungen die Möglichkeit gegeben, ihn zu überreden.
Zum ersten Mal, seit sie auf der Straße gelandet waren, lief nicht alles nach Plan.
Drei Männer erwischten seinen Bruder, nahmen ihn fest, und brachten ihn fort.
Aus einer abgelegenen Gasse hatte Curzio alles mit angesehen, und doch hatte er nicht eingreifen können.
Lange Zeit versuchte Curzio seinen Bruder zu finden, doch ohne Erfolg.
Eines Tages schnappte er die Gesprächsfetzen zweier Frauen auf dem Markt auf. Ein kleiner Junge, gerade mal ein Kind, sollte am nächsten Morgen gehängt werden.
Aus Angst, am nächsten Tag seinen Bruder bei seinem Gang zur Schlinge zu sehen, verließ Curzio noch am selben Abend die Stadt.
Viele Monate hielt er sich von Venedig fern und versuchte die Vergangenheit, so gut es ging, zu vergessen.
Doch eines Tages zog es ihn zurück in die Stadt, in der er sein ganzes Leben, alles, was ihm noch übrig geblieben war, verloren hatte.
Längere Zeit streifte er alleine herum, klaute, wann immer er etwas benötigte, und lebte sonst eher zurückgezogen, als er dann irgendwann auf Lucio traf.
Auch Lucio hatte eine schwere Kindheit hinter sich.
Ohne erkennbaren Grund hatten ihn seine Eltern als Kleinkind auf die Straße gesetzt.
Viele Jahre war er von einer Bande in die nächste geraten und hatte so schon dem größten Teil der Gesetzlosen in Venedig gegenübergestanden.
Dennoch schaffte er es selbstständig und unabhängig zu bleiben, sodass er jederzeit eine Bande verlassen konnte.
Die Zeit des Rumstreunens hatte Spuren auf ihm hinterlassen, und seinen Charakter geprägt. Als Curzio ihn zum ersten Mal traf, hatte dieser sich raue Sitten angewöhnt und es benötigte einige Anläufe, bis er und Curzio sich wirklich auf einer Wellenlänge bewegten.
Doch im Nachhinein stellte sich heraus, dass ihre Verbindung sehr nützlich und hilfreich war.
Sechs Monate arbeiteten Curzio und Lucio als Team.
Sie entdeckten neue Möglichkeiten, ihr Handwerk zu verbessern und wurden schon bald die Meisterdiebe der Stadt.
Ihre Geschäftspartner reichten von kleineren Gaunern, wie Don Camillo, bis hin zum höchst geachteten Maestro Caio D’Angelo, der die Diebe der Stadt alle in der Hand hielt. Durch diese Verbindung hatten sich Curzio und Lucio hohes Ansehen erkämpft und viel Respekt gewonnen.
Schon lange waren sie nicht mehr die kleinen ausgesetzten Jungen von früher.
Die anderen hatten regelrecht Angst vor ihnen und kaum jemand wagte es, sich ihnen in den Weg zu stellen.
Eines Abends kam Lucio in ihr Versteck, auf dem Arm einen Jungen, den er schwer verletzt an der Mauer einer Kirche gefunden hatte.
Als der Junge endlich aus seiner Ohnmacht erwachte, erzählte er ihnen, dass er aus einem Waisenhaus geflohen sei, jedoch gefunden und geschlagen worden war. Die Verfolger hatten ihn offenbar für zu verletzt gehalten, um ihn wieder mitzunehmen, denn sie hatten ihn einfach liegen gelassen und waren verschwunden.
Als Curzio ihn nach seinem Namen fragte, stellte er sich als Ricardo Romanelli vor.
Anfangs gab es Meinungsverschiedenheiten zwischen Curzio und Lucio, als es darum ging, was sie jetzt mit Ricardo machen sollten.
Lucio hielt es für zu riskant, Ricardo aufzunehmen, doch als Curzio ihn dann fragte, wieso er ihn dann nicht einfach bei der Kirche gelassen habe, schwieg Lucio, und Ricardo schloss sich ihrer Bande an. Mit Rico im Schlepptau hatten Curzio und Lucio schon bald das alte Gefängnis als Versteck entdeckt, das sie mit Hilfe ihrer Beute in einen halbwegs bewohnbaren Zustand brachten.
Auch wenn sie alle noch so verschieden waren, eines hatten sie doch gemeinsam: jeder von ihnen versuchte die Vergangenheit zu vergessen und ein neues Leben anzufangen.
Leise und schnell huschte Lucio durch die Gassen und lauschte auf aufgeregte Stimmen, die ihm verraten würden, wo Rico steckte.
Plötzlich hörte er nur wenige Meter vor sich - am Ende einer dunklen Häuserreihe, die in der Vallaresco endete - eine tiefe Männerstimme und er blieb abrupt stehen.
Vorsichtig schlich er näher zu der Stimme, hielt sich jedoch im Schatten und machte keine Geräusche.
„… irgendwann beim Schwan, war auf einmal verschwunden. Hätte ich den erwischt, Kleinholz, das sag ich euch!“
Lucio wartete einen Moment, ob die Männer vielleicht verschwinden würden, doch als nichts geschah, zog er sich seinerseits zurück. Jetzt hatte er wenigstens einen Anhaltspunkt. Mit dem Schwan konnte der Mann nur das Gasthaus zum "Tänzelnden Schwan“ meinen.
Mit schnellen Schritten eilte Lucio in Richtung Campo Guerra, wo sich die Kneipe befand. Nach wenigen Minuten hörte er ein paar Straßen weiter ein leises Summen. Vorsichtig blickte er um die Ecke und entdeckte ihn. Fröhlich vor sich hin pfeifend und mit einem kleinen Lederbeutel spielend, lief Rico die Straße entlang. Lucio seufzte leise und zog sich dann zurück. Rico würde es schon alleine schaffen, bis ins Gefängnis zu kommen, und in diesem Moment hatte Lucio wirklich keine Lust auf Gesellschaft.
Er huscht rückwärts in den Schatten einer großen, heruntergekommenen Hauswand und will sich gerade auf den Weg machen, über einen kleinen Umweg zurück zum Gefängnis zu kommen, als er vor sich eine kleine Gestalt entdeckt. Da er nicht nur keine Lust auf Rico, sondern auf niemanden hat, will er schon umdrehen, doch auch am anderen Ende der Gasse steht jemand. Nervös sieht sich Lucio nach seinem letzten Ausweg um, eine kleine Seitenstraße zu seiner Rechten. Doch als auch aus dieser Richtung leise Schritte zu vernehmen sind, ist er sich sicher, in eine Falle geraten zu sein.
Er stellt sich leicht gebückt hin und blickt aufmerksam von einer Gestalt zur nächsten. Kurze Zeit später hat die Gestalt, die er als erstes entdeckt hatte, ihn erreicht. Es ist ein blonder Junge, ungefähr drei bis vier Jahre jünger als er selbst.
Ohne ein Wort zu sagen, sieht Lucio ihn fragend an.
„Wir können es ganz einfach machen!“, sagt eine Stimme. Doch nicht der blonde Junge hat ihn angesprochen, sondern die Person, die jetzt direkt hinter Lucio steht. Der Tonhöhe nach zu urteilen, ist dies ein Mädchen, und als Lucio sich ein wenig nach hinten dreht, bestätigt sich sein Verdacht.
Mit braunen Locken und gleichfarbigen, großen Augen, sieht es ihn von unten an. Es reicht ihm gerade mal bis zur Hüfte.
Lucio schweigt noch immer, und dreht sich nun auch in die Richtung der letzten Gestalt. Es ist noch ein Junge, ungefähr im selben Alter wie der erste.
Dieser hat kurze, schwarze Haare, die stachelig in alle Richtungen abstehen.
Bildet er sich das nur ein, oder hatte er Ähnlichkeit mit irgendjemandem, den er kannte? Falls das der Fall sein sollte, brachte ihn das auch nicht weiter, denn ihm wurde nicht klar, mit wem.
„Wie eine Maus in der Mäusefalle!“, sagt der schwarzhaarige schließlich.
„Schade, dass ihr so feige seid, und es zu dritt gegen einen aufnehmt, sonst wäre der Vergleich fast schon witzig!“, sagt Lucio herausfordernd.
„Na ja, sagen wir mal zu zweit!“, fügt er nach einem kurzen Blick auf das Mädchen hinzu.
Der Blonde lacht laut auf. „Oho, unterschätze sie bloß nicht!“, dann wird er ernst. „Diesen Fehler haben schon andere vor dir gemacht. Sie kann böse werden, wenn man es herausfordert. Sehr böse sogar!“
Unsicher sieht Lucio noch einmal zu dem Mädchen. Es grinst breit und zeigte seine spitzen Zähne.
„So, genug geplaudert! Du solltest schnellstens rausrücken, was du in den Taschen hast, es sei denn, du verspürst den Wunsch, nicht heil nach Hause zu kommen!“, sagt der Schwarzhaarige und sieht Lucio abwartend an.
I
n Lucios Kopf rasen die Gedanken nur so hin und her.
Wer waren diese drei? Er hatte sie noch nie hier gesehen, und sie konnten auch noch nicht lange hier sein, sonst hätten sie es niemals gewagt, ihn anzusprechen. In Venedig war er bekannt, sein Ruf eilte ihm voraus, und seine Taten sprachen für sich.
Keiner wagte es mal eben sich ihm in den Weg zu stellen
Doch, was sollte er jetzt tun? Sie würden ihn wohl kaum gehen lassen, nur weil er es so verlangte, nein, er kannte sich einfach zu gut in diesem Handwerk aus, um daran wirklich zu glauben.
Lucio braucht anscheinend zu lange zum Antworten, denn mit grimmiger Miene tritt der Blonde einen weiteren Schritt auf ihn zu und murmelt: „Wartezeit ist abgelaufen, du Neunmalklug. Jetzt entscheide dich für eine Antwort und ich hoffe sehr für dich, dass es die richtige ist!“
Leise stahl sich Lea die Treppe hinauf. Oben angekommen huschte sie rechts durch eine heruntergekommene Tür. Das Zimmer, das sie nun betrat, war dunkel und der einzige Lichtschein fiel durch ein großes Fenster, das zum Palazzo Loredan hin geöffnet war. Der Raum war klein und schäbig und alte Kisten lagen überall verstreut. Offensichtlich hatte jemand versucht schnellstmöglich alle wertvollen Dinge einzupacken und mitzunehmen, war, wie es aussah, jedoch unterbrochen worden.
Eine dicke Staubschicht lag auf dem Boden, sodass Leas Schritte gedämpft wurden. So leise wie möglich zog sie eine Kiste vor das große Fenster, hob anschließend eine zweite hoch und stapelte sie auf der ersten. Dann ließ sie sich auf den Kisten nieder und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Sie hoffte sehr, dass Rico nichts geschehen war und dass er es geschafft hatte, zu entkommen. Sie dachte zurück an eine ihrer eigenen Verfolgungsjagden, die sie längere Zeit zuvor zu Rico, Curzio und Lucio geführt hatten.
Als sie noch kleiner gewesen war, hatte sie viel Zeit bei ihrer Amme verbracht. Ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben und ihr Vater entwickelte sich durch Trauer und Einsamkeit zu einem Trinker. Jedes Mal, wenn Lea auch nur eine Frage stellte, schrie er sie an und gelegentlich, im aller schlimmsten Falle, schlug er auch zu.
Oft flüchtete sie zu ihrer Pflegemutter, doch als diese dann ebenfalls verstarb, zog sie sich lange Zeit zurück und befand sich tagsüber eigentlich nur noch im Haus.
Eines Nachts kam ihr Vater betrunken nach Hause und schrie Lea an, was für eine nutzlose Tochter sie denn sei, und dass sie an allem was geschehen war, die Schuld trage. Lea erwiderte nichts, doch in der darauf folgenden Nacht, flüchtete sie. Wochenlang versteckte sie sich, bis sie schließlich ihr Talent, unbemerkt zu bleiben, nutzte und Taschendiebin wurde. Stets nahm sie nur das Nötigste und achtete darauf, nie zu lange an einem Ort zu bleiben und nie mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, als nötig.
Eines Tages kam sie in den Stadtteil San Salvadore.
Mehrere Tage hielt sie sich dort auf und als sie sich sicher war, dass niemand ihr hier auf die Schliche kommen würde, beschloss sie, in der Gegend zu bleiben. Dies war der erste Ort, an dem sie sich wirklich sicher und wohl fühlte, obwohl dieser Teil der Stadt irgendwie einsam wirkte.
Zwei Tage lang konnte sie noch von der Beute ihres letzten Raubzuges leben, doch dann musste sie sich neues Gold beschaffen. An ihrem dritten Tag in San Salvadore ging sie auf Streifzug, doch fiel es ihr hier um einiges schwerer. Die Menschen in dieser Gegend schienen Taschendiebe gewöhnt zu sein, denn sie waren deutlich aufmerksamer als ihre bisherigen Opfer.
Drei Mal schaffte Lea es, unbemerkt davon zu kommen, doch ihr nächstes Opfer bemerkte sie. Es gelang ihr gerade noch, schnell genug wegzulaufen. Die Polizia, die sich ausgerechnet an diesem Tag auf dem Marktplatz befand, verfolgte sie. Kurz bevor ihre Verfolger sie erreichten, huschte Lea in das alte Gefängnis, das
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Luisa Weich
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Lektorat: Michael Wagener
Tag der Veröffentlichung: 04.03.2013
ISBN: 978-3-7309-5336-5
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für die beste Oma der Welt, die mir die Augen öffnete und mir immer neue Hoffnung gab, wenn der Rest der Welt mich in Hoffnungslosigkeit sinken ließ,
Amalia Falkenhahn.
Weiterhin Danke Ich herzlich Michael Wagener, der die Geduld besaß, dieses Buch wieder und wieder zu lesen und der mich dabei unterstützte, es zu vollenden.
Und zuletzt natürlich noch NOVIZIN, die mir ein wunderbares Cover erstellt hat. Immernoch vielen herzlichen Dank dafür!!