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Das letzte Abenteuer





Das letzte Abenteuer



von Mark Meier




Es gibt immer wieder Dinge im Leben, die dann passieren, wenn man es am wenigsten erwartet und auch überhaupt nicht gebrauchen kann. Dinge, die einem zeigen, wie unglaublich das Leben ist. Manchmal braucht es einfach einen Schubs in die richtige Richtung, oder jemanden, der einem den Weg weist. In den meisten Fällen beginnt eine Veränderung mit einem einschneidenden Erlebnis. In meinem Fall war es der übermüdete Fahrer eines roten Lastwagens, der wohl schon ein paar Stunden zu viel unterwegs gewesen war und dem die Müdigkeit arg zusetzte. Ich kam gerade am Ende meiner Mittagspause aus meinem Lieblingscafe, mit der Times unter einem Arm und einem entkoffeinierten Mocca-Latte in der Hand, und wollte zurück zur Arbeit laufen. Ich machte das zu jeder Mittagspause, um von der vielen Büroarbeit nicht träge zu werden. Diesen kleinen Beitrag zum Wohlbefinden wollte ich nicht missen, da man ja eigentlich eh viel zu bequem durchs Leben schlendert. Also ging ich täglich genau zur Mittagszeit runter auf die Straße und kaufte mir meinen Kaffee und eine Zeitung. Im Grunde genommen war das sozusagen mein eigenes kleines Abenteuer, oder vielmehr nannte ich es einfach nur so, weil sonst in meinem Leben eigentlich nichts Spannendes passierte. Also war jeder Tag genauso wie der vorherige und der glich nun wiederum genau dem Tag davor und so weiter und so weiter. Der einzige Unterschied war, dass ich jedes Mal eine andere Kaffeesorte probierte. Schließlich muss Abwechslung ja sein. Genauso wie an diesem Tag auch und eigentlich wie jeden Tag in den letzten fünf Jahren. Ich weiß eigentlich bis heute nicht genau, was passierte, damals auf der Straße, was diesen Tag zu so einem Tag machte, der ein ganzes Leben ändern sollte. Augenzeugen würden hinterher der Polizei berichten, dass der Fahrer ohne ersichtlichen Grund die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren hatte und dann auf den Bürgersteig zuraste, also genau auf mich. Das Letzte, was ich sah, war, wie ein Lastwagen ins Schleudern geriet, dann wurde es dunkel.
Als ich wieder aufwachte, wollten mir meine Sinne nicht so recht gehorchen. Später würde ein Arzt erklären, dass dies von der Vollnarkose kam, die nötig war, um mein gebrochenes Bein wieder zu richten, aber im Moment wusste ich davon noch nichts. Panik kam in mir hoch. Es war stockfinster. Alles war fremd. Als die Dunkelheit nach ein paar Augenblicken nicht weichen wollte, erinnerte mich mein Unterbewusstsein daran, dass man um zu sehen natürlich auch die Augen aufmachen sollte, was ich schlagartig tat. Die Helligkeit des Raumes blendete mich und nur langsam nahm das gleißende Weiß vor meinen Augen Form an. Ich lag in einem Bett. Einem Krankenbett. Mein ganzer Körper tat weh und so zwang ich mich dazu, jede Bewegung bewusst langsam auszuführen. Ich versuchte mich trotz meiner noch nicht ganz zurückgekehrten Motorik aufzurichten und schaute an mir herunter. Die Bettdecke war auf der linken Seite übergeschlagen und entblößte einen riesigen Gips, der mein komplettes linkes Bein umhüllte, welches auf einer Art Kissen lag, das man wohl irgendwie an das Bett anbringen konnte, um das Bein hochzulegen und zu fixieren. An meinem linken Handrücken war mit einigen Streifen Klebeband ein Zugang festgeklebt, an dem ein Tropf hing, der an einem kleinen Galgen am Bett baumelte. Die chemische Bezeichnung auf dem Beutel konnte ich nicht entziffern, schlussfolgerte aber durch Halbwissen, das mir diverse Arztserien vermittelt hatten, dass es sich um eine Kochsalzlösung handeln musste. “Danke, Doktor Sanders.”, sagte ich zu mir selbst und dankte damit meinem absoluten Helden der TV-Landschaft, dessen Abenteuer mich sehr faszinierten und von dem ich keine einzige Folge je verpasst hatte. Der Rest des Raumes hätte gewöhnlicher nicht sein können. Zwei weitere Krankenhausbetten, leer, einfache Holzschränke für Kleidung, große schwere Vorhänge und eine Glastür zum Balkon des Zimmers. Eine separate Tür führte wohl zum Bad. Ein kleiner Beistelltisch am Fenster. Der Geruch, der in der Luft lag, war eindeutig der sterile, nichts sagende Geruch, den Krankenhäuser immer haben und den es nur dort gab. Ich hatte keinerlei Gefühl für Zeit und Raum. Ich konnte weder erkennen wie spät es war, noch wie lange ich schon hier lag, oder wie ich hier hergekommen war. Allerdings sah mein Gips recht frisch aus und ich fühlte mich auch wie vom sprichwörtlichen LKW überrollt. Auf dem kleinen Tisch neben meinem Bett erblickte ich eine Plastiktüte, in der meine persönlichen Sachen verpackt waren. Mühsam reckte ich mich herüber und schaffte es nach ein paar Versuchen endlich, die Tüte auf meinen Schoß zu ziehen. Handy, Schlüssel, Portmonee, alles da, sogar die Quittung der Cafeteria hatte jemand zu meinen Sachen gepackt. Die Akkuanzeige meines Handys blinkte rot auf, also schaute ich rasch nach ob Nachrichten vorlagen, aber wie immer schrieb mir niemand auch nur die unwichtigste Neuigkeit. Allerdings konnte ich sehen, dass seit dem Unfall laut Datum auf meinem Handy ein ganzer Tag vergangen war. Statt meiner Kleidung trug ich einen hässlichen, weiß-blau gestreiften Schlafanzug, der furchtbar juckte und sicherlich aus Beständen des Krankenhauses stammte. Als ich die Tüte auf den Tisch zurückwarf, fiel mir der Knopf auf, mit dem man eine Schwester rufen konnte. Es war so ein typisches zylindrisches Gerät, mit einem roten Knopf ausgestattet, das an einem Kabel hing, das in der Wand mündete. Ich drückte den Knopf. Nichts geschah. Ich drückte erneut. Wieder nichts. Also wartete ich. Und wartete. Und wartete. Dann schlief ich ein.
Eine unbestimmte Zeit später, ich konnte nicht sagen wie lange ich geschlafen hatte, wurde ich wach. Mein Mund war trocken und mein Bauch fühlte sich an, als wäre an der Stelle, wo mein Magen normalerweise sein sollte, ein riesengroßes Loch. Auf meinem Nachttisch stand einladend ein Tablett und der Duft von frisch gekochtem Essen stieg mir in die Nase. Hungrig wie ich war zog ich den ausziehbaren Tisch des Nachttisches zu mir rüber und nahm den großen Deckel vom Teller. Es gab Huhn, Kartoffeln und Erbsen. Verfeinert wurde das Ganze mit einer braunen Soße, die die Konsistenz von Altöl hatte und auch genau den gleichen Farbton besaß. Insgeheim hoffte ich darauf, dass der Geschmack nicht auch nur altem Öl entsprach. Als Getränk stand neben dem Teller eine Mineralwasserflasche mit einem Becher über den Hals gestülpt. Grüne Flasche. Stilles Wasser. Als ich mich aufrichtete, um mit dem Essen zu beginnen, merkte ich wie etwas in meinen Rücken rutschte. Ich griff hinter mich und ertastete etwas Kleines, Weiches, das ich rasch hervorholte um zu sehen, was mich denn von meinem wohlverdienten Essen abhielt. Ein Stofftier, eine kleine weiße Katze mit einer Augenklappe. Es sah aus, als hätte es schon einige Zeit auf dem Buckel, denn man konnte deutliche Gebrauchsspuren erkennen. Selbst die Augenklappe war nachträglich angebracht worden, eine Tatsache die ich bemerkte nachdem ich sie ungeniert angehoben hatte, um nach dem Auge zu sehen. Es fehlte. Auf der Wange hatte die Stoffkatze ein Pflaster und ihr linkes Bein war mit einer Mullbinde versehen. " Auch vom Lastwagen erwischt worden, was?", sagte ich leise und lachte, dann legte ich meinen neuen Bettgenossen aufs Kissen zurück und machte mich über das Essen her. Normalerweise sagt man ja über das Essen in Krankenhäusern, dass es so schlecht ist, dass man schnell wieder gesund wird, um nach der Entlassung zuhause mal wieder etwas Gescheites zu Essen zu bekommen. Aber das alles war mir hier und jetzt vollkommen egal. "Der Hunger treibt es rein", dachte ich innerlich. Überraschenderweise schmeckte es besser als in jedem Sternerestaurant in das ich je eingeladen worden war. Niemals würde ich so viel Geld für Essen ausgeben. Erstens hatte ich ja keins und zweitens machte so was alleine halt nur halb so viel Spaß. Also bestand mein Gourmetgenuss als Single eh nur aus Fertiggerichten. Nur zu Geschäftsessen wurde ich ab und an in etwas feinere Lokalitäten geladen. So viel zum Thema. Nach dem Essen machte ich ein kleines Nickerchen. Ich schlief tief und fest mit vollem Bauch. Als ich wieder wach wurde bekam ich einen Schreck. Vor meinem Bett stand ein kleines Mädchen, vielleicht acht oder neun Jahre alt. Sie trug ein Nachthemd und darüber einen Morgenmantel. Ihre Füße, in dicke Kniestrümpfe gehüllt, steckten in großen Plüschpantoffeln. Ihre Wangen, blass und eingefallen, ihr haarloser Kopf in ein Tuch gehüllt, das wie bei einem Piraten gebunden war. An Ihrem Morgenmantel hing ein Anstecker, der wie eine Piratenflagge aussah, mit einem grimmigen Totenschädel mit gekreuzten Knochen auf schwarzem Hintergrund. Die lebhaften Augen des Mädchens musterten mich und sie zog den Mund schräg, als ob sie nachdenken würde. Die Neugier war ihr ins Gesicht geschrieben. Dann lächelte sie und ihre Augen strahlten als sie sah, dass die kleine Stoffkatze neben meinem Kopf auf dem Kissen lag. "Hallo du...“, sagte sie nüchtern. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen weil ich dachte, ich träumte noch. "Ich hab dich hier schlafen sehen, mit deinem dicken Bein. Und da hab ich dir meine Katze dagelassen, um auf dich aufzupassen. Sie ist Pirat, wie ich", verkündete sie stolz. "Ich bin Capt'n Kitty, der Schrecken der sieben Weltmeere, weißt du?" Ich setzte mich auf. "Hallo du", sagte ich und versuchte so nett und so sanft zu klingen wie es nur ging. "Das ist sehr lieb von dir, das mit der Katze. Es geht mir auch schon viel besser. Deine Katze hat es aber auch ganz schön erwischt, sie hat ja ein Pflaster und einen Gips am Bein, genau wie ich." Plötzlich änderte sich der Gesichtsausdruck des Mädchens. Und diesen Moment werde ich in meinem ganzen Leben nicht mehr vergessen. Sie wurde todernst. „Und sie wird sterben, genauso wie ich...“ antwortete sie. Ihre Antwort ließ mich erschaudern. Kinder sollten lachen und spielen und nicht an den Tod denken müssen. Sie bemerkte meine Reaktion und ihr Lächeln kehrte zurück. "Ist schon okay, alle müssen ja mal sterben, so wie meine Mami auch. Sie hat mir mal gesagt, dass dann nichts mehr wehtut und dass alle dann wieder zusammen sein können, weißt du?" Ich nickte. Innerlich erschrak ich furchtbar. "So, und du rennst hier einfach so herum und hilfst, dass die Menschen besser schlafen können?", sagte ich schnell, um von dem unangenehmen Thema abzulenken. "Ich komme von oben, fünfter Stock", erklärte sie mir. "Immer wenn ich meine Medizin bekommen habe, wird mir so schlecht, dann schau ich mir die anderen Leute an, das lenkt ab, weißt du?" Ich nickte erneut. Ich wollte gerade nach ihrem Namen fragen, da sagte sie: "Oh ich muss los, gleich kommt die Schwester, da muss ich in meinem Bett liegen!" Ohne auf meine Reaktion zu warten, drehte sie sich um, lief zur Tür heraus und war verschwunden. „Seltsames kleines Mädchen", dachte ich noch, dann schlief ich wieder ein und träumte wirres Zeug von roten Lastwagen, entkoffeinierten Mocca-Latte und Kaffeehausquittungen.
Am nächsten Morgen verlief alles im allgemeinen Krankenhaustrott. Ich wachte auf, aß und las ein paar Zeitschriften. Allerdings schien seit ein paar Tagen nichts Aufregendes mehr passiert zu sein, denn die Nachrichten glichen einander in den verschiedenen Magazinen auffallend. Nach dem Mittagessen, diesmal gab es Nudeln, legte ich mich wieder hin. Eigentlich schlief man im Krankenhaus ja nur so viel, weil so arg wenig passierte, und vor lauter Langeweile wurde man dann träge und döste so die meiste Zeit vor sich hin. Ich hatte schon immer den Verdacht, dass die Betreiber des Krankenhauses diesen Zustand erwünschten, damit die lästigen Patienten die meiste Zeit den Mund hielten. Dann verschwanden die Gedanken und ich fing an zu träumen. In meinem Traum sah ich meine Tante. Nach dem Tod meiner Eltern war ich bei ihr groß geworden. Sie lebte mit meinem Onkel auf dem Land. Es war ein bisschen so wie in diesen Filmen, in denen die ländliche Bevölkerung als ein bisschen zu gemütlich und stoisch dargestellt wurde. Aber irgendwie war da schon was dran. Im Traum kletterte ich auf die große Eiche vor dem Haus, so wie ich es als Kind oft getan hatte. Meine Tante kam aus dem Haus, lächelte und wollte mich zum Essen hereinholen. Der Traum endete abrupt und ich schreckte auf, als die Tür aufschwang und gegen die Wand knallte. Das kleine Mädchen war wieder da und stand mit verschränkten Armen im Türrahmen. Diesmal hatte sie einen Papierhut über ihr Tuch gezogen und eine Augenklappe über dem rechten Auge. Im Gürtel ihres Morgenmantels steckte ein Piratensäbel aus Pappe. Sie war plötzlich ganz anders, so voller Energie und Kraft. Eine Tatsache, die ich guten Medikamenten zuschrieb. Langsam rappelte ich mich auf, vom Schlaf noch ganz benommen. "Auf auf, Matrose!", rief sie mir zu und sprang auf mein Bett, was mich kurz aufschrecken ließ, weil ich Angst hatte, sie würde direkt auf meinem Gips landen, "Wir befinden uns auf Schatzsuche", sie rollte eine der Zeitungen von meinem Nachttisch auf und benutzte sie als Fernglas. "Sieh selbst, Matrose, Schatzinsel voraus!" Sie reichte mir das "Fernglas" und ich spielte, so gut ich konnte, mit. "Ahoi..erhm Käpt’n..ich sehe..Land...!", stammelte ich. Natürlich hatte ich seit über dreißig Jahren nicht mehr gespielt, da ist man ein bisschen aus der Übung. Allerdings war ich Spitze im Cowboy spielen und auch die ein oder andere Mondlandung hatte ich mit meinen Kindheitsfreunden schon hinter mir. Das Mädchen sprang vom Bett und "schwamm" herüber zur Insel, die in Wirklichkeit der Tisch am Fenster des Raumes war, und kletterte hinauf. Sie stemmte stolz ihre Arme in die Hüften und verkündete: " Diese Insel und alle Schätze darauf sind nun der Privatbesitz von Capt'n Kitty, jawohl!" Dann zog sie eine Tüte Gummibären aus ihrem Morgenmantel und präsentiere stolz ihren "Schatz", der in ihrer Fantasie zu einem Sack voller Geschmeide wurde. Sie nahm die Tüte zwischen die Zähne und "schwamm" zu unserem "Schiff" zurück. Dabei reckte sie den Kopf so in die Höhe, dass der Schatz auf keinen Fall nass wurde. Auf dem "Schiff" angekommen, teilte sie unseren "Schatz" gerecht auf, und ein Gummibärchen, das übrigblieb, verschwand sofort in ihrem Mund, indem sie ihn zum "Kapitänsbonus" deklarierte und sofort aufaß. Wir machten uns über den Gummibärenschatz her und versuchten, dabei möglichst piratenhaft auszusehen. Das kleine Mädchen strahlte. Plötzlich sprang sie wieder auf und rief laut: " Schiffe der Marine gesichtet, bemannt die Kanonen!" Die erwähnten Marineschiffe waren die zwei leeren Betten, die in der Fantasie des kleinen Mädchens Schlachtschiffe der Marine wurden und den gefürchteten Schrecken der sieben Weltmeere ein für alle Mal dingfest machen wollten. Ich tat mein Bestes, ihr bei ihrem Spiel zu helfen und bemerkte plötzlich, dass das kleine Mädchen völlig verändert war. Nun war sie nicht mehr ein krankes Kind in einem Krankenhaus, sondern sie war ein Pirat, und zwar nicht irgendeiner. Der Schrecken der sieben Weltmeere hüpfte auf den leeren Betten herum und kämpfte mit ihrem mächtigen Säbel gegen die Soldaten der Marine, indem sie wild mit ihrem Pappsäbel in der Luft herumfuchtelte und ab und zu Tritte folgen ließ. Sie war eine Expertin im Säbelkampf, das sah man sofort, und selbst die besten Männer der Marine konnten ihr nicht das Wasser reichen. Nicht umsonst war sie der Kapitän. Ihr ehrliches Lächeln machte mich froh, und je mehr ich mich auf das Spiel einließ, umso mehr fing ich an, nicht mehr die Enge des Raumes zu sehen. In meinem Kopf entstanden Schiffe, Inseln, Piraten, eine ganze Welt. Als mir auffiel wie real die Fantasie all das machte, musste ich unweigerlich lächeln. Das kleine Mädchen drehte sich zu mir um und bemerkte meine Freude an dem Spiel, was ihr eigenes Lächeln noch größer werden ließ. Als die Marineschiffe aufgaben und abdrehten, steckten wir schon mitten im nächsten Abenteuer. Capt'n Kitty stand nun wieder an der Spitze meines Bettes und hielt Ausschau. Aus heiterem Himmel rief sie " UFO gesichtet...!" und deutete auf die Lampe des Zimmers, die einer fliegenden Untertasse wirklich nicht unähnlich war. „Lasst den T-Rex frei...!", befahl sie einem Piraten, der nur in ihrer Fantasie existierte. Der "T-Rex" war ein grüner Kleiderständer, der neben einem der Holzschränke stand und dessen geschwungene Form bei genauerem Hinsehen wirklich aussah wie ein Dinosaurier. Sie sprang vom Bett, schob den Kleiderständer durch den Raum und machte dabei Geräusche, die wohl Dinosauriergebrüll darstellen sollten, um damit zu signalisieren, dass der T-Rex gerade dem UFO den Garaus machte. Sie war völlig ins Spiel vertieft. Wie ich das kleine Mädchen so ansah, kam ich ins Grübeln. War die Welt wirklich so grau, wie die Erwachsenen sie sahen, oder war es der Blick eines Kindes, der das Leben erst bunt machte? War es wirklich so einfach? Ich wurde jäh aus meinen Gedanken gerissen, denn unser "Schiff" wurde nun von einem Wirbelwind davongetragen und wir landeten mitten in der Wüste. Das Mädchen schaltete die Nachttischlampe ein und tat so als würde sie seit Stunden durch die glühendheiße Wüste marschieren, mit der Lampe als Sonne, die unerbittlich auf uns schien. Sie kroch förmlich durch den Raum und man sah ihr an, dass sie vor Durst umzukommen schien. "Halte durch Matrose, ich sehe eine Oase!", rief sie nun. Die Mineralwasserflasche auf meinem Tisch wurde zur Oase ernannt, und als ich einen Schluck Wasser aus dem Becher trank, den sie mir reichte, war die Erfrischung nicht in Worte zu fassen. Das Mädchen strahlte. Und Ich strahlte nun ebenfalls. Erschöpft, aber glücklich setzte sie sich neben mich. Dann wurde sie wieder ernst. "Ich möchte gerne mal das Meer sehen, weißt du, das richtige, echte Meer, und den Strand. Aber nach den Behandlungen bin ich immer so schwach. Die Schwester sagt immer, irgendwann darf ich, aber sie sagt nie wie lange das noch dauert. Was ist denn wenn ich niemals das Meer sehen werde?" Ihre Augen wurden feucht. Ich versuchte sie zu trösten. „Hey hör mal, so was kann doch einen Piratenkapitän nicht aufhalten. Sobald ich wieder laufen kann, werde ich sehen was man da machen kann." Ich fasste in Gedanken den Entschluss, dem Vater des Mädchens von ihrem Wunsch zu erzählen. Als sie hörte, was ich ihr versprach, lächelte sie breit und umarmte mich glücklich. "Wirklich?", rief sie aufgeregt, „das wäre so schön, weißt du?" Als sie mich wieder losließ, sagte sie nüchtern: "Ich muss nun Mittagsschlaf machen." Und wieder rannte sie davon wie schon zuvor. Und wieder hatte ich dieses traurige Gefühl in mir. Durch meine eigene Kindheit wusste ich wie es war, ohne Mutter und Vater aufzuwachsen. Aber immerhin hatte ich ja noch meine Tante und meinen Onkel. Ich konnte mir im Leben nicht ausmalen, wie es wohl dem kleinen, kranken Mädchen erging, das in ihren jungen Jahren schon wusste, wie schlimm es um sie stand. Mit diesem Gedanken schloss ich die Augen und schlief schon bald ein. Mein Schlaf war gezeichnet von den düsteren Bildern einer Beerdigung. Ich, als kleiner Junge, am Grab meiner Eltern. Alle waren in Schwarz gekleidet und schauten auf den Boden. Die Sonne verschwand hinter tiefen, schwarzen Wolken und Wind kam auf. Dann sah ich, dass ich weinte. Ein kleiner Junge, so traurig. Meine Tante legte mir ihre Hand auf die Schulter und ich konnte spüren, dass diese zitterte. Schlagartig wurde ich wach und saß senkrecht im Bett, Tränen liefen mein Gesicht herunter. Voller Wut und Schmerz griff ich die Magazine die auf meinem Nachtisch lagen, schmiss sie durch den Raum und hoffte, dass es mir dann besser ging. Nichts geschah. Still und einsam saß ich so in meinem Bett und ließ die Zeit verstreichen.
Am Abend kam das kleine Mädchen wieder. Sie sah bedrückt aus. Still setzte sie sich auf die Kante meines Betts. "Glaubst du, es gibt den Himmel? Den echten Himmel? Ich meine, ich weiß ja dass die Erwachsenen manchmal lügen, damit man sich keine Sorgen macht, aber was ist wenn es keinen Himmel gibt? Meine Mama hat versprochen, dass ich sie wiedersehe. V-e-r-sprochen! Aber was ist wenn das nicht stimmt?" Sie fing an zu weinen. Ich hielt sie im Arm. "Guck mal", versuchte ich sie zu trösten, „Ich denke, deine Mama hat dich sehr gern gehabt, oder? Und sie weiß ja, dass du sie auch sehr gern hast. Sie kann dich nämlich sehen, so oft und wann sie will. Jedes Mal, wenn du an sie denkst, merkt sie das und schaut dir bei deinen Abenteuern zu. Und wenn sie sagt sie wartet auf dich, dann hat sie es auch so gemeint. Eine Mama lügt nie, das ist ein Gesetz. Das oberste Mami-Gesetz sogar, glaube mir!" Das kleine Mädchen schaute zu mir hoch. "Ehrlich?", schluchzte sie. "Dann ist es gut. Weißt du, der Doktor hat gesagt, dass ich morgen operiert werde. Und ich hatte sehr große Angst davor. Aber nun nicht mehr, denn schlimmstenfalls sehe ich meine Mama wieder, und wenn alles gut geht, dann zeigst du mir das Meer, oder?" Ich nickte und umarmte sie. Ich hatte keine Worte mehr. Was sollte man einem kleinen Mädchen auch sagen, das ganz genau wusste, was sie erwartete. Ich musste weinen. "Nicht weinen, Matrose!", sagte sie aus heiterem Himmel, "wir haben eine Mission zu erfüllen. Der Schatz auf der Insel der Riesenkrebse! Das ist der größte Schatz von allen! Anker lichten, Segel setzen." Sie sprang auf und stand nun aufrecht am Fußende meines Bettes. Sie zog einen Spielzeugkompass aus der Tasche und tat so als ob sie den Kurs berechnete. "Nördliche Richtung...Volle Kraft voraus!" Es war als ob sie plötzlich all ihre Kraft und Lebensfreude wiederfand, um dieses letzte große Abenteuer mit mir zu spielen. Denn was diese Riesenkrebse in Wirklichkeit waren, das wusste sie genau. "Aye Capt'n!" erwiderte ich und spielte mit. Vor meinem geistigen Auge verschwand das Krankenbett und anstatt im Krankenhaus fand ich mich auf einem Schiff wieder. Mein Gips wurde zu einem "Holzbein" und ich drehte das Steuerrad, um den Kurs zu setzen den der Kapitän befahl. "Matrose, ein Sturm zieht auf!", rief Capt'n Kitty. Nicht einmal Wind und Wetter würden sie von ihrer letzten großen Fahrt abhalten. Der Himmel verdunkelte sich und der Regen peitschte uns ins Gesicht. "Wir müssen uns anbinden, sonst spült uns der Sturm von Bord!" Immer heftiger zerrten die Wellen an unserem Schiff, der Wind nahm einem die Luft, es blitzte und donnerte. Der Regen war sehr stark und das Deck des Schiffes stand bereits knöcheltief unter Wasser. Ich hatte Mühe, mich auf den Beinen zu halten. Nur nicht Capt'n Kitty. Sie stand stolz an der Spitze des Schiffes und trotzte erhobenen Hauptes dem Wetter. Niemand würde sie aufhalten können, nicht jetzt, und auch zu keinem späteren Zeitpunkt. "VORWÄRTS!", brüllte sie dem Sturm entgegen. Das Schiff schaukelte und wurde von den Wellen hin- und hergeworfen. Ich versuchte das Steuerrad mit all meiner Kraft festzuhalten. Niemals könnte ich es mir verzeihen, wenn ich auf der letzten großen Fahrt versagen würde. Immerhin ging es um die Riesenkrebse, den schlimmsten Feind der Menschheit. Wir mussten einfach Erfolg haben. Plötzlich erblickte ich es. Mitten im Auge des Sturms entstand ein Strudel, aus dem riesige, gefährliche Tentakeln herausragten. "Capt'n! Es ist der Kraken!", rief ich aus voller Kehle. Capt'n Kitty drehte sich zu mir um und nickte mir zu. Sie wusste, dass eine große Gefahr bevorstand und nur großer Mut uns jetzt noch retten konnte. "Rammen, volle Kraft voraus!" Der Capt`n war wild entschlossen. Und mit einem riesigen Knall rammte unser Schiff den Kraken, der einen wilden Schrei von sich gab und dann in den Tiefen des Meeres versank. Als das Seeungeheuer vollkommen versunken war, konnte man bereits spüren, wie der Sturm nachließ. In dem Moment, in dem ich mich umdrehte, um nach Kitty zu sehen, traf mich etwas am Kopf und ich wurde bewusstlos. Als ich wieder wach wurde lag ich an einem Strand. Der Sturm war vorbei und die See war ruhig. Die Sonne schien. Ich war über Board gegangen und auf dieser einsamen Insel gestrandet. Sofort sprang ich auf und sah mich um. Der Käpt’n war nirgends zu sehen. Ich kniff meine Augen zusammen und sah in einiger Entfernung eine Truhe am Strand stehen. Die Truhe, so dachte ich, war wohl mit mir von Bord gegangen. So schnell mich meine Füße trugen rannte ich durch den nassen Sand, der bei jedem Schritt nachgab und meine Füße versinken ließ. Ich öffnete die Truhe und hoffte, etwas zu Essen zu finden. Die alten Scharniere knarrten laut beim Öffnen. In der Truhe waren eine Flasche Mineralwasser und eine Tüte Gummibären. Eine Schatztruhe also. Und ganz oben auf dem Schatz lag ein Brief. Zitternd öffnete ich den Umschlag. Das Papier war vergilbt und schwer. Als ich las, was in dem Brief geschrieben stand, bekam ich einen Kloß im Hals und Tränen machten meine Wangen feucht. "Es tut mir leid Matrose, aber diese Reise muss ich alleine antreten. Ich habe dich auf dieser friedlichen Insel ausgesetzt, damit du nicht in Gefahr kommst. Den Rest der Reise muss ich nun alleine antreten. Die Insel der Riesenkrebse ist zu gefährlich für einfache Seeleute, da braucht es schon einen Kapitän, weißt du? Mach dir bitte keine Sorgen um mich, Matrose. Gezeichnet Capt'n Kitty." Ich ließ den Brief fallen und lief den Strand entlang. Sie hatte mich zurückgelassen um ihrem schlimmsten Erzfeind alleine entgegenzutreten. Wie es ein richtiger Kapitän tun würde. Plötzlich erblickte ich in weiter Ferne Capt'n Kittys Schiff und ich rannte in das offene Meer hinaus bis das Wasser mir bis zur Brust reichte. Und ich schrie. Ich wollte sie nicht alleine lassen. Ich wollte ihr beistehen. Das Salzwasser brannte in den Augen und die Tränen liefen mir übers Gesicht. Dann erblickte ich Kitty, wie sie am Steuerrad stand und mir zuwinkte. Sie sah glücklich aus. Stolz lenkte sie ihr Schiff der Sonne entgegen. Ich sah ihr lange hinterher. Dann änderte sie den Kurs und war schon bald am Horizont verschwunden. Ich ging rückwärts zum Strand zurück, ließ mich in den Sand fallen und setzte mich hin. Meine Arme hielten meine Beine umklammert und ich fing an zu frieren. Die Tränen verschleierten meinen Blick und liefen salzig an meinem Kinn herunter. Ich war traurig, sehr sogar. Aber gleichzeitig war ich auch so unglaublich stolz auf dieses mutige kleine Mädchen, das mir so beeindruckend gezeigt hatte, wie stark die Fantasie sein konnte. Ich kannte sie nur ein paar Tage, aber es tat so weh, sie ziehen zu lassen. Ich spürte, wie die Wellen an meinen Beinen hochschlugen, und sah etwas im Wasser treiben. Es war ihre kleine Stoffkatze. Mit einem Satz sprang ich auf und rannte los. Als ich das Stofftier aufhob, war der Zauber der Fantasie verflogen, und ich war zurück in meinem Bett im Krankenhaus. Und das kleine Mädchen war verschwunden. Mit aller Kraft umklammerte ich die kleine Plüschkatze, als wenn ich so das kleine Mädchen zurückwünschen könnte, und fühlte, dass mein Herz zerspringen wollte, als es nicht funktionierte. Dann ließ ich mich zurückfallen und starrte an die Decke. Wie lange, wusste ich nicht mehr. Das einsame Krankenhauszimmer kam mir nun noch viel grauer und farbloser vor als zuvor. All die Freude und all die Träume und Hoffnungen waren verschwunden. Und jedes Lachen verblasste, bis es nur noch ein Flüstern war, das schließlich ganz verschwand. Irgendwann schlief ich ein. Im Traum sah ich den Schrecken der sieben Weltmeere, wie sie auf der Insel der Riesenkrebse ihrem Schicksal begegnete. Mutig wie sie war, stürmte sie mit erhobenem Säbel auf den Strand zu und stellte sich den Ungeheuern, die die Insel beherrschten. Immer mehr Krebse umringten sie und man merkte, dass die Feinde langsam die Überhand gewannen. Schon bald war sie inmitten des Kampfgeschehens nicht mehr zu sehen, und als sich die Krebse wieder vom Strand entfernten, war auch das kleine, tapfere Mädchen, das so gerne das Meer gesehen hätte, verschwunden. Nur ihr alter Piratenhut lag noch am Strand, wurde aber schon bald, erst sanft, dann immer stärker, von den Wellen ins offene Meer getragen, bis er in den weiten des Ozeans verschwand …
Am nächsten Tag kam Capt'n Kitty nicht zu mir. Am übernächsten Tag auch nicht. Unendlich lang erschienen die Tage, und unsagbar grau. Alle Freude und alle Hoffnung waren mit ihr verschwunden. Immer wieder schaute ich zur Tür und hoffte, dass dieses tapfere kleine Mädchen wiederkam, dieser furchtlose Piratenkapitän, der Schrecken der sieben Weltmeere. "Sie hatte noch nie das Meer gesehen…", sagte ich leise zu mir und merkte, dass ich unglaublich traurig war. Wie konnten die Menschen nur in dieser Welt leben, so grau und so freudlos. Hatten sie jemals das Meer gesehen? Ich wusste es nicht. Ich fühlte mich seltsam, so als ob ich eine geheime Wahrheit kannte, von der der Rest der Welt nichts wusste. Dann wurde es mir schlagartig klar. Das war er also, der Schatz von Capt'n Kitty! Menschen träumen jede Nacht, nur erinnern sie sich meistens nicht daran. Und warum? Weil sie niemals die Kraft aufbringen könnten, diese Träume zu leben. Jedenfalls scheinen die meisten Menschen das zu denken. Ich weiß das genau, denn bis vor ein paar Tagen habe ich genauso gedacht. Aber nun nicht mehr. Ich versprach mir selbst, von nun an die Welt mit Kittys Augen zu sehen. Das Leben war ein Abenteuer, man musste nur die Leinen losmachen und fortsegeln. Aber die meisten Menschen hatten leider keinen Kapitän, der ihnen den Weg zeigte und mutig voranschritt, immer der Gefahr trotzend. Und meinen Kapitän hatte ich auf der Insel der Riesenkrebse verloren. Meine Tage im Krankenhaus wurden nun zunehmend grauer und nachts war ich den Albträumen schutzlos ausgeliefert.
Seit einigen Tagen träumte ich wiederholt von meinem Unfall. Es war immer derselbe Traum und jede Nacht schwebte ich über dem Geschehen und konnte mich umsehen. Der Traum wurde von Mal zu Mal realer und nach und nach erinnerte ich mich an immer mehr Details. Am Anfang kam ich aus dem Café heraus und in dem Moment, als mich der Lastwagen erreichte, wachte ich schweißgebadet auf. Nach ein paar Nächten war der Traum so weit fortgeschritten, dass ich sehen konnte, wie die Sanitäter meinen kraftlosen Körper verarzteten. Um mich herum standen Schaulustige und versuchten, einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Der Schock stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Und bei einigen konnte man ganz genau die Neugier erkennen, die sie dazu trieb, immer näher zu kommen und zuzusehen. Das Blaulicht der Ambulanz tauchte das Geschehen in unwirkliches Licht. Je öfter ich diesen Traum erlebte, umso mehr hatte ich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Eines Nachts, wieder im Traum, sah ich mich auf der Bahre liegen. Aber ich sah weitaus schlimmer verletzt aus, als ich es in Wirklichkeit war. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Auf der Bahre lag neben meinem Kopf plötzlich Capt'n Kittys kleine Stoffkatze und etwas war an dem Plüschtier befestigt. Ich erschrak. Dann erkannte ich es. Es war genau so ein vergilbter Umschlag wie damals auf der Insel, auf der Capt'n Kitty mich zurückgelassen hatte, um ihrem Schicksal entgegenzusegeln. Ich ignorierte den üblichen Ablauf des Traumes, und anstatt auf mich herunterzublicken, öffnete ich den Umschlag und entnahm den Brief. Der mutige Kapitän hatte es irgendwie geschafft, mir eine Botschaft zukommen zu lassen. Was ich las, schockierte mich zutiefst. "Wach auf!", stand da in Kittys Handschrift. Mir wurde schwindelig. Alles drehte sich. Meine Knie wurden weich und gehorchten mir nicht mehr. Ich fiel lang hin und lag auf dem Boden. Um mich herum lief das Geschehen weiter. Niemand nahm mich wahr. Alle schauten nur auf diesen verletzten Mann auf der Bahre, dem die Sanitäter versuchten, das Leben zu retten. Die Luft blieb mir weg und ich bekam Angst. Dann verschwand der Traum und wurde zu einem Muster aus grellen Farben, die mich blendeten. Ich hielt zum Schutz meiner Augen die Hand vors Gesicht. Jemand sprach zu mir. "Seien Sie ganz ruhig, nehmen Sie sich Zeit, sich zu orientieren, Sie haben lange geschlafen", hörte ich eine tiefe und sanfte Männerstimme sagen. Als sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, bemerkte ich, dass das gleißende Licht von der Decke des Raumes kam. Ich lag in meinem Bett. Aber irgendetwas war anders. Ich spürte etwas in meiner Nase und wollte hochfassen, aber meine Hand gehorchte mir nicht. Um mich herum waren hektische Stimmen und Geräusche zu hören. Als mein Blick sich klärte, sah ich, dass ich im gleichen Raum wie vorher lag, nur dass die anderen zwei Betten nun mit Patienten belegt waren, die beide zu schlafen schienen. Sie waren an einer Reihe von Geräten angeschlossen, die piepsten, und sie hatten Schläuche in der Nase und im Arm. Ich bekam Panik, als ich erkannte, dass ich auch so einen Schlauch in der Nase zu haben schien, sprang auf, verlor die Kontrolle und fiel aus dem Bett, genau auf mein linkes Bein, das schmerzte, als ich es beugte, um den Sturz abzufangen. Es dauerte einen Moment, bis ich bemerkte, dass mein Gips verschwunden war. Ich blickte auf mein Bein und es sah gesund aus, wenn auch etwas dünner als ich es in Erinnerung hatte. Zwei Schwestern eilten mir zur Hilfe und hoben mich zurück ins Bett. Ich war völlig durcheinander und hatte jegliche Orientierung verloren. Als ich mein linkes Bein näher betrachtete, bemerkte ich eine lange Narbe, die bereits gut verheilt war. Ich fuhr mit meinen Fingern über die Erhöhung der Narbe, die sich eigenartig fremd anfühlte. Dann griff ich mir langsam ins Gesicht und fühlte einen stattlichen Bart, der vorher eindeutig nicht da gewesen war, und meine Haare waren auch länger. In der Nase hatte ich tatsächlich auch einen dieser Schläuche, aber bevor ich ihn herausreißen konnte, legte der Arzt, der neben dem Bett stand, seine Hand auf meinen Arm und signalisierte mir, es nicht zu tun. Sofort kam eine Schwester und entfernte den unangenehmen Schlauch, der wohl für die Sauerstoffzufuhr sorgte. Der Arzt beugte sich zu mir herüber und sprach wieder mit dieser tiefen und sanften Stimme und in diesem ruhigen Ton, den nur Ärzte beherrschten. "Ich weiß, dass Sie sich durcheinander fühlen. Aber Sie hatten einen Unfall und haben längere Zeit im Koma gelegen. Ihre Motorik wird sich bald normalisieren und schon bald können Sie mit der Krankengymnastik beginnen. Wir werden auch einige neurologische Tests machen, um Spätfolgen auszuschließen. Sie haben bei dem Unfall einen Splitterbruch im Bein erlitten, der ist allerdings schon lange verheilt und sollte keine Probleme mehr bereiten, unsere Chirurgin kann Wunder wirken, wissen Sie? Wir machen nun ein paar Tests, um zu sehen, wie es Ihnen geht." Ich nickte. Was sollte ich auch sonst tun. Ich war so durcheinander. Der Arzt schaute in meine Akte, die vor ihm auf dem Nachttisch lag, dann machte er ein paar grundsätzliche Untersuchungen, leuchtete mir in die Augen und prüfte meine Reflexe. Ich bekam auch ein neues Zimmer, allerdings sah es genauso aus wie das vorherige, nur dass ich in diesem Zimmer alleine lag. Dann verließen der Arzt und die Schwestern den Raum mit dem Hinweis, ich solle einfach den Rufknopf betätigen, wenn ich was bräuchte. Ich war allein. "Gestrandet", dachte ich und fühlte mich auf einmal hundsmiserabel. Alles war nur ein Traum gewesen. Der stolze Schrecken der sieben Weltmeere existierte nicht. Einerseits war ich froh, denn somit war sicher, dass das kleine Mädchen nicht leiden musste, andererseits war sie so voller Leben und Freude gewesen, dass es mit schwerfiel, daran zu glauben, dass alles, was ich erlebt hatte, nicht real war. Sollte mein Leben jetzt wieder so grau sein, wie es vorher war, oder hatte das kleine Mädchen eine Änderung in mir verursacht? Ich bemerkte, wie eine Träne meine Wange herunter lief und mir schwindelig wurde. Um mich abzulenken, beschloss ich, ein paar der Magazine und Zeitungen zu lesen, die man mir dagelassen hatte, um das aufzuholen, was in den Wochen meines Komas so passiert war. Also las ich, von den Staatsmännern dieser Welt, von den neuen Skandalen im Königshaus, vom Wetter und vom Fernsehprogramm. Als ich auf die Uhr schaute, sah ich, dass es bereits zwei Uhr nachts war, so sehr war ich ins Lesen vertieft. Schlafen wollte ich nicht, denn das hatte ich ja weiß Gott lange genug getan. Ich war ruhelos. All das, was ich erlebt hatte, war schwer zu verarbeiten. Mit unsicheren Schritten ging ich zur Tür und verließ mein Zimmer. Auf dem Gang war es sehr ruhig und das Licht war gedämpft. Am Fahrstuhl angekommen, drückte ich den Rufknopf und wartete, bis sich die automatische Tür öffnete. Im Fahrstuhl war es angenehm hell und sanfte Musik spielte aus versteckten Lautsprechern. „Hoch oder runter?“, überlegte ich laut. Meine Hand fuhr über die Etagenknöpfe. Gerade als meine Hand über dem Knopf für die fünfte Etage schwebte, hielt ich inne und überlegte, ob ich nach Kitty suchen sollte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder, indem ich den Kopf schüttelte und mich selber für verrückt erklärte. Wie sehr ich es mir auch wünschte, sie würde nicht wiederkommen. Ich beschloss, wieder in mein Zimmer zu gehen. Dort angekommen, öffnete ich die Tür zum Balkon und kühler Wind wehte mir entgegen. Ich ging auf den Balkon des Zimmers, wobei ich an die beiden anderen "Schläfer" denken musste, die wochenlang neben mir im gleichen Zimmer gelegen hatten. Ich fragte mich, ob sie auch von jemandem träumten, der sie ins Leben zurücklotste. Vielleicht war es ein Ritter, oder Cowboy, oder auch ein kleines Mädchen, das nebenberuflich als Schrecken der sieben Weltmeere unterwegs war. Ich hoffte es sehr. Zielstrebig ging ich wieder auf den Flur hinaus und stand schon bald in meinem alten Zimmer und schaute auf die beiden anderen Komapatienten hinunter. Ihre Gesichtszüge waren friedlich und eigentlich sahen sie aus, als wenn sie nur schlafen. „Ahoi ihr Soldaten der Marine!“, rief ich den beiden Schläfern zu, in Gedanken daran, dass sie ja, technisch gesehen, in Marineschiffen „schliefen“. Ich sah den einfachen Holztisch in der Ecke stehen und ich stieg auf den Tisch, so wie Capt‘n Kitty es getan hatte, in der Hoffnung, ich würde mich auf ihrer Schatzinsel wiederfinden. Aber nichts passierte. Ein Tisch war eben nur ein Tisch und keine Insel. Ich spürte einen Windhauch und bemerkte, dass jemand das Fenster aufgelassen hatte und es nun ein Stück aufstand. Ich stieg mit zittrigen Beinen vom Tisch herunter. Da ich noch sehr schwach war, musste ich mich an der Wand festhalten, um nicht herunterzufallen. Bevor ich das Fenster zumachte, öffnete ich es ganz und blickte in die Ferne. Das Krankenhaus lag etwas außerhalb und am Horizont konnte man das Meer sehen. Ich musste unweigerlich an Capt'n Kitty denken, die hier im Krankenhaus eingesperrt war, dabei war das Meer, das sie so sehnsüchtig erleben wollte, nicht einmal eine Viertelstunde mit dem Auto entfernt. Meine Beine zitterten und so beschloss ich, wieder zurück in mein Zimmer zu gehen, um mich hinzulegen. Mein Körper war nicht so stark, wie ich es gewohnt war. Als ich an meinem alten Bett ankam, hielt ich einen Moment inne und stützte mich am Bettgestell ab. Das Bett war frisch bezogen und unbenutzt. Ich musste lachen über den Umstand, dass nun, da Kitty weg war, die Marineschiffe mit einer “Mannschaft” besetzt waren, und das Piratenschiff lag einsam und verlassen im Hafen. Beim Weitergehen stieß ich unsanft an den kleinen Nachttisch neben dem Bett und ich beugte mich herunter, um mein Schienbein zu reiben und so den Schmerz besser ertragen zu können. Gerade, als ich mich wieder aufrichten wollte, fiel mein Blick auf den Nachttisch. Aus einer der Schubladen ragte ein Stück einer Mullbinde heraus. Neugierig öffnete ich die Schublade und mein Herz blieb vor Überraschung fast stehen. In meiner Hand hielt ich Capt'n Kittys kleine Stoffkatze. Sie sah so aus, wie ich sie in Erinnerung hatte, bis ins letzte Detail, jedoch hatte sich der Verband gelöst und hing nun lose am Bein des Stofftieres herunter. Ich schmunzelte über die Tatsache, dass mein Bein nun auch wieder ganz war, gerade so wie es anscheinend bei der kleinen Stoffkatze der Fall war, dann jedoch setzte mein Verstand ein. Mir wurde heiß und kalt. Wie war das möglich? Die Luft blieb mir weg und ich musste mich zwingen, ruhig zu atmen. Wie vom Blitz getroffen, klammerte ich die Stoffkatze an meine Brust und rannte los. Ich rannte und rannte. Solange, bis ich die Tür meines Zimmers hinter mir zuschlug und das Licht einschaltete. Meine Lunge brannte, meine Muskeln schmerzten und mir wurde furchtbar schwindelig. Ohne die Stoffkatze loszulassen, zog ich mich aufs Bett, Mein Herz raste. Ich betätigte den Rufknopf und ließ die Stoffkatze dabei nicht aus den Augen, aus Angst, so meinen letzten Halt zu verlieren. Schlurfend kam eine Schwester ins Zimmer, die, wie ich fand, aussah, als wäre sie mindestens einhundert Jahre alt. Ich saß mittlerweile auf dem Bett, mit der Stoffkatze auf meinem Schoß. Die Worte platzten nur so aus mir heraus. "Schwester, was ist das hier für eine Katze, das ist unmöglich, wie kann das sein, ich verstehe das alles nicht." Die Schwester schaute mich an und ihr Gesicht war erfüllt von Weisheit und Güte, mein Anblick schockierte sie kein bisschen, was mich denken ließ, dass sie wahrscheinlich in ihrer langen Zeit als Schwester schon eine Menge gesehen und erlebt haben musste. Sie setzte sich neben mich aufs Bett. "Oh dieses alte Ding? Es gehörte einer Patientin, einem Waisenkind, böse Geschichte, sie hatte Krebs, wissen Sie? Andauernd spielte sie Pirat und sie war mit jedem hier befreundet. Ein fröhliches kleines Mädchen. Hat uns alle hier ganz schön auf Trab gehalten. Sie war dafür bekannt, dass sie immer wieder aus ihrem Zimmer verschwand und im Krankenhaus auf Entdeckungstour ging. Sie dachte natürlich, niemand würde es merken, aber eigentlich haben wir immer nur so getan, als ob wir es nie bemerkt hätten, wenn sie mal wieder unterwegs war. Die Kleine musste in jungen Jahren bereits sehr viel Leid ertragen, deshalb haben wir ihr wohl auch sehr viel durchgehen lassen. Ihre Eltern waren bei einem Autounfall umgekommen. Ein Lastwagenfahrer schlief am Steuer ein und verursachte eine Massenkarambolage. Sie überlebte als Einzige. Als wir sie dann hier im Krankenhaus wegen ihrer Verletzungen versorgten, stellte der Arzt den Krebs fest und wir begannen sofort mit der Behandlung. Erst Medikamente, dann wurde sie operiert…" "Und?", unterbrach ich die Schwester ungeduldig. Dies war der Moment der Wahrheit, nun würde ich endlich Capt’n Kittys Schicksal erfahren. Ich wurde traurig. Wollte ich die Wahrheit überhaupt wissen, oder wollte ich mir dieses tapfere Mädchen lieber so in Erinnerung behalten, wie ich sie kannte. Stolz und mutig. Oder wollte ich einfach nur Gewissheit? Ich hatte Angst, dass der Zauber der Fantasie verschwand, sobald die Wahrheit ausgesprochen wurde. Die Schwester bemerkte meine Angst. Sie legte ihre Hand auf meine Schulter und lächelte mich sanft an. " Keine Angst, mein Junge", fuhr sie fort, "sie wurde wieder gesund und dann rettete sie Ihnen schließlich das Leben..." "Wie, was? Woher wissen Sie das?", fragte ich und wunderte mich, wie sie von Capt'n Kittys Abenteuer wissen konnte. Mir wurde schlecht und alles drehte sich. Als die Schwester dies bemerkte, fuhr sie fort. "Nun ja, mein Junge, nachdem sie gesund geworden war, beschloss sie, Ärztin zu werden, um Anderen genauso zu helfen, gerade so wie ihr geholfen wurde. Sie fanden eine sehr nette Pflegefamilie, in die sie freundlich aufgenommen wurde, und dann, zwanzig Jahre später, kam sie hierher zurück und arbeitete bis zu diesem Tag als Chirurgin in diesem Krankenhaus. Sie hat Ihr Bein wieder hingekriegt, wissen Sie, mein Junge? Und als sie sah, dass Sie, genauso wie sie damals, auch keine Angehörigen mehr haben, hat sie sich oft nach Dienst zu Ihnen gesetzt und Geschichten erzählt. Von Piraten, denn diese Geschichten mochte sie immer noch am liebsten." "Aber wo ist sie nun? Wollte sie mich denn nicht aufwachen sehen?" Ich verzweifelte. " Nun mein Junge, sie macht einmal im Jahr eine Tour mit ihrem Segelboot, immer genau auf den Tag, an dem sie damals als gesund entlassen wurde. Ein “letztes Abenteuer”, nannte sie es." "Um die Riesenkrebse zu besiegen", sagte eine junge Frau, die plötzlich in der Tür stand, "um diese Biester zu besiegen, braucht es schon einen Capt‘n, weißt du?" Und Capt'n Kitty, Schrecken der sieben Weltmeere, Zähmerin des Sturms, Bezwingerin des Riesenkraken und Herrscherin über die Riesenkrebsinsel betrat den Raum und lächelte mich an. In ihren Augen konnte ich sehen, dass sie bereit war für ein neues Abenteuer. Das jedoch war eine ganz andere Geschichte ...

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Tag der Veröffentlichung: 08.06.2012

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