Als Karl aufwachte, fühlte er sich schlecht. Nicht, das es ihm sonst gut ging, aber heute ging es ihm selbst für seine Verhältnisse hundselend. Es war Montag. Sein Geburtstag. Er fror. Langsam rollte er sich wieder in seine Bettdecke ein. Er war einfach nicht in der Lage aufzustehen, ihm fehlte die Kraft. Gestern Abend hatte er diesen Bericht im Fernsehen gesehen. Es ging um Menschen, die an einem Hirntumor erkrankt waren. Seitdem fühlte er an der Schläfe so ein Ziehen, das vorher definitiv nicht da war. Kaum war er wieder eingedöst, klingelte der Wecker erneut. Grummelnd stand Karl auf, schaltete den Wecker aus, und schlurfte ins Bad. Nach dem Toilettenbesuch schaute er in den Badezimmerspiegel. Er streckte seinem Spiegelbild die Zunge heraus. Sie sah irgendwie rosa aus, und das beunruhigte ihn schon ein wenig. Seine Augen sahen auch viel weißer aus als sonst, eine Tatsache die er prüfte, indem er das Augenlid langsam mit der Hand herunterzog und die Farbe mit dem Weiß seiner Badezimmerfliesen abglich. Sehr, sehr beunruhigend. Er ging in die Küche, um sich eine Multivitamintablette aufzulösen. Sein Immunsystem braucht ja schließlich Treibstoff, sagte er zu sich selbst. Er setzte einen koffeinfreien Kaffee auf, herzschonend, und duschte anschließend. In einen dicken Frotteebademantel eingewickelt saß er am Frühstückstisch, las Zeitung, und aß ein Marmeladenbrot. Die Nachrichten beunruhigten ihn, war doch von einer neuen Art Grippe die Rede, die irgendwo in Südamerika zwei Bauern hatte niesen lassen. Er zog sich an. Karl hatte sich an seinem Geburtstag wie immer frei genommen, um seine Mutter zu besuchen. Auf dem Weg zu ihr wollte er noch kurz in die Apotheke gehen , um ein Mittel gegen diese Schmerzen im Kopf zu kaufen, außerdem musste er zur Post, um seinen wöchentlichen Leserbrief einzuwerfen. Diesen schrieb er jeden Sonntag, immer nachdem er sich seine Lieblingsserie angesehen hatte. Sie handelte von einem Arzt, der es immer wieder schaffte, seine Patienten zu retten, meist unter Verlust eines seiner eigenen Organe, die er dem jeweiligen Opfer leihweise oder auch dauerhaft zur Verfügung stellte. Das ganze war natürlich vollkommen „realistisch“ gestaltet und auch sonst mit allerlei Liebschaften, Intrige, und auch Humor gewürzt. Er liebte es. Und nach jeder Folge schrieb er einen Leserbrief, um den Verantwortlichen zu danken, und um eigene Ideen anzubringen für weitere Krankheiten, die der Doktor besiegen könnte. Also schrieb er wöchentlich an „Hilfe Doktor Sanders!“, und hoffte, dass seine Ideen den Verantwortlichen so gefielen, das er im Vorspann erwähnt werden würde. Im „Doktor Sanders“ - Fanforum wäre er damit für immer unsterblich. Er war dort momentan bekannt als derjenige mit der neunt - größten Sammlung von „Sanders“ Requisiten, eine Tatsache, die ihn nicht sonderlich befriedigte. Er zog seinen Mantel und Schal an und steckte den Brief ein. Sein Handy steckte er in seine Notfalltasche, eigentlich ein tragbarer Verbandskasten, den er in eine Umhängetasche gestopft hatte, um ihn mitnehmen zu können, wenn er das Haus verließ. Man weiß ja nie, was alles so passieren kann, das Leben ist viel zu unberechenbar, und da ist es gut, vorbereitet zu sein.
Als er die Straße betrat, blendete ihn die Sonne. Schnell schloss er die Augen, um nicht zu erblinden. Er hatte mal irgendwo gelesen das so etwas einem Landarbeiter in Australien passiert war. Auf dem Weg zu seiner Mutter kam er wie immer an seiner Stammapotheke vorbei. Der Besitzer und auch einzige Angestellte, ein Apotheker namens Herr Günther, kannte Karl sehr gut und er hatte ihm schon mehrfach das Leben gerettet durch seine wunderbaren Mittel und Tinkturen, die er selbst im Hinterraum zusammenmischte. Als er die Tür aufdrücken und hineingehen wollte, bekam er einen Schock - die Tür war verschlossen. In der Scheibe hing ein handgeschriebener Zettel, der darüber aufklärte dass Herr Günther wohl krank sei, und welche Apotheke den Notdienst übernahm. “Verdammt, manchmal erwischt es auch die Besten”, dachte Karl und entschied sich, die Apotheke zu besuchen, die der Wohnung seiner Mutter am nächsten war. Dort gab es auch einen Briefkasten. Karl besuchte seine Mutter gerne. Sie lebte immer noch in dem Häuschen mit Garten in dem er groß geworden war. Er schloss mit seinem Schlüssel auf. Seine Mutter begrüßte ihn bereits im Flur, gab ihm einen Kuss auf die Wange und umarmte ihn. Die ganze Wohnung war angefüllt mit kleinen Erinnerungen an ein ganzes Leben, ganz anders als seine eigene, eher zweckmäßig eingerichtete Dachgeschosswohnung. Sie tranken einen Kaffee, redeten über Gott und die Welt und lachten. Sie schenkte ihm eine Paar warme Handschuhe. “Was ist denn mit Franziska? Ihr kennt euch doch so lange?”, fragte Karls Mutter. “Ach Mama, Franz und ich, wir sind nur befreundet. Das ist alles…”. “Na ja, wer weiß was die Zukunft so bringt”, antwortete sie und lächelte, so wie nur eine Mutter lächeln konnte. Er verabschiede sich gegen Mittag und versicherte seiner Mutter mehrfach, dass er auch genug isst, und das er genug schläft. Zum Abschied winkte sie ihm zu, so lange bis er um die Ecke gebogen war und er machte sich auf zur Apotheke.
Eine halbe Stunde später wurde Franziska vom Klingeln des Handys geweckt. Eine Tatsache, die ihren Brummschädel von letzter Nacht auch nicht gerade besser machte.
“Hallo..??”, flüsterte Franziska und ihre Stimme klang wie ein Reibeisen. Am Telefon war Karl, und seine Worte überschlugen sich vor Aufregung. “Hallo Franz, Ja also ich war bei der Apotheke, … also nicht bei meiner Apotheke, die hatte zu,… Herr Günther ist krank…. Also war ich bei dieser neumodischen Apotheke,… die neue, gleich um die Ecke wo meine Mutter wohnt,… und also da habe ich sie gesehen, oh sie ist so toll. Und sie arbeitet in einer Apotheke, ist das nicht großartig? Aber was soll ich nur tun, vielleicht findet sie mich ja doof, oder hässlich,…. Hilfe Franz!”
“Moment. Moment. Ich verstehe nur Bahnhof. Also du warst bei der Apotheke, und hast wen getroffen?”, Franz versuchte sich einen Reim aus den Worten zu machen. “Na die Apothekerin… Sie ist großartig!”, antwortete Karl selbstverständlich. “Super!… hast du ein Date?.. Ihre Nummer? ..wie heißt sie? Single? Vergeben? Kinder?” Franz freute sich von der Eroberung ihres besten Freundes zu hören. “Na ja”, antwortete Karl, “ Ich bin in die Apotheke gegangen und wollte Aspirin kaufen, da sah ich sie an der Theke, …und bin nach Hause gerannt. Aber… Sie hat mich kurz angeschaut!” Franz verdrehte die Augen. “Mensch Karl, immer dasselbe! Du gehst jetzt da sofort noch mal hin, und sprichst sie an! Ich will mir diesmal nicht wieder tagelang dein Gejammer anhören. Du gehst zur Apotheke und kommst nicht wieder, ehe du nicht ihren Namen und ihre Nummer bekommen hast! Und später treffen wir uns dann bei mir, schieben ne Pizza in den Ofen und du kriegst dein Geburtstagsgeschenk! Und keine Widerrede jetzt!” Sie legte auf ohne auf seine Antwort zu warten und schmiss ihr Handy auf die Bettdecke. Im Grunde war das Bett auch der einzige Ort, an dem man einen kleinen Gegenstand wie ein Mobiltelefon wiederfinden konnte in dem heillosen Chaos, das Franz als Apartment bezeichnete. Sie rieb sich ihre Stirn, nahm eine Kopfschmerztablette aus dem Nachttischchen und trank einen Schluck Wasser. Danach kroch sie wieder unter die Bettdecke . Sie war ein Nachtmensch und diese Uhrzeit war für sie viel zu früh am Tag. Grummelnd zog sie sich die Decke bis über ihren Kopf. Sie schlief sofort wieder ein.
Karl wusste nicht was er tun sollte. Er lief in seiner Wohnung auf und ab. Natürlich hatte Franz recht, aber warum sollte er denn nun ausgerechnet sofort losgehen. Man kann das ganze doch erst einmal planen und so in vier Wochen gut vorbereitet den ersten Schritt machen. Schlussendlich entschied er sich, all seinen Mut zusammenzunehmen und zur Apotheke zu gehen. Nachdem er dreimal bis zur Straßenecke gegangen und wieder in sein Schlafzimmer geflüchtet war, ging er los.
Als er bei der Apotheke ankam, sagt man ihm, das Frau Schubert, so war ihr Name, jeden Montag früher nach Hause ging um im Obdachlosenheim der Stadt zu helfen, unentgeltlich natürlich, und obwohl das Asyl nicht im besten Viertel der Stadt lag, machte er sich mutig auf den Weg.
Das Heim war ein ehemaliges Ladenlokal. In einem Vorraum gab es eine Anmeldung und Schließfächer, eine Seitentür führte zu einer improvisierten Küche, und der größte Raum war zugestellt mit Feldbetten, Tüten voller alter Kleidung und Habseligkeiten der Gäste. Einige der Betten waren belegt mit schlafenden Besuchern, einige standen leer. Überall im Gebäude war Unrat auf dem Boden, die Wände waren beschmiert, und der Boden war so abgewetzt, dass man gar nicht mehr erkennen konnte, welcher Belag verwendet worden war. Der Geruch war beißend.
Karl musste sich zusammenreißen, um nicht schreiend wegzulaufen, aber er riss sich zusammen. Er schaute sich um und versuchte Frau Schubert zu finden, aber von ihr fehlte jede Spur. Was er allerdings fand war ein kleines Mädchen. Es hatte schmutzige Kleidung an, ihre Nase lief und am Knie hatte sie eine böse aussehende Schramme, die blutete. In ihrem Arm hielt sie einen abgewetzten Teddybären. Er kniete sich hin, um mit dem Mädchen zu reden. “Hallo, na wie geht’s dir? Hat dich ja ganz schön erwischt, oder?” er deutete mit dem Kinn in Richtung ihres angeschrammten Knies. “Ja, ich bin gefallen. Meine Mama sucht jemanden, der ein Pflaster hat.” Sie war tapfer, kämpfte aber mit den Tränen. Karl fasste einen Entschluss. “Na da kann ich dir helfen”, sagte er und griff nach seiner Medizintasche. Nachdem er sich Einweghandschuhe und einen Mundschutz angezogen hatte, benutzte er ein alkoholfreies Mittel, um die Wunde zu säubern und klebte ein leuchtend rotes, waschfestes Pflaster auf die Wunde. Danach klebte er auch dem Teddy an gleicher Stelle ein Pflaster auf. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Zu guter Letzt gab er dem Mädchen ein Papiertaschentuch, das er gut gefüllt wiederbekam. Die benutzten Utensilien verstaute er professionell in einem speziell für biologischen Abfall vorgesehenen Beutel, den er wie ein Basketballspieler im hohen Bogen in den nächsten Mülleimer beförderte. Das kleine Mädchen lächelte Ihn an. Er lächelte zurück. “Na da hat meine Julia ja einen neuen Freund gefunden!”, sagte eine Stimme hinter ihm. Karl sprang auf. Er drehte sich um, und vor ihm standen zwei Frauen. Plötzlich war ihm die ganze Sache furchtbar peinlich und er wurde rot. Er bekam kein einziges Wort heraus. “Vielen Dank. Mein Name ist Sarah. Meine Tochter kennen sie ja bereits.” sagte die junge Frau, deren Kleidung ebenfalls nicht mehr ganz neu war. Sie hielt ihm danken die Hand hin. Als er ihren Händedruck erwiderte merkte er erst, das er ja noch die Einweghandschuhe anhatte und den Mundschutz. Karl zog den Mundschutz aus und streifte sich die Handschuhe ab, genauso wie es “Doktor Sanders” in seiner Lieblingsserie immer Tat. Er versuchte dabei sehr professionell auszusehen, so als ob er gerade zwei Herzen simultan verpflanzt hatte. “Die Patientin war sehr tapfer, da war die Operation kein Problem und verlief komplett ohne Komplikationen.”
“Mein Name ist Karl Roman Biedermann. Guten Tag.” Karl strahlte vor Selbstvertrauen. Plötzlich bemerkte er, wer die zweite Frau war. Es war die Apothekerin, Frau Schubert, und sie sah umwerfend aus. Er hatte sie zuerst nicht erkannt weil sie einen riesigen Karton trug, der ihr Gesicht verdeckte. Ihre blonden Locken hatte sie zusammengebunden und über ihrer makellosen und modernen Kleidung trug sie noch immer ihren Apothekenkittel. Schnaufend stellte sie den Karton auf den Boden. Ihre Bewegungen waren fließend. Sie lächelte. “Gute Arbeit Herr Doktor. Mein Name ist Nadine Schubert. Ich bin eine der freiwilligen Helferinnen aus der Bärenhaupt-Apotheke. Schön Sie kennenzulernen!” Karl war sichtlich überrascht das sie nicht einfach davonlief wie erwartet, er hatte sogar das Gefühl sie würde ihn mögen. Er gab ihr die Hand und nickte freundlich. “Nun ja,” sagte er stolz, “Auf diesem Gebiet bin ich Experte, meine Schwester hat mehrere Kinder. Da kann man ganz gut üben, denke ich!” Sie ging zum Angriff über. “Und ihre Ehefrau, die möchte keine Kinder nehme ich an?” Sie schaute ihn gespannt an. “Ich? Ach was… ich bin nicht verheiratet.” Nadines Anspannung wich einem verspielten Lächeln. “Und was führt einen Spezialisten wie sie hier in diese Gegend?” Karl versuchte nun ganz Profi zu sein und dachte nach was “Doktor Sanders” nun sagen würde: “Nun ja, wenn eine junge Dame in Not ist, dann muss ich einfach zur Hilfe eilen.” Er streckte die Brust heraus um imposanter zu wirken. “Und wie sieht es aus mit Apothekerinnen, kriegen die eventuell eine Spezialbehandlung? Ich würde gerne einen Kaffee mit ihnen trinken, sagen wir morgen? Sie können mich nach der Arbeit an der Apotheke abholen, Herr Doktor!” Karl war überrascht, zeigte es aber nicht. Es war schon fast Hexerei, so einfach ging das. “Aber gerne, Frau Schubert.” “Nennen sie mich doch Nadine”……
Es war bereits Abend als Karl in Franziskas Apartment ankam. Er lief die ganze Zeit durch die Gegend und konnte sein Glück nicht fassen. Franziska öffnete ihm die Tür. Sie hatte gemütliche Kleidung an und ein Handtuch auf dem Kopf. Wie immer war sie zu spät dran und noch nicht fertig Er musste ihr haarklein erzählen, was passiert war, alles über Julia, Julias Mama, und natürlich besonders über Frau Schubert, oder besser Nadine, wie er sie bereits nennen durfte. Sie aßen die versprochene Pizza und Karl bekam sein Geburtstagsgeschenk. Es war eine DvD Sammlung der fünften Staffel von “Hilfe Doktor Sanders”, die sie natürlich direkt anschauen mussten. Franziska war auch ein großer Fan der Serie, was wohl aber eher am knackigen Hauptdarsteller lag, als an den bewegenden Schicksalen die der Doktor fast im Minutentakt rettete. Also machten sie es sich auf der Couch gemütlich mit Popcorn, Chips und Bier. Wie immer lag er in ihrem Arm und sie redeten ununterbrochen während die Sendung lief. Irgendwann schlief er ein. Franziska schaute ihm beim schlafen zu und war froh, so einen speziellen Menschen gefunden zu haben. Er sah so friedlich und zufrieden aus. Sie kannten sich sehr lange, wussten so viel voneinander. Und trotzdem war nie einer von beiden auf die Idee gekommen, dass sie ein sehr gutes Paar abgeben würden. Sie waren Freunde, und das war sehr wertvoll. und wenn er mit dieser Apothekerin glücklich werden würde , dann gönnte sie ihm das von ganzem Herzen .Zart streichelte sie ihm seine Haare und beobachtete ihn wie er sanft schlief, solange, bis sie selbst einschlief.
Den nächsten Tag verbrachte Karl fast ausschließlich mit Franziska. Sie frühstückten, kauften ein neues Hemd für ihn ein und gingen mögliche Gesprächsthemen durch und auch die Dinge, die man auf gar keinen Fall sagen oder tun durfte. Was auch immer geschehen würde, Karl war darauf vorbereitet und konnte reagieren.
Pünktlich zum Feierabend stand er vor der Apotheke. Er war bereit. Er sah gut aus. Er hatte Angst. Bevor er flüchten konnte kam Nadine auch schon aus dem Laden, sie trug ein kurzes Kleid unter ihrem offenen Wintermantel, die Haare waren gemacht und sie war dezent aber wirkungsvoll geschminkt. Karl begrüßte sie freundlich, und auch Nadine schien sich sehr zu freuen. Als sie in Richtung Innenstadt gingen, hielt sie sich plötzlich an seinem Arm fest, eine Tatsache die Karl sehr gefiel. Viel zu kurz erschien auf einmal der Weg zu dem kleinen Kaffeehaus in der Altstadt. Sie zogen ihre Mäntel aus und setzten sich an einen Tisch am Fenster. Der Kellner nahm ihre Bestellungen auf und kam schon bald mit zwei Tassen dampfenden italienischen Kaffees wieder. Nadine erzählte Karl, dass sie nur eine Praktikantin in der Apotheke sei, und später einmal in die Politik wolle. Sie hatte große Ziele. Sie machte alle Zusatzaufgaben, weil die sich im Lebenslauf gut machten und damit ihr hinterher der Einstieg in eine gehobene Position etwas leichter fiel. Immer wieder machte sie Anspielungen, dass Karl die Situation mit dem kleinen Mädchen sehr gut gemeistert habe, und dass ihr natürlich eine Empfehlung von einem Mediziner manche Türe öffnen könne. Diesem Mediziner könnte sie ja als private Assistentin von Zeit zu Zeit auch zur “Hand” gehen. Sie würde sich auf jeden Fall erkenntlich zeigen.
Karl verstand nur Bahnhof, und die Sache begann ihm unangenehm zu werden, er schwitzte, und je länger er Nadine zuhörte, desto mehr verlor sie an Glanz. Die Worte, die aus ihrem Mund kamen, nahm er nur noch am Rande war. Er dachte an Franz und an die kleine Julia. Irgendwann unterbrach er Nadine. “Und was hat das jetzt alles mit mir zu tun? Wer ist denn dieser Arzt von dem du immer so verliebt sprichst ?” Nadine guckte verstört. “Du natürlich! Wer denn sonst? Schau mal, das ist doch ganz einfach, du hilfst mir, und ich helfe dir. Ich bin diskret. Ich kann schweigen. Und falls es doch eine Ehefrau gibt, dann muss sie von “uns” ja nichts wissen.” Karl war nun völlig verwirrt. “Aber ich bin doch gar kein Arzt…. ich bin doch nur ein Angestellter… und dem kleinen Mädchen hab ich doch nicht aus Profit geholfen, sondern aus Mitgefühl….!” Da zeigte Nadine Ihr wahres Gesicht. “Du bist KEIN Arzt? Und wozu gebe ich mir hier dann so eine Mühe? Tag für Tag reiße ich mir in der Apotheke den Arsch auf und hör mir das Geseier der alten Säcke an. Und dann noch diese Drecksarbeit bei den stinkenden Pennern. Also ich dachte du kannst mir echt weiterhelfen. Aber wenn du nur so ein armes Würstchen bist, der eh keine Frau abkriegt, und hier nur einen auf Arzt macht, um doch mal einen Stich zu landen, dann bist du hier an der falschen Adresse, Freundchen! Und irgendwelche heulenden Kinder sind mir so was von scheißegal…!” Wutentbrannt stand sie auf und verließ das Lokal. Karl blieb verdutzt alleine am Tisch sitzen und versuchte erstmal zu verstehen, was gerade passiert war. Er trank in Ruhe seinen Kaffee aus und dachte nach.
Als er bei Franziska klingelte, war es bereits dunkel. Er sah elend aus, und Franz erschrak sich sehr, als er vor ihrer Tür stand. Sie war gerade dabei zu kochen, was ihr sichtlich misslang, sie war von oben bis unten bekleckert, und in der Küche dampfte es verdächtig. Sie lächelten einander an und nahmen sich in den Arm. Er erzählte ihr von Frau Schubert, und der Niederlage die er erleben musste. Er übernahm die Küche und rettete das Essen, und sie deckte den Tisch. Sie öffneten eine Flasche Wein, tranken, und lachten über dumme Menschen. Beiden ging es gut. Da er viel zu viel getrunken hatte, blieb er über Nacht. Sie lagen gemeinsam im Bett, und redeten. Irgendwann kuschelte Franz sich an und schlief in Karls Armen ein. Er blieb noch eine Weile wach, und dachte an das kleine Mädchen, Julia, das es so schlecht hatte. Wie klein waren da doch seine Apothekerinnenprobleme. Irgendwann schlief er ein.
Als Franziska wach wurde, War Karl bereits nicht mehr da. Im Halbschlaf stand sie auf und wollte nachschauen wo er steckte, aber er war einfach nicht mehr da. Gerade als sie sich Sorgen machen wollte bekam sie eine Sms:
-Bin beim Asyl! Bring bitte einen großen Topf mit… Karl!-
Völlig verdutzt schaute sie auf ihr Handy. Tausende Gedanken schossen ihr durch den Kopf, aber eines wusste sie genau,.. Sie musste sofort los.
Als sie beim Obdachlosenasyl ankam, konnte Sie ihren Augen nicht trauen. Überall waren Leute, die aufräumten, die Wände strichen oder Müll wegbrachten. Vor dem Eingang lagerten Farbeimer, Leitern und alles, was man zum Renovieren brauchte. In der Asylsküche hantierten mehrere Frauen am Ofen und kochten. Karls Mutter war auch dabei und nahm der sprachlosen Franziska den Topf den sie mitgebracht hatte aus der Hand und lächelte. Franz schaute sie fragend an. “Ja weißt du,” sagte Karls Mutter, “manchmal wird man morgens wach und weiß, es wird ein guter Tag. Man hat eine gute Idee, ruft ein paar Freunde an, die diese Idee auch für eine gute Idee halten, und der Rest geht von ganz alleine…. Wenn du Karl suchst, er ist im Schlafraum. Und jetzt geh und hol ihn dir, Mädchen!” Franziska ging wie benommen weiter und drückte langsam die Tür auf. Dort standen verletzte und kranke Bewohner in einer Schlange, und Karl und Herr Günther, der Apotheker, kümmerten sich um sie. Assistiert wurden sie von der kleinen Julia, die eine Arztlampe auf dem Kopf und ein Stethoskop um den Hals trug. Als Karl sie sah, lächelte er sie an und kam zu ihr. Franziska wusste nicht was sie sagen sollte, sie war zu Tränen gerührt. “Aber… ich verstehe nicht… Wie? Warum?” Karl schaute ihr in die Augen. “Ich dachte einfach, man muss kein Arzt sein, um jemandem ein Stück Zuhause zu geben. Du hast das bei mir ja auch geschafft, und das ganz ohne Medizin.” Sie umarmten sich so, als ob sie sich nie wieder loslassen wollten. Und dann küssten sie sich….
Tag der Veröffentlichung: 05.10.2011
Alle Rechte vorbehalten