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Die Ernte

Meine Mutter stand in der Küche und zerstückelte einen Apfel. Sie wollte ihn uns gewiss nur in mundgerechte Stücken schneiden und zum Essen hinstellen, aber ihre Hände zitterten so sehr, dass sie andauernd daneben schnitt. Ich hatte schon bedenken, dass sie sich bald noch einen Finger abschneiden würde. Aber trotz dessen, dass sie irgendwie ungeschickt wirkte, war sie doch recht geschickt dabei.

Der Tag heute bereitete uns allen Bauchschmerzen. Mein Vater hatte schon seit heute Morgen diesen angestrengten Gesichtsausdruck aufgesetzt, meine Mutter sprach die ganze Zeit kein Wort, meine kleine Schwester Laurette war heute Morgen schon um fünf Uhr wach, Talon hatte gar nicht erst geschlafen und Gael las stumm in einem Buch, aber hatte seit gut einer Stunde immer noch die selbe Seite aufgeschlagen.

Die Äpfel sprachen schon für diesen Feiertag an sich. Normalerweise waren die Friedenswächter strenger mit uns. Äpfel waren für die Tiere vorgesehen. Aber zur Feier des Tages, vielleicht auch weil sie doch ein wenig Mitleid mit uns hatten, dürften wir uns ungestraft ein paar Äpfel wegnehmen. Das war das einzig Gute an den Hungerspielen. Die Äpfel, die wir essen durften. Aber so lief das in Distrikt 10. Die leckeren Sachen waren für die Tiere vorgesehen, nicht für uns. Viehzucht, das war schließlich unser Gebiet. Das hieß nicht, dass hier nicht doch ab und zu mal jemand etwas essbares mitgehen ließ. Mein Vater hatte mir erzählt, dass er das früher häufiger mal getan hatte. Aber jetzt, wo er Familie hatte, wollte er nicht, dass uns irgendwas passiert, nur weil er eine Dummheit machte. Stattdessen gab es hier viel zu viel Hunger. Meine Eltern arbeiteten, wie alle anderen auch, beim Vieh. Vollzeit. Mein Bruder Gael mittlerweile auch. Er hatte seine Schule hinter sich gebracht und das war nun sein Ausblick auf das weitere Leben. Tiere füttern, sie grasen lassen, Ställe säubern. Damit die im Kapitol was zu essen hatten. Arbeiten ohne Preis. Aber niemand beschwerte sich. Alle hatten sie zu viel Angst vor den Konsequenzen.

„Theta, deckst du bitte den Tisch?“ Meine Mutter sah mich nicht an. Ihr Blick war Stur auf den Apfel gerichtet, den sie mittlerweile fertig geschnitten hatte. Auch wenn ich es unsinnig fand für einen Teller voller Äpfel extra noch für jede Person einen weiteren hinzustellen – als würden wir gleich ein ordentliches Mahl bekommen, widersprach ich ihr nicht. Heute war nicht der Tag, um unnötig Streit zu suchen. Ich stand auf, öffnete einen kleinen Schrank und holte sechs Teller heraus. Ich stellte sie an den viel zu kleinen Tisch, an den wir uns täglich quetschten, wenn wir die Überreste aßen oder mein Dad mal etwas leckeres mitbrachte, weil wir endlich wieder genug Geld zusammen hatten, um uns etwas ordentliches zu kaufen. Jetzt wo Gael noch mit anpackte, ging es zum Glück noch etwas schneller voran. Nächstes Jahr würde Talon ebenfalls arbeiten gehen und in zwei bis drei Jahren war ich soweit. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, wenn ich einmal erwachsen war. Meine Eltern hatten mich durchgefüttert, irgendwann würden wir ausziehen, alle ihre Kinder und sie wieder mit sich allein lassen. Auch wenn sie dann weniger Münder zum Durchfüttern hatten. Und ich wusste nicht, ob ich jemals Kinder haben wollte. Nicht, weil ich keine Kinder mochte. Aber ich merkte es bei uns zu Hause, wo wir schon mit dem Hunger zu kämpfen hatten. Das letzte was ich wollte war mein eigenes Kind verhungern zu lassen, weil wir nicht genug Geld hatten. Doch letzten Endes würde es vermutlich darauf hinauslaufen. Die meisten bekamen vermutlich Kinder, um sich wenigstens ein bisschen von dem grausamen und armseligen Leben, das wir hier in 10 führten, abzulenken.

Mein Magen knurrte, als meine Mom die Äpfel auf den Tisch stellte. Am liebsten hätte ich mir sofort ein Stück genommen und gegessen, bis ich satt wäre. Aber der Teller würde nicht einmal reichen um mich allein zu sättigen, also mussten wir uns alles gerecht aufteilen.

Träge bewegten sich alle an den Tisch. Stumm und ohne aufgefordert zu werden. Laurette kletterte auf den Stuhl neben mir und setzte sich auf ihre Knie, damit sie etwas höher saß. Dann nahmen wir uns alle bei den Händen. Jeder betete stumm. Meine Mom hatte den Brauch eingeführt. Sie dankte dafür, dass wir am Leben waren, dass wir etwas zu essen hatte und sie betete, dass keines ihrer Kinder in die Hungerspiele musste. Wir anderen hatten uns ihrer nur angeschlossen, aber so richtig gläubig war keiner von uns anderen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob meine Mom gläubig war, oder sie nur Hoffnung schöpfen wollte, dass so vielleicht alles gut ging.

„Nur noch dieses Jahr.“, murmelte mein Bruder, als er und ich beim Abwaschen an der Spüle standen. Meine Mutter war mit meiner Schwester nach draußen gegangen, ein wenig laufen, bevor das ‚große Ereignis‘ los ging und sie sonst sicherlich nicht still stehen konnte. Mein Dad war mit Gael dabei den Baum in unserem Vorgarten abzuholzen, damit wir später genug Holzvorrat für den Winter hatten.

Ich schnaubte leise. „Super Aufmunterung.“, murmelte ich. Er war 18, heute war es das letzte Mal, dass sein Name gezogen werden konnte. Ich war 16, musste also noch dieses und die nächsten zwei Jahre bei denen stehen, die vielleicht gezogen werden konnten und Laurette war erst 14, sie hatte noch am längsten Zeit dort. So richtig aufatmen würden wir vermutlich erst, wenn wir alle das ganze Spektakel endgültig überlebt hatten.

Talon fuhr sich durch sein dunkles, schwarzes Haar und sah mich entschuldigend an.

„Ich weiß, dass ich trotzdem jede Ernte Angst haben werde. Um dich und um Laure. Aber ich hasse es jedes Jahr aufs Neue Angst davor zu haben, dass diese Kapitolstussi meinen Namen zieht und mich damit zum Sterben verurteilt.“, sagte er und verzog das Gesicht beim Sprechen. Ich nickte stumm. Ich wusste, dass er es nicht böse meinte. Ein Teil der Erleichterung würde vermutlich auch von mir abfallen, sobald ich das überwunden hatte. Und natürlich hatte er noch Angst um Laurette und mich. Ich wollte nicht wissen, was meine Eltern durchmachten. Es musste sie fertig machen. Vor allem, als vor zwei Jahren alle von uns, ihre vier Kinder, Namen auf den Losen stehen hatten und eine vierfache Chance bestand, dass einer gezogen wurde.

„Überstehen wir heute erst einmal die Ernte und um alles andere kümmern wir uns nächstes Jahr.“, murmelte ich diesbezüglich. Die Gespräche heute konnten einen nur deprimieren.

In diesem Moment klopfte es an der Tür. Mein Bruder und ich sahen uns einen Moment an, dann ging er sie öffnen und ich wusch den letzten Teller noch zu Ende ab.

„Ist Thea da?“, hörte ich eine mir recht bekannte Stimme vom Flur her „Ich hab Muffins mitgebracht.“ Ein kleines Grinsen schlich sich auf mein Gesicht, die Umstände mal für einen Moment verdrängend. Eve machte das häufiger. Ihre Eltern führten eine Bäckerei. Auch wenn sie selbst eigentlich nichts von den Produkten dort essen sollten, stibitzte sie am Tag der Ernte immer irgendwas Köstliches und brachte es vorbei. Letztes Jahr Semmeln, davor ein halbes Weißbrot, davor Plätzchen und heute eben Muffins.

Schnell trocknete ich den Teller noch ab und stellte ihn dann in den Schrank zu den anderen, bevor ich ebenfalls in den Flur ging und Eve zur Begrüßung in eine Umarmung zog.

„Da freut sich aber jemand mich zu sehen.“, sagte sie frech. Eve schien immer so unbeschwert. Das mochte ich so sehr an ihr. Während alle anderen am Tag der Ernte verzweifelten und nur mit müden, traurigen und leblosen Blicken umherzogen, hatte sie ein strahlendes Lächeln auf den Lippen und tat so, als wäre alles normal. Ob es nur gespielt war und sie eigentlich innerlich vor Angst beinahe starb, sie wie ich mich immer fühlte, wenn die Ernte bevor stand, oder ob sie sich wirklich nicht sonderlich viel daraus machte, konnte ich nicht sagen. Aber es war sehr angenehm. Sie zauberte mir mit ihrer puren Anwesenheit ein Lächeln ins Gesicht, in den unmöglichsten Situationen. Und nicht nur mir. Ihr Lächeln war so ansteckend, dass viele davon eingenommen waren. Zum Beispiel auch Talon, der sie grade wie ein Honigkuchenpferd angrinste. Das tat er öfter. Sogar an Tagen, an denen Eve keine Muffins mitbrachte.

„Schön, dass du da bist! Willst du noch bleiben? Mom und Laure sind noch irgendwo spazieren, aber ich kann Dad und Gael noch zum Essen dazu holen.“, sagte ich, während sie mir die Muffins reichte. Sechs Stück. Für jeden genau einen. Ein wirkliches Festmahl. Solche Dinge konnten wir uns nicht mal leisten, wenn wir vergleichsweise viel Geld hatten. Aber Eve winkte ab.

„Ich muss noch zu Mrs. Madge. Seit ihr Mann vor ein paar Monaten gestorben ist, bekommt sie kaum noch was allein hin. Und sonst isst sie mir nachher nichts, weil sie es vergisst.“, sagte sie unbeschwert lächelnd. Eines musste man ihr lassen. Sie galt zwar bei einigen als verwöhntes Püppchen, weil ihre Eltern etwas mehr Geld hatten und Eve ein paar schönere Kleider besaß, als die anderen. Aber sie setzte sich dafür umso mehr für die Leute ein, die wirklich Hilfe brauchten.

„Ich komme mit!“, sagte Talon rasch, als Eve sich zum Gehen abwandte. Sie drehte sich noch einmal überrascht um, lächelte dann aber nur und lief mit Talon im Schlepptau nach draußen. Ich zog die Augenbrauen nach oben.

„Und die Muffins?“, rief ich ihm hinterher, aber er ignorierte mich. Kopfschüttelnd schloss ich die Tür. Ich würde sie einfach dort lassen und nach der Ernte, wenn wir feierten, dass wir ein weiteres Jahr überleben würden, konnten wir sie dann viel mehr genießen als jetzt.

Ich umarmte meinen Vater, der mich fest an sich drückte. Diese Umarmungen trieben mir immer die Tränen in die Augen. Als hätte es etwas Endgültiges. Als mein Dad sich wieder von mir löste, konnte ich auch seine Augen glänzen sehen.

„Wir sehen uns nachher.“, murmelte ich und biss mir auf die Unterlippe, den Kloß im Hals ignorierend. Es war kein Abschied für immer. Das war es bisher noch nie gewesen.

Dann liefen wir schweigend, jeder in eine andere Richtung. Gael, Mom und Dad zu denen, die sich das Spektakel nur ansehen mussten, Talon zu den Jungen, Laurette und ich zu den Mädchen, wobei sie sich weiter hinten aufstellte, als ich, weil sie jünger war.

Eve gesellte drängelte sich an zwei Mädchen vorbei und gesellte sich zu mir. Ein Lächeln umspielte wie immer ihre Lippen, doch jetzt erkannte ich doch ein wenig Nervosität dahinter.

„Du siehst hübsch aus.“, sagte sie an mich gewandt. Ja, ich sah hübsch aus. Zumindest hübscher, als sonst. Für die Ernte machten wir uns alle etwas zurecht. Ich trug ein helles Kleid, meine Haare hatte ich zu einem einfachen Zopf zusammengebunden, ohne viel drum herum. Das Kleid, das ich trug, hatte schon meine Mutter damals getragen. Und später, wenn Laurette alt genug dafür war, würde sie es vermutlich auch anziehen, wenn wir zur Ernte gingen. Es war eines der wenigen Besitztümer meiner Mutter, die noch schön waren. Genauso wie die kleine Kette, mit dem silbernen Anhänger, der die Form einer Callasblume hatte. Ich hatte noch nie das Glück eine in echt zu sehen, aber die Kette war wohl schon ein Vermögen wert. Mein Vater drängte meine Mutter manchmal dazu sie zu verkaufen. Dann, wenn der Hunger wieder an unseren Knochen nagte. Aber sie war der Meinung, diese Kette brachte Glück. Sie hatte ihr Glück gebracht und ihren Eltern und sie würde sie nur in allergrößter Not verkaufen. Sie bedeutete ihr scheinbar viel. Meinen Vater brachte das manchmal beinahe zur Weißglut, aber bisher hatte er ihre Erklärung immer schweigend hingenommen.

„Danke, du auch.“, gab ich das Kompliment wieder an sie zurück. Aber, dass Eve hübsch aussah, brauchte ich ihr eigentlich nicht zu sagen, denn das wusste sie selbst. Sie war eines der hübschesten Mädchen, die ich kannte.

„Danke.“, erwiderte auch sie und sah dann nach vorn auf die Bühne, auf der gleich zwei Tribute aus unserem Distrikt stehen würden. Zwei Menschen, von denen mindestens einer sterben würde.

Dann beginnt das übliche Geplänkel, das alle Wartenden nur noch mehr verrückt macht. Der Grund, weshalb die Hungerspiele stattfinden, die Sieger unseres Distriktes und dann schaut die ‚Kapitolstussi‘, wie Talon sie immer liebevoll umschreibt, begeistert in die Runde, als würde sie erwarten, dass wir vor Spannung alle gleich umkippen würden. Nun, das taten wir auch. Aber nicht, weil wir uns auf das Ergebnis freuten.

Tatiana Silver, wie die überhebliche Frau aus dem Kapitol hieß, die jedes Jahr die Namen verließ, trat nach vorn und falls vorher nicht schon Ruhe geherrscht hatte, dann spätestens jetzt. Hätte jemand eine Nadel fallen lassen, dann hätte man sie laut und deutlich gehört, so still war es. Als würden alle die Luft anhalten. Nicht mal der Wind wehte.

„Nun denn, fangen wir mit den Mädchen an.“, sagte sie fröhlich und schritt zu der riesigen Kugel, in der tausende von Zetteln lagen, alle mit Namen versehen. Eve nahm meine Hand und drückte fest. Die Anspannung war ihr deutlich anzumerken.

Tatiana griff mit der Hand in die Kugel und wühlte einige Sekunden darin herum, ehe sie einen Zettel daraus zog.

Ich vergaß zu Atmen und starrte die Frau an, meine Gedanken komplett wirr, die in meinem Kopf kreisten. Sie strich den Zettel glatt und verliest den Namen mit klarer und lauter Stimme.

„Theta Combe.“

Nein. Nein das kann nicht sein, dachte ich. Ich musste mich verhört haben! Doch ich sah, wie sich Köpfe zu mir drehten. Leute, die mich kannten, sahen mich mit vor Grauen bepackten Blicken an. Eve’s Hand zitterte. Oder es war meine, ich konnte es nicht richtig ausmachen. Hilflos sah ich sie an. Tränen rannen ihr über die Wange und sie schüttelte den Kopf, als könnte sie selbst nicht recht glauben, was hier geschah. Was? Ich in den Hungerspielen? Da könnte ich mir auch gleich die Kugel geben. Ich war froh, wenn ich die ersten zwanzig Minuten durchalten könnte. Ich kannte doch nichts. Ich hatte keinerlei Fähigkeiten. Ich wusste nicht wie man kämpfte, ich konnte unmöglich Menschen umbringen und ich würde keine zwei Tage in der Arena überleben.

Mit vor Schock immer noch geweiteten Augen und den Tränen, die darin brannten, löste ich meine Hand von Eve’s. Einen Moment schien es, als würde sie danach greifen wollen, sich an mir fest klammern wollen, doch ihr Arm fiel schlaff an ihrer Seite herunter und sie sah mich nur an, als hoffte sie, alles wäre nur ein böser Traum. Ich hoffte es auch. Fast schon betete ich, dass ich aufwachen würde. Die Mädchen, an denen ich vorbei lief, machten mir rasch Platz.

Wie in Trance lief ich auf die Bühne zu und wurde von Tatiana schon fröhlich empfangen. „Wunderbar!“, rief sie begeistert aus und fügte dann noch feierlich hinzu: „Und jetzt zu den Jungen!“

Mein Kopf dröhnte vor Anstrengung das alles hier zu realisieren. Mein Blick flog über die Menge, die alle zu mir heraufsahen. Teils mitleidig, teils erleichtert, nichts selbst gezogen worden zu sein. Eve weinte immer noch. Ich konnte in der Menge meine Eltern ausmachen. Mein Dad hatte einen Arm um sie gelegt, sah mich nicht minder geschockt an, als ich ihn. Meine Mutter weinte und klammerte sich haltlos an ihn. Und gleich musste ich mich von ihnen verabschieden und das gewiss für immer.

Doch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, zog Tatiana den Zettel der Jungen.

„Unser männliches Tribut für Distrikt 10 ist…“, sie machte eine kurze Kunstpause.

„Talon Combe.“

Der Luxus vom Kapitol

 Jetzt konnte ich die Tränen nicht mehr zurück halten. Nicht, dass es schon schlimm genug war, dass ich gezogen wurde. Jetzt wurde auch noch mein Bruder gezogen. Ich musste also nicht nur um mein Leben kämpfen, sondern müsste mich im schlimmsten Fall noch entscheiden, ob lieber ich sterben oder meinen Bruder sterben sehen wollte.

Die Tränen verschleierten mir die Sicht. Ich hatte vermutlich ohnehin keine großen Chancen zu überleben. Ich konnte nicht einmal mit einer Waffe umgehen und noch weniger wollte ich jemanden umbringen. Und am Wenigsten wollte ich ohne meinen Bruder weiter leben.

„Geschwister! Ist das nicht aufregend?“, fragte Tatiana in die Runde, als würde ihr irgendjemand eine Antwort geben oder zustimmend nicken. Aber keiner rührte sich. Ich blickte aus verschleierter Sicht zu Talon, der nur auf den Boden vor sich starrte. Alle Farbe war aus seinem Gesicht verschwunden. Er weinte nicht. Er tat gar nichts. Starrte nur emotionslos vor sich hin.

Als wieder neue Tränen in meine Augen traten, wandte ich mich ab und ermahnte mich selbst nicht mehr zu weinen. Ich war nicht stark, das brauchte ich niemandem vormachen, aber ich wollte wenigstens noch ein bisschen Fassung behalten, sonst würde ich hier gleich zusammen brechen.

Unser Bürgermeister sagte irgendwas. Aber ich hörte nicht hin. Irgendwann kamen Friedenswächter und führten uns von der Bühne in ein Gebäude. Erst dachte ich, dass ich vielleicht mit Talon zusammen gebracht wurde. Schließlich kam jetzt der Teil, indem sich die Familien und Angehörigen von ihren Kindern verabschiedeten. Und da wir die gleiche Familie hatten dachte ich, es wäre bloß logisch. Aber stattdessen kam jeder in einen separaten Raum. Doch ich protestierte nicht.

Der Raum, in dem ich mich aufhielt, war groß und mit Sesseln und einem Sofa versehen. In der Mitte stand ein Holztisch, auf dem eine Vase mit einer Blume steht, die ich jedoch nicht definieren konnte. Dazu hatte ich zu wenig Kenntnisse.

Ich lasse mich erschöpft auf ein Sofa fallen, die Arme auf meinen Beinen abgestützt und mein Gesicht in den Händen vergraben und ließ die Tränen wieder zu. Ich würde sterben. Ich war mir so sicher, dass ich die Hungerspiele nicht überlebte. Ich wollte sie nicht überleben. Denn das bedeutete, dass Talon sterben würde und ich wollte nicht ohne meinen Bruder leben. Es hieß jetzt entweder er, oder ich, oder wir beide. Denn nur wenn wir Glück hatten, würde vielleicht einer von uns überleben. Wir beide konnten es nicht. Das war unmöglich.

Die Tür fliegt auf und meine Mom und Laurette kamen in das Zimmer. Schnell wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht, stehe auf und lasse mich in die Arme meiner Mutter sinken. Sie weint. Genau wie Laure. Wir alle weinten. Ich wusste nicht, ob Talon stark genug war und seine Tränen zurückhalten konnte, ob er vielleicht immer noch unter Schock stand, aber die Realität schien auf uns alle einzubrechen und wir alle würden mindestens eine Person verlieren. Doch keiner von uns sagte ein Wort. Aber die Zeit zum Verabschieden war zu kurz, um nur in den Armen des anderen zu liegen. Und falls ich meine Mom und Laure nie wieder sehen würde, dann würde ich wenigstens noch irgendwas gesagt haben.

„Zu Hause stehen noch Muffins. Ihr könnt euch meinen aufteilen.“, schniefte ich. Etwas Besseres wusste ich nicht zu sagen. Auch meine Mutter nicht. Wenn nur ein Kind in die Hungerspiele musste, konnte man wenigstens noch Hoffnung schöpfen. Dann könnte sie mir jetzt Mut zusprechen und sagen, dass ich es schaffen werde, dass sie auf mich warten würde. Aber das konnte sie nicht, wenn sie zwei Kinder dort hinein schickte. Zwei Kinder, die vielleicht am Ende gegeneinander kämpfen mussten, die sich gegenseitig auslöschen mussten.

„Pass auf dich auf, okay?“, sagte Laure schließlich mit erstickter Stimme. Ich nickte und nahm sie noch einmal in den Arm, bevor ein Friedenswächter in den Raum kam und uns damit signalisierte, dass die Zeit zum Verabschieden vorbei war.

„Versprochen.“, murmelte ich, während die zwei nach draußen gingen. Vermutlich zu Talon. Als nächstes kamen Dad und Gael zu mir. Gael’s Augen waren gerötet und wie Mom und Laure wussten beide nicht recht, was sie sagen sollten. Sie trauerten schon um uns, bevor wir tot waren. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Ich würde das Gleiche tun.

Gael nahm mich in den Arm und strich mir über den Kopf.

„Egal was passiert, ich glaub an dich und ich glaub an Talon.“, murmelte er.

Kein ‚Du wirst es schaffen‘. Kein ‚Wir sehen uns wieder‘. Das hier war wohl die größte Aufmunterungsrede, die ich bekommen konnte. Ein ‚Du wirst es schaffen‘ würde schließlich bedeuten, dass er Talon schon aufgegeben hatte.

Ich löste mich von Gael und drückte meinen Dad. Langsam waren keine Tränen mehr übrig, die ich weinen konnte. Stattdessen umfasste mich nur eine rege Trostlosigkeit und Erschöpfung.

„Wir werden dich immer lieben Theta.“, murmelte er nur, während er mir einen Kuss auf die Stirn drückte. Ich würde sie auch immer lieben. Aber das zu sagen schien mir so endgültig.

Die Friedenswärter fuschten wieder dazwischen und schließlich war ich allein im Raum.

Das einzige, was ich wollte, war Talon zu sehen. Er könnte es schaffen. Er konnte gut mit einer Axt umgehen, mit ein wenig Übung vielleicht. Er traf zumindest das Holz Zuhause, wenn Dad, Gael und er wieder Holz für das Feuer hackten, immer perfekt mittig. Und er war stark. Er hatte muskulöse Arme und er konnte viel und schwer tragen. Zum Beispiel half er Eve’s Dad manchmal beim Tragen der Mehlsäcke oder Zog Schubkarren voll Obst zu den Tieren, was auf Dauer wirklich anstrengend war.

Ich konnte nichts, außer Abwaschen. Beinahe wäre mir ein trostloses Lachen über die Lippen gekommen. Ich war sowas von aufgeschmissen in der Arena.

Die Tür ging erneut auf und zu meiner Überraschung kam Eve herein. Sie lächelte mich leicht an. Fast hätte ich ihr das Lächeln abgekauft, aber ihre roten Augen und tränenüberzogenen Wangen verrieten, dass es unmöglich echt sein konnte.

Einen Moment lang sahen wir uns nur schweigend an. Dann kam Eve auf mich zu und zog mich in ihre Arme, so wie meine Familie das kurz zuvor getan hatte.

„Ich weiß, du kannst das schaffen!“, sagte sie zuversichtlich. Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf.

„Nein. Mach dir nichts vor. Ich werde nicht zurückkommen.“ Meine Stimme klang belegt und Rau, aber das war mir nicht wichtig. Irgendwo in meinem Inneren wurde mir warm ums Herz. Eve war die einzige, die mir sagte, dass ich eine Chance hätte. Die einzige, die mir wirklich Mut zusprach.

Sie löste die Umarmung, behielt ihre Hände aber auf meinen Schultern und sah mich eindringlich an.

„Du bist schlau! Das einzige was du machen musst ist irgendwie an Nahrung zu kommen und dich vor den anderen zu verstecken. Wenn sie irgendwann fertig sind sich gegenseitig umzubringen hast du ein leichtes Spiel!“ Sie klang so überzeugt, dass sie mein beinahe mit ansteckte. Aber nur beinahe.

„Ich werde mich nicht die ganzen Hungerspiele lang vor den anderen verstecken können und selbst wenn… am Ende wäre immer noch einer übrig, gegen den ich ankommen müsste und… was ist, wenn es Talon ist?“ Am Ende flüsterte ich nur noch. Ich wollte mir nicht ausmalen wie es war seinen Namen am Abend am Himmel zu sehen, wenn er ermordet worden wäre. Aber noch schlimmer wäre es, wenn wir beide es wirklich bis zum Schluss schaffen würden und dann einer von uns den anderen umbringen müsste. Das könnte ich nicht.

Auch Eve schluckte schwer und sah zu Boden.

„In den Hungerspielen geht es ums Überleben und Talon-“, doch sie wurde je unterbrochen, als die Friedenswächter ins Zimmer kamen. Verdammt, warum hatte man so wenig Zeit sich angemessen zu verabschieden. Als Eve sich keinen Schritt zum Ausgang bewegte, kam einer herein und zog sie am Arm mit sich heraus. Da er viel stärker war als sie, blieb ihr nichts weiter übrig, als sich von ihm heraus ziehen zu lassen.
„Talon, er wird-“, wollte sie schon wieder anfangen, aber dann wurde die Tür vor ihrer Nase zugeschlagen und ich war allein im Raum. Was würde Talon? Was meinte sie?

Mit einem leichten Seufzen ließ ich mich wieder auf das Sofa sinken. Ein paar Minuten später kam wieder jemand in den Raum, aber nicht, um sich von mir zu verabschieden, sondern lediglich, um mich zu einem Auto zu begleiten, das mich zum Bahnhof fahren würde. Ich war noch nie mit einem Auto gefahren. Aber meine Freude diesbezüglich hielt sich in Grenzen. Ich fuhr allein. Talon wurde vermutlich mit einem anderen Auto dorthin gebracht. Mein Kopf tat weh vom vielen Weinen und ich würde am liebsten einschlafen, so müde war ich. Aber gleichzeitig war ich so aufgewühlt, dass ich bezweifelte in den nächsten Tagen überhaupt irgendein Auge zuzubekommen.

Am Bahnhof stehen so viele Reporter mit ihren Kameras, dass ich erst einmal einen Moment brauchte, um Talon ausfindig zu machen. Die Reporter ignorierte ich vollkommen. Die würden mich jetzt ohnehin rund um die Uhr filmen. Mein Blick hingegen war auf Talon gerichtet. Er war immer noch blas. Seine Augen waren nicht gerötet, er hatte also nicht geweint. Aber er suchte auch nicht den Blick nach mir, er ignorierte mich, wie ich die Reporter ignorierte. Er stand nur da vor dem Zug, ließ das Spektakel über sich ergehen, bis er schließlich in den Zug einstieg. Ein paar Sekunden später bewegte ich mich ebenfalls auf den Zug zu. Dort drinnen war ich zumindest vor den lästigen Kameras sicher. Es sei denn das Kapitol brachte auch im Zug Kameras an. Aber irgendwie bezweifelte ich, dass es interessant genug war die Tribute beim Essen und zum Kapitol fahren zu filmen.

Die Türen schlossen sich hinter mir und fast sofort setzte sich der Zug in Bewegung. Talon verschwand in einem der Zimmer, dass Tatiana Silver uns zuteilte. Ich nahm demnach dann das andere. Vermutlich schien ich ihr grade gesprächiger zu wirken, als mein Bruder es tat, weswegen sie mir ins Innere meines Zimmers folgte. Es stimmte. Ich wollte reden. Nur nicht mit ihr.

Der Raum sah noch viel schöner aus, als der in meinem Distrikt, in dem ich vor meiner Abfahrt gewartet hatte. Er hatte ein riesiges helles Bett in der Mitte, dunkle Holzschränke und Schubladen an den Seiten, die bis zum Rand mit Klamotten gefüllt waren. Kleider, von denen ich sonst nur träumen konnte, die viel zu teuer waren, um sie wirklich kaufen zu können.

„In den nächsten Stunden kannst du machen, was du willst. Du kannst anziehen, was du willst und essen was du willst und-“

„Ich würde mich gerne umziehen.“, unterbrach ich ihren heiteren Redeschwall von Dingen, die ich tun dürfte. Dinge, die ich zu Hause niemals hatte tun können, weil uns Mittel und Geld dazu fehlte.

Sie lächelte gezwungen. Offenbar gefiel es ihr nicht, dass ich sie unterbrochen hatte.

„Schön. Ich hole dich, wenn es Abendessen gibt.“, sagte sie und verließ dann mein Zimmer. Jetzt war ich allein. Komischerweise fand es ein Teil von mir gar nicht mehr so schlimm zu den Hungerspielen zu gehen. Dafür dürfte ich ein/zwei Tage den Luxus des Kapitols genießen.

Ich hatte sogar ein Bad in meinem Zimmer. Mit Marmorwänden, einer Dusche, einer Badewanne und es gab sogar warmes Wasser. Zuhause hatten wir uns das Wasser über dem Feuer aufwärmen müssen und uns dann mit einem Eimer voll Wasser zum Waschen begnügen dürfen. Und hier prasselte das Wasser einfach auf Knopfdruck aus dem Hahn heraus und war warm.

Bevor ich irgendetwas anderes tat, zog ich mir meine Klamotten aus und stieg in die Dusche. Ich drehte das Wasser so warm auf, dass es fast zu warm war und genoss dann einfach die heißen Tropfen, die mich umfingen. Das Bad verschwand im Dampf von der Wärme. Meine Haare waren nass. Sie hatten hier sogar Haarshampoo, das nach Vanille roch. Ich hatte das Gefühl für diese eine Dusche mehr Shampoo und Seife zu benutzen, als ich in meinem ganzen Leben zusammen verbraucht hatte. Wenn ich im Kapitol wohnen würde, dann würde ich den Luxus vermutlich auch komplett genießen und nicht wieder loswerden wollen. Ich verstand nur nicht, warum er allen anderen Distrikten verwehrt wurde. Wo wir doch wenigstens arbeiteten und nicht nur alles zugeschoben bekamen. Die Verhältnisse waren nicht fair.

Nach gefühlten stunden verließ ich die Dusche wieder, nahm mir ein Handtuch und trocknete mich ab. Der Spiegel war beschlagen vom Wasserdampf. Ich fing an mit meinen Fingern irgendwelche Muster dort hinein zu malen. Dann trocknete ich mir die Haare ab und wickelte das Handtuch um meinen Körper. Ich konnte mir aussuchen, was ich anzog, also würde ich nicht in meine Klamotten aus Distrikt 10 steigen. Nur die Callasblumenkette behielt ich um.

Ich verließ das Bad, um mir aus dem Schrank ein paar Klamotten rauszuholen. In dem Zimmer war es im Vergleich zum Bad kalt und ich bekam eine leichte Gänsehaut. Ich öffnete eine Schublade und durchwühlte sie nach irgendwas passendem, fand schließlich eine dunkle Jeans und ein weißes, relativ locker fallendes T-Shirt, die mir nicht zu auffällig, sondern noch relativ schlicht vorkamen.

Kurz darauf klopfte es an der Tür und Tatiana holte mich zum Essen. Talons und meine Mentoren Tiffany Waxler, Jackson Spidell und Magnus Wood saßen schon am Tisch. Ebenso wie Tatiana. Nur Talon fehlte. Unsicher sah ich auf die freien Plätze.

Tiffany und Jackson ignorierten mich vollkommen. Nur Tatiana und Magnus sahen mich an. Tatiana eher ungeduldig, Magnus auf irgendeine Art und Weise gleichgültig und interessiert zugleich.

„Es macht mich nervös, wenn du stehst.“, sagte Tatiana schließlich. Dabei hatte ich sie noch nicht einmal angesehen. Ich sagte nichts, blieb allerdings, nur um sie zu provozieren, weiterhin stehen. Was sollte sie schon groß machen? Mich an den Stuhl fesseln?

Dann allerdings kam Talon aus seinem Zimmer. Immer noch mied er meinen Blick. Ich verstand nicht wieso. Wir hatten hier nur uns beide, sollten wir die letzten Minuten nicht wenigstens noch ein bisschen nutzen? Statt dass er mich ignorierte?

Er setzte sich auf einen freien Stuhl neben Tiffany und ich musste somit Zwangsweise neben Magnus und gegenüber von Tatiana sitzen, die jetzt, wo ich saß, wenigstens eine Spur zufriedener wirkte.

Das Essen hatte mehrere Gänge. Die Hauptspeise bestand aus Kürbissuppe. Ich hatte das Zeug noch nie gegessen, aber es schmeckte ausgezeichnet! Dann Salat. Kartoffelklöße und Schweinebraten, ein Käseteller und schließlich noch Nachtisch. Ich wusste nicht, wie die Leute im Kapitol so schlank bleiben konnten, bei so viel Essen, dass sie essen dürften.

Ich schaufelte so viel in mich hinein, dass mir nach dem Essen komplett schlecht war. Auch Talon nahm nicht mehr vom Nachtisch, sondern lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Am liebsten würde ich jetzt schlafen gehen, aber wir wurden sofort nach dem Essen in ein anderes Abteil gebracht, in dem wir uns die Ernten der anderen Distrikte ansehen konnten um vielleicht schon mal einen Blick darauf zu erhaschen, wer unsere Gegner in den Spielen sein würden.

Die Tribute aus Distrikt 1 und 2 bestanden aus gänzlich ca. 17 jährigen Karrieros, die allesamt dazu erzogen wurden Killermaschienen zu sein. In Distrikt 7 war ein Junge, der so sehr Hinkte, als er nach vorn ging, dass er sogar beim Laufen umknickte und hinfiel. Hofften wir, dass es nur eine kurzfristige Verletzung war, sonst hätte er ein echtes Problem in den Hungerspielen. Noch dazu war er extrem jung. Distrikt 9 hatte eine Zwölfjährige. Dann kommt Distrikt 10. Talon und ich. Ich schließe die Augen und hätte mir am Liebsten die Ohren zugehalten.

Schließlich spüre ich eine Hand auf meiner und blicke zur Seite. Talon sieht mich an. Zum ersten Mal heute, ruht sein Blick wirklich auf mir. Er lächelt nicht, er hält nur meine Hand. Vermutlich kann er nachvollziehen wie schwer es mir fällt diese Szene noch einmal zu sehen.  

Aufgeben

 Direkt nachdem wir die Ernten gesehen hatten, gingen wir schlafen. Auch wenn Talon zwar meine Hand gehalten hatte, geredet hatten wir nicht. Trotzdem war ich so erschöpft vom Tag, dass ich sofort ins Bett fiel und schlafen konnte, ohne dass mir noch groß Gedanken durch den Kopf schweiften. Das Bett hier war weich und bequem. Die Decke dick und flauschig, es gab mehrere Kissen. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich mir zum Einschlafen auch Musik anmachen können, die dann leise aus einem Radio heraus gedudelt hätte. Aber ich brauchte keine Musik. Sie würde mich nur stören.

Ich konnte auch so schlafen. Zumindest solange, bis jemand an meine Tür klopfte und die liebliche Stimme von Tatiana mich weckte. „Aufstehen! Heute wird ein ganz toller Tag!“

Fast hätte ich trocken aufgelacht, aber ich gab keinen Mucks von mir, stand lediglich auf und suchte mir Sachen zum Anziehen aus dem Schrank. Ich zog die Hose von gestern und ein anderes helles Shirt an. Heute Abend würde mich ohnehin ein Stylist einkleiden. Ich war gespannt, was genau sie sich dieses Jahr für uns Ausdachten. Ich hoffte bloß, dass sie uns nicht in diese lächerlichen Kuhkostüme, wie die Tribute letztes Jahr, steckten! Das sah einfach so albern aus. Wer würde uns dann schon noch ernst nehmen?

Zum Frühstück gibt es ungefähr genau so viel zu Essen, wie zum Abendessen gestern. Nur, dass es nicht in Gängen serviert wurde, sondern alles schon bereits auf dem Tisch stand. Brötchen, Obst, Marmelade, Schinken, Käse, Orangensaft, Äpfel… Es gab Äpfel.

Ich setzte mich an den Tisch, auf den gleichen Platz wie gestern, neben Magnus. Dann nahm ich mir bloß einen Apfel und biss hinein. Sogar Äpfel schmeckten im Kapitol besser, als zu Hause.

„Probier hiervon!“ Ich sah auf und blickte auf Talon, der mir eine Tasse mit brauner Flüssigkeit zuschob.

„Kaffee?“, fragte ich und roch daran, meine Überraschung und Freude darüber, dass er endlich mit mir sprach, im Zaum haltend. Ich roch an dem Getränk. Es war kein Kaffee, es roch nicht nach Kaffee, nicht so bitter, sondern eher süßlich. Talon schüttelte den Kopf.

„Heiße Schokolade!“, sagte er. Ich hatte keine Ahnung was das sein sollte, aber ich probierte es. Einfach weil Talon es mir vorschlug. Und es schmeckte köstlich. Warum konnte es sowas nicht bei uns geben? Im Kapitol hatten sie doch viel zu viel davon. Mit dem Essen, das hier auf dem Tisch stand, könnte man unseren halben Distrikt satt bekommen. Wenn man es einfach auf alle verteilen würde, jeder einen gerechten Anteil bekommen würde, dann würde es keine Hungernden mehr geben.

„Du solltest mehr essen, als nur einen Apfel.“, meinte Magnus schließlich, als ich den Stiel vom Apfel auf meinen Teller legte, mir aber nichts Neues nahm. Ich sah ihn an, überrascht, dass auch er mit mir sprach. Was war heute los? Hatten alle über Nacht ihre Sprache wieder gefunden? Oder hatte jemand einen Knopf gedrückt, dass plötzlich alle anfingen zu reden?

„Glaub mir! Schlag zu, solange du noch die Zeit dazu hast.“, setzte er hinzu und wandte sich dann wieder von mir ab. Was meinte er damit? Solange ich noch Zeit dazu hatte? Waren es die Zweifel, dass ich es schaffen konnte? Oder sagte er das einfach nur, weil es in der Arena vielleicht nicht genug Essen gab? Und wenn schon… was brachte es mir jetzt viel zu essen, wenn ich doch ohnehin bald sterben würde?

Was auch immer es war, ich entschloss mich einfach dazu seinem Rat zu folgen und nahm mir eines der Brötchen. Schließlich war er mein Mentor. Er wusste schon, was gut für mich war.

„Also… ihr seid die Tribute für unser Distrikt. Wir versuchen euch Tipps zu geben, auch wenn euch das höchstwahrscheinlich nichts bringen wird.“ Es war wieder Magnus der Sprach. Tiffany und Jackson lehnten sich nur in ihren Stühlen zurück und sahen uns an. Ich wollte grade in mein Brötchen beißen, aber jetzt, wo alle Blicke auf Talon und mich gerichtet waren, fühlte ich mich zu beobachtet zum Essen.
„In der Arena müsst ihr euch ganz auf eure Stärken konzentrieren. Nehmt keine Waffe, mit der ihr nicht umgehen könnt. Euch nützt kein Bogen, wenn ihr nicht schießen und kein Speer, den ihr nicht werfen könnt. Also, her mit euren Stärken. Gibt es irgendwas, worin ihr gut seid? Irgendeine Waffe, die euch nützen könnte?“, fragte er und sah erst Talon, dann mich an. Ich tauschte einen unsicheren Blick mit meinem Bruder. Die einfache Antwort war… Nein. Nein, wir hatten keine Waffen. Wir hatten nie mit irgendwas geübt.

„Wir können nichts.“, meinte Talon schließlich wahrheitsgemäß, löste seinen Blick von mir und sah zu Magnus, der ihn ungläubig ansah.

„Wie, ihr könnt nichts?“, fragte er kopfschüttelnd.

„Ganz einfach: Wir hatten nie irgendeine Waffe in der Hand.“, erwiderte Talon schroff. Er war nie der geduldigste Mensch, und wenn jemand ihn dann noch so ansah, wie Magnus in diesem Moment, reagierte er sehr schnell gereizt.

„Naja… das stimmt nicht ganz. Talon könnte bestimmt gut mit einer Axt umgehen.“, fügte ich kleinlaut hinzu, weil ich das Gefühl hatte sie würden uns gleich auslachen. Aber zumindest bekam er eine Axt mit Leichtigkeit hoch, den Rest könnte er mit Sicherheit noch üben. Ich bekam jedoch nur ein Augenverdrehen von Talon als Antwort. Magnus zog die Augenbrauen nach oben und schüttelte seufzend den Kopf.

„Ich hoffe beim Training findet ihr noch irgendwas, mit dem ihr umgehen könnt, sonst… verabschiede ich mich besser jetzt schon mal.“ Talon sah ihn finster an. Dann schob er wütend seinen Teller von sich, stand auf und verließ den Raum. Jetzt war ich allein mit den ganzen Siegertributen aus meinem Distrikt. Wirklich hilfreich waren Magnus Worte nicht gewesen. Und Mut machten sie mir auch nicht. Dennoch brachte ich es nicht über mich aufzustehen. Sie waren meine Mentoren und auch, wenn das Tiffany und Jackson nicht so recht zu interessieren schien, versuchte wenigstens Magnus uns Tipps zu geben. Wenn auch keine wirklich hilfreichen.

„Wie hast dus geschafft?“, fragte ich an Magnus gerichtet „Wie hast du die Hungerspiele überstanden?“

Einen Moment lang sah er mich stumm an. Vermutlich hatte er nicht mit dieser Frage gerechnet. Er schien zu überlegen, was er antworten sollte. Mir seine Taktik zu verraten wäre ja jetzt nicht das Ende der Welt. Er räusperte sich kurz.

„Er hat sich versteckt.“, antwortete jetzt Tiffany für ihn. Ich hatte sie die ganze Zeit noch nicht einmal sprechen hören. Ihre Stimme klang nicht so scharf wie erwartet, sogar recht angenehm. Interessiert musterte ich sie.

„Wie wir alle. So gut verstecken, dass die Karrieros einen nicht finden, bis sich alle gegenseitig abschlachten und dann zuschlagen, wenn man die besten Chancen hat.“ Sie zuckte mit den Schultern.

„Ist auch schon oft schief gegangen.“, setzte Magnus jedoch warnend hinzu. Ich nickte leicht. Klar, bei mir würde es vermutlich schief gehen.

„Das Wichtigste ist, dass du dir am Füllhorn nichts versuchst zu holen, das treibt dich in den Tod, definitiv.“, sagte er warnend. Das war doch mal was. Informationen, mit denen ich auch was anfangen konnte.

„Dann habe ich keine Waffen.“, stellte ich jedoch fest. Und kein Trinken oder irgendwas. Ich hatte nichts, außer Klamotten. Doch Magnus nickte nur bestätigend.

„Ja, aber das interessiert nicht. Beim Füllhorn verlierst du dein Leben, wenn du nicht kämpfen kannst.“ Er musterte mich von oben bis unten. „Und ich bezweifle, dass du gegen die Karrieros ankommst.“

Ich schnaubte beleidigt, wusste aber, dass er recht hatte. Ich würde nicht gegen die Karrieros ankommen. Ich würde gegen nichts und niemanden dort ankommen.

„Was ist, wenn ich mich mit ihnen verbünde…“, schlug ich vage vor. Rein theoretisch, dann könnte ich sie… nein… nein vermutlich könnte ich das nicht.

„Wenn du das schaffst, dann überlebst du so lange, bis sie den Rest gemeuchelt haben und dann bringen sie dich um.“, fuhr mir Tiffany auch schon dazwischen. Wow, sie war echt genauso aufbauen, wie Magnus.

„Aber was, wenn ich ihnen zuvor komme. Nachts zum Beispiel.“, versuchte ich dann doch meinen Grundgedanken auszusprechen. Auch wenn ich bezweifelte, dass ich so viele Menschen auf einem Schlag umbringen konnte, ohne verrückt zu werden. Und außerdem war da dann immer noch Talon…

„Ja, dann schaffst du vielleicht einen, bevor die anderen wach werden und dann werden sie dich, ohne mit der Wimper zu zucken, zur Strecke bringen.“ Magnus sah mich prüfend an. Sein Blick durchlöcherte mich regelrecht. Aber etwas war anders in seinen Augen. Irgendwas hatte sich in den letzten Zwei Minuten bei ihm verändert. Nur wusste ich nicht, was es war.

„Verstecken. Das ist denke ich das einzige, zu dem du in der Lage bist. Und mit viel Glück… kommst du unter die letzten 6.“, sagte er und mit diesen Worten stand auch er auf. Unter die letzten 6? Unwillkürlich versetzten mir seine Worte einen Schlag in die Magengrube. Das Brötchen in meiner Hand legte ich wieder zurück auf den Teller. Ich hatte keinen Appetit mehr.

Ich erhob mich und ging ebenfalls auf mein Zimmer, so lange, bis wir da waren, wollte ich nichts weiter tun, als aus dem Fenster zu sehen und die Landschaft beim schnellen vorbeiziehen zu beobachten. Am liebsten hätte ich wieder geweint, aber keine Träne rollte mehr über meine Wange. Ich würde mich jetzt mit der Erkenntnis abfinden müssen, dass ich sterben würde. Talon hatte reelle Chancen, meiner Meinung nach. Er musste nur ein wenig üben. Aber ich? Nicht die Klügste, nicht die Schnellste, nicht die Stärkste, nicht die Geschickteste, nicht die Mutigste. Ich hatte keine Chance.

Ein mattes Lächeln trat auf meine Lippen. Wie sich der Tod wohl anfühlte? Ich war schon immer neugierig gewesen, was danach kam. Tja.

 

Jetzt würde ich es erfahren.  

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Tag der Veröffentlichung: 22.06.2016

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