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Kapitel 1

Was taten Menschen wie ich? Menschen, denen nichts geblieben war. Menschen, die nichts mehr zu verlieren hatten. Mir blieb nicht mehr viel Zeit. Meine Vorräte wurden immer knapper. Meine Angst vor dem Tod immer größer.

Der Himmel wurde dunkler. Kaum vorstellbar, wenn man bedachte, wie riesig die Sonne geworden war. Von Tag zu Tag wurde sie größer. Sie nahm schon mehr Platz vom Himmel ein, als vorher. Und sie wurde immer heller. So hell, dass das Licht in den Augen regelrecht wehtat.

Doch abends war es angenehmer. Es war nicht mehr so heiß. Wenn bei uns der Abend nahte, fing die andere Seite der Welt an zu verbrennen. Ich fragte mich, wie es einmal werden würde. Wenn die Sonne größer wurde, die Hitze unerträglicher. Mittags konnte man sich nicht auf der Straße aufhalten. Nachts war es am besten. Ich lief nachmittags, am Abend und schlief nachts, wenn es am kühlsten war. Dann wurde ich von der Hitze geweckt, oder von Geräuschen und dann lief ich weiter. So war mein Tag. Jeder einzelne. Wohin ich ging? Ich hatte nicht die leiseste Ahnung. Ich hoffte meine Familie zu finden, hoffte, dass sie irgendwo da draußen noch war. Am Leben. Unversehrt. Diese Hoffnung hielt mich aufrecht, ließ mich jeden Tag weiter machen.

Ich zählte sie, die Tage die ich nun schon allein war. Ich hatte mal gehört, dass Einsamkeit einen verrückt werden ließ. Nun, wenn ich nicht durch die Einsamkeit verrückt wurde, dann vermutlich durch die Hitze, oder den Gedanken an den Tod. Ich hatte kaum Menschen gesehen, seit ich aus der Stadt raus bin. Und die paar Menschen, die ich getroffen hatte, haben mich nicht gesehen. Ich wollte ihnen nicht begegnen. Ich hatte zu viel Angst, dass die Hitze ihnen schon das Gehirn weggebrannt hatte, dass der Hunger schon an ihnen zerrte, dass sie mir etwas Böses wollten. Also habe ich mich versteckt. Vor jedem einzelnen. Nachts suchte ich mir immer sichere Plätze. Verlassene Häuser. Hohe Bäume.

Ich wusste nicht, wohin all die Menschen geflohen sind. Überall auf der Erde war es gleich warm. Überall herrschte das gleiche Chaos. Zumindest, wenn ich es richtig gesehen hatte, bevor ich weder einen funktionierenden Fernseher noch ein Radio oder ein Handy besaß. Die Geräte spielten verrückt. Keiner kümmerte sich mehr darum. Wir lebten wie in der Steinzeit. Ohne Strom, ohne sauberes Wasser. Das Fleisch, das in dem ein oder anderen leerstehenden Supermärkten noch vorhanden war, konnte man sofort wegschmeißen. Es war schlecht und stank. Die Kühlanlagen funktionierten nicht mehr. Das Obst vergammelte. Das einzige, was man mitnehmen konnte, war das Wasser. Auch wenn es warm war und kein bisschen erfrischend schmeckte.

Doch wohin auch immer alle geflohen sind, dort war es nicht besser als hier. Leere Straßen, eine beunruhigende Stille. Autos standen an den Rändern oder mitten auf den Wegen. Manche lagen seitlich, manche sind verbrannt oder komplett demoliert. Die Häuser sind vereinzelt eingestürzt, Fenster wurden eingeschlagen. Die Spielplätze waren verlassen. Ein leichter, heißer Wind wehte. Die verschwitzen Haare auf der Stirn klebten mehr zusammen.

Ich sah mir die Häuser links und rechts vom Weg an. Vielleicht würde ich in einem davon diese Nacht schlafen. Keines, in dem schon ein Fenster eingeschlagen war. Wenn jemand in das Haus einbrach, dann wollte ich es hören. Aber ein eingeschlagenes Fenster machte keinen Krach mehr, wenn jemand hindurch wollte. Und ich wollte nicht mitten im Schlaf erdrosselt werden. Man glaubt es kaum, doch die Menschen taten sich nicht zusammen, um gemeinsam einen Weg zum Überleben zu finden. Die meisten wussten, dass es zwecklos ist. Es ging ihnen nur noch darum, überhaupt zu leben. Und jemand, der Essen in seinem Rucksack versteckte oder den man vielleicht selbst… nun, diesen jemand würde man nicht lange am Leben lassen.

 

Die Sonne ging rascher unter, als erwartet. Doch war es immer noch warm. Ich ging auf einen Hof. Das Tor stand offen. Vermutlich sind die Besitzer des Hauses so schnell geflüchtet, dass sie ein offenes Tor nicht großartig gestört hat. Ich lief den schmalen Steinweg entlang, der hier mühevoll hingelegt wurde und an dem sich links und rechts verdorrte Sträucher und eingegangene Pflanzen befanden. Die Tür des Hauses war verschlossen. Dieses Problem hatte ich häufiger. Allerdings hatte ich nach einer Weile den Dreh raus, wie ich Türen mit Hilfe meines Messers und Draht öffnete, weswegen dieses Hindernis mir nicht wirklich im Weg stand. In dem Haus war es warm. Mein Messer hielt ich vorsichtshalber immer noch in meiner Hand, falls irgendwo eine unangenehme Überraschung auf mich lauerte. Doch ich hörte kein Geräusch. Wenn man die Wärme und die Tatsache, was dort draußen vor sich ging, ignorierte, dann sah das Haus sogar recht einladend aus. Es war recht ordentlich gehalten. Das Wohnzimmer, welches gleich an den Flur angrenzte, war zwar klein, aber gemütlich. Eine Couch stand in der Mitte, vor ihr ein Fernseher, der vermutlich nicht mehr funktionierte. Auf dem Couchtisch stand noch ein offenes Bier, das schon zur Hälfte ausgetrunken wurde. Und eine Schale mit verrottetem Obst. Ekelhaft. Aber zumindest schien das Haus in Ordnung zu gehen. Trotzdem sah ich mir lieber noch die anderen Räume an, um sicher zu gehen, dass ich hier wirklich allein war. Es gab nur zwei Stockwerke hier. Im unteren war noch eine Küche zu finden. Die Theke war schon eingestaubt. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass der Anfang dieser Katastrophe schon fast drei Monate her ist. Außerdem gab es hier eine Vorratskammer. Brot, Wein, Wasser, Käse, alles, was man sich vorstellen konnte. Nur leider nicht mehr so viel und das meiste hiervon schien auch nicht mehr gut zu sein. Ich besah mir das Essen genau. Ich wollte ja nicht an einer Lebensmittelvergiftung sterben. Ich wollte eigentlich, wenn ich so darüber nachdachte, überhaupt nicht sterben. Ich nahm das Brot in die Hand und roch daran. Es roch noch frisch. Obwohl es hier schon sehr lange liegen musste. Das verstand ich nicht. Der Käse fing schon an zu schimmeln, aber das Brot roch noch frisch. Als hätte man es erst vor einer Woche vom Bäcker gekauft.

Das Knallen einer Tür ließ mich zusammen zucken. Ich riss meine Augen auf, als mich die Erkenntnis traf, wie ein Schlag. Das Brot lag hier nicht seit drei Monaten. Jemand hatte es gemacht. Und dieser Jemand war mit im Haus. Ich war nicht allein hier.

Kapitel 2

Still blieb ich stehen, in der Hoffnung noch einmal ein Geräusch mit zu bekommen. Ich atmete flach und ruhig, versuchte meinen Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen. Ich spitzte die Ohren und lauschte auf jedes noch so kleine Geräusch. Ein Knarzen war zu hören. Jemand lief die Treppe herunter. Jedoch nicht unbedingt vorsichtig, oder gar leise, sondern mit raschen und schnellen Schritten. Die Tür zur Vorratskammer hatte ich offen gelassen. Die Tür würde mich verraten. Doch sie jetzt zu schließen, wäre mindestens genau so auffällig. Also blieb ich einfach stehen und hoffte, dass man mich nicht entdeckte.

„Hallo?“ Die plötzliche Stimme, ließ mich erneut zusammen zucken. Jedoch überkam mich eine Art von Erleichterung. Es war die Stimme eines Kindes, eines kleinen Jungen, wie ich vermutete.

„Dad, bist du das?“, fragte der Junge erneut. Ob er sich erschreckte, wenn ich jetzt plötzlich aus der Vorratskammer trat? Vermutlich. Doch wenn er hier her kam und mich sah, würde er sich nicht minder erschrecken.

Allerdings kam ich nicht dazu mir noch länger den Kopf darüber zu zerbrechen, ob ich mich ihm jetzt zeigte, oder mich weiterhin versteckte, denn keine zwei Sekunden später stand der Junge in der Tür. Er sah nicht verängstigt aus. Er musterte nur das Brot, welches ich in meiner Hand hielt. Oder vielleicht auch das Messer. Doch sah er dabei neugierig drein. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Vor mir stand nur ein kleiner Junge, höchstens acht Jahre alt. Seine blonden Haare waren zerzaust und seine Klamotten dreckig, aber er hatte keinerlei Verletzungen. Nur sah er genauso erschöpft und verschwitzt aus, wie ich mich fühlte. Nur konnte er unmöglich hier allein leben, allein hier überlebt haben. Er hatte nach seinem Dad gerufen. Ich hoffte inständig, dass ich hier weg konnte, bevor sein Vater ankam. Wer wusste schon, was das für ein Mensch war.

„Wer bist du?“, fragte mich der Junge und riss mich damit aus meinen Gedanken. Ich sah ihn an, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, wusste aber nicht recht, was ich auf die Frage antworten sollte.

„Niemand.“, erwiderte ich also schnell. Meine Stimme klang brüchig und kratzig. Ich hatte sie schon lange nicht mehr benutzt. Wenn man keine Gesellschaft hatte, sprach man automatisch nicht mehr so viel. Wobei vielleicht manche aus anfingen Selbstgespräche zu führen. Aber ich nicht. Der kleine Junge vor mir legte den Kopf schief.

„Hast du einen Namen?“, fragte er mich. Das waren viel zu viele Fragen, dafür, dass ich quasi das Haus, indem er lebte, eingebrochen war. Ich schüttelte den Kopf. Was waren schon Namen? Wir verloren alles. Unsere Familien, unsere Regierung, unsere Moral, unsere Identität. Wozu brauchte man also noch einen Namen?

„Das ist schade.“, sagte er und sah mich wirklich bedauernd an. Ich lächelte verkrampft. Ich wusste nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte.

„Weißt du was. Ich glaube ich nenne dich einfach Annie.“, entschied er sich dann schließlich und strahlte mich an, als ob er hoffte, dass es mich nun unglaublich Glücklich machte, endlich einen Namen zu haben. Ich runzelte jedoch nur die Stirn.

„Annie?“ Wie kam er auf diesen Namen. Sah ich aus wie eine Annie? Verhielt ich mich wie eine Annie? Warum wollte er mir überhaupt einen Namen geben? Warum redete er überhaupt mit mir? Hatte er denn gar keine Angst? Sah ich nicht mal ein wenig angsteinflößend aus, mit dem Messer in meiner Hand?

„Ja, Annie. Meine Mom hieß Annie.“, erwiderte er und lächelte, auch wenn es jetzt ein wenig traurig wirkte. Na toll. Er wollte mich also so nennen, wie seine Mutter, der es, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wohl nicht so prächtig ging.

„Sie ist tot, weißt du.“, sagte er überflüssigerweise. Unter anderen Umständen hätte ich eventuell sogar Mitleid mit dem kleinen Jungen gehabt, doch meine Familie war ebenfalls verschwunden, auch wenn ich nicht glauben wollte, dass sie tot waren.

„Und sie war eine Heldin!“ Jetzt strahlte er wieder, als würde er wollen, dass ich mich darüber freute. Aber ich konnte mich nicht darüber freuen. „Mein Dad sagt immer, sie passt jetzt auf uns auf.“ Ich wollte, dass der Junge aufhörte zu reden. Es machte mich wahnsinnig.

„Ich muss jetzt gehen.“, sagte ich und legte das Brot wieder zurück. Ich steckte mein Messer in meinen Gürtel und ging auf die Tür zu, doch der kleine Junge machte nicht den Anschein mir aus dem Weg zu gehen.

„Willst du nicht wissen wie ich heiße?“, fragte er mich und sah mich mit seinen großen, braunen Labradoraugen an.

„Nein.“, sagte ich, nun ein wenig missmutig. Der Junge sah gekrängt drein. Aber ich wollte keine Namen wissen. Einen Namen mehr im Gedächtnis, bedeutete eine Person mehr, um deren Dasein ich mir Gedanken machte. Ich wollte die Leute, die ich traf, nicht benennen müssen. Für mich sollten sie einfach ‚der Junge‘ oder ‚die Frau‘ bleiben. Damit hatte ich keinen näheren Bezug zu ihnen.

Ich drängelte mich an dem Jungen vorbei, raus aus der Vorratskammer. Doch ich kam nicht weit, denn grade als ich den Flur entlang laufen wollte, ging die Tür auf und ein stämmiger Mann, Mitte 40 kam in das Haus getreten. Er hatte einige Sträucher in den Händen und schleifte ein totes Tier hinter sich her. Ich konnte nicht ausmachen, was für ein Tier das war, doch als der Blutgeruch mir in die Nase stieg, wurde mur übel.

Der Mann blieb in der Türschwelle stehen. Seine Miene verfinsterte sich, als er mich sah. Bei seinem Anblick fuhr es mir eiskalt den Rücken herunter.

„Daddy!“, rief der kleine Junge hinter mir fröhlich aus und lief auf seinen Vater zu. Dieser ließ sich von ihm umarmen, nahm jedoch seinen Blick nicht von mir.

„Was wollen sie hier?“, wollte er wissen und sein Tonfall sagte mir, dass er keine Mätzchen haben wollte. Vermutlich war er keiner, der einem einen kleinen Scherz schnell verzieh. Ich rang einen Moment um Worte. Trotz seines scharfen Tonfalls hatte er mich gesiezt. Das kam recht selten vor, denn eigentlich war ich auch erst 19 Jahre alt und wurde bisher nie wirklich gesiezt. Und außerdem wirkte er so respektvoller, als würde er mich einfach nur duzen. So, als würde er mich nicht als etwas Schlechteres betrachten.

„Ich… gar nichts. Ich wusste nicht, dass das Haus hier schon besetzt ist.“, murmelte ich entschuldigend. Ich wusste nicht was es an dem Mann war, aber irgendetwas schien ihn nicht mehr ganz so beunruhigend wirken. Immer noch einschüchternd, aber ich hatte nicht mehr ganz so sehr das Bedenken, dass er mich gleich umbringen würde. Vermutlich auch einfach, weil sein Gesichtsausdruck ein wenig weicher wurde.

„Ich glaube sie hat Hunger.“, flüsterte der kleine Junge, doch ich hörte es, schließlich stand er nicht sehr weit von mir entfernt. Sein Vater sah ihn jedoch nur zweifelnd an. Doch nach einem kurzen Blickaustausch zwischen ihm und seinem Sohn, seufzte er theatralisch.

„Trägst du Waffen bei dir?“, fragte er mich und betrachtete mich nun mit einem recht forschenden Blick. Ich sah auf das Messer, das in meinem Gürtel steckte. Der ältere folgte meinem Blick.

„Ich will, dass du deine Waffen auf den Tisch packst und sie nicht anrührst, verstanden? Wenn du dich daran hältst, darfst du hier bleiben. Aber nur zum Essen.“ Ich wusste nicht, ob ich dieses Kompromiss eingehen wollte. Der Geruch nach Blut machte mich ohnehin nicht sonderlich hungrig. Doch hatten sie Brot und vielleicht würde das Fleisch, wenn es richtig zubereitet war, auch schmecken und ich würde seit langem mal wieder eine ordentliche Mahlzeit bekommen. Doch unbewaffnet, war ich noch schwächer, als ohnehin schon.

Der Gedanke an Essen siegte letzten Endes und ich legte mein Messer auf den Tisch in der Küche. Mehr hatte ich nicht. Ich hätte gerne eine Schusswaffe gehabt. Nur bezweifelte ich stark, dass ich damit umgehen könnte.

„Was ist sonst noch in deinem Rucksack?“, fragte mich der Mann. Ich presste einen Moment lang die Lippen aufeinander.

„Klamotten.“, erwiderte ich nur. „Ein Handtuch. Eine Karte und Wasser.“, setzte ich dann allerdings noch hinzu, als er nicht zufrieden drein blickte. Er nickte. Er glaubte mir.

„Wie ist dein Name?“, fragte er mich, wie der kleine Junge schon zuvor.

„Ich dachte wir würden nur gemeinsam essen. Namen brauchen wir nicht.“, erwiderte ich. Der Mann hob nur seine buschigen Brauen, sagte jedoch nichts dazu. Er sah ungepflegter aus, als der kleine Junge. Vermutlich wirkte es so, weil sein Bart recht unordentlich gewachsen war. Sein Gesicht war dreckig, seine Haare strähnig und ungewaschen. An seinem T-Shirt klebte Blut, ich vermutete, dass es das Blut von dem Tier war, welches er immer noch geschultert hatte.

„Sie heißt Annie.“, brachte sich der kleine Junge nun auch mit in das Gespräch ein. Der Mann sah erst zu ihm und dann zu mir.

„Annie.“, wiederholte er. Ich war mir nicht sicher, ob es eine gute Idee von dem Jungen war mich so zu taufen, wenn es scheinbar die verstorbene Frau von seinem Vater war. Doch dieser zeigte keinerlei Emotionen.

„Nun gut. Ich bin Albert. Und der Kleine da heißt Jeremy.“, er deutete mit einem Kopfnicken auf besagten Jungen. Ich schloss einen Moment lang die Augen. Ich wollte ihre Namen nicht wissen. Nun, jetzt war es ohnehin zu spät dafür.

„Freut mich.“, brachte ich heraus, was jedoch nicht wirklich ernst klang.

„Kann ich irgendwo mit anfassen?“, fragte ich Albert dann. Ich wollte das Essen nur rasch hinter mich bringen und dann gehen. Er nickte.

„Du könntest mir helfen das Ding auseinander zu nehmen.“, sagte er und deutete darauf. Mir fiel es schwer mein Entsetzen für mich zu behalten. Ich sollte ein Tier..? Nein. Definitiv nicht. Aber ich wollte jetzt auch nicht aussehen wie eine Memme, wenn ich mich nicht traute. Nur würde sich dann wohl auch jeglicher übrig gebliebener Appetit von mir verabschieden.

„Ich kann das Brot schneiden und den Tisch decken.“, bot ich also stattdessen an. Albert nickte kurz.

„Klingt auch gut. Jeremy, du passt auf, dass sie nichts anstellt.“, sagte er dem Jungen, der daraufhin nickte. Dann ging er selbst mit dem Kadaver auf den Hinterhof in eine Scheune.

„Nimm es nicht persönlich, Dad weiß nicht mehr so wirklich wie das ist gastfreundlich zu sein. Uns kommen nicht viele besuchen.“, versuchte Jeremy mich scheinbar aufzumuntern. Ich lächelte zaghaft, weil ich nicht wusste, was ich ihm darauf hätte antworten sollen.

„Meine Mom wollte auch keine Tiere auseinander nehmen.“, redete Jeremy weiter. Ich schluckte leicht.

„Ach wirklich? Kann ich mir gar nicht vorstellen.“, sagte ich sarkastisch. Ich wusste, dass ich mit einem Kind vorsichtiger umgehen sollte, aber ich wollte nichts über ihn wissen, oder über seine tote Mutter.

„Ja wirklich!“, sagte er, meinen Sarkasmus vollkommen ignorierend. „Sie wollte nicht mal mehr Fleisch essen.“, setzte er hinzu. Ich nickte nur und lief dann in die Vorratskammer, um das Brot zu holen. Ich legte es auf den Tisch, nahm mir ein Messer und schnitt ein paar Scheiben davon ab. Jeremy holte derweilen Teller aus einem Schrank.

„Wie lange wohnt ihr hier schon?“, fragte ich ihn. Ich wollte zwar nichts über ihn wissen, wie er war oder was er erlebt hatte, aber es war doch ganz interessant zu wissen, wie lange sie sich schon in diesem Haus breit gemacht hatten. Vielleicht gehörte es ihnen ja sogar. Dann könnten sie mir sagen, wo genau wir uns hier überhaupt befanden.

„Erst ein paar Wochen.“, gab Jeremy jedoch als Antwort. Meine Hoffnung sank schon ein wenig. „Meine Mom ist gestorben, in dem Haus in dem wir vorher gewohnt haben und dann wollte mein Dad weg von dort und wir sind hier her gekommen. Er sagt, hier würde es viele Wildtiere geben.“ Ich sah Jeremy mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Weißt du, wo wir hier genau sind?“, wollte ich wissen, doch der Junge schüttelte den Kopf. Enttäuscht ließ ich ein kleines Seufzen lauten. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich auf der Suche nach meiner Familie in die richtige Richtung ging.

Kapitel 3

„Das Fleisch ist fertig.“, sagte Albert und kam mit einem Teller gebratenem Fleisch in die Küche. Er hatte draußen ein Lagerfeuer gemacht und das Fleisch dort drüber gegrillt. Jeremy sah begeistert auf den Teller, den Albert in die Mitte des Tisches stellte. Wir hatten nicht mehr viel geredet. Er selbst hatte nach einer Weile vermutlich nicht mehr das Bedürfnis gehabt mir etwas zu erzählen. Ich fühlte mich ein wenig schlecht, weil ich seine kindliche Unschuld und seine Fantasien nicht zerstören wollte, aber ihm trotzdem nie gut zuredete. Ich wollte mich von ihm abkapseln, von allen Menschen, obwohl er es vermutlich noch viel schwerer hatte. Ein kleines Kind sollte nicht so sterben. Doch ich verbot mir jegliche weiteren Gedanken daran. Jeremy sollte nicht auch noch mit zu meinen Angelegenheiten gehören.

Wir aßen alle gierig das Fleisch und das Brot, tranken Wasser und sättigten unseren Hunger. Mir war in letzter Zeit nicht aufgefallen, wie wenig ich gegessen hatte und wie sehr der Hunger schon an mir nagte. Doch jetzt, wo ich endlich wieder ordentlich zu Essen hatte, spürte ich erst wie groß das Loch in meinem Magen schon geworden ist.

„Hast du schon einen Platz für diese Nacht?“, fragte Albert mich schließlich. Ich wollte erst nicken, dann jedoch viel mir auf, dass ich wirklich noch nichts hatte. Das hieß wohl, ich würde mich einfach in dem nächstbesten Haus unterbringen müssen. Ich schüttelte also den Kopf.

„Kann Annie nicht hier bleiben?“, bettelte Jeremy. Rasch schüttelte ich den Kopf und setzte zu Protesten an.

„Nein!“, sagte ich viel zu hastig, woraufhin mich der kleine Junge verletzt ansah. „Ich meine, ich will keine Umstände machen. Ich finde sicher schnell etwas.“, setzte ich hinzu, damit Jeremy aufhörte mich so anzusehen.

„Du machst uns keine Umstände. Nicht wahr Dad?“, fragte er an seinen Vater gerichtet. Dieser schien nicht ganz zu wissen, wie er darauf reagieren sollte.

„Du kannst die Nacht hier bleiben.“, erwiderte er schließlich. „Aber morgen musst du gehen.“ Jeremy strahlte mich an. Ich lächelte leicht verkrampft.

„Du kannst mit bei mir schlafen!“, sagte er und sprang von seinem Stuhl auf. Aufgeregt hüpfte er auf und ab und sah mich bettelnd an. Ich wollte erst widersprechen, doch dann sagte ich mir, dass es nur für eine Nacht war. Also nickte ich kurz. Der kleine Junge strahlte mich an und wollte scheinbar sofort mit mir in das obere Stockwerk. Aber ich weigerte mich.

„Ich helfe noch beim Abräumen.“, sagte ich daraufhin. Der Junge nickte verständlich und versprach seinem Vater sich schon einmal hinzulegen. Vielleicht würde er ja schon schlafen, wenn ich hoch kommen würde.

Ich sah auf den Tisch vor mir. Die Schmutzigen Teller und die Gläser. Wie hielten sie ihr Geschirr so sauber?

„Funktioniert das Wasser in dem Haus?“, fragte ich schließlich, ein wenig hoffnungsvoll. Ich hatte viel zu lange nicht mehr geduscht. Doch Albert schüttelte den Kopf.

„Hier in der Nähe gibt es einen See. Dort ist zwar nicht das sauberste Wasser, aber zumindest kann man das Geschirr und hin und wieder auch sich selbst waschen.“ Ich nahm mir fest vor diesen See morgen einmal zu suchen. Ich wollte mich unbedingt mal wieder richtig waschen.

 

Als ich nach oben in das Zimmer von Jeremy ging, schlief der kleine natürlich noch nicht. Er saß wach in seinem Bett und wartete scheinbar schon auf mich. Er hatte eine mollige Decke, die vermutlich noch den Vorbesitzern gehörte, deckte sich jedoch nicht wirklich damit zu. Dafür war es viel zu warm. Ich ging zu dem riesigen Bett und legte mich neben den kleinen Jungen. Für ein paar Minuten war es wirklich Still. Er hatte einfach nur seine Augen geschlossen und ich dachte schon er wäre eingeschlafen, doch dann murmelte er leise: „Bitte bleib bei uns.“

Einen wirren Moment lang dachte ich, er würde schlafen. Doch dann öffnete er seine kleinen Augen und sah mich abwartend an. Ich verstand nicht, wie der kleine Junge so schnell Vertrauen zu mir aufbauen konnte, dass er sogar wollte, dass ich bei ihm blieb. Ich lächelte ihn zaghaft an und merkte, dass dieses Lächeln diesmal nicht bloß aufgezwungen war.

„Ich kann nicht. Dein Dad möchte, dass ich gehe. Und ich möchte das auch.“, sagte ich, um nicht alle Schuld auf seinen Vater zu schieben, der sich schließlich recht gut um seinen Sohn zu kümmern schien. Doch Jeremy schüttelte bestimmt den Kopf.

„Dad möchte das nicht wirklich. Er hat vermutlich nur Angst, dass das essen zu knapp wird. Aber mit Mom hätten wir das auch geschafft.“, flüsterte er. Ich legte meinen Kopf auf meinen Arm und betrachtete den kleinen Jungen. Ich hatte mir immer einen kleinen Bruder gewünscht, auf den ich aufpassen konnte. Jetzt jedoch nicht mehr. Ich wollte mir keine Sorgen machen, nicht trauern müssen. Ich wollte nur meine Familie finden. Das war das einzige, was zählte.

„Ich weiß das sehr zu schätzen, Jeremy. Aber ich kann nicht. Ich muss noch jemanden finden und mich entschuldigen. Weißt du. Ich hab noch eine Aufgabe zu erledigen. Aber wenn dann noch Zeit bleibt und ich euch finde, komme ich zurück.“, versprach ich ihm. Jeremy blickte mich stirnrunzelnd an.

„Warum sollte keine Zeit mehr bleiben?“ Es gab mir einen winzigen Stich. Er wusste es nicht. Er wusste nicht, dass die Erde und das Dasein, dass alles auf diesem Planeten bald ausgelöscht sein würde. Es wurde ihm nicht erzählt. Vermutlich, damit er seine letzten Tage, Wochen, Monate oder wie lange wir eben noch Zeit hatten ohne Sorgen verbrachte.

„Ich geh kurz etwas trinken, okay?“, murmelte ich und stand auf. Jeremy ließ mich, ohne jeglichen Protest. Ich ging leise die Treppe nach unten. Es war so unfair, dass das alles jetzt passieren musste. Ich hätte jedem auf diesem Planeten ein anderes Ende gegönnt. Aber nicht so. Als ich am unteren Treppenabsatz ankam, hörte ich Stimmen. Erst dachte ich es wäre nur Albert, der sich vielleicht aus einem Buch selbst laut vorlas. Doch dann hörte ich wie jemand antwortete. Nur klang es mehr, wie ein schlechtes Signal, das aus einem Radio kam. Leise schlich ich die letzte Stufe herunter und lehnte mich an die Tür, die ins Wohnzimmer führte.

„Wo genau befindet ihr euch?“, konnte ich von der Radio-Stimme vernehmen. Schlechte Qualität, jedoch trotzdem gut hörbar.

„Ein paar Kilometer südlich von Dayton.“, erwiderte Albert. Dayton? Davon hatte ich schon mal gehört. Dann war ich meinem Ziel gar nicht so weit entfernt. 250 Meilen vielleicht noch, dann wäre ich in Shoreham. Das wären vielleicht 4 oder 5 Tage Laufen, je nachdem, wie schnell ich bin. Mein Herz klopfte unwillkürlich schneller.

„Dann müsst ihr weiter nach Westen laufen.“, sagte nun wieder die Radio-Stimme.

„Ich dachte wir werden abgeholt.“, knurrte Albert säuerlich. Ein leises knacken war am anderen Ende zu hören, was mich vermuten ließ, dass, wer auch immer grade mit Albert sprach, lachte.

„Wir haben nicht die Mittel. Wir haben keinen Sprit mehr, wir brauchen alles für die Maschine, um uns hier raus zu holen.“ Ich runzelte die Stirn. Uns raus holen? Wo raus denn bitte?

„Es wären nur vier Stunden Flug!“, beharrte Albert.

„Keine Zeit, alter Freund, ihr müsst her kommen.“ Albert schnaubte hörbar.

„Das schaffen wir niemals in einer Woche.“, beschwerte er sich, doch am anderen Ende antwortete niemand mehr. Es gab ein schrilles Fiepen und dann rauschte das Gerät nur noch. Ich war verwirrt. Ziemlich verwirrt.

Ohne groß darüber nachzudenken, öffnete ich die Wohnzimmertür und trat hinein. Albert sah auf und musterte mich mit zusammen gekniffenen Augen. Er saß dort auf dem Sofa, vor ihm eine Art Telefon, ein Funktelefon, wie ich vermutete und sah mich einfach nur an. Ich würde mich vermutlich von ihm einschüchtern lassen, wenn ich nicht so hochgradig verwirrt wäre.

„Uns rausholen?“, fragte ich ihn und verschränkte die Arme. Albert presste die Lippen aufeinander und überlegte scheinbar, was er mir sagen würde.

„Ja. Ich hab eine Karte. Aber wenn du nur Anzeichen machst sie zu stehlen oder etwas dergleichen, dann bringe ich dich um, bevor du auch nur mit der Wimper zucken kannst.“, drohte er mir. Nun verstand ich gar nichts mehr. Eine Karte?

„Eine Karte wofür?“, fragte ich ihn stirnrunzelnd. Nun war der ältere derjenige, der mich verwirrt musterte.

„Hast du davon nichts gehört?“, fragte er mich.

„Hab ich nichts wovon gehört?“, stellte ich ihm eine Gegenfrage, statt zu Antworten. Albert zögerte. Scheinbar war er sich nicht sicher, ob ich ihn verarschte, oder nicht. Oder er war sich nicht sicher, ob er mir wirklich verraten wollte, wofür er eine Karte hatte, wenn ich mich doch nicht dafür interessieren sollte. Schließlich musste er sich jedoch dazu entschieden haben mich aufzuklären, denn er antwortete mir: „Von dem Roten Riesen.“

Langsam schüttelte ich den Kopf. Der Rote Riese? Doch Albert sah mich nur verblüfft an. Ich hatte anscheinend eine sehr wichtige Information verpasst.

„Also, was hat es mit dem Roten Riesen auf sich?“, fragte ich ihn. Albert seufzte.

„Nun was solls. Es lief ohnehin rauf und runter im Fernsehen. Als vor drei Monaten die ganze Show angefangen hat, haben sie es veröffentlicht.“, er machte eine kurze Pause. Bei Gott, musste man ihm denn alles aus seiner Nase ziehen?

„Was haben sie veröffentlicht?“, drängte ich ihn dazu weiter zu reden.

„Der Rote Riese ist ein Raumschiff. Es ist isoliert, es hat genug Sauerstoff und ist groß genug, an die 2000 Menschen zu transportieren und sie lange am Leben zu halten. Wenn die Erde von der Sonne verschlungen wird, wenn die Sonne explodiert, ist es dort drin sicher. Keiner wird sterben.“

Kapitel 4

 Ich sah den Mann vor mir mit großen Augen an. Warum hatte mir niemand davon erzählt? Das wäre eine Information, die selbst mir zustand. Alle wollten doch überleben. Auch wenn 2000 zur Weltbevölkerung recht wenig da stellten. Aber jetzt verstand ich, warum die Straßen so leer waren, warum man kaum auf Menschen traf. Alle wollten zu dem riesigen Raumschiff.

„Und man braucht eine Karte, um darauf zu kommen?“, fragte ich Albert. Dieser schüttelte den Kopf.

„Nein, aber alle, die mit daran gebaut haben, haben einen Platz sicher, die bekommen eine Karte. Und jeder der eine Karte hat, ist quasi VIP. Für die anderen gilt: Wer zuerst kommt, malt zu erst. Nur wissen nicht alle, wo sich der Rote Riese befindet. Nur ungefähr.“, erklärte er mir. Ich musste diese Information erst einmal verdauen. Es stand also noch gar nicht fest, dass alle sterben würden.

„Und Jeremy und du, ihr geht dort hin? Ihr kommt beide in das Schiff? Ihr werdet das schaffen, oder?“, versicherte ich mich. Ich wollte grade Jeremy diesen Tod nicht gönnen. Albert zuckte ein wenig bekümmert mit den Schultern.

„Ich ging davon aus, dass sie uns von hier abholen würden, aber sie schaffen es nicht. Wir müssen erst einmal sehen, wie wir dort hinkommen. Wir haben schon viel zu viel Zeit hier verbracht. Das Raumschiff startet in einer Woche.“ In einer Woche?

„Warum so früh?“ Eine Woche war so wenig Zeit. Wenn das ganze vor drei Monaten begonnen hatte, warum wollte er dann in einer Woche schon dort sein? Albert seufzte leise.

„Die Sache ist die, dass wir schon lange zuvor wussten, wann das passiert. Und wir brauchen eine Weile, bis wir weg von der Erde kommen und weg von der explodierenden Sonne. In einer Woche ist der späteste Termin an dem es losgehen kann.“ Ich fing unbewusst an auf meinem Fingernagel rum zu kauen. Das tat ich immer, wenn ich nervös war. Ich schüttelte verständnislos den Kopf.

„Warum hat es niemand den Menschen gesagt?“, fragte ich erschüttert. Warum hatte sie niemand gewarnt, sondern nur ihrem Schicksal überlassen. Albert führ sich mit den Händen über sein Gesicht.

„Weil es dann einen Ansturm auf das Schiff gegeben hätte. Die Menschen wären in Panik geraten. So konnten sie wenigstens noch ein wenig ihre Zeit genießen.“, versuchte er mir klar zu machen, aber ich schüttelte nur stur den Kopf.

„Nein. Wir hätten mehr dieser Raumschiffe bauen können. Es hätten viel mehr schaffen können. Wir hätten alle ein recht gehabt zu erfahren, was passiert!“, sagte ich hitzig und merkte, wie ich unbewusst lauter wurde. Sie wussten es schon so lange, dass sie dieses Raumschiff gebaut hatten und wussten, wann sie weg mussten, damit sie nicht auch starben. Ich versuchte meine Wut runter zu schlucken, doch es fiel mir schwer.

„Wir hätten nicht genug Materialien gehabt um so viele Raumschiffe zu bauen.“, hielt Albert dagegen. Doch er verstand nicht. Er hatte eine Karte, doch viele der anderen Menschen hatten keine und trotzdem hatten sie ein Recht zu leben.

Ich lief zur Couch und ließ mich neben Albert fallen. Dieser musterte mich nur traurig.

„Warum sind Menschen so egoistisch?“, fragte ich leise. Albert brachte ein gequältes Lächeln zustande.

„Vielleicht liegt es in unserer Natur.“, gab er zurück. Ich schnaubte bloß. Ja, vielleicht lag es in unserer Natur. Aber es war falsch. Die Menschheit war falsch. Das hatte ich schon immer gedacht. Und jetzt bezahlten wir dafür. Milliarden Jahre. Sie sagten wir würden das alles nicht mehr miterleben. Doch was machte es letzten Endes schon für einen Unterschied? Sterben würden wir ohnehin alle. Alles hatte ein Ende.

„Ich kann dich mitnehmen.“, sagte Albert schließlich. Mein Kopf fuhr herum und unsere Blicke trafen sich.

„Was?“, fragte ich perplex.

„Ich hab eine Karte. Ich kann dich mitnehmen!“, wiederholte er. Also hatte ich mich nicht verhört. Er wollte mich mitnehmen. Er würde mir mein Leben retten. Vorausgesetzt wir schafften es in einer Woche dort hin. Doch dann überkam mich ein anderer Gedanke. Der Weg dorthin führte in den Westen. Aber ich wollte in den Osten. Denn im Osten war meine Familie. In mir fand ein innerer Kampf statt. Überleben, oder zurück zu meiner Familie und mich bei ihr für alles entschuldigen, was ich ihnen angetan hatte? Ich schluckte kurz.

„Ich würde gerne mit. Aber meine Familie…“, murmelte ich niedergeschlagen.

„Weißt du wo sie sind?“, fragte Albert mich. Ich sah ihn nachdenklich an.

„Wir haben in Wildwood gewohnt. Wenn sie nicht auch dieses Raumschiff suchen, dann sind sie dort.“, sagte ich. Albert Miene verdunkelte sich.

„Wildwood.“, wiederholte er und runzelte die Stirn. Ich sah ihn abwartend an, denn er sah so aus, als wäre das noch nicht alles gewesen, was er sagen wollte.

„Kennst du die Gegend?“, fragte ich ihn, denn sein Gesicht zeigte eindeutig, dass er damit etwas in Verbindung brachte. Albert nickte langsam.

„Ich glaube nicht, dass sie noch dort sind. Wenn sie ein wenig Grips besitzen und die Nachrichten gesehen haben, dann werden sie zum Roten Riesen gegangen sein.“, sagte er überzeugt. Ich presste einen Augenblick die Lippen aufeinander.

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht vielleicht doch erst einmal-“, doch weiter kam ich nicht, denn Albert unterbrach mich schnippisch.

„Nein! Glaub mir, du würdest nur enttäuscht werden. Sie sind nicht mehr dort.“, sagte er bestimmt. Vermutlich hatte er recht. Die letzte Hoffnung aller war der Rote Riese, alle die nicht dorthin gingen, hatten vermutlich nur wie ich die Nachrichten nicht verfolgt.

„Hör zu, Jeremy mag dich scheinbar. Uns fehlt eine Frau hier und außerdem soll er nicht wissen, dass ihm vielleicht der Tod bevor steht.“ Ich verstand immer noch nicht, wie ein Kind so naiv sein konnte und sein Vertrauen gleich in jemanden steckte, den er grade mal ein paar Stunden kannte.

„Du belügst ihn.“, sagte ich schlicht. Ich wollte ihm zwar seine kindliche Unschuld nicht rauben, doch Lügen war auch nicht in Ordnung. Albert schüttelte den Kopf.

„Ich will doch nur, dass er Glücklich ist.“, erwiderte er. Ich biss mir auf meine Unterlippe. War er es denn? War Jeremy glücklich? Ich war mir nicht sicher. Er wirkte glücklich, doch was in seinem Inneren vor sich ging, das konnte keiner sagen, außer ihm selbst.

„Er hat schon seine Mutter verloren, er muss nicht auch noch seine Hoffnung verlieren.“ Ich schluckte schwer.

„Wie ist sie gestorben?“, fragte ich vorsichtig. Doch ich wollte es wissen. Durch eine der Katastrophen? Durch die Hand eines anderen Menschen?

„Sie hat sich umgebracht.“, sagte Albert schlicht, doch ich konnte den verbitterten Unterton in seiner Stimme raushören. „Sie wollte nicht damit klar kommen, dass die Welt uns alle tötet. Sie wollte nicht mit ansehen, wie ihr Sohn stirbt. Sie hat uns hier allein gelassen und sich selbst ein Ende gesetzt.“ Ich konnte sie verstehen, konnte ich wirklich, doch für seine Familie blieb man stark.

„Jeremy sagte, sie sei eine Heldin.“, murmelte ich leise. Wie kam er auf diesen unsinnigen Gedanken, wenn sie ihn doch allein hier gelassen hatte.

„Am nächsten Morgen zeigten sie im Fernsehen einen Waldbrand, der sich auf ein Dorf ausbreitete. Jeremy hat nicht viel Ahnung davon, also habe ich ihm erzählt seine Mutter hätte ein Kind aus dem Haus gerettet und wäre dabei gestorben.“ Ich lachte hohl auf.

„Und die Geschichte kauft er dir ab?“, fragte ich und konnte nicht umhin gehässig zu klingen. Albert sah mich ein wenig verletzt an.

„Jeremy ist sehr naiv. Er glaubt dir alles, wenn du es ihm glaubhaft erzählst.“, erwiderte der ältere Mann und sah mich einen Moment lang ernst an, bevor er den Blick von mir nahm und ihn auf den Fernseher richtete, der uns nicht mehr als ein schwarzes Bild gab.

Ich atmete einmal tief ein und blies die Luft dann wieder aus meinen Wangen nach draußen.

„Ich muss wieder nach oben, sonst fragt Jeremy sich noch, wo ich so lange stecke.“, sagte ich schließlich und stand auf. Entweder Jeremys gesamtes Leben würde auf eine Lüge aufgebaut sein, oder aber er würde sterben und trotzdem nur belogen worden sein. Was nun besser war, wusste ich auch nicht. Doch wenn er starb, dann starb er wenigstens ohne Hass und Trauer.

Als ich in seinem Zimmer ankam, atmete Jeremy ruhig und gleichmäßig. Er schlief. Unbeschwert und leicht. Ich legte mich neben ihn in das Bett, eine Decke brauchte ich nicht, und versuchte ebenfalls ein wenig zu schlafen. Doch meine Gedanken hingen überall. Es gab vielleicht einen Weg hier raus für mich. Doch was war, wenn meine Familie doch noch in Wildwood war? Ich hätte dort nicht weg gewollt. Meine letzten Tage hätte ich dort verbringen wollen. Am Meer, am warmen Strand. Da störte mich sogar die brennend heiße Sonne nicht mehr. Vielleicht wäre ich durch den kleinen Park spaziert, der jetzt gewiss komplett leer war. Es wäre schön ruhig gewesen.

Doch vermutlich hatte Albert recht. Der Rote Riese war unser aller letzte Hoffnung. Vermutlich würden wirklich nicht viele bleiben. Vermutlich nur diejenigen, die das nicht für voll nahmen, die die Hoffnung schon aufgegeben hatten. Oder solche, die wie ich nach ihrer Familie oder nach Freunden suchten. Aber meine Familie würde nicht nach mir suchen. Dessen war ich mir bewusst.

Kapitel 5

 Ungefähr drei Tage liefen wir, ohne irgendein Zwischenereignis. Wir trafen keine Menschenseele. Doch am Abend des dritten Tages änderte sich dies. Albert, Jeremy und ich waren grade auf der Suche nach einem Haus, oder eher einer Wohnung, denn etwas anderes gab es hier nicht. Wir liefen die Hauptstraße entlang, da wir so am ehesten durch die kleine Stadt hier kommen würden, als ein seichter Lichtstrahl aus einer der Nebengassen auf die Straße viel, auf der wir uns befanden. Jemand hatte eine Fackel oder eine noch funktionierende Taschenlampe. Man konnte Stimmen wahrnehmen, jedoch nicht verstehen, was sie sagten. Ein freudloses Lachen war zu hören, welches mir unwillkürlich Angst einjagte. Panisch sah ich Albert an, der nicht minder beängstigt aussah. Nur leider waren wir hier in einem Gebiet mit vielen Wohnungen und kaum Deckung. Kaum Bäume oder Büsche, hinter denen wir uns hätten verstecken können. Ich sah mich um, in der Hoffnung etwas übersehen zu haben, bis mir eine Nebenstraße auffiel.

„Da lang!“, flüsterte ich und zeigte auf die Straße. Albert nickte und ging vor. Jeremy hielt meine Hand ein wenig fester. Scheinbar merkte er, dass die Situation angespannter war. Natürlich könnte man meinen, dass die Leute, wer auch immer sie waren, vielleicht genau so nett waren wie Albert und Jeremy. Aber man konnte nie sicher sein, in wen man sein Vertrauen wirklich stecken dürfte. Und dieses Lachen, das schon wieder ertönte, ließ mir meine Nackenhaare aufstellen. Ich hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. In Wohngebieten mit vielen Häusern, in denen ich mich sonst vorzugsweise aufhielt, war es einfacher sich schnell zu verstecken. Zur Not sprang man einfach in ein Haus, auch wenn die Fenster eingeschlagen waren, wartete dann dort, bis die anderen Leute weg waren und schließlich suchte man sich eine richtige Bleibe. Rasch folgte ich, mit Jeremy an der Hand, dem Älteren und wir liefen in schnellem Tempo die Straße entlang. Hier waren nur Hochhäuser. Nur Wohnungen. Es würde zu lange dauern in eine von denen reinzukommen. Albert und ich sahen beide an den Seiten entlang, nach einer Wohnung, in der vielleicht schon ein Fenster eingeschlagen war. Jetzt selbst das Glas zu zerbersten. Wäre zu laut und zu aufmerksamkeitserregend.

Wieder ertönte dieses Lachen. Unsere Schritte vermischten sich mit anderen. Ich sah hinter mich und erkannte die Schemen von anderen Menschen. Sie folgten uns. Meine Vermutung bestätigte sich, als ich sie etwas rufen hörte und sie dann schneller wurden.

Auch Albert und Jeremy hatten sie bemerkt. Ohne uns absprechen zu müssen rannten wir los, bogen um zahlreiche Ecken, bis Albert irgendwann auf eines der Häuser zusteuerte und durch ein Fenster im ersten Stock kletterte.

Er ächzte leicht, als er durch das Fenster stieg und fluchte leise.

„Vorsicht, die Splitter sind scharf.“, warnte er uns. Ich wagte einen Blick nach hinten. Aus einer der Gassen kam wieder das Licht. Schnell hob ich Jeremy hoch, der es allein nicht durch das Fenster schaffen würde. Albert auf der anderen Seite nahm ihn entgegen und setzte ihn dann wieder auf dem Boden ab.

„Beeil dich.“, flüsterte er panisch. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich klammerte mich am Fensterrahmen fest und ignorierte den Schmerz, der durch meine Finger zog, als sich die restlichen Spitzen von dem Fensterglas, die nicht mit abgebrochen sind, in meine Finger bohrten. Ich zog mich ein Stück hoch und sprang dann durch das Fenster ins Innere.

„Wir wissen, dass ihr hier seid.“, hörte man ganz deutlich, diesmal eine männliche Stimme. Viel zu deutlich. Viel zu nah.

„Ihr könnt euch nicht verstecken.“, hörte man wieder jemanden laut rufen. Das Licht war nun so hell, dass sie ganz nah sein mussten. Das Zimmer in dem wir uns befanden, war ein Schlafzimmer. Albert deutete Jeremy sich unter dem riesigen Bett zu verstecken und kroch neben ihn. Ich entschied mich dafür in den Kleiderschrank zu gehen. Ich schloss die Kleiderschranktür von innen und hoffte inständig, dass wir nicht entdeckt wurden.

„Wo seid ihr?“, hörte man die Stimme wieder. Warum wurden wir verfolgt? Das ergab keinen Sinn. Wir hatten ihnen nicht einmal den Weg gekreuzt. Mein Herz hämmerte so sehr gegen meine Brust, dass ich Angst hatte, es würde mich verraten.

„Wo sind sie?“, hörte ich eine Frau ziemlich entnervt fragen. Durch den kleinen Spalt, den der Schrank mir bot, sah ich Schatten auf dem Boden des Zimmers.

„Vielleicht sind sie weiter geradeaus.“, schlug einer vor. Ich betete inständig, dass sie auf ihn hören würden.

„Vielleicht sind sie aber auch in eines der Häuser geflüchtet.“, hörte ich einen anderen sagen. Mein Herz klopfte wie wild. Ich hatte Angst, dass es gleich aus meiner Brust sprang. Was wollten die von uns? Konnten sie es nicht einfach belassen und uns in Frieden lassen? Wir hatten ihnen schließlich nichts getan.

„Ich würde sagen wir teilen uns auf.“, sagte dann ein anderer. Ich versuchte ruhiger zu atmen, aber es gelang mir nicht.

„Wir treffen uns wieder hier. Ich will sie haben. Ich hab seit Tagen nichts Ordentliches mehr zu Essen gehabt.“, beschwerte sich wieder einer von ihnen. Scheinbar waren die anderen zu einer Übereinstimmung gekommen, denn ich hörte, wie sich Schritte entfernten. Jedoch blieb das Licht.

„Ich gehe hier rein, du siehst da hinten nach!“, sagte jemand. Wieder entfernten sich Schritte und dann hörte man das Knirschen der Glassplitter, als jemand durch das Fenster nach drinnen kam.

„Verdammt.“, grummelte derjenige. Scheinbar hatte auch er sich am Glas geschnitten. Man konnte die leisen Schritte ausmachen. Ich sah die Umrisse der Gestalt, als diese vor dem Schrank stehen blieb. Alles Beten schien kein Sinn zu machen, denn ich saß in der Falle. Vorsichtig zog ich mein Messer aus meinem Gürtel. Mir würde nichts anderes übrig bleiben, als auf diesen Mann einzustechen. Wenn ich aus dem Schrank kam und den Mann ablenkte, dann konnten Jeremy und Albert flüchten. Wenigstens das konnte ich tun. Damit wir sicher waren.

Die Person vor dem Schrank trat jetzt Näher. Er lehnte seinen Kopf nach vorn, um durch den Spalt zu sehen. Ich erkannte sein Auge, in dem sich das Licht seiner Lampe reflektierte. Er leuchtete mit durch den Spalt. Ich drängte mich unwillkürlich weiter an die hintere Schrankwand, das Messer fest umklammert, entschlossen zuzustechen, sobald er den Schrank öffnete.

Doch bevor irgendetwas passierte, hörte ich ein Scheppern, das Licht ging aus und jemand fiel auf den Boden. Dann wurde der Schrank mit einem Ruck aufgemacht. Bevor ich reagieren konnte, wurde ich herausgezogen und eine Hand presste sich auf meinen Mund, während die andere mein Handgelenk umklammerte, sodass ich nicht zustechen konnte. Ich versuchte mich zu wehren und aus dem Griff zu winden, aber ich war zu schwach. Ich hoffte auf Hilfe von Albert, aber nichts passierte. Ich war nur vollkommen orientierungslos, jetzt wo das Licht der Lampe aus war.

„Halt still verdammt, ich will dir nichts tun. Ich will nur nicht, dass du mich umbringst!“, sagte der, der mich festhielt. Anhand seiner Stimme erkannte ich, dass er sichtlich Mühe hatte mich im Griff zu halten, doch seine Worte machten mich stutzig. Er wollte mich also nicht umbringen. Ich wusste nicht, ob ihm zu trauen war.

„Ihr müsst unter dem Bett vorkommen und dann verschwindet in den Keller, bevor sie wieder zurück kommen.“, wies er uns an. Sie? Ich verstand nicht was er meinte. War er nicht einer von ihnen?

Scheinbar merkte er, dass ich mich nicht mehr wehrte und ließ mich los. Ich stolperte nach vorn und drehte mich dann zu dem Unbekannten. Meine Augen mussten sich erst noch an die Dunkelheit erkennen, so lange konnte ich nur seine Umrisse wahrnehmen. Aber er war groß und kräftig gebaut. Mit einem Blick durchs Zimmer erkannte ich drei weitere Personen. Jeremy und Albert, die grade unter dem Bett hervor gekrochen kamen und ein dritter Mann, der auf dem Boden lag.

„Hast du ihn erschlagen?“, fragte ich, meinen Blick immer noch auf den Körper am Boden gerichtet.

„Ich hab ihn nur bewusstlos geschlagen.“, erwiderte der andere. Ich nickte, wobei ich mir sicher war, dass er das in der Dunkelheit nicht unbedingt sah. Solange er bewusstlos war, würde er uns nicht viel tun können.

„Wer sind die?“, fragte ich ihn. Er schien mehr zu wissen, auch was sie wollten.

„Dafür ist jetzt keine Zeit, Erklärungen folgen später. Fürs erste müssen wir hier weg.“, drängte er. Albert schien kein großes Problem damit zu haben auf einen Fremden zu hören. Natürlich hatte er uns grade gerettet, aber was, wenn das alles nur Taktik ist und im Keller eine Falle auf uns wartete? Ich umklammerte sicherheitshalber wieder mein Messer. Nur für den Fall, dass er irgendetwas vor hatte.

„Du gehst vor!“, sagte ich bestimmt. Der Kerl seufzte entnervt, folgte jedoch meiner Aufforderung und lief nach vorn zur Tür, die aus dem Schlafzimmer führte. Da Albert und Jeremy ihm folgten, blieb mir nichts anderes übrig, als es ihnen gleich zu tun. Einen Moment lang sah ich auf die Tür, durch die die anderen verschwunden waren und folgte ihnen dann langsam. Ich stieg vorsichtig über den bewusstlosen Mann hinweg, darauf aus ihn nicht zu berühren und wollte grade zur Tür, als mich etwas an den Knöcheln packte und mir die Füße weg riss. Ich verlor den Halt und knallte mit voller Wucht auf den Boden. Ein kurzer Schrei entwich mir und mein Messer viel aus meiner Hand. Es landete einen Meter weiter entfernt. Der Mann, der nun nicht mehr bewusstlos war, zog an meinem Bein, als wollte er mich zu sich ziehen. Ich stemmte mich mit aller Kraft dagegen und streckte mich, um an das Messer zu kommen.

Der Mann wusste scheinbar nicht recht, was er tun sollte oder wie er mich bei sich halten sollte und biss mir in den Knöchel. Ich schrie auf vor Schmerz, dachte jedoch nicht daran aufzugeben.

„Wenn du dich wehrst, tut es nur noch mehr weh.“, sagte er und ein verrücktes Lachen erklang. Ich strampelte mit den Füßen und trat gegen alles, was ich erreichen konnte. Der Mann stöhnte vor Schmerz kurz auf, als ich scheinbar irgendetwas von ihm trat. Ich nutzte den kurzen Moment, in dem er unachtsam war, um wieder nach vorne zu robben und konnte mein Messer greifen. Grade als er wieder an meinem Bein zog, drehte ich mich um und rammte ihm das Messer in irgendeine Stelle seines Körpers. Der Griff an meinem Bein erschlaffte. Schwer atmend entriss ich ihm mein Bein und stand auf. Jemand stolperte hinter mir in das Zimmer, doch ich achtete nicht darauf, wer es war.

Der Mann begann zu röcheln. Er bekam keine Luft mehr. Ich hatte ihm mein Messer direkt in seinen Hals gerammt und vermutlich erstickte er grade an seinem eigenen Blut. Ich schluckte. Mir wurde schlecht bei dem Anblick und ich schloss die Augen.

„Wir müssen weiter.“, ertönte die Stimme von dem, der uns geholfen hatte. Oder immer noch half. Aber auch er klang nur mäßig gefasst.

„Mein Messer.“, murmelte ich erstickt. Ich durfte jetzt nur nicht heulen. Ich musste mich jetzt konzentrieren. Aber die röchelnden Laute des Sterbenden machten mich wahnsinnig. Trotzdem versuchte ich mich zusammen zu reißen. Wie in Trance ging ich neben ihm in die Knie und zog das Messer aus seinem Hals. Er würde qualvoll sterben. Das hatte ich nicht gewollt.

Grade als ich wieder aufstehen wollte, berührte der Mann sachte meine Hand. Ich wollte ihn nicht ansehen. Ich wollte aufstehen und weglaufen. Doch das war ich ihm schuldig. Ich hatte schließlich dafür gesorgt, dass er starb. Ich sah auf ihn herab und er umklammerte meine Hand. Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Obwohl er grade eben noch so bedrohlich gewirkt hatte, tat er mir nun leid. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber kaum Laute drangen aus seiner Kehle. Es war letztendlich nur ein Flüstern, doch ich verstand, was er mir sagen wollte.

„Bitte.“

Er wollte, dass ich seinen Schmerzen ein Ende setzte. Der flehende Ausdruck auf seinem Gesicht. Er wollte nicht leiden. Ich presste die Lippen aufeinander. Ich hatte ihn ohnehin schon getötet. Ich umklammerte das Messer wieder und bevor ich mich noch um entscheiden konnte, bevor ich noch einmal darüber nachdachte, rammte ich es ihm in die Brust, mitten ins Herz. Die Hand, die meine so sachte umklammert hatte ließ los. Seine Glieder erschlafften und schließlich verschwand auch das letzte bisschen Leben aus ihm.

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Tag der Veröffentlichung: 26.09.2015

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