Juni May
Rosenrot und kalt wie Eis
Diese Flüche die wir säten,
die aus Blut und die aus Dornen,
die aus Eis und Rosen,
die aus Türmen und aus Träumen,
sag, wer wird uns befreien?
Gefangen in Palästen,
eingesperrt in Einsamkeit,
in Herzen die in Ketten liegen.
Niemand kann siegen.
Wird es unser ewig Elend sein?
Am Ende sterben wir
und ohne je geliebt zu sein,
Allein
Er war also tot.
In dem Moment, als die Worte ausgesprochen waren, herrschte eine abrupte, schockierte Stille in der großen Aula der Rosenwald-Akademie, in der kurz zuvor noch ein wildes Gewirr aus Stimmen und Gelächter getobt hatte. Zwischen den Schülern war es innerhalb weniger Minuten zu regen Diskussionen über den Grund dieser Zusammenkunft gekommen, denn normalerweise wurden sie nie zu einer Versammlung dieser Art einberufen und schon gar nicht nach Anbruch der Dunkelheit. Es war bereits neun Uhr am Abend und die Sperrstunde hatte längst begonnen, als das Läuten der schweren Metallglocke aus dem Turm an der Mauer erklang und einen jeden aus seinen Tätigkeiten und Gedanken gerissen hatte. Es war klar, dass etwas geschehen sein musste. In einer abgelegenen Gegend wie der diesigen, umgeben von endlosen, dunklen Wäldern, waren solche plötzlichen und lauten Geräusche noch bedrohlicher als sie ohnehin schon klangen. Kurz darauf hatte es an den Türen gehämmert und die Lehrer beorderten jeden Schüler in den großen Saal mit den bunt und aufwendig verzierten Fenstern, der sonst nur für Feierlichkeiten und Zeugnisausgaben genutzt wurde. Es war ein Ort der Freude, doch nicht heute. Mit blassem Gesicht und schweißnasser Stirn war der Direktor der Akademie auf das Podium und vor die Schüler getreten. Er war noch ein junger Mann mit strahlend blonden Haaren und eisblauen Augen, immer fein gekleidet, immer lächelnd, aber heute wirkte er um Jahre gealtert und müde. Seine Stimme war schwach und zitterte ein wenig, als er ohne eine weitere Einleitung oder Erklärung verkündete, dass Lucart de Maar, jener Lehrer, der seit einer Woche unentschuldigt im Unterricht fehlte, tot vor der Mauer aufgefunden worden war. Noch immer wagte niemand etwas zu sagen. Alle starrten wie gebannt zu Direktor Chevalier, darauf wartend, dass er weitersprach, doch er ließ diese Stille für eine schiere Unendlichkeit im Raum verharren, beinahe so als wüsste er selbst nicht was er seinen Schülern sagen sollte. Als würde er darauf hoffen, dass jemand für ihn das Wort ergriff.
So leise wie möglich seufzte Luna und begann die Gesichter der anderen Schüler zu mustern, in deren Mitte sie sich befand. Es waren nicht alle Klassenstufen anwesend. So wie sie es einschätzen konnte, hatte man den Grundschülern der 1.- 6. Klassen dieses Treffen nicht zugemutet, was wahrscheinlich auch besser so war. Doch auch mit den restlichen Jahrgängen, dem Personal und den Lehrern waren sie etwas mehr als 150 Personen und noch hatte sie ihre Freunde unter ihnen nicht ausmachen können. Nochmals sah sie in die Gesichter der umstehenden Mitschüler. Tatsächlich schienen alle kreidebleich vor Schock und Trauer zu sein und das war mehr als verständlich, jemand war gestorben, hier an dieser Akademie, das hatte es noch nie gegeben, zumindest nicht aus einem anderen Grund als Altersschwäche. Es gab Geschichten über Menschen außerhalb der Akademie die in Wäldern verschwanden, über Monster, die einen fraßen, wenn man zu lange im Mondlicht wandelte oder Kinder aus ihren Häusern entführten, doch diese Geschichten wirkten wie Märchen aus längst vergangen Zeiten oder fernen Welten, denn in Wahrheit wussten sie nur das über die Außenwelt, was man ihnen im Unterricht erzählte. Sie kamen als kleine Kinder hierher, von ihren Eltern verstoßen oder als Waisen, die keine Heimat hatten. An ihr Leben vor diesem Ort konnten sie sich kaum erinnern und keinen Tag im Jahr waren sie nicht hier. In ihrem eigenen Fall war dies, seit sie sieben Jahre alt gewesen war. Fast elf Jahre waren mittlerweile vergangen, in Sicherheit oder Gefangenschaft, je nachdem wie man es empfand und für sie war es das Letztere, auch wenn sie kein anderes Zuhause kannte. Hunderte Male waren sie gewarnt worden die Mauern nicht ohne ausdrückliche Sondergenehmigung und ohne einen wichtigen Grund zu verlassen, aber nie war etwas passiert und viele hielten es für eine leere Drohung, um sie in Schrecken zu versetzen und leichter unter Kontrolle zu haben. Sie selbst hatte es auch gedacht und oft mit dem Gedanken gespielt einmal hinauszuschleichen und sich anzusehen was die Welt dort draußen zu bieten hat. Ein jüngeres Mädchen in ihrer Nähe begann lautlos zu weinen, nur ein leichtes, kaum merkbares Wimmern drang aus ihrer Richtung an Lunas Ohren. Lucart de Maar war eine äußerst beliebte Person an dieser Akademie gewesen und hatte eine Menge Verehrerinnen und Verehrer gehabt, er war jemand dessen lautes und fröhliches Lachen stets jeden Raum erfüllt hatte. Schon sein plötzliches Verschwinden hatte für eine bedrückte Stimmung unter den Schülern und Lehrkräften gesorgt, aber dass er tatsächlich tot war…unwillkürlich presste sie ihre Hand auf ihren Brustkorb und ein ungutes Gefühl, eine dunkle Vorahnung, ließ sie erschaudern. Noch vor wenigen Nächten hatte sie davon geträumt, wie er in den Wäldern um sein Leben gerannt war. Sie hatte alles gespürt, seine Angst, seine körperlichen Schmerzen, das Brennen in seinen Lungen, wie ihn die Kraft verließ, bevor sich etwas aus der Schwärze auf ihn stürzte, ihn zu Boden riss und alles in Blut getaucht wurde. Sie hatte das weiche Moos unter seinen nackten Füßen gespürt, den Duft der Bäume und der vermoderten Erde vernommen, als wäre sie dabei gewesen, als wäre sie er gewesen. Aber sie hatte es für sich behalten, denn schließlich war es nur ein Traum gewesen und es musste sich um einen grausamen Zufall handeln, dass er nun tatsächlich tot und im Wald am Rand der Mauern gefunden worden war, das alles wirkte vollkommen unreal. Ihr Magen verkrampfte sich.
Wenn sie jemandem von ihrem Traum erzählt hätte, hätte man es noch verhindern können? Aber wer hätte ihr das geglaubt? Das beklemmende Gefühl der Schuld lag wie ein Stein auf ihrem Herzen und ihr Atem kam nur noch gepresst hervor, als die Welt um sie herum langsam verschwamm und sie seine Angst oder vielleicht sogar die Angst aller Personen im Raum, erneut in sich aufsteigen fühlte.
Ein Druckgefühl auf ihrer Schulter ließ sie zusammenzucken und holte sie unwillkürlich aus ihren Gedanken zurück in die Gegenwart.
„Ist alles in Ordnung?“ flüsterte eine dunkle, vertraute Stimme ihr zu. Sie drehte sich erleichtert um und sah in die katzenhaften, bernsteinfarbenen Augen des dunkelhaarigen Jungen, der ihre Schulter noch immer nicht losließ und sie eindringlich musterte.
„Victor Valeeva, erschreck mich nie wieder so oder ich kick dich um…aber ja“ hauchte sie und entspannte sich ein wenig, denn erst jetzt merkte sie wie ihr ganzer Körper unter Strom stand und bebte „Ja, es ist alles gut. Du musst dir keine Sorgen machen Lev.“
Noch immer beäugte er sie misstrauisch und zog eine Augenbraue nach oben, was ein Zeichen dafür war, dass er ihr nicht glaubte, doch er schien ihren sturen Blick zu bemerken, denn er nahm seine Hand von ihrer Schulter und ließ es auf sich beruhen.
Erleichtert darüber, dass er nicht weiter nachhakte, atmete Luna nochmals tief aus und ihr Blick fiel auf sein weißes Hemd, das nicht vollständig zugeknöpft war und ziemlich mitgenommen aussah. Einer seiner schwarzen Hosenträger war leicht eingerissen und ein paar Spuren von Erde und Dreck klafften unverkennbar auf dem feinen, dünnen Stoff, der sich perfekt an seine schlanke Figur schmiegte. Auch auf seiner blassen Haut stachen einige blutige Kratzer hervor und ein paar Haarsträhnen fielen ihm unordentlich ins Gesicht „Warst du wieder unterwegs? Ohne mich?“ fragte sie mit einem vorwurfsvollen, aber dennoch neckischen grinsen. Lev war kein Mensch, der sich gerne drinnen aufhielt. In seinem Zimmer hielt er es nie lange aus und spazierte lieber auf dem Gelände und im Park herum. Meist jedoch machte er es sich auf der Mauer oder sogar auf dem Dach bequem und starrte in den Himmel, oft schon hatte er sie mitgenommen und sie hatten zusammen geschwiegen und die Freiheit, die der Wind von außerhalb der Mauern mit sich brachte, genossen.
„Als ich das Läuten gehört habe dachte ich mir schon, dass man uns einen persönlichen Besuch abstatten wird, also musste ich eine Abkürzung nehmen, aber ich bin beim Klettern an den Ranken zu meinem Fenster an diesen dämlichen Dornen ständig hängen geblieben. Ich hab’s gerade so ins Zimmer geschafft, als die alte Hexe Hartwig schon an meiner Tür geklopft hat. Wenn die mich nochmal erwischt hätte, wäre ich wohl diesmal in einem Zimmer ohne Fenster gelandet. Dann hättest du mich befreien müssen.“
Amüsiert lächelte Luna ihn an „Auf jeden Fall bekommst du bald keine neuen Hemden mehr, wenn du so weitermachst. Aber über den Anblick möchte ich mich nicht beschweren.“
„Luna Mae Rhosyn“ beugte er sich zu ihr hinunter und sein warmer Atem streifte ihr Ohr „Selbst bei einem solchen Anlass kannst du deine verruchten Gedanken nicht ungesagt lassen. Du bist ein böses Mädchen. Ich frage mich, warum das niemand außer mir bemerkt.“ Seine Worte klangen tadelnd, aber ein kaum merkbares Lächeln umspielte seine schmalen Lippen. Wer ihn nicht kannte und dies traf auf die meisten zu, hielt ihn entweder für vollkommen ausdruckslos, grimmig oder hatte sogar Angst vor ihm, denn seine Gesichtszüge verrieten nie viel. Er sah aus, als wäre er ständig genervt oder nicht interessiert an seinen Mitmenschen, aber er war ein loyaler Freund für die Wenigen, die ihm nahestanden und in ihm verbargen sich sehr viel mehr Emotionen, als er es sich anmerken ließ.
„Du hast Recht, das ist unangemessen angesichts der aktuellen Lage, aber nur so aus Neugier, wo warst du?“
Seine Gesichtszüge verhärteten sich nun doch deutlich „Hier und dort eben. Nicht von Belang.“
Sie wollte protestieren, denn es schien sehr von Belang zu sein, wenn er so abweisend reagierte, doch gerade als sie etwas entgegnen wollte durchbrach jemand endlich die Stille.
„Aber woran ist er gestorben? Sie müssen uns doch noch mehr sagen, das kann es doch nicht gewesen sein. Bekommen wir keine Erklärung und sollen einfach mit dieser Aussage leben und zurück in unsere Betten gehen, als sei nichts gewesen?“ Der jüngere Schüler sah sich mit geweiteten Augen und offenem Mund um, fassungslos, dass niemand sonst diese Frage zu stellen schien. Zumindest nicht laut, denn gedacht hatten es wohl alle, wie die fragenden und neugierigen Blicke, die nun auf den Direktor gerichtet waren, es vermuten ließen. Dieser räusperte sich und nahm eine aufrechte Stellung ein „Im Ewigwinterwald wimmelt es nur so von aggressiven Grauwölfen und besonders in diesem Frühjahr scheint die Nahrung knapp zu sein und sie kommen besonders dicht an die Dörfer und auch unsere Mauer heran. Es war ein schreckliches Unglück, dass er gerissen wurde auf einem ungenehmigten Ausflug. Daher…“ seine Stimme wurde nun dröhnender und seine Augen verfinsterten sich „Daher ist es von absoluter Wichtigkeit, dass ihr diese Gefahr ernst nehmt, euch an alle Anweisungen haltet und innerhalb der Akademie bleibt. Nur hier kann euch nichts geschehen! Sollte jemand gegen die Regeln verstoßen wird dies Konsequenzen nach sich ziehen. Gefährdet nicht euch selbst oder eure Mitschüler! Nun geht bitte sofort auf eure Zimmer, auf direktem Wege und wir werden diesen tragischen Unfall mit der Zeit verarbeiten, auf das es sich nicht wiederholt. Am Ende der Woche wird es eine Trauerzeremonie geben. Ihr müsst euch nicht sorgen, aber seid vorsichtig. Bleibt am besten auch auf dem Gelände nie allein und haltet euch an eure Freunde und Kameraden. Man kann nie vorsichtig genug sein und sollte nicht jedem trauen dem man begegnet. Bitte nehmt dies ernst, ich bitte euch.“
Den letzten Satz betonte er mit solchem Nachdruck, dass er für einen Moment in allen Anwesenden nachhallte. Dann begann jedoch langsam das Gemurmel und Getuschel untereinander wieder und die Schüler begannen sich in kleinere Gruppen aufzuteilen. Zögerlich bewegte man sich Richtung Ausgang.
„Ich gehe schnell duschen und wechsle meine Kleidung“ wendete sich Lev ihr wieder zu und legte seine Hände kurz an ihre Taille, als er sich sehr nah zu ihr lehnte „Komm in zwanzig Minuten auf mein Zimmer und bring Nastja und meinetwegen auch Isobelle mit.“ Sein Ton war neutral, doch etwas an der Art wie er es sagte und sie dabei berührte beunruhigte Luna zutiefst und ihr Herz schnürte sich einen Augenblick lang zu. Er schob sich ohne weitere Worte zwischen den anderen Schülern an ihr vorbei und verschwand in der Menge.
Zusammen mit ihrer besten Freundin Nastja und ihrer gemeinsamen Freundin Belle, die sie kurz vorm Eingang der Aula abgefangen hatten, lief Luna wortlos die langen, breiten Wege und Treppen entlang. Das rote Backsteingebäude der Rosenwald-Akademie war vor über hundert Jahren erbaut worden, aber noch immer von großer Pracht und erinnerte an einen Landsitz der westlichen Inseln von Kaleni, einer Gegend, die besonders beim alten Adel sehr beliebt war, so hatte sie es zumindest in den Büchern und Filmaufnahmen gesehen, leider durfte sie ja noch nie dorthin reisen. Wenn sie doch nur endlich ihren Abschluss machen könnte, anstatt jeden Tag die gleichen Räume und Eindrücke vor sich zu haben, dachte sie, während sie lustlos den immer gleichen Gang musterte. An den Wänden befanden sich kunstvolle Landschaftsgemälde, eingehüllt in goldenen Rahmen, goldene Lampen hingen von der Decke und ein dicker, edler Teppichstoff bekleidete die Stufen und Flure auf jeder Etage, die Farben unterschieden sich auf jeder von ihnen. Die Grundschüler waren in einem eigenen Haus untergebracht und auch die Angestellten hatten ein eigenes Anwesen. Im Haupthaus befanden sich die Unterkünfte der Mittel- und Oberschüler, sowie der Frühstückssaal, die Aula und die meisten Unterrichtsräume. Lunas Jahrgang war in der fünften und damit obersten Etage untergebracht, der durch den dunkelroten Teppich und das Symbol einer roten Rose gekennzeichnet war. Diese rote Rose war auch auf ihren Mänteln, Uniformen und Hemden eingestickt, so dass jederzeit erkennbar war, wer welchem Jahrgang angehörte. Sobald man in die siebte Klasse kam, wurde einem diese Farbe zugeteilt und sie begleitete einen von da an bis zum Abschluss. Sie alle waren Kinder aus Armut und Elend, dass sie an einem Ort wie diesem leben und lernen durften und für sie gesorgt wurde war mehr als nur ein Privileg, darauf wies man sie seit ihrer Kindheit regelmäßig und eindringlich hin. Die beiden Königsfamilien, die der Menschen und die der Vampire, finanzierten diese Einrichtung aus eigenen Mitteln und allen voran die Vampire sollen großen Wert auf diese Akademie legen, was nicht verwunderlich war, denn schließlich spielte Bildung innerhalb der Gesellschaft der Vampire eine übergeordnete Rolle. Auch dadurch galten sie als die wahren Herrscher über Kaleni. Niemand den sie kannte, war je einem leibhaftigen Vampir begegnet oder sie wussten es nicht, wenn es doch der Fall war. Sie galten gemeinhin als wunderschön, intelligent und pazifistisch, wahrscheinlich würde man sofort bemerken, dass sie anders waren und sie würden einen mit Leichtigkeit in ihren Bann ziehen. Dass sie das Blut der Menschen tranken, das von allen gesunden Bürgern in bestimmten Abständen gespendet werden musste, galt als eine Ehre. Es hieß ohne die Vampire sei unser Volk verloren, sie waren und sind die einzigen Beschützer vor den dunklen Gefahren der Nacht. Ob sie jemals eines dieser Wesen antreffen würde, wenn es ihr endlich erlaubt war die echte Welt zu betreten und nicht nur diese kleine, sich nie verändernde Glaskugel, in der sie lebten, wäre die Welt dann so wie es ihnen erzählt wurde oder würde sich rausstellen, dass die Wahrheit vollkommen anders aussah? Standen sie unter dem Schutz der Vampire oder waren sie ihr Besitz? Ein Gedanke, von dem sie niemals wagen durfte, ihn laut auszusprechen, denn dies käme einem Hochverrat gleich und doch keimte er immer wieder in ihr auf, wenn sie bei ihren nächtlichen Ausflügen auf die dichten Wälder schaute und sich fragte, was sich dort und dahinter tatsächlich verbarg.
Einestages werde ich es erfahren, dachte sie entschlossen, als sie das Ende des Korridors erreicht hatten.
Ruckartig riss Luna die braune Holztür zu Victors Zimmer auf und ging hinein.
„Klopfen wird wohl überwertet“ sagte Lev unbeeindruckt, als er oberkörperfrei vor seinem Kleiderschrank stand und sich ein neues Hemd heraussuchte, von denen tatsächlich nicht mehr viele übrig waren, wie ein Blick in den fast leeren Schrank vermuten ließ „Es sind erst 16 und noch keine 20 Minuten, ihr könnt froh sein, dass ich überhaupt schon etwas anhabe.“
„Oh nein“ quietschte Nastja, als sie mit Belle über die Türschwelle trat, drehte sich so schnell es ging um und hielt sich die Hände vor ihr feuerrotes Gesicht „Es tut mir leid, es tut mir so leid. Oh je.“
„Eww“ meinte Belle nur angewidert und verzog das Gesicht „Das will echt keiner sehen.“
Mit amüsiertem Grinsen und hochgezogenen Augenbrauen wanderte seine Aufmerksamkeit zu Luna, während er sich das Hemd überstreifte und extra langsam begann die Knöpfe zu verschließen „Ach ja meinst du Isobelle? Meine Augen sind hier oben Luna, schon ein wenig unangemessen so offen zu starren.“
„Hmhm“ nickte sie nur und machte kein Geheimnis daraus, dass ihr gefiel, was sie sah. Er war etwas größer als sie, ziemlich schlank, seine Muskeln trotzdem definiert, aber für ihren Geschmack nicht zu übertrieben. Sie war froh, dass er fast ausschließlich nur diese Hemden trug und nicht wie alle anderen Jungs die weiten, schwarzen Pullover darüber anzog. Sie mochte schöne Dinge und sie mochte es zu flirten und hatte nie verstanden warum ihnen von einigen Lehrerinnen eingetrichtert wurde, man müsse sich als Mädchen stets schüchtern, zurückhaltend und anständig geben. Bei Nastja war es verständlich. Es war Teil ihrer natürlichen Persönlichkeit, sie war schon seit der Grundschule so, obwohl sie es liebte schmutzige Romane zu lesen und sich diese sogar illegal durch die Bibliothekarin besorgen ließ, war es in der Realität etwas völlig anderes. Sobald ein Junge Nastja nur anlächelte wurde sie knallrot. Aber warum sollte man sich extra verstellen und vorgeben jemand zu sein, der man nicht wirklich war? Er schloss den letzten Knopf, trat mit einem schiefen Lächeln neben sie und verwuschelte leicht ihr welliges, schwarzes Haar „So aufhören zu sabbern Luna und konzentriere dich, ich habe euch aus einem ernsten Grund herbeordert.“
Sein Tonfall wurde dunkler als er sich neben sie an die Wand lehnte und mit dem Fuß abstützte. Belle und Nastja setzten sich mit besorgtem Blick gegenüber auf sein Bett. „Also“ verschränkte Lev die Arme vor der Brust „Was haltet ihr von der Sache eben?“
Schweigend sahen alle eine Weile hin und her, bevor Nastja zuerst das Wort ergriff „Ehrlich gesagt, ich halte es für plausibel, dass es nur ein tragisches Unglück war. Es gibt Wölfe in den Wäldern und wenn er spazieren war und die Zeit vergessen hat, die Nacht brach herein. Das klingt nachvollziehbar, vielleicht hoffe ich es aber auch nur, denn viele Informationen hat man uns nicht mitgeteilt und der Direktor wirkte so verstört.“ Nervös spielte sie am Saum ihres Rocks herum, als Belle ihre Hand ergriff „Du hast Angst und das ist verständlich, aber wenn wir die Regeln befolgen und uns vom Wald fernhalten, wird uns nichts passieren! Ich denke nicht, dass es einen Grund zur Sorge gibt, und wir sollten uns nicht damit belasten.“
Belles dunkelbraune Augen blitzten scharf und fordernd zwischen den Freunden umher „Ich meine, ich mache mir nur Sorgen, ich möchte nicht, dass jemand etwas Dummes tut und sich aus reiner Neugier unnötig in Gefahr begibt.“ Besonders Luna sah sie hierbei ausgiebig an „Ich weiß ja, wie gerne du dich mit Valeeva herumtreibst, was auch immer ihr da so tut, allein im Mondschein.“
Seinen Namen betonte sie dabei so abwertend wie möglich, wie gewohnt. Die beiden hatten sich schon als Kinder von der ersten Sekunde an nicht leiden können. Luna verstand nicht wieso und hatte immer gehofft es würde sich bessern, doch Belle hatte eine unerklärliche Wut auf ihn, als läge ein Twist zwischen ihnen, der schon seit Generationen schwelte.
„Du bist verletzt“ erschrak Nastja plötzlich und sah schockiert auf den Arm ihr Freundin hinab „Was ist passiert?“
Sie hatte recht, auf Belles dunkler Haut waren die blutigen Kratzer erst nicht so deutlich aufgefallen, doch auf ihrem linken Arm zogen sich ein paar längliche Schrammen entlang. Sie waren nicht tief, aber dennoch.
„Ach das“ lächelnd winkte sie ab, zog sich ihr Haarband ab und schnürte es um die Schramme „Das hatte ich in der Aufregung ganz vergessen. Kurz bevor das Läuten losging, war ich gestolpert und an meinem Badtürrahmen hängen geblieben, das Holz ist doch schon seit einer Weile beschädigt und durch diese ganze Sache habe ich nicht mehr daran gedacht. Ich habe noch Pflaster da, kein Problem, aber was wolltest du uns denn nun eigentlich sagen Valeeva?“
Nastja und Luna tauschten einen vielsagenden Blick miteinander aus, sie glaubten ihrer Freundin nicht, diese Lüge und das anschließende Ablenken vom Thema kamen zu glatt und schnell über ihre Lippen, aber sie würden es erstmal auf sich beruhen lassen, vorerst zumindest.
Seufzend fuhr er sich durch das rabenschwarze, noch nasse Haar, dann begann er ruhig und sachlich seine Schilderung „Das der Direktor verstört war wundert mich nicht und Luna sicherlich auch nicht.“ Sie nickte zustimmend in seine Richtung und er redete weiter „Auf unseren, von euch so schön betitelten Mondschein-Touren, kann man nämlich so einiges entdecken. Nachts ist hier eine Menge los, wenn die Leute denken das alle in ihren Betten liegen und keiner sie beobachtet. Der Direktor und Lucart de Maar haben eine Beziehung geführt, schon eine ganze Weile. Sie haben sich oft nachts im dunklen Teil der Parkanlage getroffen oder de Maar hat sich vom Lehrergebäude zu Chevaliers privater Unterkunft geschlichen. Sie schienen sehr verliebt zu sein, aber werden wohl ihre Gründe gehabt haben, warum sie es geheim hielten.“ Dies war auch nicht weiter überraschend, dachte Luna, sie waren Angestellter und Vorgesetzter und so etwas war nicht gerne gesehen. Noch dazu ist Chevalier ein Mitglied der Königsfamilie, er hat zwar freiwillig auf die Thronfolge verzichtet, doch ob er einen bürgerlichen heiraten durfte, blieb trotzdem fraglich. Eheschließungen waren seit etwa vierzig Jahren nicht mehr an ein bestimmtes Geschlecht oder einen bestimmten Stand gebunden, seit der neue König der Vampire dieses Gesetz geändert hatte, aber dennoch gab es weiterhin viele Personen, besonders Mitglieder der Neumondkirche, die gegen solche Beziehungen waren und an alten Traditionen klammerten. Manche bekundeten dies öffentlich, andere nur hinter zugehaltenen Türen, so hatte de Maar Selbst es ihnen einst im Unterricht geschildert. „Er hat also seinen Partner verloren, der Arme. Es muss schlimm sein, wenn man seine Gefühle nicht preisgeben darf“ Nastja senkte betroffen den Kopf und das lange rotblonde Haar fiel ihr ins Gesicht. Auch Belle machte ein bedrücktes Gesicht „Hey, schon gut. Du musst lernen das Schicksal anderer nicht so schwer zu nehmen. Konzentrier dich lieber auf dich Selbst, das müssen wir alle“ sanft strich sie ihrer Freundin über den Kopf und Nastjas Wangen glichen sich ihrer Haarfarbe an.
„Letztendlich ist es aber auch nicht weiter wichtig“ fuhr Lev fort „Worauf ich eigentlich hinauswill ist, dass ich vorhin, als ich unterwegs war, gesehen habe, wie sie ihn an der Nordseite gefunden haben, seinen Leichnam und…“
„An der Nordseite bist du doch nie unterwegs“ fiel Luna ihm unwirsch ins Wort „Du warst vorhin schon so ausweichend, was hast du da gewollt?“
Ihrem Blick ausweichend geriet seine Stimme ins Wanken und wurde ungewöhnlich hoch „Meine Güte, mir war eben mal nach Abwechslung zumute, dafür brauche ich mich nicht zu rechtfertigen und es ist gerade auch überhaupt nicht relevant.“
„Wenn es nicht wichtig wäre, könntest du es auch einfach sagen, anscheinend ist da mehr dran an der Sache als du zugibst.“ Luna trat einen Schritt auf ihn zu und versuchte Augenkontakt herzustellen, doch er wendete seinen Kopf noch ein Stück weiter nach links „Du reagierst sonst nie so merkwürdig Victor.“
Er senkte resignierend den Kopf und drehte sich ruckartig zu ihr, so dass er nun ihr tief in die Augen sah „Ich habe jemanden beobachtet, darüber können wir in Ruhe reden, wenn wir allein sind und nicht vor den Beiden“ deutete er mit einem Nicken Richtung Bett, wo Belle und Nastja den Wortwechsel interessiert verfolgten. Er wusste das ihre Neugier keine Grenzen kannte. Lunas Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln und sie deutete ihm mit einer Handbewegung an er könne weiter machen.
„Ich habe den Leichnam gesehen, habe mich auf der Mauer versteckt und eine Weile beobachtet was dort vorging und ich kann euch eins sagen, niemand der von einem Wolf angegriffen wurde sieht danach noch so frisch aus. Da waren definitiv keine wilden Tiere am Werk, man hat uns bewusst angelogen und das muss einen Grund haben. Da draußen ist irgendetwas geschehen, von dem wir nicht erfahren sollen. Leider war ich zu weit weg, um sehen zu können, ob er irgendwelche anderen Wunden hatte. Außerdem kommt es mir sowieso komisch vor. De Maar ist nicht der Typ gewesen, der sich außerhalb der Wälder aufhält oder dort einfach spazieren geht, er war einer der verantwortungsvollsten und vernünftigsten Personen an dieser Schule. Das entspricht nicht seinem Charakter und passt alles nicht zueinander, wenn ihr mich fragt.“
„Du hast recht“ antwortete Belle nachdenklich und erhob sich „Ich muss dir ausnahmsweise Recht geben und deswegen, ich betone es nochmal, haltet euch bitte alle fern vom Wald und seid nicht allein draußen unterwegs, solange wir nicht wissen, was hier los ist. Am vernünftigsten ist es, wenn wir diese Sache durch die zuständigen Personen klären lassen, es auf sich beruhen lassen und uns nicht einmischen. Wir leben einfach weiter wie vorher. Ich möchte keinen von euch verlieren, sogar einen Victor Valeeva nicht.“ Bei dieser Aussage musste sie Selbst die Augen verdrehen.
„Wir sollten unsere Ohren und Augen offenhalten, falls uns etwas Merkwürdiges auffällt oder jemand sich seltsam verhält und es wäre gut, wenn die Sache unter uns bleibt, versteht sich.“
„Ja in Ordnung, das werden wir Victor.“ Nastja hatte ein Zittern in ihrer Stimme und die Sorgen waren ihr deutlich auf die Stirn geschrieben „Wir müssen uns aufeinander verlassen. Wir haben doch nur noch uns. Wenn ich euch auch verlieren würde…“ Das Ende des Satzes blieb an einem unterdrückten Schluchzer hängen.
„Na gut“ Belle klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken „Dann sollten wir versuchen zu schlafen und sehen was die nächsten Tage uns bringen. Das war für uns alle etwas zu viel heute.“
Nastja erhob sich ebenfalls und ging mit Belle zur Tür, an der die Mädchen sich mit einer Umarmung verabschiedeten.
Luna wollte auch gerade zum Gehen ansetzen, doch Lev griff nach ihrem Handgelenk und zog sie sachte zurück ins Zimmer „Warte, du noch nicht!“
Erstaunt taumelte sie ein Stück zurück, als er sie wieder losließ und die Tür hinter sich schloss, nachdem er sich nochmal vergewissert hatte, dass Niemand mehr in der Nähe war. Eilig schob er den Riegel vor die Sicherung. Bei einem der anderen Jungen hätte so eine Aktion sie vermutlich in Besorgnis versetzt. Es war zwar nicht verboten sich nach der Sperrstunde in den Zimmern der Mitschüler aufzuhalten, es wurde aber auch nicht unbedingt gerne gesehen, da es bereits ein paar unschöne Vorfälle in der Vergangenheit gegeben hatte und es auch schon Besuche gab, die Monate später zu unübersehbaren Folgen geführt hatten. Luna erinnerte sich nur mit äußerstem Unbehagen an die stundenlange Predigt der alten Hartwig, die alle Schülerinnen sich danach anhören mussten. Zugegeben, sie war sehr interessiert an diesem Thema und hatte in der Bibliothek bereits jedes Buch durchforstet, welches ihr Wissen erweitern konnte, aber Frau Hartwig sprach über die körperliche Liebe als sei es ein Verbrechen überhaupt daran zu denken. Manchmal, besonders in den langweiligen Sommerpausen, hatte sie den Gedanken Lev einfach zu fragen, ob er es mit ihr ausprobieren würde, aber vielleicht würde es ihre Freundschaft verändern und sie war sich auch gar nicht sicher, ob er überhaupt auf diese Weise an sie dachte. Zwar schienen sie ab und an miteinander zu Flirten, aber das war harmlos und schon immer so gewesen, es hatte keine tiefere Bedeutung. Er hatte nie etwas versucht und schien bisher auch an anderen Personen kein Interesse in dieser Hinsicht zu haben, mal ganz davon abgesehen, dass er allgemein kein großes Interesse an anderen Menschen hatte. Einige der Jungs würden sofort Feuer und Flamme sein, dessen war sie sich sicher, sie war beliebt und galt als gutaussehend. Mit ihrer offenen Art, den großen rotbraunen Augen, dichten Wimpern und langen dunklen Haaren fiel sie auf und entsprach dem Geschmack einiger ihrer Klassenkameraden. Letztes Jahr erst hatte ein Junge aus ihrer Klasse sie gefragt, ob sie Interesse an etwas unverbindlichem Spaß hätte, aber sie wollte nicht irgendwen und … sie wurde sich in diesem Moment bewusst, dass sie noch immer in der Mitte des Raumes stand und in die Leere starrte. Ruckartig sah sie zur Seite, wo Lev bereits seitlich auf dem Bett lag und sie ausdruckslos ansah. Er hatte nur noch ein enges weißes Shirt mit V-Ausschnitt und eine dunkle Boxershorts an, wann genau hatte er sich umgezogen und wo?
Ein paar Sekunden Stille vergingen, bevor er eine Augenbraue hochzog „Bist du jetzt fertig? Ich wollte dich nicht in deinen Tagträumen stören, aber wenn du so weit bist,“ er deutete mit einer Hand auf den freien Bereich vor sich, in dem schmalen Bett „du kannst dich gerne dazulegen oder hast du Angst, dass wir erwischt werden, wie wir zu solch später Stunde im Bett miteinander reden?“ Das amüsierte grinsen und der herausfordernde Blick, der in seinen Augen aufflackerte, entgingen ihr nicht, aber sie ließ sich davon nicht beirren, zog ihre Stiefel aus und legte sich neben ihn.
„Du wirst mir jetzt erzählen, warum du heute unterwegs warst, oder? Du hast es versprochen.“
„Habe ich das?“ Er ließ sich von der Seite auf den Rücken rollen und schloss die Augen „Du wirst dann aber sauer auf mich sein.“
Damit hatte er ihre Neugier nur noch mehr entfacht. Erwartungsvoll drehte sie sich zu ihm und lehnte ihr Gesicht nah über Seines, so dass ihre Nasenspitzen sich fast berührten.
„Du bist anstrengend“ seufzte er mit einem Lächeln und öffnete die Augen wieder „Ich habe deinen Freund beobachtet.“
Sie wich ein Stück zurück „Ich habe keinen Freund. Wovon redest du?“ Ohne es zu wollen rutschte ihre Stimme drei Oktaven höher.
Gähnend verschränkte er die Arme hinter dem Nacken „Dein Date dann eben, dieser Typ, auf den du plötzlich so stehst, obwohl ihr fast noch nie miteinander gesprochen habt.“
Trotz seines monotonen Tonfalls hörte Luna die feine Nuance an Abwertung heraus, die in seinen Worten mitschwang. Er redete von Béla Djokovic, der eine Jahrgangsstufe über ihnen war und der ihr bis vor Kurzem nie aufgefallen war, doch dann kreuzten sich ihre Wege auf dem Frühlingsball. Er hatte nur einen Moment, eine unbedachte Sekunde lang, im Vorbeigehen ihre Hand mit seiner gestreift und es war als würden tausende elektrische Impulse ihren Körper erschaudern lassen. Als sie seinen Blick erwiderte war ihr Herz ins Rasen geraten und ein brennendes Gefühl hatte sich in ihrem Bauch ausgebreitet. Diese dunklen, blauen Augen waren tief in ihre Seele eingedrungen. Alles an ihm sah aufregend aus, er war umgeben von einer selbstbewussten Aura. Er hatte dunkles, kurzes Haar an den Seiten, aber der Mittelteil war länger, nach hinten gegelt und blond gefärbt. Er war individuell, alles an ihm war aufregend. Er strahlte etwas Mysteriöses und Fremdes aus, dass sie äußerst faszinierend fand. Obwohl er normalerweise nicht ihrem Geschmack entsprach, hatte er etwas in ihr ausgelöst. Doch er lächelte nur kurz und verschwand, so plötzlich wie er aufgetaucht war. Seitdem hatte sie ihn einige Male auf dem Gelände getroffen und nach dem letzten kurzen Gespräch war es passiert. Ohne Vorwarnung hatte er sie gepackt und geküsst und meinte er sei interessiert sie öfter zu sehen. Seitdem war sie wie verzaubert von ihm und in der letzten Woche hatten sie jede unbeobachtete Sekunde genutzt, um sich zu treffen und in dunklen Ecken zu küssen. Aber ein Paar waren sie offiziell nicht, dafür war es wohl noch deutlich zu früh. Manchmal, wenn sie mit Lev auf der Mauer saß, hatte sie ihn im Park gesichtet und konnte ihre Augen nicht von ihm lassen. Sie dachte sie hätte sich unauffällig benommen, aber war ja klar, dass Lev es bemerkt hatte. Ihm entging nichts. Seine Sinne waren zu aufmerksam, manchmal hatte man das Gefühl er sei ein ausgebildeter Leibwächter, so sorgfältig wie er ständig seine Umgebung erfasste und jede kleine Regung sofort registrierte. Er war immerfort auf der Hut und konnte anderen nur selten vertrauen, kein Wunder also, dass er mehr über Béla in Erfahrung bringen wollte. Sie selbst hätte auch liebend gerne mehr über ihn herausgefunden, denn sie kannte ihn tatsächlich kaum und es war noch lange keine Liebe im Spiel, aber sie konnte nicht leugnen, dass in ihrem Herzen etwas war. Nur ein kleiner, unbedeutender Keim, der langsam zu wachsen drohte.
„Ich…“ setzte sie an, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Es fühlte sich nicht richtig an. Mit Nastja sprach sie häufig über diese Dinge, aber mit Lev? Das wirkte so völlig fehl am Platz. Es ergab keinen Sinn, aber der Gedanke, dass er es herausgefunden hatte, versetzte ihr einen schmerzhaften Stich. Seit der Grundschule waren sie immer nur zu dritt gewesen. Sie, Lev und Nastja, verbunden durch ein unzerstörbares Band. Die beiden waren Außenseiter gewesen und verbrachten ihre Zeit immer allein, während Luna sich mit allen gut verstand. Sie hatte sofort den Wunsch sich mit ihnen anzufreunden und tat es auch, sobald die perfekte Gelegenheit sich ergeben hatte. Ja, sie verstand sich noch immer mit allen Schülern, aber mit niemandem fühlte sie sich so wie mit den Beiden. Sie waren ihre Familie, die Einzige, die sie je hatte und an die sie sich erinnern konnte. Belle war vor einigen Jahren an die Akademie gekommen, auch sie war nicht besonders gut mit den anderen Schülern ausgekommen und es ergab sich von ganz allein, dass sie Freunde wurden, auch wenn sie aus einem unverständlichen Grund Lev von Anfang an mit Argwohn entgegentrat. Letztendlich waren sie eine verschworene Gruppe. Ihre Freunde bedeuteten ihr alles, dass sie nun ständig an diesen Jungen denken musste und alles um sich herum zu vergessen schien, wenn er da war, erfüllte sie mit Traurigkeit. Ein schweres Gefühl machte sich in ihrer Brust breit und doch konnte sie sich von ihm nicht abwenden, auch wenn es ihr vorkam, als würde es nicht Gutes bringen.
„Es steht mir nicht zu dir irgendetwas zu verbieten“ sprach Lev weiter und biss sich leicht auf die Lippe. Sein Gesicht offenbarte eine Mischung aus Sorge und Anspannung, zumindest für sie, jeder andere hätte es wohl kaum bemerkt, aber es war die Art wie seine Augen sich verdunkelten und unergründlich wurden und er biss sich nur auf die Lippe, wenn er sehr stark fühlte. Sie konnte beinahe sehen wie die Rädchen in seinem Kopf sich drehten und er damit rang was und wie er es sagen sollte. Er wollte es ihr verbieten, aber er tat es nicht, das würde er niemals tun. Seit Luna sich erinnern konnte, hatte sie die Gefühle ihrer Mitmenschen sehr stark wahrgenommen, als wären sie sichtbar, so wie Farben. Gute und glückliche Gefühle waren leichter zu deuten und erfüllten sie mit Wärme. Glück, Freude, Liebe, Hoffnung, Dankbarkeit, Vergnügen und Zufriedenheit, wenn jemand diese Emotionen empfand, dann schwappten sie auf Luna über und gaben ihr Kraft, als könnte sie sich daran laben. Waren es jedoch negative Gefühle konnte sie meist nie genau sagen was jemand gerade empfand, es waren nur Stiche in ihrem Herzen, aber sie konnte fühlen wie intensiv es war und Lev hatte sie besonders fasziniert. Er fühlte unglaublich viel für Jemanden der so aussah, als wäre ihm alles egal. Es gab Tage da verzog er keine Miene, während alles in ihm zu schmerzen und zu leiden schien, warum nur konnte es keiner außer ihr bemerken?
„Es ist nur eine Intuition und ich habe derzeit nichts, dass es belegen kann“ er kniff seine Augen zusammen, bestürzt darüber noch keine Beweise gefunden zu haben „aber ich traue ihm nicht und ich möchte nur, dass du vorsichtig bist und nicht voreilig dein Vertrauen verschenkst. Ich meine es ernst Luna, wenn ich sage ich traue ihm nicht, dann meine ich nicht, dass er mir nicht gut genug für dich ist, sondern dass ich ein wirklich schlechtes Gefühl bei ihm habe.“
Lev hatte sich zu ihr gedreht und legte seine Hand in ihren Nacken, dabei streichelte sein Daumen sanft ihr Ohr. Die plötzliche Berührung ließ Luna erzittern, es war äußerst selten, dass er sie von sich aus berührte und sie dabei so innig und flehend ansah „Versprichst du mir, dass du aufpasst?“
„Ja natürlich“ hauchte sie atemlos und fühlte eine Welle von Einsamkeit in sich aufsteigen, als er seine Hand entfernte und sich wieder auf den Rücken drehte. In diesem Moment hätte sie ihm alles versprochen.
„Er ist aber so oder so nicht gut genug für dich“ sagte er nun doch trotzig „Das war aber noch nicht, worum es mir ging.“ Sein seufzen klang diesmal besonders tief und ausgiebig. Wie viele Informationen gab es denn heute noch? Ihr dröhnte bereits der Kopf von all den Ereignissen des Abends und sie wurde langsam schläfrig.
„Ich wollte es für mich behalten, aber ich kann es nicht und ich traue nur dir genug, um davon zu erzählen, also ist das unser Geheimnis.“
Nun setzte sie sich doch nochmal auf und die Müdigkeit war gewichen. Mit großen Augen sah sie ihn an und er traf ihren Blick „Da war etwas an die Mauer geschrieben wo die Leiche gefunden wurde, ich konnte es nicht richtig erkennen, aber es sah aus als wäre es ein längerer Satz gewesen, in roter Farbe oder aus…“ aus Blut, dachte Luna seinen Gedanken zu Ende, doch sprach ihn nicht aus „…ich weiß nicht was es bedeutet, ich bin ja nicht besonders schlau, aber ich denke man muss auch nicht intelligent sein, um zu verstehen, dass hier irgendetwas nicht stimmt und dass Grauwölfe keine Sätze an Mauern schreiben. Du hast mir versprochen du passt auf dich auf. Das bezieht sich auch auf diese Angelegenheit. Keine Alleingänge und keine Dummheiten. Wir werden schon irgendwie herausfinden was hier vor sich geht, aber ich werde derzeit Niemandem trauen, auch nicht dem Personal dieser Akademie. Man verschweigt uns etwas Wichtiges, jeder hier könnte eine potenzielle Gefahr sein. Vielleicht ist das übertrieben, aber sicher ist sicher.“
„Auch Belle oder Nastja?“ fragte sie erstaunt.
„Wie ich sagte, ich vertraue nur dir. Ich habe dich heute Abend auch gebeten sie mitzubringen, um ihre Reaktionen zu beobachten, Tut mir leid, ich weiß du vertraust ihnen und ich habe auch keine großen Bedenken wegen Nastja, aber…“ als er ihr verschlafenes Gesicht musterte hielt er inne. Sie versuchte weiter wach zu wirken, doch die Alpträume der letzten Nächte hatten ihr viel Schlaf geraubt, sie fühlte sich so schwach. „Lass uns Morgen weitersprechen. Du solltest längst schlafen.“
Sie stand auf, nahm ihre Schuhe in die Hand und ging zur Tür, um sie zu entsperren. So lautlos wie möglich versuchte sie die Tür zu öffnen und lugte durch einen schmalen Spalt auf den Flur hinaus. „Mist“ zischte Luna „Hartwig hat Aufsicht, sie patrouilliert gerade den Flur entlang, das kann ja ewig dauern.“
Ausgerechnet der wollte sie hier nicht über den Weg laufen und normalerweise lief sie hundertmal den Flur auf und ab, bevor sie auf eine andere Etage wechselte. Etwas landete auf Lunas Kopf, es war Levs T-Shirt, dass sie in den Händen hielt. Sie sah zu ihm, doch er hatte sich bereits zugedeckt und lag mit dem Gesicht zur Wand. Nochmal sah sie auf das Shirt in ihren Händen und wieder zu ihm „Zieh es an und komm schlafen oder worauf wartest du?“
Sein Ton klang genervt, aber auf eine nette Art. Diese Einladung ließ sie sich nicht entgehen. Eilig zog sie sich aus, bevor er seine Meinung ändern konnte und musste feststellen, dass es sich erstaunlich gut anfühlte das Shirt eines Jungen zu tragen. Sie konnte seinen Duft und seine Körperwärme noch spüren, es war zwar etwas eng, da sie eben doch etwas kurviger war, aber immerhin lang genug. Sie legte sich zu ihm unter die Decke und wollte es genießen endlich nicht allein zu schlafen und die Anwesenheit einer anderen Person neben sich zu spüren, doch die Erschöpfung holte sie ein und gegen ihren Willen schlief sie innerhalb von Minuten ein.
Eilig schritt Victor die vielen Stufen des Hauptgebäudes hinab und bog auf den Weg zum Park ein, der hinter das Gebäude führte. Er wäre am liebsten gerannt, denn er wusste nicht wie viel Zeit ihm noch blieb, doch er durfte auch kein unnötiges Aufsehen erregen. Am frühen Freitagnachmittag hielten sich normalerweise viele Schüler draußen auf, heute allerdings war es windig und ein leichter Nieselregen fiel vom Himmel, was ihm in die Karten spielte, jedoch sollte man sich niemals völlig unbeobachtet fühlen. Er trug den leichten, dunkelroten Umhang und hatte sich die Kapuze ins Gesicht gezogen. Es war leider nicht von Vorteil, dass ihnen damals diese Farbe zugeteilt worden war und kein unauffälliges grün oder braun, es fügte sich perfekt in die Umgebung ein, denn ein Großteil der Fläche innerhalb der Mauer war eine dicht bewachsene Grünanlage. Er bog in einen Gang des Parks ein, der Weg war deutlich schmaler und durch eine etwa zwei Meter hohe Hecke abgegrenzt, die ihn ein gutes Stück überragte. Sobald er in ihrem Sichtschutz verschwunden war, beschleunigte er sein Schritttempo. Dieser Weg führte zum Wohngebäude der Angestellten und lag im Ostteil. Die Mauer war mehrere Meter hoch, etwas mehr als drei Hecken übereinander und damit normalerweise nicht betretbar, wenn es nicht diese eine, kleine Sicherheitslücke gegeben hätte, die er und Luna schon als Kinder entdeckt hatten.
Victor hielt inne als er das Ende des Ganges erreichte, vor ihm war das längliche, mit Efeu bewachsene Backsteinhaus. Nachdem er sich sicher war, allein zu sein trat er auf die Außenwand zu. Unter dem Efeu befand sich kaum sichtbar eine Metallleiter, er kletterte hinauf, bis er ganz oben angekommen war. Von dort aus war es nur ein Stück bis zum Außenrand des Gebäudes. Ein großer Baum ragte bis auf das flache Dach. Er stieg auf einen der dicken Äste und hinein in die Baumkrone. Durch die dichte Verästelung war es einfach nach und nach höher zu steigen, trotzdem musste man darauf achten das Gleichgewicht zu halten. Einer der Gründe, warum sie Nastja nie mitgenommen hatten, sie wäre sofort abgestürzt, ganz abgesehen davon, dass sie zu große Angst hatte, erwischt zu werden und damit den freien Zugang zur Bibliothek zu verlieren. Strafen wurden an dieser Akademie immer perfekt an den zu Bestrafenden angepasst. Als er den höchsten Stamm erreichte ging er genau auf die Mauer zu und trat aus dem Baum hervor. Vor ihm erstreckte sich der dichte, dunkle Wald, den er schon seit einer gefühlten Ewigkeit jeden Tag sah und der sich nie veränderte. Vor ihm lag die Grenze ihrer Welt. Die Mauer war nicht besonders breit, man konnte gerade so zu zweit nebeneinanderstehen und bei der heutigen Wetterlage musste man genau hinsehen. Überall lagen nasse, rutschige Blätter, die sich beim Sturm der letzten Nacht hier gesammelt hatten. Einer Nacht, die sehr kurz für ihn gewesen war, die Schatten unter seinen Augen waren noch deutlicher als sonst erkennbar und das sollte was heißen. Luna hatte sich hin und her gewälzt, es war unmöglich neben ihr zu schlafen. Nach einer Weile hatte sie ihren Arm um ihn geschlungen und murmelte unverständliche Wortfetzen. Er spürte noch jetzt die Hitze ihrer Berührungen auf seiner Haut, wieso nur hatte er sich dieser Folter freiwillig ausgesetzt? Er musste sie finden, bevor sie etwas dummes tat, intuitiv entschied er sich nach links zu gehen. Der Regen und auch der Wind wurden stärker und seine Haare klebten ihm bereits an der Stirn. Er hätte es wissen sollen, er war ein Idiot, wenn er glaubte sie würde auf ihn hören. Sie tat nur was sie wollte. Wenn sie etwas wissen wollte, dann fragte sie. Wenn sie weinen wollte, dann tat sie es. Wollte sie umarmt werden, dann erzählte sie von diesem Wunsch. Sie entschuldigte sich, wenn sie zu weit ging oder die Gefühle von jemandem verletzte, aber sie entschuldigte sich nie dafür sie selbst zu sein und letztendlich, so sehr er sie auch gerade dafür verfluchte, war es was er an ihr so einnehmend fand. Er hielt sich für einen freien Menschen und er hielt sich nicht gern an Regeln und doch fühlte er sich immer gehemmt und konnte die meisten seiner Gefühle nicht so zeigen, wie andere es taten, er konnte sie nicht einmal so fühlen wie er wollte. Als würde er schon daran zerbrechen sie nur zuzulassen. Ihn im stieg Wut auf und er presste die Zähne aufeinander, beim Gedanken daran wie armselig er letztendlich war. Er konnte ihr nichts geben, ihr nichts bieten, vielleicht konnte er sie auch nicht beschützen. Weshalb war sie mit ihm befreundet? Wenn ihr etwas passieren würde…Nein, so durfte er nicht denken. Sie sah etwas in ihm, das sonst niemand sehen konnte, auch nicht er selbst. Er blieb stehen und sah auf. Da kniete sie und sah hinab, fast genau an der Stelle, an der er die Leiche gesehen hatte. Er merkte, wie die Anspannung von ihm abfiel und sich in Wut verwandelte „Du hast es versprochen“.
Erschrocken fuhr sie herum und ihre Kapuze rutschte ihr dabei vom Kopf, ihre langen Haare wurden vom Wind erfasst, der plötzlich deutlich an Stärke gewonnen hatte. „Es tut mir leid. Ich wollte auf dich warten, aber…“ stammelte sie ehrlich, doch im selben Moment begannen ihre Augen zu leuchten „aber Lev, es ist noch da. Es steht da unten noch an der Wand. Wenn wir nur näher herankommen könnten, dann könnten wir es vielleicht lesen.“ Sie kniete noch etwas tiefer und streckte den Kopf über den Rand der Mauer.
Langsam ging er auf sie zu und achtete dabei genauestens auf den Boden unter seinen Füßen „Luna. Lass uns bitte gehen. Der Wind ist zu stark. Ein falscher Schritt und wir landen da unten und darauf habe ich heute keine Lust. Wir kommen Morgen wieder, wenn das Wetter besser ist.“
Sie kräuselte ihre Lippen zu einer enttäuschten Miene, doch dann erhob sie sich „Na gut“. Als sie einen Schritt auf ihn zu gehen und seine Hand ergreifen wollte, rutschte sie auf einem der Blätter aus und verlor das Gleichgewicht.
Innerhalb eines Augenblicks reagierte Lev und hielt sie am Arm zurück, bevor sie Metertief von der Mauer stürzte. Er wollte sie zurück zu sich ziehen, doch er verlor ebenfalls den Halt unter seinen Füßen und begriff, dass es zu spät war, Lunas Arm entglitt ihm und sie rauschte zu Boden. Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde strömten tausende Gedanken durch seinen Kopf und er fühlte sich als könnte er alles um sich herum in Zeitlupe wahrnehmen. Kurz bevor er selbst von der Mauer fiel, stieß er sich mit dem Fuß ab und blickte auf den Baum wenige Meter vor sich. Es machte keinen Sinn und er verstand nicht, woher diese Kraft in ihm kam, aber nur einen Moment später saß er auf dem Ast des Baumes und starrte ungläubig auf die Mauer vor sich. Doch er hatte keine Zeit darüber nachzudenken, er konnte Luna nicht sehen. Unterhalb der Mauer waren Büsche, vielleicht konnten sie ihren Sturz abfedern. Er hangelte sich den hohen Baum hinunter, bis er grazil auf dem Boden ankam und rannte zu den Gebüschen, aus denen Luna gerade heraustrat. Sie sah bleich aus und hatte Grünzeug in den Haaren, aber wie durch ein Wunder, schien sie vollkommen unversehrt zu sein. Unwillkürlich schloss er sie in die Arme und spürte erst jetzt, wie sehr sein Herz raste. Sie wollte sich aus der Umarmung lösen, aber er zog sie fester an sich „Du…du bist so…du machst mich fertig Luna. Ich hatte solche Angst dich zu verlieren. Warum tust du immer solche Dinge? Du willst mutig sein, aber du bist nur leichtsinnig. Bitte pass auf dich auf, bitte. Ich werde es mir nie verzeihen, wenn dir etwas passiert und ich dich nicht beschützen kann.“ Langsam legte sie ihren Kopf an seinen Nacken und begann zu zittern „Es tut mir so leid. Ich wollte das nicht, es tut mir leid.“
Ein seltsames Gefühl überkam ihm, wie eine alte und verdrängte Erinnerung, eine Art Déjà-vu? Dieses Gespräch hatte er schon einmal mit ihr geführt, aber nicht hier und nicht…Wahrscheinlich hatte er sich doch irgendwo den Kopf angeschlagen und war nicht ganz bei Sinnen.
Vorsichtig drückte er sie von sich weg und sah sie eindringlich von oben bis unten an „Dir geht es gut? Du hast keine Verletzungen?“
Sie nickte nur stumm, aber die Farbe kam allmählich in ihr Gesicht zurück. Sie schienen großes Glück gehabt zu haben „Tja“ setzte er an und fand zu seiner vertrauten Ausdruckslosigkeit zurück „Nun wird dein Wunsch immerhin wahr.“ Vor ihnen prangten die großen roten Schriftzeichen an der Mauer. Der Neue Mond wird sich erheben. Seit Gewahr, denn Nova Luna ist nah. Die kalte Nacht sie zieht vorüber, gekommen euch zu richten, werdet auch ihr sie bald schon sichten.
Er hatte also leider Recht mit seiner Vermutung, es ging hier definitiv nicht um einen tragischen Raubtierunfall, es sei denn diese Wölfe waren intelligenter als er dachte. Hatte es mit der Neumondkirche zu tun? Es hieß es gebe einige fanatische Anhänger, die von einem Messias sprachen, der kommen würde, um alle zu richten und das Gleichgewicht des Universums herstellen sollte. Darüber hatte der Religionslehrer einmal beiläufig gesprochen. Aber für ihn klangen diese Leute eher wie Spinner und an einen Gott glaubte er ohnehin nicht. Aber was wusste er schon, letztendlich hatte er die Außenwelt nie mit eigenen Augen gesehen. Zumindest hatte er ebenso wie Luna keine Erinnerung an die ersten Jahre seines Lebens.
„Das klingt besorgniserregend, oder Lev?“ Er sah sie an und musste feststellen, dass entgegen ihrer Aussage und zu seiner wachsenden Besorgnis keine Spur von Besorgnis in ihren Augen lag. Sie war Feuer und Flamme und die Freude in ihrem Gesicht über diese ungewöhnliche Entdeckung war nicht zu verbergen.
„Ja ist es und nun wissen wir was hier steht, aber viel schlauer sind wir immer noch nicht. Viel wichtiger ist doch, wie kommen wir jetzt wieder rein? Wir können wohl schlecht einfach zum Eingang marschieren, es sei denn du willst bis nächstes Jahr Stubenarrest haben. Wie sah dein Plan aus?“
Die Freude in ihren Augen verschwand so schlagartig wie sie erschienen war und verwandelte sich in riesige Fragezeichen. Natürlich, sie hatte nicht so weit geplant, was hatte er auch erwartet. Tatsächlich war es sogar etwas amüsant zu sehen, wie die Panik sich immer offensichtlicher in ihrem Kopf breit machte.
„Schau“ sagte sie schließlich voller Stolz und zeigte einige Meter zur Seite „Da sind lauter Ranken, die sehen doch superstabil aus, da können wir bestimmt hochklettern. Damit haben wir doch Erfahrung.“
Skeptisch betrachtete Victor die zierlichen Pflanzen. Sie hatten heute bereits einen Sturz vollkommen unbeschadet überlebt, man sollte sein Glück nicht überfordern, aber zugegeben, ihm fiel auch nichts Besseres ein.
„Dann versuch mal zu klettern. Aber nur ein kleines Stück, um es zu testen. Ich bleib hier stehen und fang dich auf!“
Er hatte kaum ausgesprochen, da war Luna bereits losgestürzt und zu seiner Überraschung schienen diese merkwürdig verwobenen Ranken doch mehr auszuhalten, als ihr Aussehen vermuten ließ. Doch nur einen Moment später hörte er einen kurzen, spitzen Aufschrei und sah, wie Luna abrutschte. Zwar war sie in der Lage sich an einer anderen Stelle festzuhalten, doch sofort schrie sie erneut auf und verlor den Halt. Etwas unsanft konnte er sie auffangen und den Aufprall fast vollständig abfedern, doch ihr Gesicht war noch immer schmerzverzehrt. Sein Blick fiel auf ihre Hände und Arme und er ergriff ihr Handgelenk. Ihre blasse Haut war stark gerötet und heiß, überall dort wo sie in Kontakt mit diesem Grünzeug gekommen war. Er setzte sie ein Stück entfernt ab und ohne weiter nachzudenken, fasste er ebenfalls in die Ranken, doch auch nach einer Minute vollen Körperkontakts passierte nichts. Wieso machte ihm diese Pflanze nichts aus, während Luna noch immer vor Schmerzen gekrümmt am Boden saß, was für ein Zug wuchs hier an dieser Mauer? Sollte es jemanden oder etwas fernhalten? Aber hätte es ihm nicht auch geschadet, wenn es sich um eine giftige Ranke handelte? es sei denn er war aus irgendeinem Grund immun und hatte unnatürliche Fähigkeiten erlangt, wie etwa meterweit und blitzschnell auf Bäume springen zu können. Nein, das war Zufall.
Es brachte nichts sich jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen. Victor setzte sich zu Luna und streichelte ihr den Kopf, sie wurde langsam ruhiger und die Rötungen auf ihren Armen bildeten sich zurück.
„Was war das?“ fand sie schließlich zu alter Verfassung zurück und sah ihn mit großen, leuchtenden Augen an. Selbst jetzt noch überwogen Neugier und Begeisterung bei ihr über diese neue Entdeckung.
„Warum hast du nichts? Es fühlte sich an, als würde ich verbrennen. Wahnsinn. Davon muss ich nachher Nastja berichten.“
„Anscheinend bist du stark allergisch auf dieses Ding.“ Das war die einzig logische Erklärung, warum fühlte er sich trotzdem nicht überzeugt davon? Es brachte auch nichts, sich jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen, sie hatten immer noch ein Problem zu lösen „Also den Plan können wir abhaken“
„Neuer Plan. DU kletterst hoch und machst mir das Tor auf?“
„Ja Luna genau. Perfekt.“ Er konnte den Sarkasmus in seiner Stimme nicht verbergen „Ich gehe einfach zum Torwächter und sag du seist vom Wind erfasst und über die Mauer geweht worden und er soll mir mal bitte aufmachen. Direkt einen Tag nachdem uns gesagt wurde, dass wir unter gar keinen Umständen, jemals die Mauer verlassen sollen. Ich bin schon gespannt auf deine Erklärung, warum du hier bist.“
Mit zusammengepressten Lippen und gesenktem Blick sah sie auf ihre Füße und murmelte vor sich hin sie wisse es sei eine blöde Idee und sofort tat ihm sein Tonfall leid „Sorry, ich bin gerade überfordert, das hier stand nicht auf meinem Tagesplan. Es ist anscheinend gefährlich hier und ich will nicht, dass dir etwas passiert, nur weil ich zu dumm bin das hier hinzubekommen. Wenn uns bis zum Einbruch der Dunkelheit nichts einfällt, dann werde ich zum Tor gehen und ich werde die Schuld und die Strafe auf mich nehmen, aber du weißt was sie letztes Mal gesagt haben. Wenn wir nochmal bei etwas erwischt werden, ist die nächste Strafe, dass wir nicht mehr außerhalb des Unterrichts an einem Ort sein dürfen, und eine schlimmere Strafe gibt es für mich nicht! Ein Leben ohne dich wäre für mich unerträglich!“
Als Luna ihn mit offenem Mund und geröteten Wangen ansah, unfähig zu sprechen, dämmerte ihm wie dramatisch und übermäßig emotionsgeladen seine Aussage geklungen haben musste.
„Schau mich nicht so an, du weißt, wie ich das meine.“ Noch bevor es ihm selbst bewusst war, verschränkte er die Arme und musste ihrem Blick ausweichen. Sie konnte nicht sehen, wie schnell sein Herz schlug, das war unmöglich, doch jedes Mal, wenn sie ihn zu lange ansah, fühlte er sich als wäre er aus Glas, zerbrechlich und viel zu durchschaubar. Warum nur konnte er nicht zu dem Stehen was er sagte und warum war es in ihrer Gegenwart so schwer seine Emotionen im Griff zu halten? Bei jeder anderen Person war es ein Kinderspiel, doch in ihrer Nähe war er bis zum Rand mit Gefühlen angefüllt, die ihn überschwemmten und jede Sekunde drohten überzulaufen.
„Wie dem auch sei“ räusperte er sich schließlich „Uns muss etwas einfallen. Wahrscheinlich übersehen wir wieder eine offensichtliche Sache. Nastja würde bestimmt auf eine ganz simple Lösung hinweisen. Zum Beispiel, dass heute Freitag ist und jeden Freitagabend die Lieferungen kommen, wodurch das Tor eine ganze Weile offensteht und man sich eventuell durchschmuggeln kann.“
Keine Antwort erhaltend drehte er sich zurück in ihre Richtung, nur um festzustellen, dass sie nicht mehr dort saß „Luna?“ mit rasendem Puls sah er sich um und erblickte ein Stück entfernt das rot ihres Umhangs. Er sprintete ihr hinterher, doch ohne das er es verhindern konnte, sah er nur machtlos mit an wie sie den Ewigwinterwald betrat und vor seinen Augen verschwand.
Tag der Veröffentlichung: 28.08.2022
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