Es war Mittwoch der 16. August. Ein warmer, sonniger Nachmittag.
Nate spielte zusammen mit seinem Vater John draußen im Garten, während seine Mutter, Elisabeth, in der Küche stand und das Abendessen vorbereitete.
Nates Familie, die Normans, waren nicht reich, aber heute würde es ein gutes Abendmahl geben.
Sie würden wie an jedem Tag seit zehn Jahren ein Teil des Essens und des Weines in die Flammen des Kamins schütten und Gott für sein Geschenk danken.
Denn der 16. August war der Tag, an dem Elisabeth erfahren hatte, dass sie mit Nate schwanger war.
John und sie hätten gebetet und gehofft, dass die Schwangerschaft mit Nate positiv verlaufen würde, denn es war bereits die sechste Schwangerschaft, die Elisabeth empfangen hatte, aber keine der anderen hatte bisher in einer Geburt geendet.
Als sie am 3. März ihren kleinen Sohn auf die Welt brachte, dankte sie Gott und feierte den Tag, an dem sie von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte, wie Nates Geburtstag.
Das Lamm schmorte im Ofen und Elisabeth sah lachend in den Garten, als Nate sein Geschenk, einen kleinen Ball, lachend hochwarf um seinen Vater zu treffen.
„John“, rief sie, „John, du musst ihn fangen und ihn abwerfen!“
Nate lachte und rief seiner Mutter gespielt empört zu: „Aber Ma, du musst doch auf meiner Seite sein, ich bin doch dein Sohn.“
Elisabeth lachte nur und probierte ihn mit einem Stück trockenem Brot zu treffen, was unmöglich war, da Nate weit im Garten stand.
Statt Nate fing John das Brot lachend auf und knabberte es an.
„Lass es sein, Da“, lachte Nate, „du beißt dir noch die Zähne aus.“
Elisabeth betrachtete die Szene wehmütig.
Sie stellte sich vor, wie andere Kinder, viele andere, kleine, lachende Kinder zusammen mit Nate auf der Wiese standen und mit ihrem Vater spielten.
Sie dachte an ein kleines, lachendes Mädchen, deren weißblonde Locken lachend im Wind wehen würden, vielleicht hätte sie auch dunkelbraune Locken, so wie Nate, aber Hauptsache noch andere Kinder.
Sie wünschte sich so sehr, dass sie noch andere Kinder hätte, aber nach Nates Geburt war sie noch zwei Mal schwanger geworden und hatte eine Todgeburt zur Welt gebracht.
Ein Umstand, der sie das Gefühl in ihrem Herzen verleugnen ließ.
Das Gefühl ein weiteres Kind unterm Herzen zu tragen.
Wehmütig faltete Elisabeth die Hände vor ihrem Bauch. Sie ahnte schon seit einiger Zeit, dass sie schwanger war, aber bisher hatte sie sich nicht getraut es einzusehen. Und ausgerechnet heute, am zweitschönsten Tag ihres gesamten Lebens, dem Tag als sie erfahren hatte, dass sie mit Nate schwanger war, akzeptierte sie ihre Schwangerschaft.
Ihre achte Schwangerschaft.
Was war, wenn es eine Todgeburt werden würde? Sie wollte sich den zweitschönsten Tag ihres Lebens nicht damit kaputtmachen, dass sie von der Schwangerschaft mit einer weiteren Todgeburt erfahren hatte – beziehungsweise, dass sie an diesem Tag die Totgeburt akzeptiert und als ihr Kind anerkannt hatte.
Nate hatte damals, nach der ersten Totgeburt, ihr Herz wieder zusammengeflickt und er hatte ihr nach der weiteren Totgeburt zur Seite gestanden und sie aufgebaut.
Aber das wollte sie Nate nicht wieder antun, denn mittlerweile wusste er, was es bedeutete, wenn ein geliebter Mensch tot war.
John, ihr lieber John, hatte ihr zwar damals auch zur Seite gestanden, aber er hatte ihr nie so helfen können, wie Nate es durch seine bloße Anwesenheit gekonnt hatte.
John warf seinem Sohn geistesabwesend wieder den Ball zu, den er mittlerweile einmal gefangen hatte.
Aber seine Gedanken ruhten bei seiner Frau.
Seiner schwangeren Frau.
Er wusste schon lange, dass Lissy, wie er seine Frau liebevoll nannte, wieder schwanger war.
Er wusste, dass sie es ihnen nicht erzählen wollte, weil sie Angst vor einer weiteren Totgeburt und den Folgen für Nate hatte und John verstand sie.
Er machte sich ebenfalls Sorgen um Nates Wohlergehen, falls er erfahren sollte, dass schon wieder ein Geschwisterchen tot auf die Welt gekommen war, aber John machte sich sich auch Sorgen um Lissy und sich selbst.
Sie hatte nun schon so viele Kinder tot auf die Welt gebracht, dass John sich fragte, wie sie das aushielt.
Nate war wütend. Heute war immer sein Tag gewesen, der 16. August gehörte ihm, er gehört, nur ihm.
Aber heute war weder sein Vater, noch seine Mutter bei ihm.
Sie waren körperlich da, aber ihre Gedanken waren bei etwas anderem, und das ärgerte Nate unglaublich.
Er hatte nie verstanden, warum der sechzehnte August ihm gehörte, aber er hatte einfach immer ihm gehört.
Mum hatte leckeres Essen gekocht, manchmal hatte sein Onkel eine Karte geschrieben und Dad war an dem Tag nicht in die Arbeit gegangen.
Aber heute war es anders, Mum war in Gedanken versunken, Dad auch und keiner war so wirklich bei ihm.
Er wollte, dass seine Eltern ihn verstanden, er wollte Rache dafür, dass sie ihm nicht diesen Tag schenkten.
Er wollte dem Rachegefühl endlich nachgeben, nachdem es schon so lange in ihm geschlummert hatte.
Wütend schnippte er mit den Fingern.
Im nächsten Moment hörte er seine Mutter aufschreien, ein spitzer, erschreckter Schrei.
Dann war es still.
Und als sie erneut schrie, hallte ein schriller und unglaublich qualvoller Schrei durch die
vorübergehende Stille.
Einen Moment später, spürte er, wie sein Vater ihn zu Boden stieß und sich spitze Grashalme in seine Hände gruben, als er sich mit ihnen abfing.
Er drehte sich um und sah gerade noch, wie eine monströse Kreatur seinen Vater mit ihren Klauen packte und ihm den Kopf abriss.
„John!“
Der erstickte Schmerzensschrei Elisabeths wich leisem Gewimmer, während sie probierte aus ihrem Haus zu John zu gelangen.
Nate wirbelte zu seiner Mutter herum und sah sie durch das Fenster aus der Küche kriechen.
Er schrie, als er die lange Wunde an ihrem Bein sah, es war nahezu abgetrennt.
Die Kreatur über ihm blickte nun begierig auf ihn herab und leckte sich über die Lippen.
Geistesabwesend lief Nate zum Schuppen.
Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass die Kreatur ihn verfolgte, aber es war ihm egal bei dem Gedanken daran, dass das Ding seiner Mutter fast das Bein abgetrennt hatte.
Er wollte Rache für sie.
Ein weiterer Schmerzensschrei zerriss die Luft, als Nate nach einem Rechen griff, sich umdrehte und das Wesen mit einem gezielten Schlag gegen den Hals enthauptete.
Als ein weiterer Schmerzensschrei ertönte, drehte Nate sich zu seiner Mutter um.
Sie lag in ihrem eigenen Blut, während die zweite Kreatur sich daran machte, ihr die Beine abzutrennen.
Es griff unter ihre Gelenke und zerrte mit den langen Krallen an ihrem Bein.
Nate brauche eine Sekunde, eine quälend lange Sekunde, dann schrie er.
Sein Schrei war gellend und schmerzerfüllt.
Nicht von körperlichen Schmerzen, aber von denen, die der Anblick seiner Mutter, sich
windendend in ihrem eigenen Blut, hinterließ.
Das Monster ließ Elisabeths abgetrenntes Bein fallen, ihren Körper abrupt zu Boden fallen und wandte sich Nate zu.
Dieser war unfähig sich zu bewegen. Alles was er hörte, war das Wimmern, das über die
blutverschmierten Lippen seiner Mutter, auf denen die dunkelbraunen Haare festklebten, kam.
Sie wimmerte nicht vor Schmerzen, sondern vor Angst um ihren einzigen Sohn, das wusste Nate, denn sie hatte nie vor Schmerzen geweint, sie hatte immer nur um ihre Kinder geweint.
Angetrieben vom Wimmern seiner Mutter, hob Nate den Rechen und zielte auf den Hals des Monsters, doch es wich aus.
Es schien den Tod seines Verwandten mitbekommen zu haben.
Nate zielte auf das Herz, aber der rot-grüne Panzer ließ sich nicht durchstoßen.
Wütend schlug er auf die Bestie ein, die seine Mutter getötet hatte, trennte ihm in seiner Wut die Beine und Arme ab, bis es verstümmelt vor ihm lag.
Dann stürzte er zu seiner Mutter.
Verzweifelt zog er sie auf seinen Schoß.
Er konnte auch ohne medizinische Kenntnisse sagen, dass sie diesen Blutverlust nicht überleben würde.
Während sie seine Kleidung vollblutete, strich sie ihm sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Nate“, wisperte sie, „Nate, du bist so wunderschön. Du siehst aus wie dein Vater, Nate.“
„Mommy, du darfst nicht gehen“, flüsterte Nate mit tränenerstickter Stimme, „bleib bei mir.“
„Nate“, schrie seine Mutter auf einmal hysterisch, „Nate!“
„Es ist alles gut, Mommy. Ich bin da, ich bin da.“
„Du musst hier weg, Lauf! Er wird kommen, er wird dich holen, lauf!“
„Ich lass dich nicht zurück, Mommy“, weinte Nate. Doch er sollte keine Antwort mehr bekommen.
Elisabeth Norman war tot.
„Mommy!“, schrie Nate immer wieder. „Mommy!“
Und mit jedem Schrei wurde seine Stimme hysterischer.
„Nate“, rief eine Stimme an seinem Ohr und rüttelte an ihm. „Nate, es war nur ein Traum, nichts von Bedeutung, wach auf Nate.“
Nichts von Bedeutung, aufwachen, Nate, Traum.
Die Worte hallten in Nates Kopf wieder. Er zwang sich die Augen zu öffnen.
Als er sie aufschlug sah er zwei verstört blickenden Jugendlichen ins Gesicht.
Ein Mädchen und ein Junge.
Celine betrachtete ihn mit großen Augen.
Seit Nate denken konnte, hätte er sich immer einen Bruder oder eine Schwester gewünscht und nun hätte er zwei.
William und Celine.
William war so ziemlich das, was die meisten Leute als den klassischen Frauenhelden aus einer Mädchenzeitschrift bezeichnen würden.
Groß, goldblonde Haare, bernsteinfarbene Augen und bronzefarbene Haut unter der sich seine Muskeln deutlich abhoben.
Ein ernstes Gesicht, das einen Dreitagebart aufwies und das sich maximal zu einem sarkastischen Lächeln verzog.
Er verabscheute den Namen William, weswegen jeder, der ihn kannte, ihn nur Will nannte, solange es nicht wichtig war.
Celine war seine Schwester, auch wenn sie ihm nicht besonders ähnlich sah mit ihrer schneeweißen Haut, den roten Lippen, den weißblonden Haaren und den strahlend grünen Augen.
Lediglich ihre Größe deutete auf eine Verwandtschaft mit Will hin.
„Na“, murmelte sie immer wieder.
Na, nicht Nate. Na war ein Kosename, den Celine ihm gegen hatte, in einer Situation als Nate es nicht ausgehalten hatte mit dem Namen angeredet zu werden, mit dem seine Eltern ihn angesprochen hatten.
Nate, der Name brannte wie Gift auf seiner Zunge.
„Es ist ja gut, Na“, flüsterte Celine beruhigend, „es war schließlich nur ein Traum.“
„Ja, es war nur ein Traum“, wiederholte Nate wie in Trance.
Das Monster ließ Elisabeths abgetrenntes Bein fallen.
Nate sprang auf und stürzte ins Bad um sich zu erbrechen, so wie er es jedes Mal tat, nachdem er diesen Traum geträumt hatte.
„Mum erwartet dich in Ihrem Arbeitszimmer”, teilte Celine Nate mit, als dieser wieder aus dem Bad gekommen war und sich halbwegs erholt hatte.
„Danke, Cely“, antwortete er dankbar und drehte sich um.
Celine blickt ihm nachdenklich nach.
Nate stürmte gedankenverloren die Treppe zu Maire Evans Arbeitszimmer.
Die Familie Evans hatte Nate ein halbes Jahr nach dem Verlust seiner Eltern aufgenommen.
Nate erinnerte sich noch heute daran, wie er damals vom Grundstück seiner Eltern in Irland weggelaufen war.
Die Normans hatten auf einem Bauernhof weit abseits jeglicher Ortschaften gelebt.
Nate war drei Tage mit seinem Pferd wild durch die Gegend galoppiert, ohne eine Ahnung zu haben, nach wo er laufen musste, da er keine Städte kannte.
Nach drei Tagen war Nelson, sein Pferd, zusammengebrochen und Nate hatte zu Fuß in die Stadt finden müssen.
Er war in einem Waisenhaus gelandet. Seine Freunde hatten nach und nach Familien gefunden, die sich ihrer annahmen, aber Nate hatte niemand gewollt, da er immer noch erzählte seine Eltern wären von Monstern zerfleischt worden.
Niemand hatte ihn gewollt – niemand außer den Evans.
Die Evans lebten auf einem großen Anwesen abseits jeglicher Ortschaften, was Nate das Einleben deutlich erleichtert hatte, da er keine großen Ortschaften gewohnt war und außerdem immer noch panische Angst vor allem hatte, das er nicht kannte.
Das Haus der Evans war groß, aus Holz gefertigt und besaß fünf Etagen.
Den Keller, den gemeinsamen Lebensraum mit Wohnzimmer, Küche und Eingangshalle, die Wohnräume, die Arbeitsräume und den Trainingsraum.
Nate stand vor Maires Arbeitszimmer. Wie jedes Mal war er nervös, wenn sie ihn zu sich rufen ließ.
Zu ihr rufen lassen, war das richtige Wort bemerkte Nate belustigt. Es war nicht einmal vorgekommen, dass Maire Evans persönlich zu ihm gekommen war und ihn um ein Gespräch gebeten hatte.
Es war immer die Aufgabe Celines diese Gespräche einzuleiten.
Nate atmete tief ein, genoss den Geruch von alten Holz und schweren Teppichen, der für ihn mittlerweile zu dem Gefühl von zuhause gehörte, auch wenn er erst fünf Jahre hier lebte, dann klopfte er an und wartete auf die Erlaubnis einzutreten.
„Herein“, rief Maire.
Nate biss sich kurz auf die Lippe, dann trat er ein. Er hatte absolut keine Ahnung, was Maire von ihm wollte und das machte ihn nervös, denn normalerweise wusste er immer – wirklich immer – was sie von ihm wollte.
„Maire“, sprach er sie an, „du wolltest mich sprechen.“
Er betrachtete seine Adoptivmutter eingehend.
Sie stand vor einem Fenster und blickte hinaus, so dass er nur ihr Profil sah.
Ihre Schultern waren angespannt, die Lippen zusammengepresst und sie war erschreckend dünn geworden im letzten Monat.
Nate war stolz darauf, dass er mittlerweile an der Haltung ihrer Schultern ihren Gemütszustand erkennen konnte – der im Moment ausgesprochen schlecht war – aber er war trotzdem entsetzt darüber, wie Maire schon aus dem Profil aussah.
Für ihn war Maire immer die starke, unzerbrechliche Frau gewesen, die für ihn die Mutter ersetzt hatte und er hatte sie nie als etwas anderes gesehen.
Maire drehte sich um, sodass Nate ihr kantiges Gesicht sehen konnte, welches von schwarzen Haaren umrandet war, welches sich auf genau dieselbe Art wellte, auf die sich auch Wills Haar wellte, wenn er zu faul war es schneiden zu lassen.
Ihre müde leuchtenden, grünen Augen – von denen Nate immer noch glaubte, dass sie nur Kontaktlinsen waren – zierten ihr Gesicht und verliehen ihr ein eigenwilliges Aussehen, welches nur durch die unfassbar dunkeln, tiefen Augenringe einen hässlichen Schliff bekam.
„Gut, dass du gekommen bist, Nate“, antwortete Maire ihm müde. „Möchtest du dich setzen?“
Die Müdigkeit in ihrer Stimme ließ ihn zaudern und löste den Wunsch aus sich zu weigern, aber er kannte seine Adoptivmutter gut genug um zu wissen, dass es sich bei ihrem letzten Satz nicht um eine Frage, sondern vielmehr um eine stumme Aufforderung hatte handeln sollen. Wie gewollt, nahm er auf einem Stuhl gegenüber von Maire Platz.
Als Nate saß, setzte sich auch Maire.
Sie wusste beim besten Willen nicht, wie sie dieses Gespräch mit Nate beginnen sollte, denn so wie er sie kannte, kannte auch sie ihn und sie wusste, dass dieses Gespräch wie jedes Jahr in einer absurden Bitte seinerseits enden würde, welcher sie nicht nachgeben wollte, aber irgendwann keine andere Wahl mehr haben würde.
Sie hatte wie jedes Jahr Angst davor, dass er sie wieder stellen könnte, obwohl sie wusste, dass er sie wieder stellen würde, weil er es jedes Jahr tat.
Es machte sie wahnsinnig.
„Es wird wieder schlimmer, oder Nate?“, fragte sie ihn geradeaus.
Sie biss sich auf die Lippe und hoffte, dass eine direkte Frage nicht der falsche Ansatz gewesen war.
Einen Moment war Nate geschockt. Wusste sie etwa von seinen Träumen?
Es war eigentlich unmöglich, weder Will noch Celine würden jemals mit ihrer Mutter darüber reden, dafür hatten sie zu viel Angst vor seiner Reaktion und sie liebten ihn viel zu sehr um ihm das anzutun.
Er schluckte kurz, dann fragte er: „Was soll schlimmer geworden sein?“
Maire reichte ein kurzer Blick in sein Gesicht um zu wissen, dass er spielte.
Sie kannte seine Mimik zu gut und eigentlich wusste er das.
Genau wie er wusste, was sie gemeint hatte.
Aber so war er nun mal, er würde nie zugeben, dass ihm etwas fehlte und er würde auch nie zugeben, wenn er einen Fehler gemacht hatte.
Sie bezweifelte sogar, dass er es sich selbst gegenüber zugab.
„Deine Träume, sie werden schlimmer, oder?“
Einen winzigen Moment huschte ein fragender Ausdruck über Nates Gesicht.
Woher weiß sie das?
Doch dann wurde sein Blick grimmiger.
„Ausgerechnet du redest von schlafen. Maire, hast du den Spiegel abgehängt, oder wie kannst du deine Augenringe übersehen? Du isst und schläfst seit Wochen nicht mehr richtig, also probiere nicht mit mir über meine angeblichen Probleme zu reden.“
Maire seufzte auf. Warum lässt er nicht mit sich reden?
Eigentlich hätte diese Reaktion seinerseits sie nicht verwundern sollen, denn so reagierte er jedes Mal, wenn sie mit ihm über seine Alpträume reden wollte.
„Nate“ antwortete sie ihm, „weißt du seit wann das so geht?“
Als er nur stumm den Kopf schüttelte, redete sie weiter: „Seit deine Träume wieder schlimmer werden, so wie jedes Jahr, wenn der 16. August naht oder vorbei ist.
Du weißt wie lang der 16. August wieder vorbei ist, es sind jetzt fast fünf Wochen und trotzdem hast du noch Alpträume, das ist doch nicht normal.“
Nate rechnete kurz nach. Maire hatte recht, es war jetzt fast sechs Jahre her, dass deine Eltern gestorben waren und schon seit zehn Wochen quälten ihn die grauenhaften Träume jede Nacht aufs Neue.
Das Schöne daran war, dass die Zahl implizierte, dass es demnächst vorbei sein würde mit den Träumen.
Andererseits wurde ihm auch erst jetzt wirklich bewusst, dass er sie schon wieder so lange hatte, das sie immer noch da waren, obwohl seine Eltern vor so vielen Jahren gestorben waren.
„Du denkst, ich würde nichts von deinen Träumen wissen können, weil weder Celine noch Will dich verraten würden und das tun sie auch nicht, aber ich höre dich jede Nacht schreien. Ich würde dich nachts so gerne wecken, aber ich kann es nicht.
Du wachst nicht auf, wenn ich probiere dich zu wecken und du verhinderst damit, dass ich wieder einschlafe.
Und die Tatsache, dass du weder isst noch trinkst, verdirbt mir den Appetit, aber ich bin dir nicht böse mein Sohn“, erklärte Maire ihm mit einem Ausdruck von Liebe in den Augen, man hätte in dem Moment nicht erahnen können, dass Maire nicht seine leibliche Mutter, sondern nur seine Adoptivmutter war.
„Aber merkst du nicht auch, dass es von Jahr zu Jahr schlimmer wird?“
Nate schluckte, er wusste, dass Maire recht hatte und seine Träume von Jahr zu Jahr schlimmer wurden, aber er hätte nie gedacht, wie sehr es Maire belastete ihn so zu sehen, am Boden zerstört und jede Nacht schreiend vor Albträumen.
Er hatte nicht einmal gewusst, dass sie es mitbekam und selbst wenn, dann hätte sie nicht gedacht, dass es sie so sehr belasten würde, denn gerade war das erste Mal gewesen, indem Maire ihm gezeigt hatte, dass er für sie mehr als nur ein Adoptivsohn war – das er für sie genauso wichtig wie ihre anderen Kinder war.
„Nate“, sagte sie jetzt eindringlich, während sie ihren Adoptivsohn liebevoll musterte, „ich bitte dich, lass mich dir helfen mit diesen Träumen klarzukommen, ich weiß, dass du das schaffen kannst, Nate.“
„Du weißt, dass es nur einen Weg gibt, der mir helfen kann“, antwortete Nate verbissen. Jedes Mal wenn er an den Magier dachte, der ihm die Kunst der Magie gelehrt hatte, wechselte die Farbe seiner Augen von türkis-grün zu einem stürmischen grau-grün, das in seinen Augen wirbelte und wie ein Orkan in ihnen tobte.
„Nate, du kannst diesen Weg nicht gehen“, probierte Maire ihn zu überzeugen. „Es könnte dich dein Leben kosten, wenn du diesem Mann folgst“, erklärte Maire ihm schon zum hundertsten Mal.
In ihrem Innersten tobte die Sorge um ihren Adoptivsohn, der jedes Jahr ihre Sorgen mit Füßen trat und sie mit weiteren fast schon Selbstmordgedanken quälte.
„Wäre es so schlimm?“, fragte Nate sie verbissen. „Wäre es so schlimm mein Leben zu lassen um die Leute zu rächen, die ich geliebt habe, aber mir durch meine eigene Dummheit genommen habe?“
Der Sturm tobte weiter in seinen Augen, ein verbissener Zug hatte sich um seinen Mund gelegt, er krallte sich in die Stuhllehne und Selbsthass schwang in seiner Stimme mit.
Maire seufzte innerlich. Sie hasste es, wenn er wieder eine seiner sich selbst hassenden Phasen hatte und nicht mit sich reden ließ.
Dann wirkte er so zerfressen von Hass und von Reue, dass sie nicht mehr wusste, was sie tun sollte, denn dann war er nicht mehr ihr kleiner süßer Nate, sondern dann war er ein verbissener, von Selbstmordwünschen verfolgter, erwachsener Mann.
Nate war zwar kein leibliches Kind, aber das änderte nichts an der Liebe, die sie sie für ihn empfand.
Ihren Nate.
„Komm mal mit“, lächelte sie liebevoll, „ich würde dir gerne etwas zeigen.“
Nur widerwillig erhob sich Nate von seinem Platz und ging mit Maire mit.
Er folgte ihr bis vor einen Spiegel, dann blieb sie stehen.
„Was siehst du Nate?“, fragte sie ihn.
Nate betrachtete das Spiegelbild lange.
Er sah Maire. Sie sah nicht nur müde und abgemagert aus, in ihren matt leuchtenden Augen lag ein Ausdruck von Liebe.
Er hasste diesen Ausdruck von Liebe in ihren Augen – nicht weil er nicht von ihr geliebt werden wollte, sondern schlichtweg nur deshalb, weil er sie verletzten konnte, wenn er ihr etwas bedeutete und das schien er zu tun – er hasste sich selbst für diesen Ausdruck von Lieben in ihren Augen, der es ihm ermöglichte sie zu verletzten.
Dann sah er sich selbst.
Er sah ebenfalls müde und abgemagert aus.
Die immer noch sturmgrünen Augen tobten noch immer aufgebracht, aber waren von dunklen Augenringen verunziert.
Die einst honigfarbene Haut war blass geworden und schimmerte nun fast weißlich – durch die dunkelbraunen Locken sah er noch blasser aus – und unter den festen Muskeln konnte man schon die Knochen erkennen.
Früher waren seine Muskeln groß und stark gewesen, nun sahen sie verkommen aus, falsch an dem Jungen mit dem knochigen Gesicht.
Das harte Training im letzten Jahr konnte man ihm kaum noch ansehen, was ihn nahezu erschreckte, obwohl er dieses Bild jedes Jahr einmal vor Augen hatte und wusste, wie er dann aussah.
Aber das war kein Bild, das er von sich sehen wollte – zumindest wollte er gegenüber Maire nicht eingestehen, dass er dieses Bild sah.
„Ich sehe dich und mich?“, antwortete Nate genervt.
Er wusste genau, dass Maire etwas anderes meinte und er wusste, dass er sie mit dieser Antwort verletzte, aber das musste er erreichen, damit sein Zustand ihr nicht mehr so unter die Haut ging.
„Nate, siehst du gar nicht wie ähnlich wir uns sehen?“, fragte Maire verzweifelt.
Natürlich wusste Nate, was sie meinte.
Sie sprach nicht von der Haarfarbe oder der Augenfarbe, der Statur, der Größe oder dem eigenwilligen Zug um seine Lippen.
Sie sprach von den tiefen Schatten unter den Augen, der unnatürlichen Blässe, die von Schlaflosigkeit zeugte, dem stumpfen Ausdruck in den Augen und dem abgemagerten Körper. Doch statt zu zeigen, dass er sie verstand und erkannte was sie meinte, antwortete er: „Nein, Maire. Du hast schwarze Haare, ich dunkelbraune, du bist kleiner als ich, du …“
„Nate“, unterbrach seine Adoptivmutter ihn wütend, „hör auf damit!“
Sie hatte ihn noch nie so hart angefahren, was Nate erschreckte.
Als sie ihn ansah, erkannte sie den erschrockenen Ausdruck in seinen Augen und empfand Mitleid mit dem jungen Mann.
Mit deutlich sanfterer Stimme fuhr sie fort: „Nate, du weißt ich liebe dich so wie ich meine Kinder liebe. Was ich gemeint habe, sind nicht unsere körperlichen Merkmale, sondern die Art wie wir uns in den letzten Wochen durch deine Träume verändert haben. Was ich dir eigentlich in diesem Spiegel zeigen wollte, ist, dass ich mich mit dir verändert habe, weil ich dich liebe, weil du zu meiner Welt gehörst, Nate.
Wenn es dir schlecht geht, geht es mir schlecht und wenn du dir schon nicht dir zuliebe helfen lassen möchtest, dann lass dir doch wenigstens mir zuliebe helfen, Nate. Denn wenn du nicht mehr leidest, dann leide auch ich nicht mehr und du willst nicht, dass es mir schlecht geht, oder Nate?
Du kannst jetzt nicht nein sagen, denn dazu kenne ich dich viel zu gut, mein Sohn.“
Ein entschlossener Ausdruck legte sich um Nates Lippen.
Maire wusste, was jetzt kommen würde, sie biss die Zähne zusammen und betete, dass er noch einmal überlegte, ob er das sagen wollte.
„Dann hilf mir, indem du mich ihn finden lässt, hilf mir Maire.“
Nates Ton war flehend geworden, er bat sie nicht darum, er flehte sie danach an ihn suchen zu dürfen.
Seine Augen wurden groß und sein Gesichtsausdruck wechselte von verbissen zu flehend, zu bettelnd.
Er sah nicht mehr aus wie der erwachsene, trotzige Mann, sondern er sah aus wie ein kleines Kind, dem Unrecht getan wurde und das darum bettelt die Dinge wieder gerade biegen zu dürfen.
Es tat Maire fast schon weh diese Bitte immer wieder ablehnen zu müssen. Es tat ihr weh ihn so zu sehen und ihm wieder nein sagen zu müssen, wie jedes Jahr.
Maire schluckte. So ging jedes Gespräch, das sie mit Nate bezüglich seiner Träume führte aus.
Wirklich jedes Gespräch endete darin, dass Nate sie bat ihn nach dem Mann suchen zu lassen, der ihm beigebracht hatte, wie man die Monster heraufbeschwören konnte.
Und wie am Ende jedes Gespräches schüttelte sie den Kopf.
„Nate, ich kann dich nicht gehen lassen und das weißt du“, antwortete sie so einfühlsam wie möglich.
Sie wusste, dass sie ihm damit wieder die Hoffnung auf ein Ende der Träume nahm und sie wusste, dass sie ihn verletzte und das er Widerstand bieten würde und sich bis zum Ende nicht davon abbringen lassen würde nach diesem Mann zu nehmen und sich zu rächen, für das was er getan hatte.
Nate sah sie wütend an.
Warum verbot sie ihm sich selbst zu helfen?
Hatte sie nicht gerade selber gesagt, er solle es nicht zumindest ihr zuliebe tun?
„Warum willst du nicht, dass es aufhört? Warum!
Du hast doch gerade noch selber gesagt, ich soll auch an dich denken, also warum verbietest du es mir?
Warum verbietest du mir, dass es uns beiden besser geht?“, stieß er verbittert hervor, aber Maire schüttelte lediglich mit dem Kopf.
Es schmerzte zu sehen, wie weise er war, dass er sogar mit ihren eigenen Worten gegen sie argumentierte um zu bekommen, was er wollte.
„Jedes Jahr werden es zwei Wochen mehr. Es sind jetzt gerade zehn Wochen. Zehn Wochen voll mit qualvollen Alpträumen. Wie soll ich es nächstes Jahr aushalten? 12 Wochen!“
Maire bahnten sich Tränen in die Augen.
Sie konnte seinen Schmerz deutlicher als je zuvor spüren und sehen, sie konnte sehen wie es ihn zerstörte, wie es auch sie zerstörte und das konnte sie ihm nicht länger antun.
„Ich werde darüber nachdenken, Nate. Aber ich verspreche dir nichts“, gab sie seiner Bitte tonlos nach.
Sie konnte es nicht fassen, sie hatte so lange dagegen gehalten und jetzt hatte er es doch geschafft, sie dachte zumindest darüber nach ihn das tun zulassen, was er schon so unglaublich lange tun wollte, was sie nie wollte.
Wütend verließ Nate das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Sie dachte darüber nach, sie dachte darüber nach!
Sie hatte nicht einfach ja sagen können, das wäre zu einfach gewesen, nein, sie musste ihn weiterquälen mit der Ungewissheit, ob es jemals aufhören könnte.
Nachdem Nate gegangen war, blickte Maire minutenlang auf die Tür, dann begannen die Tränen zu fließen.
Sie erinnerte sich an Nate, als er noch elf Jahre alt gewesen war und manchmal kam es ihm
vor, als hätte sich seit dem nichts in Bezug auf ihr Verhältnis gebessert.
Damals war Nate ihr gerade bis zur Brust gegangen, er hatte vor Dreck gestarrt und Tränen hatten in seinem schmalen und verdreckten Gesicht Rillen hinterlassen.
Sie hatte den schmächtigen Jungen, der sich weigerte sich im Waisenhaus waschen zu lassen, da auch das Blut seiner Eltern weggewaschen werden würde, sofort mit zu sich nach Hause nach Nadros – das Land in dem sie lebte – genommen.
Auch bei ihr im Haus hatte Nate sich tagelang nicht gewaschen und keine klaren Sätze zustande gebracht.
Sie hatte an seinem Bett gesessen, seine kleinen Hände gehalten und beruhigend auf ihn
eingeredet, ihm Bücher vorgelesen und probiert Nate davon zu überzeugen sich zu waschen, oder mit ihr zu reden.
Aber er hatte nicht auf sie gehört.
Die Erinnerung an seine Eltern, ihr Blut als letztes Andenken an sie und das Gefühl leiden zu müssen, weil er nicht mehr wert sei, hatten ihn dazu gezwungen sich so zu verhalten.
Irgendwann hatte sie Celine und Will an sein Bett geschickt um mit ihm zu reden.
Will hatte ihr später erzählt, dass Nate ihnen einen Satz gesagt hatte:
Ich habe sie umgebracht, es ist meine Schuld.
Nachdem er endlich geredet hatte, hatten Will und Celine ihn endlich davon überzeugen können sich zu waschen und mit ihnen über seine Erlebnisse zu reden.
Und heute hatte sich wieder herausgestellt, dass Nate noch immer nicht auf sie hörte oder zumindest mit sich reden ließ.
Er war ihr gegenüber noch immer so verschlossen wie vor fünf Jahren, wenn es um seine Eltern ging.
Aber Maire glaubte langsam auch nicht mehr, dass Celine oder Will etwas daran ändern könnten.
Seufzend nahm sie an ihrem Tisch platz und dachte ein weiteres Mal über Nates Bitte nach.
Nate stürmte wütend die Treppe zum Dach hoch.
Seine Gedanken kreisten um Maire, warum dachte sie nie darüber nach seine Bitte anzunehmen?
Was war so verdammt schwer daran einfach „ja“ zu sagen und ihn gehen zu lassen und seine Rache an ihm auszulassen.
Wütend riss er die Dachluke im Trainingsraum auf und kletterte hinauf, so wie immer, wenn er wütend war.
Ein Schwall warme Luft kam ihm entgegen, als er auf dem Dach stand, die Luke fallen ließ und den warmen Wind seine Haare verwirbeln ließ.
Es würde vermutlich einer der letzten warmen Tage sein und er wollte ihn genießen.
Maire würde am Abend bestimmt wieder fluchen, wenn sie ihn so sehen würde, sie hasste es, wenn er unordentlich aussah oder man ihm zu sehr ansah, wie schlecht es ihm ging.
Der Wind und das Gefühl der Freiheit, das er jedes Mal auf dem Dach empfand, beruhigte ihn und ließ seine Gedanken zu Ruhe kommen.
Er ließ seinen Blick über die Landschaft gleiten und bemerkte, dass die Landschaft von Nadros ihn immer noch faszinierte, obwohl er schon seit fünf Jahren in diesem geheimnisvollen Land lebte.
Nadros war das Land der Drachen und Zauberer. Die wogenden Hügel, die steilen Berge und die zerstörerischen Klippen, an denen sich das Meer Beach, gehörte nur den Zauberern und Drachen.
Es schien als hätte Gott – oder welches andere übermächtige Wesen auch immer dort oben sein mochte – ihnen das schönste Stückchen Erde auf dieser Welt geschenkt hatte.
Das Land diente dazu, Zauberer und Drachen vor der Welt der Menschen geheim zu halten.
Die Zauberer sollten nicht von Menschen beeinträchtigt – oder gejagt – werden und die Menschen sollten nicht von den Zauberern bedroht werden.
Nadros konnte man nicht wie ein anderes Land mit einem Flugzeug erreichen oder verlassen, sondern nur durch ein Portal, welches sich in der exakten Mitte von Nadros befand.
Auf der, von den Menschen bekannten, Seite der Welt, existierte kein Portal, denn der erste Zauber, den jeder junge Magier erlernte, war der zum Erzeugen eines Portals, damit man ungehindert wieder nach Nadros zurückreisen konnte.
Kein Mensch sollte jemals – durch welchen Zufall auch immer – die Möglichkeit bekommen die Welt von Nadros zu sehen, da dies unvorhersehbare Konsequenzen haben könnte.
Der betroffene Mensch müsste für immer in Nadros bleiben, wo er für immer ausgestoßen sein müsste, oder getötet werden, was gegen den Kodex der Magier verstoßen könnte.
Nates Blick wanderte von den wogenden grünen Hügel, über die dunklen Wälder und blieb schließlich an den zerklüfteten Hängen des Mount Grande hängen, dem größten Berg in ganz Nadros und die Heimatstadt der Drachen.
Nate war froh, dass er noch nie nähere Bekanntschaft mit den Drachen vom Mount Grande hatte machen müssen.
Es ging das Gerücht herum, dass die Drachen aggressiver wurden, je näher sie am
Mount Grande lebten und er war schon froh darüber, dass er generell noch keinem Drachen begegnet war, denn es ging ebenfalls das Gerücht herum, dass Drachen generell sehr aggressive Geschöpfe wären.
Deswegen wurde auch eine große – und für die Drachen verhängnisvolle – Jagd auf sie in den frühen Jahren des sechzehnten Jahrhunderts gestartet.
Eine Jagd, die bis heute andauerte und bisher an die 1000 Drachen das Leben gekostet hatte.
Es war nicht so, dass Nate jemals einen Drachen kennengelernt hatte, oder jemanden kannte, der einen Drachen kannte und deswegen die Gerüchte über Drachen kannte.
Es war vielmehr so, dass die Gerüchte den Drachen vorauseilten und jeder, der die Welt der Magier einigermaßen kannte, waren diese Gerüchte bekannt.
Im Grunde genommen war es fast schon traurig, dass jeder diese Gerüchte kannte und keiner die Drachen wirklich so akzeptieren wollte, wie sie waren, aber das war wohl das Schicksal der Drachen, auch wenn Drachen und Magier gar nicht so unterschiedlich waren.
„Celine“, rief eine bekannte Stimme hinter dem jungen Mädchen.
Sie wirbelte herum und erwischte ihre Mutter fast mit ihren weißblonden Locken.
„Ma, was ist?“, fragte sie ihre Mutter.
Sie konnte den Anblick der abgemagerten Frau, deren grüne Augen von schwarzen Augenringen verunziert wurden, kaum ertragen.
„Nate und du habt gleich einen kleinen … Privatunterricht“, sie zögerte einen Moment, dann sah sie ihre Tochter bittend an, „könntest du Nate suchen? Ich weiß nicht wo er ist und ich bezweifle, dass er es gut heißen würde, wenn ich ihn holen würde.“
Genau genommen bezweifelte sie nicht nur, dass Nate es gut heißen würde, sie war sich zu hundert Prozent sicher, dass Nate sie hassen würde, wenn sie durch Zufall seinen geheimen Rückzugsort finden würde.
Celine zog eine Augenbraue hoch. Das klang nach Streit zwischen ihrer Mutter und Nate. Und Streit zwischen den beiden bedeutete selten etwas Gutes.
Obwohl es in diesem Fall vermutlich sowieso nur um seine Träume gegangen war.
Sie nickte wortlos und drehte sich um, um nach Nate zu suchen.
Wirklich suchen konnte man es ja kaum nennen.
Sie kannte Nate jetzt schon seit fünf Jahren, aber schon als Elfjähriger, hatte es nur
einen Ort gegeben, den Nate wirklich immer aufgesucht hatte, wenn er aufgebracht war. Damals war er noch ein kleiner, schmächtiger Junge gewesen, der sich versteckt hatte, wenn er um seine Eltern geweint hatte, oder Maire ihn wieder ausgefragt hatte um rauszufinden wer er wirklich war.
Damals hatte sie den kleinen Jungen so gut verstanden und sie hatte Angst gehabt ihn zu verraten, weswegen sein Geheimversteck, das sie damals gefunden hatte, bis heute noch ein Geheimnis zwischen ihr und ihm war.
Maire war damals immer sehr vorsichtig vorgegangen, aber Nate hatte nie auch nur ein Wort von sich erzählte, solange Will oder sie nicht dabei gewesen waren.
Mit der Zeit hatten sie einige Dinge über Nate herausbekommen und begonnen ihn zu verstehen.
Nach einiger – ziemlich langer – Zeit war Nate für sie und Will zu einem guten Freund und danach zu einem neuen Bruder geworden.
Damals war sie noch so glücklich gewesen einen neuen – einen zweiten – Bruder zu haben.
Celine öffnete die Tür zum Trainingsraum und stieß die Dachluke auf.
Sie wusste, dass Nate immer auf das Dach kletterte, wenn ihn etwas berührt hatte oder seinen Emotionen, die er immer noch nicht zeigen konnte, zu nahe gekommen war.
Es egal ob positiv oder negativ, er stieg immer auf das Dach, ließ sich den Wind durch die Haare fahren und verkrampfte die Hände zu Fäusten.
Celine konnte zwar nicht ganz nachvollziehen, wieso es ihn so sehr beruhigte, wenn er sich die Haare vom Wind zerzausen ließ, aber sie konnte verstehen, dass die frische Luft ihm gut tat.
„Nate?“, sprach sie die Gestalt auf dem Dach an. Als er zusammenzuckte, sprach sie weiter: „Nate, unsere Mutter sucht dich. Sie möchte mit uns beiden eine Art Privatunterricht abziehen.“
Nate riss sich zusammen als sie seinen Arm berührte.
Er unterdrückte den Drang den Arm wegzuziehen und sie zu schlagen, sie konnte schließlich
auch nichts für seine Stimmungsschwankungen und seine schlechte Laune.
Er zwang sich zu einem schiefen Lächeln. „Hat sie wenigstens gesagt, worum es gehen wird?“, fragte er hoffnungsvoll. „Ich hoffe, es wird nicht das gefürchtete Aufklärungsgespräch.“
Er wusste, dass Celine dieses Gespräch scheute und es für sie schlimm war darüber zu reden.
Celine sog scharf die Luft ein. Sie fürchtete sich wirklich vor diesem überaus peinlichen Gespräch. „Warum sollte sie uns so ein Gespräch antun?“
Nate grinste sie an. So verklemmte kannte er Celine gar nicht. „Du bist ein Mädchen – ein durchaus attraktives Mädchen – und ich bin ein gut aussehender junger Mann.
Es könnte ja sein, dass du dir etwas mehr als geschwisterliche Zuneigung von mir erwünscht“, erklärte er grinsend.
Er war sich sicher, dass Celine nicht einmal ansatzweise daran dachte etwas mit ihm anzufangen, dafür kannten sie sich viel zu gut und viel zu lang.
Celine errötete, als sie Nate betrachtete. Er hatte recht, er war durchaus ein gut aussehender junger Mann und unter anderen Umständen hätte sie ihn definitiv als attraktiv bezeichnet, aber im Moment war seine Haut blass – was durch die dunklen Haare noch verstärkt wurde – und seine Augen funkelten nicht mehr, sondern erschienen dumpf. Außerdem hatte er in den letzten fünf Wochen viel Gewicht verloren, wodurch sein Körper nicht mehr so trainiert und muskulös wirkte, sondern abgemagert aussah.
Im Moment empfand sie seinen Anblick nicht ansprechend oder sogar erregend, sondern viel mehr erschreckend und verstörend.
Sie schluckte es herunter und trat einen Schritt auf ihn zu. „Möglicherweise“, meinte sie mit hochgezogener Augenbraue, „würdest du es denn wollen?“
Nate betrachtete sie ruhig. Sie war in seinen Augen wunderschön, auf eine Weise auf die man deine Schwester eben schön findet.
Die langen weißblonden Haare die bis zur schlanken Taille reichten, die Muskeln, die sich unter ihrer Haut befanden und die Lippen zu einem aufreizenden Lächeln verzogen.
Aber sie war seine Schwester. Zwar keine direkte Blutsverwandtschaft, aber etwas viel Tieferes, als ein Blutsband verband die beiden.
„Möglicherweise“, antwortete er ebenso anzüglich wie sie. Es war immer gut ihre Spiele mitzuspielen.
Nate betrachtete ihren verwirrten Blick einen Moment, dann brach er in schallendes Gelächter aus.
„Als ob ich auch nur einen Moment daran denken könnte“, brachte er hervor, „nicht, dass du nicht hübsch wärst, aber du bist meine Schwester.“
Celine atmete erleichtert aus. „Dann wissen wir zumindest worum es in unserer Stunde nicht gehen wird“, grinste sie. „Kommst du?“
Nate sah ihr nach, als sie durch die Dachluke wieder nach unten kletterte.
Sie sah so unglaublich zerbrechlich aus, als sie die Stufen nach unten lief, auch wenn er wusste, dass sie alles andere als zerbrechlich war und jeder, der sie für zerbrechlich oder unfähig sich zu wehren hielt, noch eine Lektion lernen würde.
Maire stand im Unterrichtszimmer des Hauses und betrachtete die beiden Kinder, die vor ihr im Zimmer saßen.
Nate und Celine sagen sich nicht im Geringsten ähnlich, aber trotzdem waren sie beide wie Kinder für sie, auch wenn nur Celine ihr richtiges Kind war.
„Guten Morgen“, begrüßte sie die beiden. „Es ist schön, dass ihr gekommen seid und wir diese kleine private Stunde abhalten können.“
Sie hatte beim besten Willen keine Ahnung, wie man dieses Thema beginnen sollte.
Es war nicht so einfach, wie manche Leute es sich vorstellten ihren Kindern ein sehr unangenehmes Thema zu erklären, über das sie eigentlich nie wirklich reden wollten.
Sowohl Nate als auch Celine schienen gemerkt zu haben, dass sie sich unwohl fühlte, deshalb sprangen sie hilfsbereit ein.
„Also, wenn das das altbekannte Aufklärungsgespräch werden soll, musst du dir deshalb keine Sorgen machen. Cely und ich haben schon geklärt, dass wir beide nicht
interessiert aneinander sind“, erklärte Nate ihr hilfsbereit. „Also zumindest auf nicht die Weise, ich glaube du weißt, was ich meine, ansonsten hättest du dieses verdammt peinliche Gespräch nicht angezettelt.
Ich weiß nicht, ob du dir das vorstellen kannst, aber dieses Gespräch ist nicht nur für dich als Mutter, sondern auch für Celine und mich als deine Kinder verdammt anstrengend und kompliziert und peinlich, auch wenn wir dir natürlich nicht erklären müssen, dass du die Pille nehmen solltest, wenn du mit Robert schläfst, denn ihr seid ja schon erwachsen.“
Maire öffnete den Mund, schloss ihn wieder, dachte einen Moment nach und öffnete ihn erneut. „Ihr habt was?“, fragte sie ungläubig.
Sie hoffte inständig, dass sie sich verhört hatte und Nate ihr gerade nicht erklärt hatte, dass Celine und er darüber geredet hatten, dass sie keinen Sex miteinander haben wollten, denn das war über alle Maße verstörend, sie waren schließlich wie Geschwister.
„Klargestellt, dass wir in sexueller Hinsicht nicht aneinander interessiert sind“, wiederholte Celine für Nate.
„Akustisch habe ich euch durchaus verstanden“, antwortete Maire schnaubend. „Aber wie kommt ihr auf solche Gespräche? Habt ihr keine anderen Gesprächsthemen?“
Sie betrachtete ihre beiden Kinder, die mit offenen Mündern vor ihnen saßen. „Könntet ihr mir das vielleicht noch erklären?“
Sie verstand die beiden Jugendlichen wirklich nicht. Sie hatte damals auch Verwandte gehabt, mit denen sie nicht blutsverwandt gewesen war, aber sie hatte nie daran gedacht mit ihnen sexuellen Kontakt zu haben.
„Also … naja … äh …“, stotterte Nate und errötete.
„Gott bewahre, ihr habt doch nicht etwa …“, fiel Maire ihm entsetzt ins Wort.
Hatte er ihre Tochter vielleicht schon angefasst, war Celine möglicherweise schon schwanger von ihm, weil sie nicht aufgepasst hatte?
Weil sie nicht einmal gewusst hatte, wie man bei sowas aufpassen konnte.
„Ma“, unterbrach Celine ihre Mutter verärgert. „Was denkst du von uns, Ma? Nate und ich haben uns lediglich gefragt warum du eine Privatstunde abhalten willst.
Beziehungsweise warum du Will nicht auch geholt hast. Und die einzig logische Erklärung für uns war, dass es sich bei diesem Gespräch um ein sexuelles Gespräch handeln muss.“
„Also da würde Nate ja kaum Bedarf daran haben …“
Nate grinste bei ihrer Aussage unmerklich. Ja, Maire hatte recht. Nate war der letzte, der in irgendeiner Form Bedarf an Aufklärungsgesprächen hatte – und sollte er welche haben, war es sowieso egal, nachdem er regelmäßig das Rotlichtmilieu in der Stadt unsicher machte.
Ihm war zwar nicht klar, wie Maire davon erfahren hatte und warum sie ihn davor noch nicht darauf angesprochen hatte, da es bestimmt gegen ihre Ansichten von Anstand verstieß, aber vermutlich hatte sie einfach geahnt, dass es Nate nicht im Geringsten interessieren würde, wenn sie ihm verbieten würde sich mit solchen Dingen zu beschäftigen.
„Auf jeden Fall soll es bei dem heutigen Gespräch nicht darum gehen“, schloss Maire das Thema ab, bevor sie sich noch tiefer reinreden konnte.
Sie atmete tief durch und erholte sich von ihrem Schreck.
„Wie ihr vielleicht wisst, gibt es Magie“, redete sie weiter und sprach damit gleich das Thema an, von dem sie zuvor noch nicht gewusst hatte, wie sie es ansprechen sollte.
Nate schnaubte hörbar aus. Natürlich wusste er, dass es Magie gab. Dadurch waren schließlich seine Eltern gestorben.
Als hätte Maire seine Gedanken gelesen, antwortete sie: „Ich weiß, dass du bereits Erfahrung mit Magie gemacht hast und schon einige Stunden Lehre hattest, Nate. Aber Celine eben noch nicht und deshalb beginnen wir gemeinsam von vorne.“
Nate schnaubte erneut. Maire stellte es sich wirklich einfach vor. Hatte sie schon mal darüber nachgedacht, was er wollte?
„Was ist, wenn ich nicht möchte?“
„Nate! Du wirst machen, was ich dir sage.“
Maire betrachtete die störrische Miene ihres Adoptivsohns und seufzte schon wieder.
Sie wusste, dass Widerstand kommen würde und sie verstand ihn in gewisser Weise viel zu gut.
Er hatte mit diesem Thema abschließen wollen.
„Nein! Ich will das nicht lernen. Ich kann genug um mich zu verteidigen. Mehr brauche ich nicht“, antworte er störrisch. „Ich möchte nicht weiter in Magie unterwiesen werden.“
„Nate“, sprach Celine ihn liebevoll an. „Warum nicht?“
„Sie sind durch Magie gestorben“, stieß Nate hervor.
Wie jedes Mal, wenn er von seinen Eltern sprach, bahnten sich Tränen in seine Augen, welche er mit Müh und Not unterdrückte und herunterschluckte.
Er musste nicht sagen, wen er mit „sie“ meinte, sowohl Celine als auch Maire waren sich darüber im Klaren, dass Nate von seinen Eltern geredet hatte.
„Nate, du lebst in einer Welt aus Zauberern, aber willst dich nicht in Magie unterweisen lassen. Du weißt, dass das glatter Selbstmord ist“, erklärte Maire ihm ruhig.
Es gab in dieser Welt eben nicht nur gute, sondern auch sehr schlechte Magier und sie wollte nicht, dass Nate auf Grund mangelnder Unterweisung starb.
„Na und? Dann sterbe ich eben“, erwiderte Nate. „Mein Leben macht relativ wenig Sinn, oder? Ich würde lieber sterben, als mich in Magie unterweisen lassen.“
Sowohl Maire als auch Celine zuckten bei seinen in Selbsthass getränkten Worten zusammen.
Mein Leben macht relativ wenig Sinn.
„Doch, dein Leben macht Sinn, Nate“, antwortete Maire liebevoll und probierte ihm eine Hand auf die Schulter zu legen. „Wir lieben dich, wie viel mehr Sinn soll ein Leben denn machen?“
Nate zuckte bei der kurzen Berührung an seiner Schulter zusammen. „Ich sollte bei ihnen sein und sie glücklich machen“, antwortete er verbissen.
In seinen Augen lag ein Ausdruck von Hass, der sich hauptsächlich gegen ihn und zum anderen gegen den Mann, der ihm Magie beigebracht hatte, richtete, und Rachelust.
„Ich will nicht in Magie gelehrt werden, es sei denn du lehrst mich wie ich Rache nehmen
kann an ihm.“
Er wusste, dass das ein dreckiger Kompromissvorschlag von ihm war und er war sich sicher, dass Maire ihn nicht positiv aufnehmen würde.
Maire zuckte zusammen. Sie war diese Rachelust und die Wut in seinem Blick nicht gewohnt.
„Wir werden bestimmt irgendwann mit Flüchen beginnen, aber zuerst müssen wir die Basics lernen“, beruhigte sie ihn. „Du hast ja bereits ein paar Zauber gelernt, möchtest du sie uns zeigen?“
Maire war sich darüber im Klaren, dass sie Nate damit das Gefühl gab gewonnen zu haben, auch wenn er ihm dieses Gefühl eigentlich nicht hatte vermitteln wollen, aber wenn es nötig war um ihn dazu zu bringen, sich in Magie unterweisen zu lassen.
Nate hatte in seinen bisherigen Stunden nur zwei Zauber gelernt. Einen um seinen damaligen Meister heraufzubeschwören und den Einstiegszauber, dem Erschaffen eines Portals.
Da Nate keine Lust hatte seinen alten Meister zu rufen – er bezweifelte außerdem, dass dieser kommen würde – öffnete er seine Hand und konzentrierte sich.
Er hatte diesen Zauber schon so oft angewendet, dass er nicht mal mehr einen Zauberspruch
sprechen musste um seine Gedanken zu fokussieren. Es kam einfach über ihn.
In seiner Hand wuchs wuchs ein kleines Tor, dessen Durchgang bunt schillerte.
Das Tor wurde immer größer.
Nach einiger Zeit setzte Nate das Portal auf den Boden und sah zu, wie es weiter wuchs, bis
es so groß war, dass Nate es problemlos durchschreiten könnte.
„Gut gemacht, Nate“, lobte Maire, als Nates Portal stand.
Mit einer Handbewegung bedeutete sie Nate das Portal wieder zu schließen. Dieser schloss seine Hand einfach wieder, worauf das Portal sich schloss und in sich zusammenfiel.
Maire beobachtete Nate fasziniert.
Sie hatte ihn noch nie Magie anwenden sehen, aber diesen Zauber beherrschte er einwandfrei.
Außerdem hatte er ihn mit so viel Neutralität angewandt, dass es so aussah, als ob er keine Kraft dafür anwenden müsste – möglicherweise war das sogar die Wahrheit und Nate hatte wirklich keine Kraft dafür anwenden müssen diesen Zauber zu wirken.
„So“, begann sie ihre erste Unterrichtsstunde. „Heute werden wir noch keine praktische Magie anwenden, sondern uns erstmal mit ein bisschen Theorie beschäftigen.
Nate, kannst du uns etwas über Magier im Generellen erzählen?“
Sie sah Nate hoffnungsvoll an. Eigentlich müsste er durchaus in der Lage sein etwas über Magier zu erzählen.
Zumindest hatte sie die Hoffnung, dass Nates früherer Meister sich nicht nur damit abgegeben hatte Nate die Praxis nahezubringen, sondern ihm zumindest die wichtigsten Teile der Magietheorie beigebracht hatte.
Nate schloss die Augen. Innerlich sah er sich wieder in dem düsteren Raum, in dem sein Meister – anders hatte er ihn nicht nennen dürfen – ihm in Magie unterrichtet hatte. Allerdings war damals nie ein Wort über Theorie gefallen.
Abgesehen von einem einzigen Satz: Theorie ist unwichtig, die Praxis ist der einzige Weg
um Magie zu erlernen.
Die kratzige Stimme seines Meisters jagte ihm wieder einen Schauer über den Rücken.
Entschlossen schüttelte er den Kopf um diese Erinnerungen zu verbannen. „Nein“, antwortete er betrübt. „Mein damaliger Meister war der Ansicht Theorie wäre ein nutzloser Weg um Magie zu erlernen.“
Theorie ist unwichtig, die Praxis ist der einzige Weg um Magie zu erlernen.
„Nun, ich hoffe du bist anderer Ansicht, denn die Theorie ist ein grundlegender Bestandteil des Unterrichts, damit überhaupt verstanden wird, wie Magie funktioniert“, erklärte Maire ihnen.
Sie konnte nicht nachvollziehen, wie man Magie lehren wollte ohne dabei zumindest auf die Grundzüge der Magie einzugehen, ohne zu erklären wie Magie entstand, woher sie kam und wie man sie freisetzten konnte.
Solche Unterrichtsmethoden waren nur mit besonders leistungsstarken Kindern möglich, die schon ohne Erklärung rein aus dem Instinkt heraus, in der Lage waren Magie zu nutzen.
„Kannst du uns jetzt endlich sagen warum Will nicht da ist?“, fragte Celine.
Sie hielt nicht viel von Unterricht ohne ihren Bruder, dann hatte sie niemanden um sich zu vergnügen.
„Celine, warte bis zum Ende der Stunde, dann wirst du verstehen, warum Will nicht dabei war“, antwortete Maire schlicht, dann räusperte sie sich. „Betrachtet euch bitte gegenseitig.“
Nate schaffte es Celine so eingehend zu betrachten, dass diese errötete und den Kopf senkte.
Ihr Anblick war ihm von den funkelnd grünen Augen, bis zu den lackierten Zehennägeln so vertraut wie sein eigener.
Genauso ging es Celine, als sie Nate betrachtete.
„Habt ihr eine Gemeinsamkeit gefunden?“, fragte Maire die beiden nach einer Minute.
Sie hoffte zwar unterbewusst auf eine ernsthafte Antwort – andererseits, es war Nate mit dem sie da redet, wie konnte sie nur so naiv sein und auf eine ernsthafte Antwort seinerseits hoffen.
„Wir sind beide attraktiv“, erklärte Nate ihr todernst. „Allerdings denke ich bei uns beiden, dass man das Kinn noch etwas markanter machen könnte, möglicherweise sollte das ja unsere erste richtige magische Aufgabe sein, damit wir endgültig attraktiv genug sind um …“
„Nate“, fuhr Maire ihn wütend an, „probiere bitte ernst zu bleiben.“
„Wir haben beide grüne Augen“, platzte Celine auf einmal heraus. „Will hat keine“, fügte sie nachdenklich hinzu. „Hat das etwas damit zu tun, warum er nicht hier ist, Ma?“
„Genau richtig mein Schatz“, antwortete Maire ohne auf Celines letzte Frage einzugehen. Sie wusste, dass es Celine zusetzte etwas ohne ihren Zwillingsbruder machen zu müssen, dass sie nicht kannte.
„Grüne Augen, sind im Allgemeinen das Zeichen für Magie. Im Normalfall sind sie strahlend grün.“
„Ach so“, murmelte Celine, „deshalb ist Will nicht hier. Er ist kein Magier.“
Es tat ihr fast schon für ihren Bruder leid, dass er nicht hier sein konnte, weil er kein Magier war, schließlich war ja die ganze Familie magisch veranlagt.
Andererseits würde es ja bestimmt nicht so schlimm sein, schließlich war er dann auch etwas Besonderes, weil er etwas ganz normales war.
„Genau“, bestätige Maire die These. „Ich war mir lange Zeit auch nicht sicher, ob es sich bei Nate um einen Magier handelt, weil seine Augen so getrübt sind. Allerdings hat die Geschichte vom Tod seiner Eltern mich letztlich überzeugt.“
Bei den letzten Worten verzogen sich Nates Lippen und er musste die Zähne zusammenbeißen um nichts zu erwidern.
Aber immerhin hatte Maire ihm als fast schon einzige Erwachsene die Geschichte vom Tod seiner Eltern abgekauft – musste sie ja auch als Magierin.
„Im Normalfall ist die Augenfarbe eines Magiers grün, allerdings kann sich ein Magier spezialisieren, wodurch sich auch die Augenfarbe eines Magiers ändern kann.
Ein Magier, der sich auf Heilung spezialisiert hat – ein so genannter Heiler – hat blaue Augen, die wie das Meer strahlen …“
„Dann ist Da ein Heiler“, rief Celine dazwischen. „Deshalb sind seine Augen so komisch blau.“
Robert Evans besaß in der Tat eigenartig blau leuchtende Augen.
Mit seinen goldblonden Haaren, der bronzefarbenen Haut und dem muskulösen Körperbau sah er Will sehr ähnlich.
Aber in Roberts Augen lag Weisheit, die Will noch gar nicht erlernt haben konnte, und die Fähigkeit vorausschauend zu planen, während in Wills bernsteinfarbenen Augen Spontanität und Jugendlicher Übermut vorgetragen wurde.
„Ja, dein Vater ist in der Tat ein Heiler“, bestätigte Maire, dann führte sie ihre Rede weiter: „Wenn ein Magier böse wird, werden seine Augen rot und sollte sich ein böser Magier belehren lassen, wird er auf ewig von seinen gelben Augen gekennzeichnet.
Darüber solltet ihr nachdenken, bevor ihr Magie öfter für böse Zwecke einsetzt, denn Magie vergisst und verzeiht nicht. Sie kennzeichnet euch für immer mit eurem Verbrechen.“
Maire legte eine kurze Pause, holte Luft und erzählte weiter: „Ich gehe davon aus ihr habt Harry Potter gelesen und wisst, dass in dem Roman auch Leute Zauberer werden können, deren Eltern keine Magier waren.
Dies ist bei uns allerdings nicht möglich. Damit ein Kind ein Magier werden kann, muss mindestens ein Elternteil ein Magier gewesen sein, sonst …“
„Das stimmt nicht“, unterbrach Nate wütend. „Weder meine Mutter noch mein Vater waren Magier.“
„Nate, einer von beiden muss …“
„Nein, keiner von beiden war ein Magier, keiner!“
„Wir reden später darüber Nate, aber bitte lass mich davor die Stunde beenden“, vertröstete Maire ihn, obwohl sie wusste, wie sehr er es hasst vertröstet zu werden.
Nate nickte widerwillig. Er hasste es vertröstet zu werden. Wenn es ein Problem gab, wollte er es lösen, aber er sah ein, dass es keinen Sinn machte Maire jetzt zu nötigen das „Problem“ mit ihm zu erörtern.
Soweit er seine Eltern in Erinnerung hatte, hatte keiner der beiden grüne, blaue, gelbe oder
rote Augen gehabt.
Und er hatte seine Eltern gut in Erinnerung, besser als irgendetwas anderes in seinem Leben.
„Wo war ich stehen geblieben?“, fragte Maire und unterbrach damit Nates Gedanken. „Ach so“, erinnerte sie sich, „es ist nicht möglich, dass ein Kind ohne magische Eltern ein Magier wird, aber ein Kind von zwei Magiern kann durchaus ein normal menschliches Kind sein, wie wir an Will sehen können.“
Sie holte tief Luft, dann redete sie weiter: „Nun ja, ihr müsst euch bestimmt fragen, warum
ich erst jetzt darauf zu sprechen komme, dass ihr Maier seid, obwohl ich es schon seit einigen Jahren weiß, oder?
Und nicht nur ich weiß es von euch, Nate wird es ja auch von sich gewusst haben, dass er magische Fähigkeiten hat, sonst könnte er ja nicht Magie wirken.“
Nate zuckte unwillig mit den Schultern – seine Aktivität am Unterricht bestand generell aus einer gewissen Abwehrhaltung, indem er mit verschränkten Armen, verschlossener Miene und verschränkten Armen auf seinem Stuhl lümmelte, weil er wusste, dass Maire das nicht ausstehen konnte – während Celine nickte und probierte so aufmerksam wie möglich in ihrem Unterricht zu sein – was bestimmt auch damit zusammenhing, dass es Celine wirklich interessiert, was Maire erzählte.
„Also im Normalfall beginnt die Ausbildung eines Magiers mit sechzehn Jahren – bei Nate begann sie offensichtlich früher“ – ihr Blick glitt zu Nate in der Hoffnung er würde reagieren – was er aber nicht tat –, dann seufzte sie. „Auf jeden Fall macht es keinen Sinn vor Antritt des sechzehnten Lebensjahrs mit der Ausbildung zu beginnen.“
Celine lehnte sich interessiert nach vorne.
Normalerweise war sie eher eine stille Person, doch wenn sie neugierig wurde, konnte sie unerträglich werden.
Als Maire keine Anstalt machte näher auf die Bedeutung des sechzehnten Lebensjahrs einzugehen, hakte sie nach: „Warum beginnt die Ausbildung mit sechzehn und macht davor keinen Sinn?“
Maire seufzte, die unerträgliche Neugier ihrer Tochter hinderte sie am Vorankommen, aber sie hatte ein Recht darauf es zu erfahren. „Die Augen eines Magiers verraten zwar schon ab dem Tage der Geburt, ob es sich um einen Magier handelt, aber der Geist des Magiers, das was ihm seine Macht verleiht, erwacht erst mit sechzehn wirklich zum Leben.“
„Aber warum hat man dann bei Nate so früh begonnen?“, hakte Celine weiter nach.
„Ich weiß es nicht“, antwortete ihre Mutter seufzend, „eine weitere unbeantwortete Frage in der Geschichte seiner Ausbildung. So wie die Frage nach dem nicht vorhanden Theorieunterricht.“
Seufzend wandte sie sich an Nate: „Weißt du was Magie bedeutet?“
„Selbstverständlich“, grummelt Nate, „es ist die Fähigkeit Übernatürliches auszuführen.“
„Aber weißt du worauf diese Fähigkeit beruht? Wo unsere Kraft herkommt?“, hakte Maire nach.
Es war ein Ding der Unmöglichkeit ohne dieses Wissen einen Zauber auszuführen, geschweige denn einen Zauber so gut auszuführen, wie Nate es konnte.
Man konnte Magie nicht erzwingen, da sie aus Organen herauskam, auf die Gewalt keinen merkbar direkten Einfluss hatte.
„Die Fähigkeit Magie auszuüben, stammt aus unserem Gehirn. Es ist deutlich leistungsfähiger als das eines normalen Menschen. Zumindest ist der Teil, der für Vorstellungskraft zuständig ist, ist ausgeprägter und leistungsfähiger, deshalb ist es uns möglich uns Dinge sehr real vorzustellen und unsere Gedanken so präzise zu fokussieren, dass wir sie aus reiner Willenskraft real werden lassen.“
Maire blieb der Mund offen stehen. Sie hatte keine so präzise und ausführliche Antwort erwartet.
Vor allem keine, die es so genau auf den Punkt traf, obwohl Nate behauptet hatte keinen
Theorieunterricht erhalten zu haben.
„Das war eine perfekte Erklärung“, lobte sie, „kennst du auch die Bedeutung des Fokusworts oder der Handbewegung?“
Nate schnaubte verächtlich. Selbstverständlich kannte er die Bedeutung, auch wenn es für ihn schon lange nicht mehr notwendig war.
„Da es sehr anstrengend ist seine Gedanken immer so präzise zu bündeln, denkt man sich ein Wort aus, oder eine Bewegung – möglichst etwas, das mit dem Zauber zu tun hat – und erinnert sich an das Gefühl der Gedanken, als der Zauber das erste Mal geglückt ist.
Wenn man dieses Wort ausspricht, oder die Bewegung nachahmt, kommen die Erinnerungen wieder hoch und die Gedanken fokussieren sich von selber auf das, das man erreichen will und der Zauber gelingt.
Allerdings ist es ratsam das Fokuswort nach einiger Zeit zu erneuern, da die Kraft des Magiers wächst und der Zauber sich unter Umständen verbessert haben könnte.“
Maire schluckte wieder, er übertraf ihre Erwartungen in jeder Weise. Sie schnappte nach Luft um etwas zu sagen, aber die Worte, die sie hatte sagen wollen, entfielen ihr.
„Celine“, sprach sie ihre Tochter an, „möchtest du auch einen Portalzauber ausprobiere?“
Celine schluckte. Sie hatte keine Ahnung wie sie ein Portal erstellen sollte, sie hatte nur Nates perfektes Portal gesehen, was sie davor erschreckte einen Fehler zu machen und dann vor ihrem Adoptivbruder dumm dazustehen.
„Es ist nicht schlimm, wenn du einen Fehler machst“, beruhigte Nate sie, „ich habe jahrelange Erfahrung.
Ich habe es seit fünf Jahren geübt. Denk einfach an mein Portal und stell dir vor, wie es in
deiner Hand wächst.“
Celine befolgte seine Tipps. Es fiel ihr schwer sich zu konzentrieren, während ihre Mutter und Nate ihr so aufmerksam zusahen.
Sie schloss die Augen und konzentrierte sich komplett auf das wunderschöne Portal, das in Nates Hand gewachsen war.
Sie konzentriere sich auf die Farbverläufe, die Schönheit und die Steine darum herum. Dann konzentriere sie sich auf ihre Hand und stellte sich vor, wie das Portal in ihrer Hand wuchs. Sie konnte es auf ihren geschlossenen Lidern sehen, es war so präzise, jede Einzelheit, jedes winzige Detail, die kleinen Rillen in den Steinen, alles war zu sehen.
Es war so real, dass sie es hätte berühren können, mit den Fingern die Rillen hätte nachfahren können.
Sie keuchte auf, als ihr Handrücken aufriss und sie spürte, wie ein Torbogen aus ihrer Hand wuchs, ein Torbogen in dem sich schillernde Farben vereinten und miteinander verwaschen wurden.
Aber die Farben waren nicht so leuchtend und klar, wie die in Nates Portal, sie waren von einem blauen Licht überzogen und wirkten blass und unregelmäßig.
Celine betrachtete keuchend das Wunder in ihrer Hand.
Es war beim besten Willen nicht perfekt, aber sie hatte es geschafft.
Sie war glücklich, überglücklich.
„Du hast es geschafft, Celine“, lobte ihre Mutter sie und unterbrach ihre Konzentration.
Sofort stürzte das Portal zusammen.
„Oh“, entfuhr es Maire leise, „das habe ich nicht gewollt. Aber ich bin stolz auf dich. Es gelingt nur wenigen ein Portal im ersten Anlauf zu errichten.“
„Aber es war nicht wirklich gut, oder?“, fragte Celine enttäuscht. „Ich meine, es hätte besser sein können. Nates war so viel besser.“
„Hey“, beruhigte Nate sie sofort, es bereitete ihm Schmerzen seine Adoptivschwester so zu sehen, „ich habe fünf Jahre mehr Übung als du und ich bin mir sicher, dass
du es mit fünf Jahren Erfahrung ebenso gut hinbekommen hättest. Sieh es mal so: den allerwenigsten Magiern gelingt es im ersten Anlauf ein Portal zu erschaffen.“
Er verschwieg ihr, dass er es im ersten Anlauf geschafft hatte und es bedeutend besser ausgesehen hatte, auch wenn er es noch hatte verbessern müssen.
„Du kannst den persönlichen Schliff deines Portals verändern, wenn es dir nicht gefällt“, meinte Maire nachdenklich.
In ihren Augen passte der steinerne Bogen nicht zu Celines zarten Wesen, auch wenn der weiche Blauton der Farben alles ein wenig abrundete und es schöner machte.
„Was meinst du damit?“, fragte Celine argwöhnisch.
In ihren Ohren klang es so, als wäre Celine ganz und gar nicht zufrieden und würde es grundlegend ändern.
Maire antwortete, indem sie die Hand öffnete und ein Portal erschuf.
Eines, dessen Rahmen aus zarten roten Rosen bestand, die ineinander verflochten waren und eine komplett neue Sicht auf Maires Charakter warfen, denn ein Portal beinhaltete immer einen Teil des persönlichen Wesens.
„Oh“, entfuhr es Celine, als sie den vollkommenen Portalbogen ihrer Mutter betrachtete.
Maire lies es wieder zusammenfallen und wandte sich an ihre beiden Schüler. „Das war unsere erste Stunde. Wir werden werden den Portalzauber weiter üben – beziehungsweise Celine wird ihn weiter üben, da Nate ihn ja bereits perfekt beherrscht, ihr könnt gehen.“
„Du hast nicht gut genug geübt.“
Nate zuckte zusammen, als er die wütende Stimme hörte. Er blickte hoch und sah wie sein Meister den Gürtel abnahm.
Er zuckte zusammen.
„Niederknien!“
Er gehorchte willenlos, er wusste, dass es keinen Sinn machte sich zu Wehr zu setzen.
Sein Meister beherrschte die Kunst der Magie perfekt und er konnte gerade mal ein Portal erschaffen.
Er zuckte zusammen, als der Gürtel seine Haut traf.
Ein Schrei bahnte sich über seine Lippen, er konnte ihn nicht zurückhalten.
„Hör auf zu schreien, das Studium der Magie ist hart. Wer die Schmerzen nicht erträgt, wird nicht weiterkommen!“
Erneut sauste der Gürtel nieder. Er zerriss das Hemd vollkommen, riss die Haut auf und versengte sie mit den glühenden Nieten.
Nates schmächtiger Körper bäumte sich auf und kämpfe gegen den Schmerz an. Ein erneuter Schrei entstand in seiner Brust, aber er hielt ihn zurück, warf den Kopf in den
Nacken, als der nächste Hieb ihn traf.
Er konnte nicht mehr und ließ den Schrei, der ihm die Kehle verbrannt hatte, entweichen.
Die Tür flog auf und Maire kam herein.
Ihre wild entschlossene Miene zerfiel, als sie Nate auf dem Fenstersims seines Zimmers sitzen sah.
Es erinnerte sie an die ersten Monate nach seinem Einzug.
Damals hatte der schmächtige elfjährige Junge auf der Fensterbank gesessen und sie hatte ihn stumm betrachtet.
Unfähig etwas gegen die Schmerzen in seinem Blick zu machen.
So sah sie ihn auch jetzt an.
Sie hatte nie gedacht, dass aus dem schmächtigen Jungen einmal ein so muskulöser und attraktiver junger Mann wie Nate werden würde.
Der kleine Nate hatte damals Training genutzt um über seinen Kummer hinwegzukommen – so wie er es jetzt noch tat.
Maire probierte sich zusammenzureißen, aber es fiel ihr schwer, als sie den Kummer in seinem Blick sah.
Wie auch damals hatte er ein Bein auf das Fenstersims gestellt, das andere hing herunter und
das schmerzverzerrte Gesicht war an die kühle Scheibe gelehnt.
„Nate“, brachte sie schließlich mühevoll und erstickt hervor.
Er sah auf. Als er sie erblickte, verbannte er den Schmerz aus seinem Gesicht und probierte wieder ein unbekümmertes Gesicht aufzusetzen – was gründlich misslang.
„Was gibt’s?“, fragte er gespielt gut gelaunt.
Diese gespielte Unbekümmertheit, die überdecken sollte, wie es ihm wirklich ging, tat noch mehr weh als einfach die Schmerzen in seinem Gesicht zu sehen – vor allem wenn dieser unbekümmerte Ausdruck ihm so sehr misslang, wie er es gerade tat.
„Nate, ich wollte mit dir reden.“
„Na davon bin ich ja gar nicht ausgegangen“, erwiderte er sarkastisch, „ansonsten wärst du ja nicht in mein Zimmer gestürzt und hättest es sogar unterlassen anzuklopfen.“
„Es hat mich interessiert warum du so eine Abneigung gegen die Magie hast“, erklärte Maire.
Sie holte tief Luft und redete dann weiter: „Aber es wäre leichter, wenn du ehrlich wärst. Auch was deine Miene angeht, damit ich verstehen kann, was dir fehlt.“
Nate atmete tief durch. Es war das erste Mal seit Jahren, dass er seine Maske fallen lassen würde und er wusste nicht, ob er das konnte.
Genauso wie er nicht wusste, ob er ihr wirklich erklären könnte, was ihm fehlte. „Meine Eltern, sie sind wegen Magie ums Leben gekommen und ich kann es nicht ertragen, dass sie … naja … sie sind tot und ich lasse mich gedankenlos auf das, was sie getötet hat ein?
Das passt nicht zusammen.“
Maire nickte. Sie hatte geahnt – nein, sie hatte gewusst –, dass sie so eine Erklärung erhalten würde, aber sie hatte das dumpfe Gefühl, dass dies nicht der einzige Grund für seine Ablehnung gegen Magie war.
„Ist das alles?“, hakte sie nach. „Ich hatte vorhin das Gefühl da wäre noch mehr gewesen. Du hast es so direkt abgelehnt.“
„Reicht der Tod seiner Eltern dir nicht als Grund?“, erwiderte er trotzig. „Ich meine, sie sind ja nur tot…“, fuhr er sarkastisch fort.
Maire zuckte zusammen. Sie hatte ihn nie kränken wollen. „Natürlich reicht das als Grund, ich meine nur …“ – sie hatte keine Ahnung wie sie es erklären sollte – „ich glaube du verschweigst mir etwas, Nate. Etwas das ich wissen sollte.“
Sie hoffte sie klang genauso fordernd wie sie es beabsichtigt hatte.
Sie wollte ihm helfen, aber um ihm zu helfen, musste sie erfahren, was wirklich los war und das würde sie nicht herausbekommen, indem sie Nate sein Spielchen mit ihr weitermachen ließ.
Nate zuckte bei ihren Worten zusammen.
Ja, sie sollte es tatsächlich wissen, dachte er, sie muss verstehen dürfen, warum ich Magie so sehr ablehne.
„Es ist kompliziert das zu erklären“, begann er. „Im Grunde genommen, kann man das gar nicht richtig erklären, man kann es nur zeigen“, fügte er stockend hinzu.
„Dann zeig es mir doch“, flüstere Maire.
Es tat ihr im Herzen weh, wenn er mit diesem stockenden, mühseligen und so schmerzvollen Ton redete.
Sie wusste, dass er litt, auch wenn er immer noch probierte es zu überspielen und das machte ihn fertig, warum durfte sie ihm nicht helfen?
Warum durfte sie nur zugucken und probieren ihm zu helfen, indem er mit ihr redete, was er aber strikt ablehnte?
Nate hob sein Hemd an und zog es sich über den Kopf. Dann drehte er sich um und präsentierte Maire seinen Rücken.
Er spürte ihren Blick über die harten Muskel wandern, aber sie betrachtete ihn nur mit mütterlicher Zuneigung.
Als er sie keuchen hörte, wusste er, dass sie den Grund gefunden hatte, warum er sich seiner Familie gegenüber nie oberkörperfrei präsentiert hatte und warum er Magie so grundlegend negativ gegenüber stand.
Die langen Narben auf seinem Rücken – die letzten Erinnerungen an die Gürtelschläge – taten nicht mehr weh, als Maire sanft über sie fuhr, aber Nate zuckte trotzdem zusammen.
Es erinnerte ihn an die Schläge und die Qualen, als sich das glühende Metall in seine Haut eingebrannt hatte.
Außerdem erinnerte es ihn an die Art, mit dem ihm Magie beigebracht worden war.
„Wer hat dir das angetan?“, fragte Maire keuchend. Sie konnte nicht fassen was sie sah.
Der wunderschöne Oberkörper ihres Sohns, aber so gnadenlos zerstört.
Sie konnte die Schmerzen, an die er sich erinnern musste fast am eigenen Leib spüren.
Sie konnte verstehen, dass er Magie verabscheute, wenn er sie mit diesem Akt der Gewalt, mit dem Verursachen von Schlägen, mit gnadenloser Grausamkeit verband.
„Mein alter Meister“, brachte Nate zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „seine Methode um mich anzustacheln schneller zu werden und besser zu werden, wenn ich ihm nicht gut genug war.“
„Oh Nate“, war alles was Maire hervorbrachte. Sie fuhr immer wieder über seinen Rücken und spürte neben den einzelnen Wirbeln die sanften Erhebungen der Narben, die sich weiß auf seinem, ansonsten wunderschönem Rücken, abzeichneten.
„Aber du weißt doch, dass ich dir das nie antun würde, oder?“
Nate nickte. Das wusste er.
Der Gedanke daran, dass Maire überhaupt in der Lage sein könnte solche grausamen Schmerzen zu verursachen, ließ ihn zusammenzucken und überzeugte ihn davon, dass sie die Wahrheit sagte und ihm so etwas nie antun würde.
„Ich wollte dich eigentlich bitten mir noch einmal dein Portal zu zeigen“, erzählte Maire leise, „aber unter diesen Umständen …“
Sie drehte sich um und machte Anstalten den Raum zu verlassen.
„Nein“, antwortete Nate. „Du hast recht, ich kann nicht ewig so tun, als wäre Magie böse, denn sie ist ein Bestandteil von mir und du würdest mir solche Schmerzen nie zufügen. Außerdem ist es der einzige Weg um meine Eltern zu rächen.“
Bereitwillig öffnete er die Hand und ließ ein Portal aufsteigen.
Maire auf den Atem ein. Es war so … vollkommen.
Vollkommener als jedes andere Portal, das sie je gesehen hatte.
„Wie machst du das?“, fragte sie ehrfürchtig.
„Was?“, fragte Nate verwirrt.
„Es ist so eben, so gleichmäßig. Ich habe noch nie ein so gleichmäßiges, perfektes, Portal gesehen“, erklärte Maire ihm staunend.
Es klang wie eines dieser klassischen Komplimente, dass man seinem Kind eben machte um es davon zu überzeugen, dass es etwas wirklich Tolles gemacht hatte, aber sie meinte es ernst.
Sie hatte wirklich noch nie etwas so Vollkommenes gesehen.
„Ach so. Übung macht den Meister“, erklärte Nate schulterzuckend. „War’s das jetzt?“
Maire nickte. Nate würde bestimmt noch etwas am Mittag vorhaben. Sie verließ sein Zimmer schnell, schließlich wollte sie ihn nicht unnötig lang aufhalten.
Sie hatte zwar keine Ahnung, was Nate vorhatte, aber sie hoffte, dass er nicht vorhatte das nächste Rotlichtmilieu unsicher zu machen.
Kaum war Maire weg, verschloss Nate die Tür sorgfältig, erschuf ein Portal und stieg hindurch.
Robert Evans war ein großer Mann, der Will – bis auf die strahlend blauen Augen – sehr ähnlich sah.
Die blonden Haare hingen ihm strähnig ins Gesicht, während er auf Nate wartete.
Unter den strahlend blauen Augen, die auf seinen Stand als Heiler hindeuteten – hatten sich dieselben dunkeln Ringe gebildet wie unter denen seiner Frau – die übrigens gerade auf seinem Schoß schlief.
Seine einst bronzefarbene Haut, die aber jetzt in einem viel helleren Ton schimmerte, zeugte genauso von seiner unmessbaren Müdigkeit, wie der Blick in seinen Augen, denn Robert konnte nicht schlafen, solange es seiner Frau nicht gut ging und Maire ging es nicht gut, solange Nate nicht schlafen konnte.
Robert liebte sowohl seine Frau, als auch Nate.
Er hatte ihn schon geliebt, als er als Elfjähriger zu ihnen nach Hause gekommen war.
Damals war Nate so ängstlich gewesen, Robert hatte gespürt, dass der Junge Angst vor ihm hatte, denn Nate konnte die Magie in seinem Körper fühlen und er hatte sie gefürchtet – so wie alles in dieser Zeit.
Es hatte lange gebraucht, bis er Vertrauen entwickelt hatte, aber in dieser Zeit hatte Robert ihn wie einen leiblichen Sohn ins Herz geschlossen.
Und auf diesen Sohn wartete er jetzt. Als Nate nicht zum Essen erschienen war, hatten Maire und er sich Sorgen gemacht.
Nates Tür war verriegelt gewesen, aber durch keinen Bann versperrt, weswegen es Robert ein Leichtes gewesen war sie zu öffnen.
Aber Nate war nicht da gewesen, er hatte nur die Überreste eines Portals in der Luft gespürt.
Seufzend hob Robert den Körper seiner schlafenden Frau hoch und trug sie ins Schlafzimmer. Er hoffte, dass Nate diese Nacht nicht schreien würde, denn endlich schlief Maire einmal.
Das letzte Mal, dass Maire so ruhig geschlafen hatte, wie jetzt, war schon eine Ewigkeit her.
Robert hatte schon viel ausprobiert um Nates nächtliche Schreie zu unterdrücken, aber kein Zauber hatte seine Schreie unterdrücken können oder es geschafft sie so leise zu halten, dass sie nicht ins Schlafzimmer kamen.
Als Robert seine schlafende Frau so sah, verspürte er den Wunsch sich einfach neben sie zu legen und neben ihr einzuschlafen.
Aber er konnte nicht, er musste auf seinen Sohn warten, auch wenn er wirklich keine Lust hatte das jetzt zu machen.
Zärtlich strich er mit der Hand über ihr Gesicht und ließ sie an ihrer Wange verweilen.
Er neigte den Kopf und küsste sie kurz auf den Kopf, dann seufzte er und erhob sich vorsichtig vom Bett und ließ seine Frau zurück.
Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer sah er in Nates Zimmer vorbei, er hätte ja schon zurück sein können, aber in Nates Zimmer war niemand.
Seufzend ging er wieder ins Wohnzimmer und dachte an seine schlafende Frau nach.
Er hatte sich gerade niedergelassen, als die Tür knarzte und aufgestoßen wurde.
Durch die offene Tür kam Nate gelaufen – eher gesagt torkelte er durch die Tür.
Die Alkoholfahne, die Robert entgegenwehte, blies ihn fast um.
Wo hatte Nate gesteckt?
„Wollte dich nicht wecken“, lallte Nate ihm unverständlich entgegen und taumelte gegen einen Tisch.
„Wo hast du gesteckt?“, fuhr Robert ihn an.
Er konnte verstehen, wenn Nate etwas trank, das war mit sechzehn ja auch wirklich normal, aber das was er jetzt durch die Fahne riechen konnte, roch nach eindeutig zu viel Alkohol für einen Sechzehnjährigen.
„Bisschen trinken, Bar“, brachte Nate zusammen.
Dann krümmte sich sein Körper zusammen und er erbrach.
Robert seufzte.
Mit einer Bewegung des Fingers beseitigte er das Erbrochene, dann versetze er Nate in einen tiefen Schlaf und trug ihn ins Bett.
Er war schon froh, dass Nate nicht das Bewusstsein verloren hatte.
Nate verschlief den nächsten Morgen und wachte erst am späten Nachmittag wieder auf. Kaum hatte er sich erhoben, stürzte Celine in sein Zimmer.
„Nate“, sprach sie ihn kalkweiß an, „Maire möchte mit dir reden – und sie ist nicht gut gelaunt.“
Dann drehte sie sich um und verließ das Zimmer.
Ihre Haltung zu Alkohol war klar und es passte ihr nicht, dass Nate einer so anderen
Meinung war.
Trotzdem zeigte Ihre Gesichtsfarbe die Sorge um ihren Bruder.
Sie hasste es, wenn Nate trank und es ihm deswegen so schlecht ging.
Nate murrte etwas, dann zog er sich an und schlurfte von Kopfschmerzen geplagt den Weg zu Maires Arbeitszimmer entlang.
Er stieß die Tür auf und ließ sich in einen Sessel fallen, während Maire ihn entsetzt anstarrte.
„Geht es dir gut?“, fragte sie besorgt.
„Haha, lustig“, grummelte Nate genervt.
Maire konnte ihm nicht ernsthaft erklären, dass sie noch nie betrunken gewesen war und noch nie einen Kater erlebt hatte.
„Ich hoffe ja wirklich, dass es dir nicht gut geht. Aber warum hast du letzte Nacht so getrunken?“
„Ich kann es nicht ertragen, die Träume. Betrunken geht es, ich nehme sie nicht wahr“, erklärte Nate distanziert.
„Ich habe nachgedacht, Nate. Ich kann nicht zusehen, wie du an diesen Träumen zerbrichst“, erzählte Maire ihm zögernd.
Sie holte tief Luft und bereitete sich darauf vor etwas zu sagen, was sie nicht wollte.
„Such nach ihrem Mörder, wenn dir das hilft. Aber bitte vergiss nicht, wo unsere Welten sich
trennen.
Ich kann dir nicht in den Tod folgen, wenn dich deine Suche dort hinführt. Und ebenso wenig
kann ich dir in die Welt der Menschen folgen. Bedenke das bitte.“
In Gedanken versunken lief Marie die Treppe hinunter. Sie ärgerte sich über sich selbst und das
Zugeständnis, das sie Nate gemacht hatte. Sie hatte jahrelang probiert ihn davon abzuhalten und
jetzt ließ sie ihn einfach gehen. Nate ist sechzehn, ermahnte sie sich, er steht auf eigenen Füßen und
es ist seine Entscheidung. Aber trotzdem, selbst wenn Nate sechzehn war, und damit selber für sich
verantwortlich, fühlte es sich falsch an ihn einfach gehen zu lassen.
Wenn Marie Nate ansah, sah sie zwar nicht mehr den kleinen, schmächtigen jungen, der sie sofort
verzaubert hatte, aber sie sah immer noch nicht den jungen Mann, zu dem Nate geworden war. Sie
hatte Angst ihren Sohn an die Gewalt, der er möglicherweise auf seinem Weg begegnen würde, zu
verlieren. Aber es ist seine Entscheidung ob er geht und ob er sich der Gewalt anschließen wird,
ermahnte sie sich wieder. Sie konnte sein Leben nicht bestimmen, das musste er selber tun.
Außerdem hast du nur eingewilligt, weil es ihn noch mehr zerstört, wenn er nicht gehen darf,
beruhigte sie sich. Ihre Gedanken huschten wieder zu dem Moment, als sie Nate entkräftet in seinem
Bett gesehen hatte und ihr Mann ihr erzählt hatte, dass Nate getrunken hatte. Trinken ist ein netter
Ausdruck dafür. Sie seufzte, ihre innere Stimme hatte recht. Robert hatte erzählt Nate wäre
sturzbesoffen gewesen. Ach warum konnte er keinen Zauber wirken, der Nates Träume beruhigte,
sodass er nicht trinken musste um ruhig durchschlafen zu können? Natürlich hatte Robert sein bestes
gegeben, aber er schaffte es nicht Nate seine Träume zu nehmen – was Marie ihm aber nicht
persönlich übel nahm.
Sie seufzte erneut, als sie an ihr Zugeständnis dachte. Eigentlich hatte sie ihm ein für alle Mal
erklären wollen, dass sie bei ihrem „nein“ blieb, aber wie hätte sie das übers Herz bringen sollen,
nachdem er ihr erzählt hatte, dass er trank um seinen Träumen aus dem Weg zu gehen, wo er doch
der festen Überzeugung war, dass nur die Suche nach dem Mörder seiner Eltern ihn vollständig von
seinen Träumen freisprechen würde. Aber das ist nicht deine Entscheidung.
„Liebling?“ Roberts Stimme riss sie vollkommen aus ihren Gedanken. Sie war so weich, so liebevoll,
trotz der Müdigkeit, die in ihr mitschwang.
„Hmm?“, fragte sie ihn.
„Ich hoffe ich habe dich nicht gestört“, entschuldigte Robert sich, „ich wollte dich nur fragen wie es
Nate geht. Celine hat gesagt du hättest mit ihm geredet.“
Marie brauchte einen Moment im sich zu sammeln. Wie es Nate geht. Ach so, Robert wollte über
Nate reden. Sie war sich nicht sicher, weswegen sie etwas anderes erhofft hätte. „Oh, Nate schläft.“
„Das war nicht weiter verwunderlich“, bemerkte Robert. Er wirkte merkwürdig in Gedanken
versunken. Fast als würde er mehr mit sich selbst, als mit Marie reden. „Die meisten Leute mit einer
Alkoholvergiftung schlafen länger als nur acht Stunden ihren Rausch aus.“
Alkoholvergiftung. Das Wort brannte in Maries Kopf. Sie wollte es nicht mit Nate in Verbindung
bringen. Alkoholvergiftung. Erst jetzt fiel ihr der Geruch auf, der im Raum hing. Es war eine Mischung
aus dem beißendem Gestank von reinem Alkohol, dem süßlicheren Geruch von Magie und dem
Geruch von Erbrochenem. „Er hat sich übergeben?“, fragte sie Robert.
Dieser nickte in Gedanken versunken. „Worüber habt ihr geredet, Schatz?“, fragte er beiläufig.
Marie war sich sicher er hatte einen Lauschzauber benutzt und wollte jetzt nur die Versicherung
hören. „Über seine Träume“, erklärte sie. „Er hat mir erklärt, dass er getrunken hat, um seine Träume
zu vergessen. Deshalb habe ich ihm erlaubt“ – sie schluckte – „den Mörder seiner Eltern zu finden.“
„Du hast was?“, brüllte Robert. Er war schneller herumgewirbelt, als Marie es gesehen hatte. Auf
einmal stand sie seinem wutschnaubendem Gesicht gegenüber. „Wie könntest du nur?“, brüllte
Robert weiter. „Wir hätten abgemacht ihn nicht suchen zu lassen! Er ruiniert sein Leben! Er wird
töten!“
Marie ließ Robert schimpfen. Er hatte eine ziemlich klare Meinung gegenüber dem Töten mit Magie.
Er war generell kein Fan von Mord, aber wurde er wenigstens fair ausgeübt, war es weniger
erbärmlich, als wenn jemand mithilfe seiner geistigen Vorstellungskraft tötete, fand Robert.
Als Robert ausgeschimpft hatte, probiere Marie ihn zu besänftigen: „Aber Robert, siehst du denn
nicht, dass sein Leben sowieso zerstört wird? Ich meine, ist es nicht egal, auf welche Weise es
zerstört wird?“
Robert schüttelte entschieden den Kopf. „Nein“, antwortete er stur. „Es ist nicht egal, ob sein Leben
durch seine Albträume, oder durch Mord zerstört wird. Ein reines Leben, indem er Albträume gehabt
hat, ist mehr wert als ein Leben, in dem er getötet hat.“
Marie schauderte bei seinen Worten. Er klang, als würde Nates Leben jeglichen Wert verlieren, wenn
er den Mann der seine Eltern getötet hatte, umbrachte. Als wäre es dann nicht mehr ihr Sohn. „Für
wen würde sein Leben jeglichen Wert verlieren?“, fragte sie.
„Für ihn“, antwortete Robert. „Und für mich“, fügte er verbittert hinzu.
„Für dich?“
Roberts Atem ging schneller, als er sich aufregte. Seine Stirn lag in Falten und er schien verzweifelt
nicht daran zu denken, dass Nate töten könnte. „Ja, der Wert seines Lebens wäre auch für mich
verwirkt, wenn er gemordet hätte.“
„Aber Robert“, entfuhr es Marie entsetzt, „du redest von Nate. Er ist wie ein Sohn für dich, wie
kannst du so über ihn reden?“
Robert zuckte zusammen. Ihm war durchaus bewusst, dass sie über Nate redeten und es war auch
ihm zuwider so über den Jungen zu reden, den er als seinen Sohn ansah, aber er konnte seine
Einstellung zum Morden nicht einfach für eine Person über Bord werfen, oder eine Ausnahme für ihn
machen. Das wäre inkonsequent, aber wenn Robert eins war, dann war er konsequent. „Es
widerstrebt mir auch so zu denken, aber ich glaube sein Leben wär auch für ihn verwirkt, wenn er
beginnen würde zu Morden.“
„Wie meinst du das?“ Maries Stimme war tonlos und stockte fast vor Entsetzen.
„Wenn er beginnen würde zu Morden, dann würde er sein Leben zerstören. Sein Leben wäre so
zerstört, dass er es nicht ertragen würde damit weiterzuleben“, erklärte Robert. „Zumindest könnte
ich das nicht und ich hoffe, dass ich meinen Sohn zu derselben Einstellung erzogen habe.“
Marie probierte sich zu beruhigen. Aber sie hatte das Gefühl, dass ihr Mann nicht wirklich verstand,
welches Problem Nate hatte. Er kann auch mit seinen Träumen nicht weiterleben. Aber wie sollte sie
das ihrem Mann beibringen? Der, der so darauf beharrte, dass er seinen Sohn verstoßen würde, weil
er gemordet hatte, um sein Leben erträglicher zu machen. „Aber denkst du er kann es ertragen
weiter mit diesen Albträumen zu leben?“, fragte sie ihn flehend. „Du hast ja auch eine extreme
Abneigung gegen Alkohol, aber du hast ihn nicht verurteilt, weil er gestern Nacht getrunken hat um
sie zu vergessen.“
„Aber einen Mord begehen und sich zu betrinken, sind Dinge die du nicht miteinander vergleichen
kannst“, erklärte Robert entschlossen. „Das eine beendet das Leben, das du bisher geführt hast und
das andere ist lediglich ein einschneidendes Erlebnis, das du sowieso vergessen wirst, weil du
sturzbetrunken warst. Das sind grundlegend verschiedene Dinge.“
Marie schluckte. Robert hatte recht. Einen Mord zu begehen und sich zu betrinken waren
unterschiedliche Dinge, Dinge die sich nicht vergleichen ließen. Aber sie verstand Nates Wunsch
trotzdem, sie verstand seinen Wunsch nach Rache. Außerdem hatte der Mann, den er ermorden
wollte, schließlich auch gemordet. „Aber sein alter Meister“, setzte sie an, „er hat doch auch
gemordet.“
„Marie!“, herrschte Robert sie an. „In welchem Jahrhundert leben wir? Wann haben wir aufgehört
Gleiches mit Gleichem zu vergelten? Du kannst einen Mord nicht begründen, indem du sagst: aber
der Mann, den ich umbringe, hat auch gemordet. Das ist eine kindliche Einstellung, die nicht zum Ziel
führen kann. Es ist keine Begründung, es ist im Grunde genommen nicht mal eine Einstellung,
sondern lediglich eine Trotzreaktion. Und eine schwerwiegende Entscheidung aus Trotz zu treffen, ist
nicht richtig. Diese Entscheidung hat keinen Wert.“
Marie knurrte innerlich. Die nicht zum Ziel führen kann. Als ob es darum gehen würde ein Ziel zu
erreichen. Natürlich ging es darum ein Ziel zu erreichen – das Ende seiner Albträume. Aber wie sollte
er dieses Ziel sonst erreichen? Außerdem war die Rachelust, die Nate empfand, keine Trotzreaktion,
sondern ein normales Gefühl, wenn einem die Eltern geraubt worden waren. „Ich glaube du
verstehst hier etwas nicht“, knurrte sie wütend.
„Und was verstehe ich nicht?“, fragte er wütend zurück. Natürlich verstand Robert die Gefühle, die
Marie für Nate hegte, aber sie entschuldigten seine Rachelust, eine Trotzreaktion aus seiner Sicht,
trotzdem nicht, schließlich war Nate keine fünf Jahre mehr alt. In diesem Alter wäre dieses Verhalten
möglicherweise noch zu entschuldigen gewesen.
„Nates Eltern wurden ermordet“, erklärte Marie. Sie hatte das Gefühl gegen eine menschliche Wand
zu reden, die aber keinerlei menschliche Gefühle verstand.
„Ach, hast du das jetzt auch endlich verstanden?“, antwortete Robert sarkastisch. „Das ist eine
Erkenntnis, zu der ich schon vor fünf Jahren kam.“
„Seine Eltern wurden ermordet, er will sie rächen. Das sind normale menschliche Emotionen“,
erklärte sie ihm. „Er hat etwas verloren, etwas sehr Wichtiges. Und er möchte demjenigen, der ihm
das genommen hat, es auch wieder wegnehmen. Aber du kannst zwei genommene Leben nie
zurückholen. Aber er kann sie rächen, indem er den Mann tötet. Zumindest denkt er das.“
Robert zuckte mit den Schultern, er konnte dieses Gefühl nicht verstehen. Manchmal dachte er seine
Frau hatte recht hatte und er wirklich nicht in der Lage war menschliche Emotionen richtig zu
verstehen. Obwohl er selber nur ein Mensch war – ein Mensch mit einem besonders leistungsfähigen
Gehirn. Die Menschen in der menschlichen Welt hatten einen Namen dafür, sie bezeichneten es als
Autismus, wenn Menschen in etwas besonders gut waren, aber nicht in der Lage waren mit anderen
Leuten umzugehen.
Marie seufzte. „Er will Rache! Er kann nicht anders, es belastet ihn zu sehr. Er möchte endlich damit
abschließen.“
Robert zuckte wieder mit den Schultern. War es ein Grund einen Mord zu begehen, nur weil er das
Gefühl hatte nicht damit leben zu können und dem Mann zeigen wollte, welchen Verlust er erlitten
hatte?
„Du verstehst es echt nicht, oder?“, fragte Marie enttäuscht.
Er schüttelte den Kopf, weswegen sie noch deprimierter zu Boden sah. Sie schien sich wirklich
gewünscht zu haben, dass er sie verstand. Hätte er lügen sollen, damit sie ein besseres Gefühl hatte?
Wäre das menschlicher gewesen? Fragen, die ihn beschäftigen, seit er sich auf eine so tief gehende
Beziehung eingelassen hatte.
„Warum diskutieren wir dann eigentlich, wenn du nicht verstehst, was er empfindet“, fragte sie
deprimiert. Es war so typisch für ihn. Erst eine Einstellung in den Raum stellen, zu der er stand und
dann nicht in der Lage zu sein weiter darüber zu reden, weil er nicht die Emotionen dafür
nachvollziehen konnte.
Sie hatte sich damals, als sie geheiratet hatten, so gewünscht, dass er mehr menschliche Emotionen
empfinden könnte. Das er in der Lage wäre, menschliche Gefühle zu erlernen, in der Lage wäre, diese
Gefühle bei anderen zu sehen und sie dann selber empfinden könnte. Obwohl sie damals schon
glücklich darüber gewesen war, dass er lieben konnte.
„Ich habe gehofft, du würdest meine Ansicht auf die Dinge verstehen. Ich habe gehofft, du würdest
verstehen, dass Mord keine Aussicht ist. Du hast ihn solange vor diesem Weg bewahrt“, erklärte
Robert ebenfalls niedergeschlagen, „Gleiches mit Gleichem vergelten, ist nichts, was ich verstehen
kann.“
„Ich hatte gehofft, du würdest es verstehen“, murmelte Marie, „aber offensichtlich kannst du es
nicht.“
Es tat Robert weh sie so zu sehen. Und er wusste, dass es nur eine Sache gab, die sie jetzt trösten
könnte. Er hatte es in den sechs Jahren Ehe gelernt. Liebevoll zog er sie an seine Brust und strich ihr
übers Haar. „Ich weiß, dass du dir das gewünscht hast“, flüsterte er, als sie aufsah. „Aber du weißt,
dass ich das nicht kann.“
Marie nickte. Sie wusste es.
„Du weißt, dass ich mir Mühe gebe“, redete Robert weiter. „Aber ich bin noch nicht so weit, auch
wenn ich mir Mühe gebe. Dieses Gefühl ist noch zu tief.“ Er betrachtete ihr Gesicht nachdenklich.
„Aber ich kenne ein anderes“, flüsterte er, während er seine Lippen sanft auf ihre legte.
Er spürte ihren leichten Widerstand und den Kampf in ihrem Inneren. Sie wollte jetzt nicht
nachgeben, sie wollte dieses Gespräch zu Ende führen, aber gleichzeitig wollte sie ihren Gefühlen
nachgeben und ihn gewähren lassen. Und er wusste, was er machen konnte um diesen kleinen Streit
in ihrem Inneren zu beseitigen.
Er löste eine Hand von ihrem Rücken und legte sie an seine Wange, während er seinen Kuss vertiefte
und alles andere ausblendete. Sie schmeckte anders als sonst. Ihre Lippen besaßen zwar immer noch
den eigenartig süßlichen Geschmack, den er nie zuordnen konnte, aber der zur Zauberei gehörte,
aber da war noch etwas anderes. Es schmeckte bitter, wie Alkohol. Er vermutete, dass es Müdigkeit
war. Aber konnte man Müdigkeit schmecken?
Er wollte es nicht wissen, denn in diesem Moment erwiederte sie seinen Kuss. Ihre Lippen bewegten
sich auf seinen und ihre Hand schob sich in seinen Nacken, wo sie seine Haare um ihren Finger
wickelte.
Er war enttäuscht, als sie ihren Kopf drehte und den Kuss sanft beendete. „Robert“, murmelte sie in
seine Halsbeuge, „nicht hier. Ich will nicht, dass unsere Kinder uns so sehen können.“
Sie keuchte überrascht auf, als er sie hochhob und küsste. „Gut“, kommentierte er zwischen zwei
Küssen. „Wie hatten sowieso in letzter Zeit so wenig Zeit.“
Will atmete erleichtert auf, als seine Eltern sich ins Schlafzimmer verzogen. Er gönnte seinen Eltern
zwar ihre Freiheiten, aber es war ihm lieber, wenn er bei diesen Freiheiten nicht zugucken musste.
Er kannte zwar nicht viele andere Familien, eigentlich waren es nur Bekannte, die er einmal zu einem
besonderen Anlass gesehen hatte, aber die Beziehung der Eltern wurde von den anderen Kindern
komplett anders gehandhabt.
Bei den meisten war die Beziehung einfach ein fester Bestandteil im familiären Zusammenleben und
wurde von den Kindern ohne Kommentar akzeptiert. Aber in Wills Familie, war die Beziehung
zwischen Robert und Marie anders, sie wurde nicht so offen gezeigt, da es Robert anstrengte so viele
Gefühle zu zeigen. Aber durch die Andersartigkeit ihrer Beziehung wurde sie auch anders
gehandhabt. Marie sprach mit ihren Kindern nicht über diese Probleme, da sie Angst hatte Robert
damit zu verletzen. Es fiel ihnen leichter so zu tun, als ob Roberts und ihre Gefühle existierten, aber
sie sie nicht so offensichtlich zur Show stellen wollten.
Will schlich die Treppe herunter und bewegte sich in Richtung Kühlschrank. Von oben hörte er
heftiges Zittern der Wände – seine Eltern waren außergewöhnlich stark.
Er suchte nicht nach Essen für sich, er suchte nach seinem Bruder. Beziehungsweise auf Hinweise, wo
Nate sich befinden könnte – er erwartete nicht, dass Nate im Kühlschrank saß.
Wenn Nate das Haus verlassen hätte, hätte er davor bestimmt etwas gegessen. Und es gab nur eine
Sache, die Nate wirklich immer aß, sobald er aufgestanden war.
Will musste nur in den Kühlschrank gucken um zu sehen, dass noch 20 Tabletten vorhanden waren.
Wäre Nate aus dem Haus gegangen, hätten es nur noch achtzehn sein dürfen.
Als Nate damals angekommen war, war er dermaßen ausgehungert gewesen, dass Robert ihm die
honigfarbenen Tabletten verschrieben hatte. Er war der Meinung, dass Nates Magerkeit von
Organschäden kommen könnte, welche er mit den Tabletten regulierte.
Will roch an den Tabletten. Neben dem ausgeprägten Honiggeruch, hing noch etwas anderes an
ihnen. Ein süßlicher Geruch, der an Zimt und Orangen erinnerte, aber er war viel süßer.
Will rümpfe die Nase. Er mochte den Geruch der Tabletten nicht, sie rochen für ihn falsch. Aber
immerhin wusste er jetzt, dass Nate irgendwo im Haus sein musste. Beziehungsweise, Nate musste
irgendwo schlafen, sonst hätte er die Tabletten bestimmt schon genommen.
„Will“, sprach ihn jemand an.
Will wirbelte herum. Er hasste es, wenn ihn jemand von hinten ansprach ohne ihn vorzuwarnen.
„Nate!“, rief er aus und grinste. „Ich war auf der Suche nach dir.“
Nate grunzte. Will hatte nie verstanden, warum Nate grunzte, wenn ihm etwas nicht passte. Das
wäre fast so, wie wenn man eine Katze anbellen würde um mit ihr zu reden.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass Nate auf die Tabletten in seiner Hand zeigte. „Oh“, bemerkte Will geistreich, „vermutlich brauchst du deine Tabletten und willst mir das gerade mitteilen.“
Nate nickte und wandte seinen Blick weiterhin nicht von den Tabletten in Wills Hand ab. War sein Bruder eigentlich begriffsstutzig? Es war doch langsam mehr als offensichtlich, dass er seine Tabletten jetzt und nicht erst morgen haben wollte, oder? „Will?“
„Hm?“
„Du hältst meine Tabletten immer noch in der Hand“, erinnerte Nate ihn daran. Manchmal hatte er das Gefühl Will würde in einer anderen Welt wohnen oder wäre geistig auf einer anderen Ebene als er – was rational betrachtet sogar sein könnte, weil Nate ein Magier war und Will nicht. Aber Nate weigerte sich zu glauben, dass sein magischer Geist ihn auf eine höhere geistige Stufe als Nate stellen könnte.
Will betrachtete die Tabletten in seiner Hand als hätte er sie gerade zum ersten Mal gesehen, was definitiv nicht der Fall war. Dann spürte er Nates fordernden, aber immer noch brüderlichen, Blick auf ihm lasten und er fragte sich automatisch warum er die Tabletten noch festhielt, wo Nate sie doch gerade haben wollte und er sie nicht mal ausstehen konnte. „Entschuldige, ich war wohl gerade etwas …“, er suchte verzweifelt nach einem Wort.
„Du schienst geistig gerade mit etwas anderem beschäftigt gewesen zu sein“, bemerkte Nate und gab Will damit zu verstehen, dass er ihm keinerlei Vorwürfe machte, weil er ihm die Tabletten nicht sofort gegeben hätte.
„Geistig abwesend“, wiederholte Will langsam und klang als würde er abseits seines Körpers stehen, „ja, ich glaube geistig abwesend trifft es am besten.“ Sein Stimme war am Ende nur noch ein leises Murmeln, während sein Blick immer noch auf den Tabletten in Nates Hand lag.
Nate bemerkte den Blick seines Adoptivbruders gar nicht. Er trennte routiniert zwei Tabletten aus der Verpackung, füllte ein Glas mit Wasser und legte die beiden Tabletten hinein.
Ein Zischen, als ob Kohlensäure entweichen würde, ertönte, dann stieg ein intensiver Geruch nach Honig, Pfefferminz, Orange und Zimt aus dem Glas.
Will fiel noch ein anderer Geruch auf. Die Gerüche von Zimt, Orange, Pfefferminz und Honig waren ihm durchaus bekannt, aber aus dem Glas strömte noch ein anderer Geruch, der ihm nicht bekannt war. Er war süßlich und schwer. Will konnte förmlich riechen wie langsam er nur aus dem Glas kroch, er war nicht so flüchtig wie die anderen Gerüche und er breitete sich lange nicht so schnell aus, er schien stattdessen eher dickflüssig und klebrig wie Karamell zu sein. Er roch auch ein bisschen wie Karamell, bemerkte Will. Wie Karamell, nur viel intensiver.
Es fiel Will fast schon schwer sich nicht zu dem Geruch hinüberzulehnen, obwohl er vorhin noch der Meinung gewesen war, sie würden falsch riechen. Der Geruch faszinierte ihn in seiner freien Form und schien ihn fast schon magisch anzuziehen.
„Will, ist bei dir alles in Ordnung?“, fragte Nate ihn auf einmal besorgt. Anfangs war es ihm zwar nicht aufgefallen, aber Will schien heute außerordentlich an seinen Tabletten zu hängen, was Nate sehr seltsam fand, da er die Tabletten normalerweise sehr abstoßend fand und sich davor ekelte auch nur in ihre Nähe zu kommen.
„Hm-mm“, bestätigte Will, „es ist wirklich alles in Ordnung, Nate.“ Er blickte hoffnungsvoll zu dem Wasserglas, dessen Inhalt sich jetzt honigfarben verfärbt hatte, aber von dem immer noch dieser eigenartig süßliche Geruch ausging. Er wünschte Nate würde dieses verdammte Glas endlich leeren, vielleicht würde dann der seltsame Geruch, der ihn so verwirrte ebenfalls verschwinden.
Als hätte Nate seine Gedanken gelesen, setzte er das Glas an die Lippen und leerte es mit einem Zug. Er verzog das Gesicht. Die aufgelösten Tabletten waren zwar nicht direkt ekelhaft, aber er fand das Getränk viel zu süß. Er hatte Robert schon des Öfteren gebeten statt Honigtabletten eine andere Geschmacksrichtung anzulegen, aber Robert schien von dem Gedanken nicht begeistert gewesen zu sein. Zumindest hatte er nie probiert die Geschmacksrichtung der Tabletten zu ändern.
„Du wirkst heute irgendwie komisch“, teilte Nate seinem Adoptivbruder mit, „vielleicht solltest du dich mal von Robert durchchecken lassen. Nicht das dir am Ende noch irgendetwas fehlt und du uns zusammenklappst.“
Will zuckte bei Nates Worten unwillkürlich zusammen. Will war schon immer der mit dem schwächsten Immunsystem und dem anfälligsten Körper gewesen. Er hatte mit zwölf mit Krafttraining begonnen, damit seine Schwester ihn nicht an körperlicher Stärke überholen konnte.
Nate hatte seine Worte zwar nicht mit Absicht so gewählt, aber jede Erinnerung an seine körperliche Empfindlichkeit, ließ Will innerlich schaudern.
„Nein“, erwiderte er schwach, „ich glaube mir fehlt nichts. Außerdem sollte ich nicht schon wieder zu Vater gehen, ich war diese Woche schon einmal bei ihm, weil es mir nicht gut ging. Er muss mich noch für einen Schwächling halten.“
Jetzt war es an Nate zusammenzuzucken. „Will, du weißt, dass sich keiner von uns jemals ernsthaft über dich lustig machen würde, oder dich verachten würde, nur weil du eine anfälligere Gesundheit hast als wir. Ich hoffe du weißt das.“
Nate betrachtete Will nachdenklich. Obwohl er ein Jahr älter war, als Nate, war Nate genauso groß wie er. Auch ansonsten war körperlich und geistig kein Unterschied zwischen den beiden vorhanden – abgesehen von den äußerlichen Merkmalen.
Will war es satt, dass Nate sich schon wieder Sorgen um ihn machte. Es wurde Zeit Nate mal wieder mit seinen eigenen gesundheitlichen Problemen zu beschäftigen. Im Moment sollte das kein Problem sein, er würde bestimmt wieder deutliche Augenringe haben, da war Will sich sicher.
Erschrocken stellte er fest, dass er nur davon ausging, aber er hatte sich Nate heute noch gar nicht genau angeguckt.
Erschrocken zuckte er zusammen, als er Nate von Kopf bis Fuß musterte. Nates Kleidung war komplett zerknittert und teilweise zerrissen, aber das war das geringste Problem.
Unter Nates Augen waren deutliche dunkelviolette Ringe, auf seinem linken Wangenknochen prangte ein Veilchen, seine Nase stand irgendwie schief in seinem Gesicht, um seinen Mund zogen sich braune Ränder und auch seine Haare waren mit dem Zeug verklebt.
„Was hast du gemacht?“, keuchte Will erschrocken, als er Nate komplett betrachtet hatte. „Nate, du siehst grauenhaft aus.“
„Wunderbar, sind wir jetzt schon bei den morgendlichen Beleidigungen angelangt“, schmollte Nate und betrachtete seinen Bruder eingeschnappt, „also wenn du unbedingt willst, kann ich mir auch ein paar schöne Sprüche für dich ausdenken. Deine Haut hatte nämlich auch schon mal mehr Farbe. Vor allem war die Farbe schöner – grün ist zwar durchaus interessant, aber es steht dir nicht so besonders.“
Will verdrehte die Augen – typisch Nate, er bekam nicht mal mit, wenn er grauenhaft aussah. Er griff nach Nates Hand und zerrte ihn vor den nächsten Spiegel in der Eingangshalle. „Erstens ist jetzt definitiv nicht die Uhrzeit für morgendliche Beleidigungen, denn wir haben schon späten Nachmittag und zweitens …“
„Wow“, fiel Nate ihm staunend ins Wort, „ich sehe wirklich fürchterlich aus. Ich habe gedacht, du hättest das nur gesagt um mich zu beleidigen.“
Will sah ihm verwundert zu, wie Nate staunend sein komplett zerstörtes Aussehen betrachtete. Er strich sich nachdenklich die verklebten Locken aus dem Gesicht und begutachtete das Veilchen auf seiner Wange. Bewundert er da gerade wirklich sein Aussehen?
„Nate“, riss Will ihn aus seinen selbstverliebten Gedanken, „die meisten Leute würden sich jetzt duschen, oder zumindest probierend den Dreck aus den Haaren und vom Körper zu bekommen, aber du stehst einfach nur da und bewunderst wie schrecklich du aussiehst.“
„Natürlich, ich wollte schon immer schrecklich aussehen“, antwortete Nate sarkastisch. „Und so wie’s im Moment aussieht, könnte ich da wirklich einen Weltrekord aufstellen.“
„Das ist nichts worauf man stolz ist, Nate“, wies Will ihn zurecht, „was hast du da überhaupt gemacht?“
Nate zog die Stirn in Falten, während er probierte sich an den gestrigen Abend zu erinnern. Er wusste noch, dass er sich mit einem Portal ins nächste Dorf mit einer Kneipe gebracht hatte. Er hatte den Besitzer gekannt, deshalb hatte er überhaupt etwas zu trinken bekommen.
Nate erinnerte sich noch daran wie er den ersten Schluck von dem Gesöff, das ihm der Kneipenbesitzer hingestellt hatte, getrunken hatte. Der Alkohol in dem Nationalgetränk Nadros‘ hatte ihm im Hals gebrannt und er hatte das Glas hustend wieder abgestellt, doch die angetrunkenen Männer hatten ihn dazu motiviert weiterzutrinken. Er hatte den Shot heruntergekippt und dann sein Glas über den Tresen geschoben um noch einen Shot zu bekommen.
Er erinnerte sich noch verschwommen daran, dass die Männer gejohlt hatten, als er den zweiten und den dritten Shot heruntergekippt hatte, danach waren die Erinnerungen zu unscharf. Sie waren zwar nicht komplett weg, aber das Wahrnehmungsvermögen hatte sich komplett geändert gehabt und immer wieder traten schärfere Erinnerungen in den Vordergrund.
Eine besonders scharfe Erinnerung durchzuckte Nates Kopf. Ein junges Mädchen mit langen Haaren. Ihre Augen waren grün gewesen, so wie alle Augen in Nadros, aber er hatte sie wunderschön gefunden.
Nate erinnerte sich an die Prügelei, als er das Mädchen angefasst hatte, aber wohl schon andere Männer einen Anspruch auf sie hatten haben wollen. Ein leises Lächeln schlich sich auf sein Gesicht, als er sich wieder durch den Raum nach draußen wanken sah. Er fragte sich, wie er es nach Hause geschafft hatte.
„Nate“, hakte Will nach. „Was ist passiert?“
„Ich habe nur etwas getrunken“, schwindelte Nate nicht besonders überzeugend.
Will zog eine Augenbraue hoch. Sicher, er hat nur etwas getrunken. Will hatte zwar noch nie einen Betrunkenen gesehen, aber er kannte durch den Biologieunterricht die zahlreichen akuten Auswirkungen und er wusste wie jemand aussah, der am Abend davor deutlich zu viel getrunken hatte. „Sicher“, seufzte er, „und der Alkohol hat dich dann ausgezogen.“
„Alkohol ist hocherotisch“, erwiderte Nate grinsend.
Will konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, auch wenn ihm nicht wirklich nach Grinsen zumute war. „Also was ist gestern noch passiert? Das du gesoffen hast, ist unübersehbar.“
„Warum ist es so unübersehbar?“, fragte Nate nach. „Ich könnte auch einfach nur wieder eine schlaflose Nacht gehabt haben.“
Will blickte seinen Adoptivbruder entsetzt an. War ihm wirklich noch nicht aufgefallen, dass Erbrochenes in seinen Haaren hing, er entsetzlich nach Alkohol stank und immer noch Probleme hatte gerade aus zu laufen? „In deinen Haaren hängt Erbrochenes und du stinkst nach Alkohol“, antwortete er Nate kurz angebunden. Er wollte endlich wissen, was letzte Nacht noch bei Nate passiert war.
„Oh“, stellte Nate resigniert fest, „du hast recht. Ich stinke wirklich entsetzlich, ich sollte dringend ein Bad nehmen.“
„Was ist gestern Nacht noch passiert?“, hakte Will wieder nach. Entweder Nate hatte noch eine beachtliche Menge Restalkohol im Blut und war deshalb nicht in der Lage zusammenhängende Gespräche zu führen, oder er wich einem Gespräch über die vergangene Nacht verzweifelt aus.
„Ich weiß es nicht mehr so genau“, gestand Nate, „ein Mädchen war da. Lia. Sie war wunderschön, aber ich war nicht der einzige, der an ihr interessiert war. Auf jeden Fall waren die anderen ein bisschen eingeschnappt, als ich sie anfassen wollten und haben mir ein paar Geschenke gemacht, über die ich mich nicht besonders freue.“ Er deutete auf das Veilchen, die gebrochene Nase und die Wunde an seinem Kopf, die Will bisher noch gar nicht aufgefallen war, weil seine Locken darüber hingen.
Wäre die Lage nicht ein bisschen anders gewesen, hätte Will über Nates Erzählung lachen müssen. Er konnte sich gut vorstellen, dass Nate sich nicht besonders über die „Geschenke“ der anderen Verehrer gefreut hatte. Aber die Tatsache, dass Nate geschlagen worden war, verdrängte jegliche Belustigung über seine Erzählung.
„Hast du wenigstens gesiegt?“, fragte er Nate. Er wusste, dass Nate nicht gerne verlor und in dem Fall noch einmal in die Kneipe marschiert wäre, um eine Revanche zu fordern.
Nate zuckte mit den Schultern. Er hatte keine Ahnung, ob er gewonnen hatte oder nicht. Es war ihm in diesem Moment egal gewesen, er hatte sich prügeln wollen – das konnte er seinen Gedanken noch entnehmen. Außerdem war Lia nicht mehr dagewesen, als er aus der Kneipe gewankt war.
„Der große Nate kann sich nicht mal daran erinnern, ob er den Kampf seines Lebens – den ersten richtigen Kampf um ein Mädchen – gewonnen oder verloren hat“, zog Will ihn auf. Er wusste, dass Nate gereizt reagieren würde, aber es war ihm egal – Nate hatte es verdient. Wer so saufen konnte, musste auch mit den Folgen klarkommen können.
Nate knurrte nur etwas zu Antwort, dann war er still und betrachtete noch einen Moment sein Spiegelbild.
Ehe Will etwas hätte tun können, riss er sich das sowieso schon zerrissene Hemd vom Oberkörper und stopfte es in die Mülltonne. Genauso verfuhr er mit seiner Jeans. In Boxershorts lief er die Treppe hoch und rief Will nur noch ein „Ich werde jetzt Baden gehen“ zu.
Will starrte seinem Adoptivbruder einen Moment nach, dann ging er ins obere Stockwerk, um nach seiner Schwester zu suchen.
Nate stand oben im Badezimmer des Hauses und ließ warmes Badewasser in die Wanne laufen. Er befürchtete, dass der Druck der Wasserstrahlen in der Dusche seine Schnittwunden wieder öffnen könnten. Er war sich sicher, dass es zumindest wehtun würde, wenn er eine Dusche statt einem Bad nehmen würde. Aber die Schmerzen waren ihm im Moment egal. Er wäre sogar froh gewesen, wenn er die Schmerzen jetzt gespürt hätte, dann hätte er wenigstens noch etwas anderes als die rasenden Kopfschmerzen, die in seinem Kopf hämmerten und ihm das Gefühl zu platzen gaben, gespürt.
Nate fasste sich an den Kopf und lehnte ihn stöhnend gegen die kühlen Steinfliesen des Bades. Die Kühle tat seinem hämmernden Kopf gut und beruhigte ihn kurzfristig.
Einen Moment spielte Nate mit dem Gedanken Salz in das Badewasser zu geben. Die brennenden Schmerzen, wenn das Salz mit den Schnittwunden in Kontakt gekommen wäre, hätten ihn von den hämmernden Kopfschmerzen abgelenkt. Aber die Schmerzen wären noch unerträglicher als die Kopfschmerzen gewesen.
Er überlegte zu duschen, aber er konnte nicht ohne Stütze gerade stehen – geschweige denn nach unten sehen ohne einen Schwindelanfall zu bekommen.
Nate stöhnte, schloss die Augen und atmete langsam wieder aus. Es würde alles gut werden. Er würde nach seinem Bad zu Robert gehen, ihn bitten ihm die Nase wieder zu richten, ihm etwas gegen die Kopfschmerzen zu geben und die Schnittwunden zu verarzten.
Erleichtert ließ Nate sich in das warme Wasser sinken. Es beruhigte zumindest einen großen Teil der körperlichen Schmerzen. Vorsichtig wusch er die Schnittwunden, die mittlerweile verdreckt waren, aus und wusch Erbrochenes und Blut aus seinen Haaren. Das warme Wasser entspannte seine Muskeln und auch seinen Kopfschmerzen ging es besser.
Als Nate sich aus der Badewanne erhob, entfuhr ihm ein schmerzvolles Stöhnen. Er sah an seinem Bein herab und bemerkte, dass sich eine der größeren Wunden wieder geöffnet hatte. Er fluchte leise, dann humpelte er zu dem Stuhl, auf dem er seine Klamotten abgelegt hatte.
Nate mied den Blick in den Spiegel, auch wenn sein Spiegelbild schon deutlich besser aussah, als noch vor einer halben Stunde, als er ins Wasser gegangen war.
Mühevoll kleidete er sich an und probierte die Blutung an seinem Bein zu stoppen, was ihm allerdings nicht gelang. Weil er seine Hose nicht vollbluten wollte, zog er einfach keine an und machte sich so auf den Weg zu Robert.
Vor Roberts Arbeitszimmer stoppte Nate kurz und sah an sich herunter. Was Robert wohl denken würde, wenn sein Adoptivsohn auf einmal halbnackt vor ihm stehen würde?
Andererseits war Nate ja nicht gekommen um seinen Körper von einem Arzt bewundern zu lassen, sondern um einige Wunden untersuchen zu lassen.
Selbstverständlicher Weise war Robert der Arzt seines Vertrauens und er sah nicht ein an einen anderen Ort, zu einem anderen Arzt zu gehen, nur weil der Arzt seines Vertrauens auch gleichzeitig sein Adoptivvater war.
Als er die Tür öffnete, war Robert gerade sehr beschäftigt. Er sah nicht einmal auf, als Nate durch die Tür trat und sich vor seinem Schreibtisch auf einem Patientenstuhl niederließ.
Robert seufzte leise auf. „Wie oft noch, Nate“, bat er ihn, „dieser Stuhl ist ein Patientenstuhl, kannst du dir bitte einen anderen Stuhl suchen, wenn du schon unbedingt hier sein musst. Wie du siehst, bin ich gerade beschäftigt.“
Nate musste sich zusammenreißen, damit er Robert nicht anfuhr. Er war schließlich als richtiger Kunde hier. „Ich bin aber ein richtiger Kunde“, antwortete Nate ihm trotzig.
„Nate bitte, ich habe heute wirklich viel zu machen“, murmelte Robert, machte sich aber immer noch nicht die Mühe von seinen Papieren aufzublicken, was Nate langsam aggressiv machte.
Nate ließ sich eine Weile provokativ in den Sessel fallen. Das Beste was man machen konnte um Roberts dauerhafte Aufmerksamkeit zu bekommen, war ihn zu nerven. Also begann Nate sich auf dem hübschen Drehstuhl zu drehen, bis der Stuhl ächzte und sich beinahe weigerte Nates Gewicht weiterzutragen, was diesen allerdings nicht davon abhielt sich weiterhin zu drehen.
„Nate, bitte!“, fuhr Robert ihn an. Jetzt sah er das erste Mal auf und seine Augen erblickten Nates verunstalteten Körper. „Oh mein Gott, Nate“, entfuhr es ihm, als er die Schnittverletzungen und die gebrochene Nase sah.
Als Nate endlich Roberts Blick an der richtigen Stelle spürte, redete er wieder weiter: „Ich bin hierhergekommen, weil ich gehofft habe du könntest etwas gegen die Schnittverletzungen, meine gebrochene Nase und die rasenden Kopfschmerzen machen.“
Robert zögerte nicht lange. Er schnippte einmal und die Verletzungen an Nates Beinen schlossen sich, dann schnippte er noch einmal und Nates Nase richtete sich wieder auf.
Nate erwartete, das Robert noch einmal schnippen würde, aber es passierte nichts mehr. „Robert“, murmelte Nate, „was ist mit den Kopfschmerzen?“ Sein Kopf brannte wie verrückt, es war fast noch schlimmer geworden, jetzt wo er keine anderen Verletzungen mehr hatte, die ihn ablenken könnten.
Robert schüttelte ernst den Kopf. „Wer so saufen kann wie du, Nate, muss auch mit den Konsequenzen leben können.“
Nate stöhnte auf. Warum konnte er ihm nicht einfach helfen? Warum konnte Robert diese verdammten Kopfschmerzen nicht einfach beseitigen? Sollte das etwas eine Strafe für ihn sein, weil er so viel getrunken hatte? „Robert, soll das jetzt eine Strafe werden, weil ich so viel getrunken habe, oder was soll das werden mit ‚ich behandle deine Kopfschmerzen nicht‘?“
Robert nickte ernsthaft. Nate hatte ganz recht, er betrachtete die Kopfschmerzen als eine natürliche Strafe, die er sich selber durch seinen übermäßigen Alkoholkonsum eingebrockt hatte. „Du hast ganze recht, mein Sohn“, antwortete er Nate. „Wenn du denkst du kannst so saufen, dann musst du auch mit den damit verbunden Kopfschmerzen leben. Genau genommen habe ich das gerade eben schon gesagt. Offensichtlich ist deine Auffassungsgabe noch durch den Alkohol behindert. Wahrscheinlich ist es besser, wenn du dich jetzt schlafen legst.“
Nate nickte. Wahrscheinlich machte es Sinn auf seinen Doktor zu hören. Er bedankte sich noch bei Robert dafür, dass er die Schnittwunden verarztet und seine Nase gerichtet hatte – sonst würde er sein ganzes Leben lang mit einer missgestalteten Nase herumlaufen, was ihm furchtbar peinlich wäre.
Als Nate in seinem Zimmer lag, konnte er einfach nicht einschlafen. Er betrachtete die hohe Holzdecke, an der immer noch die Lampe, die er als Elfjähriger bekommen hatte, hing und ging seinen Gedanken nach.
Er dachte darüber nach wie er die Suche nach dem Mörder seiner Eltern beginnen sollte. Als ihm dazu nicht mehr einfiel als sein Elternhaus wieder zu besichtigen, probierte er darüber nachzudenken wie er weiterleben wollte, wenn er den Mörder seiner Eltern getötet hatte – ein anders Ende von der Geschichte gab es für ihn nicht. Entweder er würde sterben, oder der Mörder seiner Eltern würde das Leben lassen müssen.
Es gelang ihm nicht einen klaren Gedanken darüber zu fassen, wie er danach weiterleben wollte, sein Kopf brannte einfach zu sehr, wenn er lag. Stöhnend stützte er sich auf seine Ellenbogen und richtet sich auf.
Im Sitzen brannte sein Kopf schon weniger. Sein Blick glitt durch das Zimmer. Es war so aufgeräumt wie immer, nirgends lag ein unordentlicher Zettel und außerdem war sein Zimmer wie immer klinisch rein.
Obwohl Nate schon seit fünf Jahren hier lebte, war das Zimmer extrem unpersönlich – das fand zumindest Marie. Nate hatte damals nichts von seinem alten zuhause mitgebracht, er hatte sich geweigert einen Teppich auf dem unpersönlichen Holzboden auslegen zu lassen, er hatte sich geweigert ein neues Bett oder einen neuen Tisch anzunehmen, er hatte sich geweigert einen neuen Schrank anzunehmen – alles was er angenommen hatte, waren Klamotten, wenn seine alten zu klein waren.
Nate betrachtete sein Zimmer und probierte sich irgendwo in diesem Zimmer zu finden, aber es gelang ihm nicht. Er konnte sich nirgends in diesem unpersönlichen Zimmer, dessen Einrichtung zum Teil noch von Maries Eltern stammte, finden.
Bevor er sich weiter darüber Gedanken machen konnte, übermannte ihn der Schlaf und er fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Nachdem Nate die Küche verlassen hatte, hatte Will sich auf die Suche nach seiner Schwester gemacht. Er hatte eine ungefähre Ahnung gehabt, wo er sie finden können würde.
Celine liebte Bücher mehr als alles andere, deshalb steuerte Will sofort das Geschoss mit den Wohnräumen an und stieß die Tür zur Bibliothek auf.
Die Bibliothek war ein alter, staubiger Raum, mit dem Will nie hatte viel anfangen können. Der Raum war einer der wenigen Räume, den seine Eltern nach der Übernahme des Hauses nicht verändert hatten. Das bedeutete, dass noch immer derselbe alte, rote und verstaubte Teppich sich über den Boden der Bibliothek zog und jeden einzelnen Schritt dämpfte. Dieselben Bücher standen noch immer in denselben Regalen, die aus Kirschholz gefertigt worden waren, die Wände der Bibliothek bis zur Decke säumten und in denen auf jedem Holzbrett ein Teppich lag, auf dem die Bücher standen.
In der Mitte des riesigen Raums standen noch immer dieselben verstaubten, wuchtigen Sessel und Sofas wie früher und der riesige Glastisch mit den goldenen Verzierungen stand immer noch an derselben Stelle.
Will wusste, dass Celine sich niemals in einen der großen, wuchtigen Sessel oder auf das verstaubte Sofa setzen würde, sie hatte einen eigene Platz, den sie mehr als alles andere liebte.
Wills Blick wanderte fast schon automatisch zu dem Fensterbrett.
Die Fenster waren ein weiterer Teil der Bibliothek, der niemals überarbeitet werden würde. Es waren alte Buntglasfenster, durch die das Licht ab dem Nachmittag fiel. Im Moment färbten sie Celines weißblonde Haare in den verschiedenen Schattierungen des Regenbogens.
Will lächelte, als er seine Schwester so friedlich über ein Buch gebeugt sah, sie hatte ihn noch nicht einmal bemerkt, als er in den Raum gekommen war. Will probierte den Titel des Buchs, das sie las, zu entziffern, aber es gelang ihm nicht.
„Gib dir keine Mühe“, lachte Celine leise, „das ist Französisch. Und soweit ich weiß, sprichst du kein Französisch.“
Will grinste. Sie hatte ihn also doch gehört, wie hatte er etwas anderes von seiner aufmerksamen Schwester erwarten können. Leider hatte sie recht, was seine Französischkenntnisse betraf – er sprach kein Wort Französisch. „Kenne ich vielleicht den deutschen Titel des Buchs?“, fragte Will hoffnungsvoll.
Celine lachte leise auf. „Ich weiß es nicht.“
„Du könntest mir sagen, wie das Buch heißt, Schwesterherz“, schlug Will vor. Er wusste, dass Celine es liebte mit ihm zu spielen, indem sie Antworten gab, mit denen er nicht wirklich etwas anfangen konnte.
„Es heißt ‚Romeo und Julia‘“, antwortete Celine leise, „ich glaube nicht, dass du es kennst. Erstens ist es absolut nicht dein Stil und zweitens ist es nicht von hier.“
Und zweitens ist es nicht von hier. Will wusste, was damit gemeint war. Das Buch kam aus der Welt der Menschen. Will hatte nie wirklich viel mit dieser Welt zu tun gehabt, bis sie Nate adoptiert hatten. Und auch danach hatte sich der Kontakt zur anderen Welt in Grenzen gehalten. Er war noch nie auf der anderen Seite gewesen, aber er verspürte auch nicht wirklich den Wunsch auf die andere Seite zu gehen. Aber woher hatte Celine ein Buch aus dieser Welt?
Als hätte Celine Gedanken gelesen antwortete sie: „Ma hat es mir mitgebracht. Sie dachte es würde mir gefallen und sie hatte recht.“
Will zuckte zusammen, als Celine „Ma“ gesagt hatte. Er hatte schon vor einigen Jahren aufgehört seine Eltern „Ma“ und „Da“ zu nennen. Aber wenn Celine das sagte, wirkte sie so kindlich und so verletzlich. „Worum geht es?“, fragte er.
„Um ein Mädchen und einen Jungen, die sich verliebt haben …“
„Sag mir bitte, dass dieser Roman schon für dein Alter zugelassen ist“, fiel Will ihr sofort besorgt ins Wort. Nichts ging für ihn über das Wohl seiner Schwester.
„Natürlich ist es das“, antwortete Celine erbost, „denkst du wirklich Ma würde mich etwas lesen lassen, was nicht meinen Alter entsprechen würde?“ In ihrem Blick schwang Erbostheit und ein Hauch kindlicher Gereiztheit mit.
Will antwortete mit einem Schulterzucken. Seine Mutter kaufte ihm nie Bücher, deswegen konnte er nicht bewerten wie gut sie sich mit den Altersempfehlungen auskannte.
„Auf jeden Fall verlieben sich die beiden ineinander und bringen sich am Ende beide um“, beantwortete Celine seine Frage zum Thema des Buchs.
Will guckte vorsichtig wo ihr Finger das Buch offen hielt. Sie war gerade mal in der Mitte des Buchs angekommen. „Was ist das denn für ein Buch, in dem sie noch ein halbes Buch weiterschreiben, wenn das Paar schon tot ist?“
Celine errötete. „Das tun sie gar nicht, ich hab nur … ich hab das Ende zuerst gelesen.“
Will probierte nicht zu lachen. Das war typisch seine Schwester – so neugierig, dass sie den Ausgang des Buchs nicht erwarten konnte, sondern das Buch von hinten lesen musste, um herauszufinden wie es ausgehen würde.
Celine war nicht begeistert davon, dass er sich das Lachen kaum verkneifen konnte. „Nicht jeder kann so ein Geradeausdenker wie du sein“, schmiss sie ihm an den Kopf.
„Ist ja gut, Schwesterchen“, beruhigte Will sie lachend, „ich lasse dich ja schon mit deinem Chaos und deinen seltsamen Methoden alleine.“
Nate wachte wie fast jeden Morgen mit dem Sonnenaufgang auf. Er betrachtete ruhig, wie die feien Sonnenstrahlen sich durch die Wolkendecke schoben und sich, sobald sie dieses durchbrochen hatten, auf sein Bett legten und dünne Linien aus wie0en Licht auf seiner schneeweißen Bettdecke hinterließen. Aus seiner Sicht ein atemberaubend schönes Spiel der Natur.
Er erhob sich mühelos aus seinen Bett und lief zu dem Buntglasfenster. Er liebte es den Sonnenaufgang zu beobachte, vor allem wenn die Sonne sich wie heute durch , die Wolkendecke brechen musste.
Fasziniert beobachtete er, wie sich die Lichtstrahlen durch die Wolkendecke brachen und den Himmel erst hellblau, dann grün und schließlich orange seitdem. Ein faszinierendes Schauspiel.
Nate beobachtete den Sonnenaufgang jeden Morgen – wirklich jeden Morgen, auch wenn das im Sommer dazu führte, dass er zweiflerische schon um vier Uhr morgens aufstehen musste, nur um die bunten Farben am Himmel sehen zu können.
Nate blieb bis zur letzten Sekunde hochkonzentriert bei dem Schauspiel der Natur. Glücklich sah er, dass das Licht nicht mehr an den Rändern der Wolken hing und auch der Himmel einen statten hellblauen Farbton angenommen hatte – den Farbton bei dem er den Rest des Tages auch verweilen würde.
In diesem Moment bemerkte Nate zwei Sachen gleichzeitig. Erstens seine Kehle brannte. Sein kompletter Mund war ausgetrocknet und brüllte praktisch nach Wasser und zweitens merkte er, dass seine Kopfschmerzen wirklich verflogen waren. Auch wenn die anhaltende Übelkeit immer noch vorhanden war.
ER ging die Treppen hinunter in die Küche und setzte sich an den großen Esstisch. Einen Moment lang überlegte er Robert wegen der Übelkeit zu fragen, aber er würde vermutlich wieder nur eine Antwort wie: „Wer trinken kann, muss auch mit den Nebenwirkungen leben müssen.“
Nate verdrehte innerlich die Augen. Natürlich hatte Robert recht mit seiner Aussage, aber er könnte sich das ja auch aufheben, bis es ihm wieder so gut ging, dass er aufpassen können würde. Gestern hatte seine Aufmerksamkeit nämlich noch aus „Mhm“ und einem innerlichen „Bitte Robert, halt den Mund“ bestanden – nicht das er sowas jemals laut gegenüber seinem Adoptivvater aussprechen würde.
Nate deckte den Tisch – Marie würde sich freuen – und schenkte sich ein Glas Wasser ein um seine ausgetrocknete Kehle anzufeuchten. Nachdem der brennende Schmerz besser wurde, kochte er sich einen Tee und setzte sich wieder and en Tisch.
Erst nachdem er die Teetasse gelehrt hatte, bemerkte er den nagenden Hunger, der seinen Blick immer wieder in Richtung Speisekammer schweifen ließ. Anfangs probierte Nate sich noch zu beherrschen, es wurde nicht gerne gesehen, wenn mit dem Essen nicht auf die Familie gewartet wurde, dann konnte er den Hunger nicht mehr zurückhalten und stürzte er sich über die Vorratskammer. Nachdem er seinen Festschmaus beendet hatte, fiel ihm auf, dass Marie ihn dafür umbringen würde. Er hatte ihren Lieblingskuchen gegessen!Ein flaues Gefühl machte sich in seinem Magen breit, aber sein Übelkeit hatte sich erstaunlich gebessert.
„Öle ich sehe, hast du die beiden Erfolgsrezepte gegen Übelkeit, die von Alkohol herrührt, schon gefunden“, kommentierte Robert, als er die Treppe herunterkam und seinen Blick über das Chaos in der Küche schweifen ließ.
„Ach ja?“, fragte Nate. „Welche wären das denn?“
Robert lachte. Es war unmöglich, dass dem Jungen nicht aufgefallen war, wie gut es ihm ging, nachdem er ordentlich gegessen hatte. „Essen und Teetrinken“, antwortete Robert ihm trotzdem. Er kannte nur wenige Leute, die verstehen konnten,, dass Essen gegen Übelkeit helfen konnte.
Nate zuckte mit den Achseln. „Und ich dachte immer es hieße ‚Abwarten und Teetrinken‘. Aber man scheint nie auszulernen.“
Robert verdrehte die Augen. Es war so typisch für Nate, das er zu allem einen unpassenden Kommentar abgeben musste und so tat, als hätte er nicht erstgebornem, was geschehen war. „Nate, auch wenn es dir besser geht – ich gehe davon aus du hast keine Kopfschmerzen mehr – würde ich dich heute gerne noch einmal untersuchen, du hattest eine Alkoholvergiftung und möglicherweise hätte ich dir den Magen auspumpen sollen.“
Nate zuckte bei den letzten Worten zusammen. Das er eine Alkoholvergiftung gehabt hatte, war ihm auch klar gewesen. Aber die Vorstellung den Magen ausgepumpt zu bekommen, jagte ihm unvorstellbare Angst ein. „Musst du das möglicherweise noch nachträglich achten?“, fragte er ihn vorsichtig.
Robert lachte über seine Angst, vielleicht würde ihn das von der nächsten lebensgefährlichen Saufaktion abhalten. „Nein, nachträglich muss da gar nichts mehr gemacht werden“, beruhigte er ihn, „aber ich würde dich eben trotzdem gerne untersuchen.“
Nate atmete erleichtert auf. Eine Magenspülung war das allerletzte und widerwärtigste, was er sich vorstellen konnte. „Na dann habe ich nichts dagegen. Ich hätte vermutlich in jedem Fall nicht viel dagegen sagen können. Wann soll ich in diesem Zimmer vorbeikommen?“
Robert musste grinsen. „Am besten kommst du in etwa einer Stunde. Wenn sich dein Magen bis dahin wieder beruhigt haben sollte“, meinte er mit einer Geste, die auf die leergefegte Speisekammer deutete. „Oder wenn du bis dahin nicht gestorben bist.“ Diesmal bezog sich Roberts Geste auf Marie, die gerade fuchsteufelswild in die Küche platzte.
„Was hast du gemacht?“, brüllte sie Nate an. Dieser stand steif gegen die Wand gedrückt und probierte sich nicht zu bewegen.
„Ich kann das erklären“, stammelte Nate und wurde rot…
„Na auf die Erklärung bin ich gespannt“, knurrte Marie und funkelte ihren Adoptivsohn wütend an.
„Wenn man von Alkohol erbrochen hat, hilft Essen gegen die Übelkeit“, erklärte Nate das, was Robert ihm vor zehn Minuten erklärt hatte. „Und deshalb hatte ich Hunger. Und du sagst ha immer, wenn wir krank sind, sollen wir das machen und essen, was unser Körper in diesem Moment möchte. Und genau das habe ich getan.“
Das zornige Funkeln in Maries Augen wurde trotz Nates gestammelter Rede nicht weniger. Wie konnte er es wagen sich auch noch auf ihre alten Ratschläge zu beziehen? Wenn sie sich recht erinnerte, hatte sie ihm niemals geraden sich zu betrinken! „Eben, ich habe davon geredet, was ihr machen sollt, wenn ihr krank seid und nicht, was ihr machen sollt, wenn ihr euch halb totgesagten habt!“
Nate zuckte zusammen. So deutlich hatte er die Worte seiner Mutter noch nie vernommen. Noch nie hatte so viel Tadel aus ihrer Stimme geklungen und noch nie war die Sorge in ihren Augen dem wütenden Ausdruck gewichen, der sich jetzt in ihren Augen niederlegte. „Jaja, ich hab’s verstanden“, antwortete Nate mit hängenden Schultern. „Ich hab’s ziemlich verbockt und deshalb werde ich jetzt vermutlich am besten hochgehen und euch alleine lassen.“
„Nate?“, in Maries Stimme schwang wieder der sanfte, liebevolle Unterton einer Mutter mit. „Celine und du habt heute wieder Unterricht. Wir treffen uns nach dienen Arztbesuch oben im Kampfzimmer:“
Nates Arztbesuch verlief ohne Folgen. Robert klärte ihn lediglich über lebensverkürzenden Folgen von Alkohol auf und erklärte ihm, dass alles in Ordnung wäre und er sich keine Sorgen machen müsse, aber bitte trotzdem seine Gesundheit beachten solle.
Nate hatte sich murrend dazu überreden lassen eine Einwilligung abzugeben und war dann aus dem Zimmer in den Fechtraum gelaufen.
Im Fechtraum warteten bereits Marie und Celine bereits. Über Maries Hand schwebte ein Apfel und Celine probierte verzweifelt ebenfalls einen Apfel über ihrer Hand schweben zu lassen.
Nate beobachtete die Szene eine Weile und sah sich um. Neben Celine lag noch ein weiterer Apfel m Boden – der musste wohl für ihn sein.
„Ah, Nate“, begrüßte Marie ihn, als sie ihn erblickte. „Wie ich sehen, ist dein Arztbesuch erfolgreich verlaufen und du kannst dich nun auf dein Training und di heute Lektion konzentrieren.“
Nate nickte. Er wusste, dass Marie heute zuerst einen praktischen Teil und danach einen theoretischen Teil ablege würde. One den Theorieunterricht würde sie vorerst keine Stunden abhalten, da war Nate sich sicher.
Er blieb vor seinem Apfel stehen und wartete auf Befehle von Maire.
„Lasse den Apfel über deiner Hand schweben, Nate“, befahl Marie und blickte erwartungsvoll zu ihm herüber. Sie war sich fast schon sicher, dass es Nate einige Probleme damit haben würde. Schließlich beteuerte er, dass er den Portalzauber nur durch jahrelange Übung so gut könne.
Nate seufzte. Er fokussierte seine Gedanken komplett auf den Apfel, der am Boden lag. In sieben Gedanken sah er ihn aufsteigen, ihn über seiner Hand schweben sehen und dort zu verweilen.Er sah den Apfel so gestochen scharf vor seinem Gesicht, dass er ihn hätte berühren können. Er hätte nur die Hand anheben müssen und hätte ihn in der Hand gehabt.
In dem Moment passierte es. Der Apfel erhob sich vom Boden, flog zielgerichtet auf seine Handfläche zu ne stieg weiter nach oben auf, als Nate die Handfläche nach oben drehte. Als der Apfel zehn Zentimeter über seiner Hand schwebte, ließ er ihn innehalten und dort verweilen.
„Schwebe“, murmelte er leise und brannte sich mit dem Wort sowohl die Erinnerung an die Fokussierung seiner Gedanken, als auch die Bewegung seiner Hand ins Gedächtnis und verband sie untrennbar mit dem Wort.
Neben ihm hatte Celine immer noch Probleme mit dem Apfel. Er schwebte zwar bis auf ihre Handfläche zu, aber es gelang ihr nicht diese zu drehen, ohne dass der Apfel zu Boden sank oder unkontrolliert in der Luft flog.
Marie blickte staunend zu Nate herüber. Sie hatte noch nie gesehen, wie jemand diesen Zauber so schnell erlernt, beziehungsweise so schnell beim ersten Mal in die Tat umgesetzt hatte. In diesem Moment keuchte auch Celine neben ihm „Schwebe“ und ließ sich erschöpft zu Boden fallen, nachdem sie das Wort untrennbar mit ihren Erinnerungen an den Zauber verbunden hatte.
Marie blickte anerkennend zu ihr und drehte sich dann wieder zu Nate herum, dessen Apfel immer noch kontrolliert in der Luft schwebte. „Nate, du kannst den Apfel jetzt auch wieder herunterlassen“, forderte Marie ihn liebevoll auf.
Nate nickte und ließ den Apfel hinunterfallen. Er kam mit einem dumpfen Schlag auf, bei dem Marie unwillkürlich zusammenzuckte.
„Sehr schön. Also, es ist euch beiden ja gelungen den Apfel schweben zu lassen, doch nun probieren wir etwas anderes aus. Einer von euch lässt den Apfel schweben und der andere probiert die Geschwindigkeit mit der er hochfliegt zu beeinflussen. Nate, du beginnst.“
Augenblicklich erhob sich Nates Apfel wieder in die Luft, während Celine ihren Blick konzentriert an ihn heftete und ihre Gedanken fokussierte. Doch es geschah nichts, Nate spürte nicht mal nen Widerstand an sieben Zauber ziehen.
Nachdem Celine es nicht geschafft hatte, war es an Nate zu versuchen die Geschwindigkeit zu beeinflussen. Doch so sehr er es auch probierte, es gelang dem jungen Magier nicht den Apfel, beziehungsweise die Geschwindigkeit des Apfels zu beeinflussen. Frustriert ließ er sich zu Boden fallen. Das war der erste Zauber, der ihm nicht auf Anhieb gelang.
Marie grinste ihn an und zuckte mit den Schultern. „Die Aufgabe, die ich euch gestellt habe, war unmöglich zu lösen“, erklärte sie einfach. „Es ist unmöglich die Geschwindigkeit eines bewegten Objekts zu verändern, solange du es nicht selber bewegst. Das ist eine der drei Magierregeln.“
Celine und Nate richten auf. Es gab Regeln für Zauberei? Wo blieb denn da der Spaß, wenn man sich auch noch an Regeln halten musste?
2Die erste Regel besagt, dass wir die Beschaffenheit eines Objektes, welches wir nicht selber erschaffen haben, nicht verändern können. Das bedeutet einfacher gesagt, dass ich diesen Apfel beispielsweises nicht zu Granit machen kann“, erklärte sie und. Demonstrierte es sofort. „Die zweite Regel besagt, dass wir die Geschwindigkeiten von bereits bewegten Objekten nicht verändern können, das habt ihr ja gerade selber ausprobiert. Di dritte Regel besagt, dass ich die Masse eines bereits erschaffenen Objekts nicht verändern kann, es sei denn ich möchte das Objekt komplett vernichten.“
Nate zog eine Augenbraue hoch. Was meinte sie mit dem letzten Gesetz? „Was soll das letzte Gesetz bedeuten?“, Akte er nach.
„Es bedeutet, dass du diesen Apfel erschaffen kannst“, erklärte Marie, „aber du kannst die Masse des Apfels nicht halbieren, nicht verdoppeln, oder in irgendeiner anderen Form verändern. Es sei denn du möchtest ich in Luft auflösen, das kannst du immer machen.“ Mit diesen Worten verschwand der Apfel.
Nach der Unterrichtsstunde hatte Nate sich in sein Zimmer zurückgezogen. Es wurde Zeit etwas zu erledigen. Er musste die erste Reise in die Welt der Menschen, zu seinem alten Zuhause, antreten.
Er erschuf mit der alten Gewohnheit ein Portal und ließ es aufsumme Zimmerboden wachsen. In seinem Gedächtnis wählte er nach einer geeigneten Erinnerung an das kleine Haus, das in einem kleinen Tal und von Tannenwäldern gesäumt lag. Dann machte er einen Schritt nach vorne und verschwand im Portal.
Als sich die sirrende Luft über Nates Kopf wieder klärte, schlug er die Augen auf. Er stand auf einer von Tannenwäldern umsäumten Lichtung, aber es gab kein Tal. Statt dem Tal befand sich eine große Weide, von der er hätte schwören können sie nie gesehen zu haben, und auf dieser umzäunten Weide grasten Schafe.
Es dauerte einen Moment, bis er die nassen Spuren auf seinem Gesicht verstand, doch dann wurde ihm klar, dass er weinte. Er weinte, weil es kein Zuhause mehr für ihn gab. Keinen Ort, der noch ein Stück seiner Persönlichkeit beinhaltete.
Nate stand tränenüberströmt in seinem Zimmer. Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wie er es geschafft hatte wieder ein Portal. Zu erschaffen und zurückzureisen. Aber irgendwie musste es ihm gelungen sein, schließlich stand er ja jetzt hier in seinem Zimmer ums beobachtete wie ihm die Tränen auf den Boden tropften.
Sie hinterließen schmale Rillen in seinem jugendlichen Gesicht und ließen seine Haut aufquellen. Seine Augen waren rot und es war ihm unmöglich, durch die Tränenschleier etwas im Raum zu erkennen.
Alles was er spürte, war die Einsamkeit in seinem Herzen. Er hatte so viele Jahre darauf gewartet en. Mann zu töten, der seine Eltern getötet hatte, aber jetzt war der einzige Ort an de er Hinweise hätte finden können vernichtet worden.
Aber sein altes Zuhause – der Ort der vernichtet wurde – war mehr als nur ein Ort an dem man Hinweise hätte finden können, gewesen. In diesem Haus war er groß geworden, seine Eltern hatten darin gelebt, geheiratet und ihren kleinen Sohn zur Welt gebracht, der dann auch dort aufgewachsen war.
Sein Eltern hatten dort einen Teil von sich hinterlassen, einen Teil ihres Lebens und ihrer Persönlichkeit fortgelassen und dafür auch das Haus zu einem Teil ihres Lebens werden lassen und es, sowie die damit verbunden Annehmlichkeiten und glücklichen wie schlechten Erlebnisse, in ihr Leben gelassen.
Aber nicht nur seine Eltern hatten dort gelebt, auch er hatte dort gelebt, einen Teil von sich hinterlassen und eine persönliche Note hinterlassen, einen kleinen Hinweis auf den Nate, der in seinem Innersten würgte und darauf wartete, entdeckt zu werden.
In diesem Moment wusste Nate, warum er weinte. Er weinte, weil seine letzte Hoffnung auf einen Ort, an dem er ein zuhause gehabt hatte, an dem er sich wirklich wohl gefühlt hatte, verloren gegangen war und er statt seinem geliebten Zuhause eine Schafweide bekommen hatte.
Bei dem Gedanken an sein Zimmer, mit den hellblauen Wänden, in dem sein Vater ihm die Geschichten der fünf Freunde, Donald Duck Comics und die Geschichten aus tausend und einer Nacht vorgelesen hatte, sank er auf die Knie und gab dem quälendem Laut, der sich in seiner Kehle angebahnt hatte, nach.
Nate schrie. Und schrie. Er hoffte auf den Moment, in dem der Schrei enden würde und er in das tiefe lLoch fallen würde, aus dem er nicht mehr herauskommen konnte, in dem er zusammen mit seinen Eltern vermodern konnte. Er wünschte sich, endlich aufzuhören mit der Sucherei, aber das würde er nie können, solange seine Albträume nicht aufhörten, die nicht aufhören würden, solange er den Mörder nicht gefunden hatte, was unmöglich war, wenn er keine Hinweise fand, was so war, weil es das komplette Haus nicht mehr gab.
Sein Schrie war so durchdringend und gequält, dass Maire in sein Zimmer kam um nach ihm zu sehen. Sie sah nur das sich schließende Portal, Nates gequälten Ausdruck im Gesicht, hörte seinen Schrei und sah die Tränen auf den Boden topfen, dann verstand sie was geschehen sein musste. Nate war in der Welt der Menschen gewesen, aber es hatte keinen Hinweis mehr auf seine Eltern gegeben, zumindest nichts, womit er etwas hätte anfangen können.
Sie sank nenne ihm hui Boden und strich ihm unbeholfen über die Schulter, in der Hoffnung ihn irgendwie beruhigen zu können. Sie flüsterte seinen Namen und wiegte ihn in ihren Armen, aber es half nichts. Er schrie weiter und weiter.
Irgendwann kamen Celine und Will hoch, weil sie es nicht ertragen konnten, ihn so schreien zu hören. Maire verließ das Zimmer und überließ es Will und Celine ihm zu beruhigen. Sie waren die einzigen, die er an sich ranlassen würde.
Zwei Stunden später war es so weit, es war wieder möglich einzelne Worte aus Nate herauszubringen. Im Grunde genommen nur vier Wörter, die er wie eine Beschwörungsformel immer wieder murmelte. „Sie sind nicht da.“
Weder Celine, noch Will konnten sich einen Reim darauf machen, was er probierte ihnen zu sage. Sie wussten nur eines: Nate litt, er litt unglaublich.
Es dauerte ewig, bis die Schmerzen ihn nicht mehr durchzuckten und sein Atem sich einigermaßen beruhigt hatte, Danach versiegten seine Tränen. „So sind nicht da“, flüsterte er ein letztes Mal, dann sackte er in Wills Armen zusammen.
Will stand hoffnungslos überfordert mit Nate in seinem Arm da. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte.Celine weiß ihn an, ihn aufs Bett zu legen und dann den Raum zu verlassen.
Will legte seinen Bruder also aufs Bett und verließ das Zimmer, während Celine sich über Nate beugte und auf seine Atmung achtete. Seine Atmung war regelmäßig und sein Herzschlag ging ebenfalls regelmäßig. Sie ging davon aus, dass ihm gesundheitlich gesehen nichts fehlte, aber der seelische Schmerz ihn überanstrengte. Um sicherzugehen hob sie eine Hand und ließ sie über Nates Gesicht wandern, ihre Gedanken darauf fokussiert seine Gedanken zu lesen, um Schmerzen zu sehen.
Sie hatte diesen Zauber zwar noch nie geübt, aber in ihrem Kopf zeichneten sich klare Gedanken
Züge ab. Sie waren schmerzverzerrt, aber es war kein körperlicher Schmerz, es war ein seelischer Schmerz, den er aber nicht verstehen konnte. Abstrakte Bilder, alte Erinnerungen, aber nichts was ihr in irgendeiner Form geholfen hätte ihn zu verstehen, oder ihm zu helfen.
Erst jetzt fiel ihr der süßliche Geruch in seinem Zimmer. ER musste erst vor kurzem Magie angewendet haben. Vermutlich ein Portal, aber wohin?
Sie beschloss ihn schlafen zu lassen und ihrer Mutter davon zu erzählen, sie würde wissen, was zu tun war. Zumindest hoffte sie das.
Vor Cent Zimmer wartete immer noch Will. Er ist kein Magier, er wird keinen Verdacht schöpfen. Also eigentlich gibt es keinen Grund für ihn nicht bei Nate sein zu lassen.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis Celine Maire gefunden hatte. Sie war gerade beim Essen und war nicht begeistert darüber, dass Maire sie unbedingt wegen Nate sprechen wollte.
„Warum macht er ständig Ärger?“, maulte sie nörgelnd herum. „Letztens war er sturzbetrunkne, dann will er die ganze Zeit irgendwelche Sonderrechte, weil seine Eltern gestorben sind, er möchte nicht am Unterricht teilnehmen und jetzt hat er schon wieder irgendein Problem, um das ich mich kümmern soll.“ Nates ständige Probleme nervten sie wirklich.
Celine wippte ungeduldig auf den Fußballen, während sei Maires Schimpftirade zuhörte. Sie wusste, dass Maire im Moment nicht besonders gut auf Nate zu sprechen war, aber das war im Moment irrelevant. „Aber es ist wichtig, Ma“, drängte sie ihre unwillige Mutter.
„Warum soll andauernd alles was Nate“ – sie sprach ihren Namen wie eine Beleidigung aus – „wichtig sein?“ Maie war wirklich wütend. Sie verstand des wirklich nicht. Wann immer etwas mit Nate war, war es unglaublich wichtig. Zumindest angeblich unglaublich wichtig.
„Ma, er ist ohnmächtig und er riecht nach Magie, aber ich konnte keine körperlichen Beschwerden bei ihm erkennen“, drängte Celine weiter. Ihre Mutter konnte so begriffsstutzig sein. Sie verdrehte die Augen.
“Er ist ohnmächtig?“, kreischte Maire schrill. Auf einmal läuteten alle Alarmglocken in Maires Kopf. Nate ist ohnmächtig. Alle Erbostheit über seine ständigen Schreie nach Aufmerksamkeit war vergessen, es gab nur noch die Panik in ihrem Kopf und in ihrem Herzen, sie konnte nichts anderes mehr empfinden.
„Das probiere ich dir doch die ganze Zeit zu sagen“, stöhnte Celine genervt, „komm jetzt endlich mit! Du musst dich um ihn kümmern, er ist auch dein Sohn!“
Maire ließ sich willenlos mitziehen, ihre Gedanken waren ohne Ausnahme bei Nate. Was musste passiert sein, dass er jetzt ohnmächtig war? Was war ihrem kleinen, niedlichen Nate passiert? Maire musste sich zusammenreißen um nicht über ihre Füße zu stolpern, als Celine sie durch die langen Gänge ihres Hauses zog. Sie wäre das ein oder andere Mal fast gestrauchelt oder gegen eine Wand gelaufen.
Endlich erreichten sie Nates Zimmer. Maire erschien es, als ob eine Ewigkeit vergangen wäre, dabei waren gerade mal zwei Minuten vergangen, seit Celine sie mitgerissen hatte. Und sie wären bestimmt schneller gewesen, hätte Maire ein bisschen mitgeholfen, statt wie ein nasser Sack an Celine zu hängen.
Celine stieß die Tür auf und Maire und sie purzelten fast in Nates Zimmer.
Nate lag immer noch reglos auf seinem Bett. Will war bei ihm und hielt mit besorgtem Gesicht Nates Hand. Ihm war anzusehen, dass er sich große Sorgen um seinen Sohn machte und nicht verstehen konnte, was mit Nate los war.
Aber wie soll er das auch verstehen, wenn er die Geheimnisse unserer Welt nicht kennt?, fragte Celine sich. Wie sollte ihr Bruder jemals verstehen, was mit Nate und ihr los war, wenn sie es selber kaum verstand, obwohl sie mit den Geheimnissen ihrer Welt vertraut war und Magie, zumindest sehr einfache Magie, beherrschte?
Maire beschloss den besorgt fragenden Blick, mit dem ihr Bruder sie betrachtete, zu übersehen und sich ganz Nate zu widmen, der wie fünfzehn Sekunden zuvor immer noch reglos auf seinem Bett lag. Es fiel ihr schwer ihren Bruder einfach so zu ignorieren und sich nur auf Nate zu konzentrieren.
Als sie ihn so reglos auf seinem Bett liegen sah, kamen unerwünschte Gefühle in ihr hoch. Nicht nur Sorge und schwesterliche Liebe, sondern auch ein überwältigendes Gefühl von Leere, falls er sie verlassen sollte. Ein Gefühl gegen das sie sich nicht wehren konnte. Es überrumpelte sie einfach.
„William“, zerriss die Stimme ihrer Mutter die Leere, in der sie sich befand, „würdest du bitte rausgehen? Ich denke dir würde nicht gefallen, was ich jetzt machen muss.“
Maires Stimme war zwar bittend und sie hatte auch eine Bitte geäußert, aber in ihrer Stimme schwangen ein befehlender Unterton sowie ein gewisser Vorwurf, weil er sich noch im Zimmer befand, und etwas Flehendes mit.
Will hatte das Gefühl, als wäre etwas Unmenschliches mit Nate los. Als hätte seine Mutter ein Geheimnis, das sie nicht mit ihm, aber mit Celine teilen wollte. Celine musste es wissen, da war er sich zu hundert Prozent sicher. Warum hatte sie ihn vorhin rausgeschickt wie jetzt seine Mutter und warum sollte Celine sonst vorhin sofort zu ihrer Mutter gelaufen, als sie noch nicht mal wusste, was Nate fehlte?
Trotz seiner Gedanken verließ Will das Zimmer mit einem stummen Nicken. Es ging hier schließlich immer noch um Nates Gesundheit und er dachte nicht, dass er sie fördern konnte, indem er bei Nate im Zimmer saß, während seine Mutter und seine Schwester ihn lieber außerhalb des Zimmers sehen wollten.
Kaum hatte Will die Tür geschlossen, beugte sich Maire auch schon über Nates reglosen Oberkörper. Sie strich über die getrockneten Tränenspuren, wischte ihm die verschwitzten Haare aus dem Gesicht und strich ihm über die Stirn. Sie war sehr kalt.
Maire untersuchte ihn weiter. Sie konnte keine Verletzung an seinem makellosen Oberkörper oder an seinem Unterkörper feststellen.
„Er hat geweint und er steht unter Schock“, stellte Maire schließlich tonlos fest. Mehr brachte sie nicht heraus. Das Bild ihres reglosen Adoptivsohns nahm sie zu sehr mit um mehr zu denken.
„Das habe ich mir auch schon gedacht“, bemerkte Celine genauso tonlos, „aber was hat ihn so geschockt? Warum hat er Magie angewendet? Und vor allem: was können wir im Moment für ihn tun?“ Sie klang tonlos, auch wenn in ihr jede Menge Emotionen vorgingen. Sie hatte probiert ihre Fragen auf das wichtigste zu dezimieren, aber eine weitere Frage schwirrte in ihrem Kopf umher. Eine Frage, die sie nicht stellen konnte, solange ihre Mutter im Raum war. Wie soll ein Leben ohne Nate weitergehen, wenn er es nicht schaffen wird?
Maire sah die Sorge im Blick ihrer Tochter und wusste, dass sie sich dieselbe Frage wie sie stellte, aber nicht in der Lage war sie auszusprechen aus Angst sie zu verletzten. Sie konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie eine Welt ohne Nate aussehen sollte. Eine Welt ohne Nate wäre kalt, trist, humorlos und traurig. Traurig war das beste Wort um eine Welt ohne Nate zu beschreiben.
„Ich kann dir leider nicht sagen, warum Nate Magie angewendet hat, aber ich bin mir sicher, dass das Ergebnis der Anwendung ihn dermaßen geschockt haben muss. Ich denke Nate braucht im Moment vor allem Zeit um sich zu regenerieren. Ich denke es ist am besten, wenn Will und du bei ihm bleibt, ihr beruhigt ihn und gebt ihm das Gefühl von Liebe, das er brauchen wird.“
Sie erhob sich ruckartig und ließ Celine alleine. Tränen bahnten sich den Weg in Celines Augen. Ihr beruhigt ihn und gebt ihm das Gefühl von Liebe, das er brauchen wird. Maire hatte geklungen, als ob sie Nate nicht lieben würde, oder Nate ihre Liebe nicht akzeptieren würde.
Natürlich wusste Celine, das Will und sie Nate nach dem Tod seiner Eltern dazu gebracht hatten, mit dem Weinen aufzuhören und seine neue Familie zu akzeptieren. Maire hatte nur still daneben gesessen und zugeguckt, wie Will und sie Nate beruhigt hatten.
Celine ließ ihren Blick wieder über Nates regloses Gesicht streifen. Was hatte ihn dermaßen geschockt, dass er beschlossen hatte es wäre besser das Bewusstsein zu verlieren, als so weiterzuleben?
Sie hatte ihn nur einmal in einem ähnlichen Zustand gesehen, der aber nicht ganz so schlimm gewesen war. Damals, am ersten Todestag seiner Eltern, hatte er sich in eine Ecke gesetzt, seine neue Familie den ganzen Tag ignoriert, stumme Tränen geweint und alles verweigert, das man ihm in Liebe gereicht hatte, weil er der Meinung gewesen war, dass er genauso leiden sollte wie sie gelitten hatten. Zumindest diesen einen Tag pro Jahr, wenn sie schon nicht mehr die Chance hatten zu leben.
Celine erinnerte sich noch daran, wie Will und sie probiert hatten mit logischem Argumentieren Zugang zu ihm zu finden, aber relativ schnell aufgeben mussten, weil er sich immer mehr zurückgezogen hatte und sie mit ihren Argumenten irgendwann nicht einmal mehr die Schale zu seinem Inneren geknackt hatten.
„Ich kann nicht lachen, während sie leiden, ich kann nicht denken, während sie über mir sind und mir in unerträglicher Qual zusehen, ich kann mich nicht amüsieren, während ihre Schmerzen wachsen, ich kann nicht lieben, wenn sie keine Chance mehr haben mich zu lieben, weil die Qualen es nicht mehr zulassen.“
„Aber woher willst du wissen, dass sie leiden, woher willst du wissen, dass sie über uns sind, woher willst du wissen, dass ihre Schmerzen wissen und woher weißt du, dass sie vor lauter Qualen keine Liebe mehr empfinden können?“
„Weil ich daran glaube, dass der Tod den letzten Moment unseres Daseins auf Erden einfriert und uns zwingt bis in die Unendlichkeit mit diesem Dasein zu leben.“
„Das ist eine grauenhafte Vorstellung. Wie kannst du an so etwas glauben, wenn du weißt, dass sie da oben sind?“
„Meine Wünsche ändern nichts an meinen Überzeugungen von Tatsachen. Du findest es grauenhaft, aber vielleicht finde ich deine Vorstellung grauenhaft.“
„Ich glaube an Liebe.“
„Und ich glaube an den Tod, aber glaube trotzdem an die Liebe. Das ist nichts, was sich in irgendeiner Weise widersprechen würde.“
„Ich glaube an die Liebe im Sinne von: sie ist die stärkste Kraft des Lebens, egal ob im Leben oder im Tode, und sie hebt die Schmerzen auf, die sonst von nichts aufgehoben werden können.“
Celine schüttelte sich bei der Erinnerung an den Dialog, den sie mit Nate am Todestag seiner Eltern geführt hatte. Sie beschlich das Gefühl, dass er seine Einstellung zum Tod geändert haben musste. Oder das, was ihn so geschockt hatte und was noch kommen würde, war noch schlimmer als seine Vorstellung vom Tod. In dem Fall musste es etwas wirklich Schlimmes sein. Celine hatte noch nie von etwas gehört, das grauenhafter als Nates Vorstellung vom Tod klang.
Glücklicherweise hatte sich seine Einstellung zu diesem Tage soweit gelockert, dass er drei Jahre später sogar an diesem Tag mit ihnen geredet hatte. Auch wenn die Albträume gekommen waren, hatte Nate nicht mehr das Gefühl verspürt, als wäre es verboten auch an diesem Tage geliebt zu werden, anstatt dagegen zu kämpfen, dass Leute auch an diesem Tag probierten ihn zu lieben, ihn zu trösten und ihn zu verstehen.
Und jetzt lag er da, rührte sich nicht mehr und sah auch nicht so aus, als ob er jemals wieder vorhätte sich zu bewegen, was Celine mit einem dumpfen Schmerz erfüllte, der sich von ihrem Herze in jede Faser ihres Körpers ausbreitete.
Sie griff nach Nates Hand und drückte sie, auch wenn sie nur leblos in ihrer Hand lag und ihr das Gefühl vermittelte noch einsamer und verlassener zu sein.
Er wird wieder zu sich kommen und es wird alles wieder gut. Nate ist viel zu schade um einfach so aus dem Leben aller Leute die ihn liebten zu scheiden.
Endlich öffnete sich die Tür und Will trat herein. Celine bedachte ihn mit einem langen Blick, ehe sie den Blick wieder abwandte und ihn zurück auf Nates regloses Gesicht gleiten ließ.
Nate beobachtete seine Schwester ruhig. Die Art und Weise wie sie Nate ansah, erinnerte ihn an die ersten Wochen nachdem Nate bei ihnen eingezogen war und sich nicht getraut hatte irgendetwas zu sagen, geschweige denn von irgendjemanden Liebe entgegenzunehmen.
Will hatte damals gehofft in Nate jemanden zu finden, mit dem er spielen konnte und der nicht probierte ihm Cinderella schmackhaft zu machen, oder ihn dazu zu überreden die Barbies noch einmal aus dem Schrank zu packen.
Damals war Will gerade zwölf Jahre alt gewesen und sein Leben hatte sich immer nur um Celine gedreht. Er war nie auf die Idee gekommen, dass es noch andere Kinder in seinem Alter geben konnte, die er noch nicht kannte. Damals hatte er auch noch nicht verstanden, woher Nate wirklich kam. Er hatte nur gewusst, dass Nate nicht aus diesem Land kam und etwas Schlimmes erlebt haben musste.
Er hatte sich nie getraut mit Nate offen über das Schicksal seiner Eltern zu reden und Nate hatte niemals freiwillig mit ihm über dieses Schicksal geredet, sondern es totgeschwiegen und probiert Abstand zu gewinnen, statt sich eindringlich mit dem Thema zu beschäftigen.
Am ersten Todestag seiner Eltern hatte er so ähnlich ausgesehen wie jetzt. Will hatte auch damals nicht den Mut gehabt ihn anzusprechen und zu fragen, ob er ihm helfen könnte. Der Rest seiner Familie hatte probiert ihm Liebe entgegenzubringen und ihn zu trösten, aber er hatte Nate nur angesehen und verstanden, dass man niemandem helfen konnte, der so am Boden zerstört war wie Nate.
Nate hatte ihm diese Geste, beziehungsweise eben diese nicht vorhandene Geste, nicht übel genommen, sondern sie viel mehr geschätzt, was Will nicht wirklich verstehen konnte, aber er hatte diesen Draht zu dem Jungen, den er ansonsten nicht wirklich hinter seiner Maske finden konnte, dankend angenommen und eine zaghafte Freundschaft zu ihm aufgebaut.
Es hatte nicht lange gedauert und Nate und er waren nicht mehr auseinanderzudenken gewesen. Er hatte diesen Jungen so sehr geliebt, wie er seine Schwester liebte. Auch wenn Nate sich von dem schlaksigen Jungen langsam, aber durchaus bemerkbar, in einen jungen Mann verwandelte, hatte der Kontakt zu ihm nicht darunter gelitten, denn Nate hatte ihn im Gegensatz zu seiner Schwester auf diese Reise mitgenommen und ihn nicht davon ausgeschlossen.
Es tat Will zwar weh seinen Adoptivbruder so zu sehen, aber er wusste, dass alles, was er im Moment für ihn tun konnte, daneben sitzen und ihn in Ruhe lassen war. Auch wenn sich ihn in Ruhe lassen und neben ihm sitzen fast widersprach.
Er nahm gegenüber von Celine, auf der anderen Seite von Nate, platz und nahm seine zweite Hand.
Celine hob den Blick von Nates reglosem Gesicht und betrachtete die ruhigen, nahezu emotionslosen, Züge ihres Bruders, mit denen er auf Nate hinabblickte. Sie wusste, dass er nicht annähernd so emotionslos war, wie er im Moment aussah, sondern dass er im Innersten litt, auch wenn er das nicht zeigen konnte, weil er wusste, dass es Nate verletzen würde, wenn er aufwachen würde und das alles war, was Will nicht wollte.
Sie griff mit ihrer freien Hand über Nates Oberkörper und legte ihre Hand unter Wills Kinn um seinen Kopf anzuheben.
Will folgte dem leichten Druck ihrer Hand willenlos und hob den Kopf um seiner Schwester in die Augen sehen zu können. Er erkannte den Schmerz in ihren Augen und es tat ihm weh zu sehen, wie sehr sie wegen Nates Schmerzen litt. Das ging fast schon über Geschwisterliebe hinaus, was er in ihren Augen sah.
Er musste nicht mit ihr reden um ihr zu zeigen, wie sehr es ihm leidtat. Er nahm ihre Hand unter seinem Kinn und verschränkte seine Finger mit seinen um ihr zu zeigen, dass er für sie da war.
Celine atmete erleichtert aus und drückte seine Hand leicht, was er mit einem leisen Lächeln erwiederte, ehe sein Blick wieder zu Nates Gesicht glitt. Das Lächeln erlosch und er beugte sich zu seinem Bruder hinunter, um ihn sanft auf die Stirn zu küssen.
Er drehte sich im Kreis um herauszufinden von wo das merkwürdige Rauschen um ihn herum kam, aber er konnte es nicht herausfinden, er konnte um sich herum nichts und niemanden sehen.
Sein Atem wurde schneller, als ihn die Panik erfasste. Im Kopf hatte war er damit beschäftigt einen Fluchtplan zu entwickeln, der interessanter Weise aus Weglaufen bestand.
Eigentlich war dieser simple Plan nur aus einem einzigen Grund interessant. Ein Umstand, der den Plan gleichzeitig unmöglich machte.
Als er nach unten sah, erkannte er, was ihm bisher noch nicht aufgefallen war. Eigentlich musste man sagen, dass es ihm nicht aufgefallen war, weil es ihm nicht einmal hatte auffallen können. Schließlich kann das Nichts einem nicht auffallen, auch wenn Nichts immer Bestandteil des Seins ist, weil man es ansonsten nicht auffassen konnte.
Nate schüttelte den Kopf um diesen verwirrenden Gedanken aus seinem Kopf zu bekommen, schließlich brachten philosophische Ansichten über das Nichts im Sein ihn im Moment auch nicht weiter.
„Aber du hast recht“, sprach eine Stimme über ihm, „das Nichts ist Bestandteil des Seins, weil das Nichts nicht zu erkennen wäre, wenn das Sein nicht existieren würde. Und da das Nichts existiert, muss es zum Sein gehören, denn nichts was nicht ist kann existieren.“
Nate riss ruckartig den Kopf hoch um zu sehen, wer über ihm war. Er konnte die Person nicht erkennen, ein helles, grelles Licht umgab sie und machte es ihm unmöglich sie zu erkennen. Anhand des Klangs ihrer Stimme konnte er allerdings erkennen, dass es sich um eine Frau handeln musste. Er war ein wenig beruhigter, schließlich lag es nicht unbedingt in der Natur einer Frau auf einen jungen Mann loszugehen, wobei es auch bei dieser, wie bei allen nicht mathematisch oder physikalischen Gesetzmäßigkeiten, Ausnahmen gab.
„Wer bist du?“, fragte er panisch keuchend.
„Ich bin niemand, den du erkennen könntest, solange du noch im Sein existierst. Du kannst mich erst ab dem Moment erkennen, in dem du ins Nichts, also den unscheinbar Teil des Seins, übergehst. Und auch dann würdest du mich nicht mehr so sehen, wie du es gewohnt warst, bevor ich in den unscheinbaren Teil des Seins überging.“
Nate schüttelte er den Kopf. Er verstand nicht was diese Frau ihm sagen wollte und warum er erst in den unscheinbaren Teil des Seins übergehen musste, bevor er sie erkennen konnte und warum er sie auch dann nicht mehr so sehen konnte, wie er sie zuvor gesehen hatte.
„Ich verstehe Sie nicht“, wandte er sich ungeduldig an die Frau, „könnten Sie vielleicht ein wenig weniger philosophischer reden?“
Die Frau stieß ein glockenhelles Lachen aus. „Auch du wirst eines Tages so reden, wenn dich das Nichts erfasst hat und du das Sein noch viel strahlender wahrnimmst als in den Tagen, in denen du noch so unbewusst durch das Sein wandeltest und es berühren konntest, statt hindurch zugleiten auf der Suche nach dem hellsten Objekt im Sein, welches du aber nie wieder berühren wirst, weil du nicht mehr auf diese Weise zum Sein gehörst.“
Nate schüttelte verwirrt den Kopf. Wollte sie ihm erklären, dass sie tot war?
„Wollen Sie mir mitteilen, dass Sie tot sind und sich danach sehen wieder unter den Lebenden zu weilen?“
Die Frau stieß ein glockenhelles Lachen aus. „Auch der Tod gehört zum Leben, genau wie das Nichts zum Sein gehört, denn nichts kann ohne sein Gegenstück existieren, denn das Leben fordert den Preis und das Sein fordert das Nichts um existieren zu können, genau wie die Lebenden die Toten fordern und die Toten die Lebenden.“
Nates Kopf schien förmlich zu explodieren angesichts all der Dinge, die sie ihm erzählte. „Was wollen Sie mir damit sagen?“, fragte er verzweifelt.
„Das Universum ist im Gleichgewicht. Wo Licht ist, ist auch Schatten, denn das Licht hätte sonst keine Aufgabe, das Nichts und das Sein probieren sich gegenseitig zu vertreiben und halten sich im Gleichgewicht, jeder Todesfall erfordert eine Geburt um das Gleichgewicht zu erhalten und die Toten sehnen sich am meisten nach dem, was sie im Leben zurücklassen mussten. Und aus dem Egoismus, den jedes lebende Objekt besitzt, erscheinen sie den Überlebenden um ihnen zu zeigen, dass es sie noch gibt.“
Nate erkannte schlagartig die Stimme, die mit ihm sprach. Sie klang anders als zu den Zeiten, in denen er noch mit ihr geredet hatte und ihre Worte waren anders als die, die sie benutzt hatte, als sie noch unter den Lebenden weilte.
„Und auch dann würdest du mich nicht mehr so sehen, wie du es gewohnt warst, bevor ich in den unscheinbaren Teil des Seins überging“, wiederholte er sie tonlos. In seinen Gedanken war er weit weg von der Person, mit der er redete. „Mutter“, sagte er schließlich.
„Also hast du mich schlussendlich erkannt, mein Sohn“, antwortete sie ihm. Jetzt klang ihre Stimme nicht mehr weise, sondern liebevoll, aber immer noch nicht wie die Stimme seiner Mutter, die ihn in den Schlaf gesungen hatte und die schlechten Träume nachts vertrieben hatte.
Nate nickte stumm. „Ja, ich habe dich erkannt, Mutter.“
Er hatte sich zwar auf diesen Tag gefreut, aber er hatte keine Ahnung, was er dieser Frau sagen sollte, die ihm gegenüber stand, seine Mutter war, aber keinerlei Erinnerungen an die Frau, die er als seine Mutter gesehen hatte, hervorrief.
„Du fragst dich bestimmt, warum ich dir jetzt erscheine, oder?“, fragte sie ihn liebevoll. Zumindest sollte es liebevoll klingen, aber in Nates Augen klang sie nicht liebevoll, sondern wie ein Wesen, das er nicht kannte.
„Nicht nur heute, sondern warum ihr in meinen Träumen erscheint.“ Er musste nicht sagen, wen er mit „ihr“ meinte, damit seine Mutter ihn verstand.
„Weil wir dich lieben und unsere Menschlichkeit uns verbietet dich loszulassen. Dazu ist der Egoismus, der in jedem Menschen lebt zu stark.“
Nate schüttelte den Kopf. „Du bist tot, das ist nichts Menschliches.“
„Der Tod gehört zum Leben, wie das Nichts zum Sein“, erklärte sie ihm erneut. „Du wirst dich an nichts von alldem erinnern können, wenn du aufgewacht bist, aber ich habe eine Bitte an dich.“
Nate nickte um sie aufzufordern ihm zu erzählen, worum sie ihn bitten wollte. Eigentlich wollte er etwas sagen, aber er brachte nichts heraus. Er hatte sich den Moment so oft vorgestellt, dass er jetzt wo es soweit war keine Worte dafür finden konnte, weil er mit seiner Mutter über so viel mehr hatte reden wollen, aber er es einfach nicht konnte, weil sie so viel fremder für ihn war.
Er schloss die Augen und wünschte sich er würde aus diesem überaus verwirrendem Traum erheben und aufwachen.
Nate entwich ein lautes Keuchen und sein Oberkörper bäumte sich im Bett auf. Ein Schrei bahnte sich in seinem Inneren, aber er ließ ihn nicht heraus. Er brannte in seiner Brust und quälte ihn sosehr, dass er ihn schließlich herauslassen musste.
Gellend zerriss er die Stille und weckte Will und Celine, die schon die dritte Nacht neben Nates Körper ruhten.
Will fuhr erschrocken hoch und sah, wie Nate sich neben ihm immer weiter aufbäumte, sein Schrei seinen Kopf in den Nacken zwang und er die Arme von sich streckte, als ob er etwas aus seinem Körper entweichen lassen wollte.
Ehe er reagieren konnte, hatte Celine sich schon auf Nate geworfen und probierte seine Arme aufs Bett zu pressen, um seinen Oberkörper wieder nach unten zu bekommen.
„Hilf mir“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Will schüttelte den Kopf. Es war sinnlos. Celine warf sich schon mit ihrem ganzen Gewicht gegen Nate, aber er rührte sich keinen Millimeter. Es war zu erkennen, dass in Nates Körper irgendetwas gerade nicht ganz richtig lief.
„Wenn du mir nicht helfen möchtest, dann hol wenigstens Mom, sie kann mir helfen“, brüllte Celine, während sie weiter verzweifelt gegen Nates Oberkörper drückte.
Will sah seine Schwester schockiert an. Sie konnte es einfach nicht aufgeben. Er stand erstarrt am Bett und probierte sich von der Stelle zu bewegen.
Endlich gelang es ihm sich loszureißen. Seine Füße bewegten sich mechanisch zur Tür, seine Hände stießen sie auf und seine Lungen sogen die kühle Luft auf dem Gang ein. Ihm war noch gar nicht aufgefallen, wie stickig es in Nates Krankenzimmer gewesen war.
Wie in Trance bewegte er sich in Richtung Wohnzimmer vorwärts. Er wusste nicht, wo er seine Mutter auffinden würde und er wusste auch nicht, was er ihr sagen sollte. Etwas wie: Nate ist aufgewacht, es geht ihm schlecht, er ist nicht ansprechbar und kann sich nicht kontrollieren.
Sie würde ausrasten. Er kannte seine Mutter gut genug um zu wissen, dass sie das nicht verkraften würde, aber was sollte er ihr dann sagen?
Er bemerkte ein Ziehen in seiner Lunge und betrachtete argwöhnisch seine Füße, welche begonnen hatten zu Rennen. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er begonnen hatte zu laufen, geschweige denn er körperliche Anstrengung verspürte. Er war körperlich so gut ausgebildet, dass sein Körper normalerweise keine Anstrengung verspüren sollte, solange er nicht probierte seinen Rekord in Sprinten zu brechen.
Er sah die Bilder an den Wänden vorbeiziehen und bemerke erst jetzt, wie schnell er eigentlich lief. Er schien nahezu durch die Flure zu fliegen.
Seine Hände stießen erneut eine Tür auf und er stand im Wohnzimmer. Sein Blick glitt suchend durch den Raum und dann sah er die Frau, nach der er gesucht hatte. Maire.
Maire sah Will durch die Tür stürmen. Sie hatte ihn bereits von weitem gehört und sich gefragt, warum er so schnell rannte. Es musste etwas mit Nate sein, hatte sie gedacht. Vermutlich war er aufgewacht und es ging ihm gut. Zumindest hoffte sie das, schließlich wollte sie ihren Adoptivsohn endlich wieder gesund und glücklich sehen.
Als Will die Tür aufstieß, erkannte sie schon, dass ihre Hoffnungen nicht aufgegangen war. Sein Blick suchte sie und blieb erleichtert an ihr hängen. Die Erleichterung in seinem Blick war so ergreifend und groß, dass Maire das Gefühl hatte, er wäre gestorben, wenn er sie nicht gesehen hätte.
Tränen liefen über sein Gesicht. Maire war sich sehr sicher, dass er nicht einmal bemerkte, dass er weinte. Vor Verzweiflung, Angst oder Erleichterung war nicht zu erkennen.
„Mummy“, keuchte er. Eine solche Erleichterung sprach aus seiner Stimme, dass es Maire das Herz erwärmte. Aber warum keuchte er so? Was war passiert, dass ihr perfekt ausgebildeter Junge so keuchte?
„Will, was ist passiert?“, fragte sie ihn entsetzt. „Du siehst grauenhaft aus. Was ist passiert, dass du dich so sehr anstrengen musstest?“ Sie betrachtete William liebevoll und ging auf ihn zu, um ihn zu beruhigen und ihn in den Arm zu nehmen.
„Nate“, keuchte Will wieder, „Nate ist aufgewacht…“
Maire stieß einen kleinen, überraschten Laut aus und schlug die Hände vor den Mund. Das war wundervoll. Aber warum war er dann so entsetzt.
„… aber es geht ihm komisch“, redete Will weiter, „er … er ist wirklich komisch. Wir brauchen deine Hilfe, Mummy.“
Erst jetzt fiel Maire auf, dass er sie „Mummy“ nannte. Er hatte sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr so genannt. Seit er das letzte Mal mitten in der Nacht aufgewacht war und nicht mehr hatte einschlafen können, hatte Will sie nicht mehr „Mummy“ genannt. Es musste wirklich schlimm sein, dass Will sie Mummy nannte.
„Was ist mit ihm?“, fragte sie tonlos. „Was ist mit Nate?“
Will schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, was Nate hatte. Er wusste nicht einmal wie er beschreiben sollte, was Nate fehlte. „Komm mit“, flüsterte er. „Wir können ihm nicht helfen. Celine denkt, dass du die einzige bist, die ihm noch helfen kann.“
Celine stieß sich immer wieder gegen den Oberkörper ihres Adoptivbruders. Sie hatte nicht mitgezählt, wie oft sie sich schon gegen seinen Oberkörper geworfen hatte, wie oft sie seinen Namen geschrien hatte und wie oft sie an seinem steifen Oberkörper gerüttelt hatte, in der Hoffnung ihn endlich dazu zu bewegen, sich wieder hinzulegen.
Tränen flossen über ihr Gesicht, als sie ihren Bruder wieder und wieder anstieß, aber er sich nicht rührte.
Nate saß mit versteiftem Oberkörper im Bett und rührte sich nicht mehr, anfangs hatte er sich zumindest immer wieder gegen den Druck von Celines Körper gewehrt und sich wieder aufgerichtet, doch nun konnte sie ihn nicht einmal nach unten bringen, sodass er sich wieder hätte aufrichten müssen. Er blieb einfach komplett unbeweglich, was Celine noch mehr Tränen in die Augen trieb.
Nachdem Will das Zimmer verlassen hatte, hatte sie Nate wieder eine Hand auf die Wange gelegt und probiert seine Gedanken zu sehen, aber sie waren verschlüsselt gewesen. Sie hatte nur ein gleißend helles Licht gesehen, als ob er nicht mehr zu dieser Welt gehören würde und das Licht ausstrahlte um alles abzustoßen, was aus dieser Welt probierte zu ihm zu gelangen.
Sie wollte seine Schultern gerade loslassen, als sich sein Kopf in den Nacken gerissen wurde, sich seine Augen öffneten und aus seinem Mund ein schriller Schrei entwich. Höher, härter und durchdringender als jeder Schrei, den ein Mensch ausstoßen konnte.
Es tat Celine nicht nur in den Ohren weh, sondern auch im Herzen ihn so schreien zu hören und zu sehen.
Er streckte seine Arme aus, während sich sein Oberkörper weiter nach vorne schob, die Arme nach hinten gezogen wurden und Celine von ihm fortstieß.
Nates Schrei wurde lauter, noch gellender, während seine Augen aufgerissen wurden und ein gleißendes Licht entwich.
„LISSIE!“
Die Tür wurde aufgerissen, Maire und Will standen im Durchgang und blickten entsetzt auf Nate, dessen Gesicht strahlte und Celine in ein unheilvolles Licht tauchte.
Auf einmal erlosch das Leuchten, Nates Körper verlor seine Spannung und er klappte zusammen, wie ein Mensch, der ohnmächtig geworden war.
„Nate!“, schrie Maire. Sie hatte sich aus ihrer Starre gerissen und stürzte auf Nates Bett zu und fing ihn auf, bevor sein Körper aus seinem Bett kippen konnte.
Sie spürte wie ihre Knie unter dem zusätzlichen Gewicht schmerzten, als sie auf die Knie fiel und Nates leblosen Körper auffing. Sie spürte die gänzliche Abwesenheit seines Geistes und die Andersartigkeit seiner Ausstrahlung, was den Schmerz ihrer Knie gänzlich vergessen ließ. Sie konnte sich auf nichts anderes als Nates leblosen Körper konzentrieren.
„Mum“, hauchte Celine nur. Sie betrachtete das eigenartige Bild verstört. Der muskulöse und große Nate, der in den Armen seiner deutlich kleineren Mutter lag und gänzlich reglos war. Er sah nicht mehr aus, wie ein lebendiger Mensch, sondern mehr wie eine Leiche. Sie machte sich unglaubliche Sorgen um den jungen Mann.
Will sah ebenfalls erleichtert zu seiner Mutter, die Nate aufgefangen hatte. Er verstand nicht, wie sie so schnell bei ihm hatte sein können, aber es interessierte ihn nicht, wie sie es geschafft hatte, sondern nur, dass sie es geschafft hatte und es Nate nicht noch schlechter ging. Obwohl er nicht leugnen konnte, dass es ihm noch schlechter ging, denn als er Nate vor dem Verlassen des Zimmers gesehen hatte, hatte er zwar ausgesehen wie ein Gestörter, aber nicht wie ein Toter.
Maire war die Erste, die sich wieder regte und ächzend um Hilfe bat, den reglosen Nate wieder auf sein Bett zu bringen.
„Will“, wandte sie sich an ihren Sohn, „könntest du bitte gehen?“
Sie wusste, dass es ihrem Sohn nicht gefiel ständig aus dem Raum geschickt zu werden, wenn es um Nate ging, aber sie konnte ihm nicht zumuten das zu sehen, was er gleich sehen würde, wenn er im Raum bleiben würde.
Will verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. Er wollte nicht andauernd hinausgeschickt werden, wenn etwas passierte, das ihn etwas anging. Und er war der Überzeugung, dass das Wohlergehen seines Bruders ihn durchaus etwas anging. Er verstand nicht, wieso Celine dableiben durfte, aber er nicht. Was für ein Geheimnis hatten die beiden vor ihm?
„William, bitte. Es ist das Beste für ihn“, flüsterte Maire. Sie wusste, wie es für ihn klingen musste, es klang schon in ihren eigenen Ohren so, als würde sie ihm die Schuld für Nates Zustand geben. Auch wenn sie das nie im Leben machen können würde.
Sie sah an Wills verletztem Blick, dass er es genauso aufgenommen hatte, wie sie es gedacht hatte. Aber vielleicht war es besser so, dann würde er zumindest jetzt gehen und sie würde es ihm ersparen Magie zu sehen.
Will drehte sich mit Tränen in den Augen um und verließ den Raum, welchen er gerade erst mit seiner Mutter betreten hatte. Nicht einmal als er aus dem Raum gegangen war, traute er sich den Tränen nachzugeben. Er konnte nur an den letzten Satz seiner Mutter denken. Es ist das Beste für ihn. Als ob er schuld daran wäre, dass es Nate schlecht ging. Wahrscheinlich war sie selber daran schuld, weil es Nate nur wegen seinen Albträumen schlecht ging, die er nicht bekämpfen durfte, egal wie sehr er es gewollt hatte.
Wütend wandte er sich von dem Raum ab und blinzelte ein letztes Mal entschlossen die Tränen weg.
„Mum, das war gerade nicht sehr effektiv“, bemerkte Celine und lauschte auf die letzten verklingenden Schritte, die man noch von Nate vernahm. Sie sah immer noch seinen verletzen Blick und die Wut, die man in seinen abgehackten Schritten hatte erkennen können. Will war gut darin seine Gefühle zu verbergen, aber sobald man ihn kannte, hatte er keine Chance mehr die kleinen Dinge zu verbergen, die seine Emotionen verrieten.
Maire schüttelte den Kopf. „Doch, es war sehr effektiv“, antwortete sie lediglich. Sie hätte es ihrer Tochter zwar gerne erklärt, aber sie hatte im Moment nicht die Nerven dafür, einer sechzehnjährigen zu erklären, dass ihr Zwillingsbruder lieber nicht mit ihnen in einem Raum sein sollte, da es für ihn schädigend sein könnte. „Könntest du mir bitte helfen, Celine?“
Celine betrachtete ihre Mutter einen Moment lang. Will wollte sie nicht haben, aber sie sollte dableiben und Nate helfen. „Warum, Maire?“ Sie hatte ihre Mutter noch nie mit ihrem Vornamen angeredet.
Maire sah sie einen Moment verwundert an. Sie fand es nicht unschicklich, wenn Kinder ihre Eltern mit dem Vornamen anredeten, aber es zeugte meistens von einem tiefen Vertrauensbruch oder einer Trotzphase. Sie war sich nicht sicher, was ihr im Moment lieber war. „Weil dein Bruder Hilfe braucht?“
Celine sah zu ihr herab. „Aber ich habe zwei Brüder. Und dem einen hast du gerade gesagt er soll bitte gehen, weil es für Nate das Beste wäre. Also warum soll ich bleiben, wenn es für Nate schon das Beste ist, wenn William geht? Will und er standen sich näher als Nate und ich.“
Maire seufzte. Sie würde wohl doch nicht darum herumkommen ihrer Tochter zu erklären, dass das Gehirn eines Menschen nur einen kleinen Teil der Auffassungsgabe des Gehirns eines Magiers besaß und er diesen Teil nicht ansatzweise so gut verwerten konnte und somit Leute verrückt finden würde, die er eigentlich mochte. „Es ist nicht nur für Nate, sondern auch für euch beide das Beste“, erklärte sie Celine schwammig. „Hilf mir bitte Nate zu heilen, danach werde ich dir alles ganz genau erklären.“
Celine schwieg, aber sie packte Nate unter den Armen und zog ihn schnaufend wieder auf das Bett, wo er genauso leblos dalag wie in Maires Armen.
„Jetzt sieh mir zu, Tochter“, murmelte Maire. Sie klang anders, nicht mehr wie die Mutter, die Celine jahrelang gehabt hatte. „Es gibt einen Teil der Magie, für den Nate und du noch lange nicht weit genug seid, aber er kann sehr hilfreich sein, wenn man beispielsweise jemanden heilen muss, oder ihn von den Toten auferwecken muss. Robert hat ihn mir gezeigt, aber für einen Zauber dieser Stärke brauche ich Hilfe.“
Celine hörte aufmerksam zu und probierte zu erfassen, was sie da gerade hörte. „Warum bittest du mich und nicht Da um Hilfe?“, fragte sie ihre Mutter argwöhnisch.
„Robert ist nicht da.“
„Und wie kann ich dir helfen?“, fragte Celine skeptisch. Magie beruhte doch auf der geistigen Vorstellungskraft, die ihnen die Fähigkeit gab Dinge wahrwerden zu lassen, die sie sich vorstellten, also wie sollte sie ihrer Mutter helfen einen Zauber zu wirken?
„Magie existiert in zwei verschiedenen Formen“, antwortete Maire konzentriert, während sie Nates Oberkörper untersuchte und keine Verletzungen fand. „Zum einen die gedankliche Form, in der du sie kennengelernt hast und zum anderen in einer physischen Form, die du zwar ebenfalls kennengelernt hast, aber nicht bewusst steuern kannst.“
Celine zog eine Augenbraue hoch. Warum hatte sie ihr noch nicht früher von diesen zwei verschiedenen Energieformen erzählt? Und warum waren sie auf einmal so wichtig.
„Ein Magier altert langsamer als ein normaler Mensch, seine Energie verstärkt sein Gehör, seinen Blick, seine körperliche Leistungsfähigkeit und seine Fähigkeit diese Energie auf andere zu übertragen. Während ein Mensch nur in Form von Körperwärme fähig ist andere Leute teil an seiner Energie werden zu lassen, kann ein Magier diese physische Energie gezielt in jeder beliebigen Form übertragen.
Ich kann Nate beispielsweise Energie in Körperwärme zufügen oder in Form von Spannung, Höhe, et cetera, aber es würde ihm nichts bringen. Was ihm etwas bringen würde, wäre ihm Energie in Form von Lebensenergie zuzufügen. Das ist die komplizierteste, aber effizienteste Heilmethode.“
Celine nickte. Sie verstand langsam worauf ihre Mutter hinauswollte. Aber eine Sache hatte sie noch nicht verstanden. „Du sagst die Magie liegt in Form von Energie vor, aber wie kannst du diese Energie manifestieren um sie zu übertragen? Energie ist lediglich ein Modell“, wandte Celine ein.
„Du musst dir im Kopf vorstellen, wie die Magie in Form deiner Energie durch seinen Körper fließt. Dafür musst du zuerst einen abgeschlossenen Raum erzeugen. Etwas, aus dem keine Energie entweichen kann. Du kannst nur so viel Energie in diesen Raum geben, wie Nate umwandeln kann, damit der Energieerhaltungssatz erhalten bleibt, deswegen kannst du ihm auch nicht zu viel oder zu wenig Energie geben, da am Ende kein Energieüberschuss oder –mangel vorliegen darf. Das einzige Risiko ist, dass du dich selber töten kannst beim Versuch ihm zu helfen, deshalb brauche ich dich.“
Maire konzentrierte sich und ignorierte den schrägen Blick ihrer Tochter, die sich fragte, was ihre Mutter gerade machte. Sie lenkte ihre Energie auf ihre Körperoberfläche und machte sich dazu bereit diese Energie abzustrahlen. Dann umschloss sie mit einer Hand Celines Handgelenk und widmete sich dem Raum um Nate, Celine und sie. Zwischen Celine und ihr durfte keine Lücke sein, sonst würde Celine ebenfalls Energie absorbieren.
Im nächsten Moment erschuf Maire einen luftdichten Schirm, der Nate, Celine und sie von dem Rest des Zimmers abschirmte. Sie biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich auf die Energie, die unter ihrer Hautoberfläche darauf wartete entlassen zu werden. Es dauerte einen Moment, dann strömte sie aus jeder Pore, umhüllte Nate und sie und sie spürte, wie ihre Energie zu Nate gezogen wurde.
Celine entwich ein kleiner Aufschrei, als sie die blau wabernden Nebelschwaden sah, die aus Maire herausströmten und zu Nate gezogen wurden. Sie fragte sich, ob ihre Mutter das gemeint hatte mit der Vorstellung von Energie, die durch seinen Körper floss. Ob jede dieser Energieübertragungen in blauen Nebelschwaden ablief, oder ob man es auch in Gänseblümchen übertragen könnte?
„Celine“, keuchte Maire. Sie sah ausgesprochen müde aus. „Konzentriere dich auf deine Energie und stelle dir vor, wie sie einen physikalischen Träger annimmt. Beispielsweise Nebel, oder Blumen, wenn dir das lieber ist.“
Celine probierte den müden Unterton und den mittlerweile schwachen Griff zu ignorieren, während sie sich auf die Energie in ihrem Körper konzentrierte. Dann merkte sie, wie Maire auf ihre Energie zugriff.
Es war kein unangenehmes Gefühl wie sie es gehabt hätte, wenn sie ihre Energie nicht freiwillig gegeben hätte, sondern ein angenehmes Ziehen, als sie zu Maire gezogen wurde. Sie merkte wie sich ein Teil von ihr freiwillig löste und sich mit Marie vereinte um in Nates schwachen Körper zu ziehen.
Sie sah fasziniert zu, wie der Energiestrom aus Marie sich verstärkte und sich um Nate wand. Sie konnte spüren, wie er die Energie aufsog und nach mehr verlangte.
Celine fühlte sich wie im Rausch. Nicht, dass sie es einmal selber erlebt hätte, aber sie hatte davon gelesen und sie hatte einmal etwas Ähnliches gefühlt, als sie zu viel Hustensaft getrunken hatte.
Das Gefühl für ihren Körper wurde schwächer, aber sie fühlte sich großartig, sie spürte nicht einmal, dass ihre Energie sie wie durch ein großes Loch verließ.
Auf einmal hörte es auf. Nate verlangte nicht mehr nach Energie und der Energiestrom hörte auf. Die restliche Energie unter der Glocke verteilte sich wieder gleichmäßig auf die beiden Frauen.
Die Kuppel erlosch, im nächsten Moment spürte Celine welche Arbeit sie heute geleistet hatte. Ihr Körper sackte neben Nates Bett zusammen, sie war unfähig sich zu bewegen.
Mit letzter Kraft drehte sie den Kopf zu ihrer Mutter, welche ebenfalls neben dem Bett zusammengesackt war und sich nicht mehr bewegte.
„Mom.“
Will hielt es nicht mehr aus. Er konnte nicht mehr mit diesem Gefühl leben, das seine Mutter und seine Schwester – vermutlich auch Nate, sein Seelenverwandter – etwas wussten, vermutlich etwas wichtiges, von dem er nichts wusste. Von dem er genaugenommen nicht einmal die kleinste Ahnung hatte.
Aber Will beschlich das Gefühl, das das, wovon er nichts wusste, etwas sehr sehr wichtiges war. Etwas extrem wichtiges, das ihn betraf, auch wenn er im Moment noch nicht genau wusste, warum er dieses Gefühl hatte. Aber es war sehr wichtig, sehr sehr wichtig.
Will beschloss, dass er keine Zeit mehr hatte um zu warten bis sie es ihm freiwillig erzählten. Wenn sie nicht freiwillig damit rausrückten, was ihr Geheimnis war, musste er sie eben dazu bringen ihm davon zu erzählen, er hatte ein recht darauf davon zu erfahren, da war er sich mehr als sicher.
Nervös fuhr er sich durch die goldbraunen Haare und strich sich über den Bart. Er hatte sich seit mehreren Tagen nicht mehr rasiert. Obwohl er es für dringend notwendig hielt dies nachzuholen, fanden sowohl seine Schwester als auch Nate, dass ihm der Bart gut stände. Das hatten sie ihm mehrfach versichert. Zumindest hatten sie es ihm in der Zeit die sie noch hatten versichert. Verbittert stellte er fest, dass dies in den letzten Tagen selten der Fall gewesen war. Entweder sie waren zu müde oder sie waren zusammen mit ihrer Mutter in einem Raum. Ja, er wusste davon, dass sie etwas lernten, das er nicht lernte. Und er wollte wissen, was sie lernten. Er hatte ein recht darauf.
Erneut fuhr er sich durch die Haare und über den Bart. Es machte ihn nervös etwas von seiner Mutter oder seiner Schwester zu fordern. Bei Nate war es etwas anderes, Nate war sein Seelenverwandter, er verstand ihn und er würde sich nie weigern ihm zu geben worum er bat. Bei seiner Schwester und seiner Mutter war es etwas anderes. Die beiden verstanden ihn nicht wirklich, sie würden ihm nicht geben worum er bat, wenn sie es nicht für zwingend notwendig halten würden.
Entschlossen drückte Nate die Türklinke herunter, er hatte ein recht darauf zu erfahren, was vor sich ging und er würde es erfahren, er würde alles dafür geben zu erfahren was sie ihm verheimlichten.
„Es reicht mir jetzt…“, setzte er an, als er ins Zimmer marschierte.
Eigentlich hatte er sagen wollen, was ihm reichte, aber er fand keine Gelegenheit dazu. Genauer genommen hätte er sogar eine Gelegenheit dazu gefunden es zu sagen, aber keine Gelegenheit es jemanden zu sagen.
Als er die Tür aufstieß, fiel sein Blick zuerst auf seine Mutter und auf seine Schwester. Maire lag zusammengesackt auf dem Boden vor dem Bett, auf das sie Nate gelegt hatten. Sie sah nicht gut aus, genaugenommen sah sie tot aus. Ihr Gesicht war zerfurcht von einer Anstrengung, die er nicht kannte, aber sie musste fürchterlich gewesen sein, wenn Maire jetzt so erschöpft war.
Celine lag ebenfalls erschöpft am Boden, aber ihre Erschöpfung schien nicht so groß zu sein wie die seiner Mutter. Sie lag zwar ebenfalls erschöpf am Boden und auch ihr Gesicht war zerfurcht, aber sie sah lebendig aus, ihre Brust hob sich merkbar und er hörte das leise Keuchen ihres Atems.
Das Keuchen ihres Atems, welches bei Maire ausblieb.
Das war der Moment, in dem Will leise keuchte und sich von der Wand löste. Ohne es zu merken glitt er von der Wand zu seiner Mutter und fiel leise keuchend neben ihr zu Boden. Seine Finger suchten tastend nach ihrem Puls.
Er spürte etwas unter seinen Fingern flattern, aber er war sich nicht sicher ob es sich dabei um den Puls seiner Mutter oder um das Zittern seiner Finger, ausgelöst durch seine Aufregung handelte.
Er hoffte, dass es das Flattern ihres Pulses war und nicht das Zittern seiner Finger.
„Mom.“
Er fragte sich wie er dieses Wort herausgebracht hatte, er war sich sicher gewesen, dass er nichts gesagt hatte, dass er nicht einmal den Mund hatte öffnen können.
Sein Blick wandte sich von dem zerfurchten Gesicht seiner Mutter ab und glitt zu dem seiner Schwester.
Auch wenn er sich sicher gewesen war, dass sie bewusstlos war, hatte sie den Kopf gehoben und sah zu Maire.
Will war sich sicher, dass sie ihn nicht gesehen hatte, dazu war sie vermutlich nicht mehr in der Lage. Celine hatte es gerade so noch geschafft den Kopf zu heben und nach ihrer Mutter zu rufen. Sie streckte die Finger nach ihr aus, probierte ihr Gesicht zu berühren, aber sie konnte es nicht mehr.
„Celine“, flüsterte er verzweifelt den Namen seiner Schwester.
Ihr Atem wurde panisch, sie probierte noch etwas zu sagen, sie probierte seinen Namen oder den seiner Mutter zu artikulieren, aber sie konnte es nicht mehr. Sie war nicht in der Lage etwas zu sagen. Ihr Atem ging keuchend, ihre Augen weiteten sich, sie probierte krampfhaft die Finger auszustrecken, aber es gelang ihr nicht mehr.
Ihr Kopf fiel in den Nacken und ihre Augen schlossen sich.
„Celine“, flüsterte er erneut, während seine Finger ihr liebevoll übers Gesicht fuhren. „Celine.“
Er konnte die Panik in seiner Stimme nicht unterdrücken, genauso wenig wie er den Schmerz verstecken konnte, oder die Angst um sie.
Sein Atem ging viel zu schnell, aber er konnte ihn nicht beruhigen, genauso wenig wie er seine suchenden Finger stillstellen konnte. Sie suchten verzweifelt nach dem Puls an Celines Hals, es war ihm wirklich nicht möglich diese suchenden Finger auch nur für einen kleinen Moment zu unterdrücken.
Erst als er ihren ebenfalls flatternden Puls unter seinen Fingern gefunden hatte, wurde ihm noch etwas bewusst. Er hatte Celine und Maire gefunden, also musste auch irgendwo Nate sein.
Nate war in diesem Raum gewesen, als er ihn auf Aufforderung seiner Mutter verlassen hatte. Er war hier gewesen, es war ihm erbärmlich gegangen, er konnte nicht verschwunden sein, er musste immer noch hier sein.
In diesem Moment fiel sein Blick das erste Mal auf Nate. Und er hätte ihn in diesem Moment hassen können.
Nate lag auf dem Bett, seine Haut schimmerte in dem gewohnten braunen Ton, sie war nicht faltig, seine Haare hingen ihm wie gewohnt ins Gesicht und seine Gesichtszüge strahlten Tiefentspannung aus.
Während Celine und Maires Gesicht vor Anstrengung, vor Qual, verzerrt waren, sah Nate eher aus als hätte er gerade zwei Tage am Stück geschlafen, als wäre sämtliche Anspannung von ihm abgefallen – nein, als hätte er nie Anstrengung erlebt.
„Nate, Celine, Mom“, wisperte Will noch einmal. Er wusste nicht, warum er sie aussprach, er würde keine Antwort von ihnen erhalten können, aber es gab ihm Sicherheit ihren Namen zu sagen, es gab ihm ein Gefühl von Nähe, als würde er ihnen jetzt näher als zuvor sein.
„Vater.“ Er würde ihm helfen können. Robert wusste immer, wie man Leuten helfen musste, auch wenn niemand anders ihnen helfen konnte, konnte er ihnen helfen. Robert half jedem, er liebte es Leuten zu helfen und jetzt ging es außerdem um seine Familie, da konnte er gar nicht nein sagen. Robert musste ihm helfen.
Er strich ein letztes Mal über das Gesicht seiner Schwester und über das seiner Mutter, dann flüsterte er nur noch leise: „Ich komme wieder, Mummy, Celine. Ich verspreche es euch, ich komme wieder.“
Er klopfte Nate sanft auf die Schulter, wie sie es immer machten, dann drehte er sich um und verließ fluchtartig das Zimmer.
Robert war gerade dabei seine Sachen zu packen. Er hatte vor für eine mehr oder weniger wichtige Reise, in deren Verlauf er einige Menschen heilen würde, von ihrem Sitz auf dem Land in die näheren Städte und von dort dann in die Welt der Menschen zu reisen.
Zum einen sollte er auf dieser Reise Menschen retten, zum anderen sollte er auf dieser Reise junge Leute wie Nate finden. Kinder mit magischen Fähigkeiten, die sich dessen allerdings noch nicht bewusst waren und in die Welt der Magier gebracht wurden.
Dies war die weite, weit aus lukrativere Arbeit, die Robert besaß. Wenn ein junges Magierpaar sich ein Kind wünschte, aber nicht in der Lage war eines zu bekommen, wandten sie sich an Robert und baten ihn ihnen ein Kind zu besorgen.
Im ersten Moment klang dies nach einer sonderbaren Bitte, aber eigentlich war sie gar nicht so komisch. In diesem Fall suchte Robert in einem der Waisenhäuser der Magier oder der Menschen nach einem Kind mit magischen Fähigkeiten.
Es gab noch einen weiteren Fall, in dem Robert gebeten wurde ein Kind mit magischen Fähigkeiten zu finden.
Diesen Fall verabscheute Robert zutiefst. Er erinnerte ihn immer wieder an seinen eigenen Sohn William. Robert schüttelte sich in der Hoffnung diese Gedanken loszuwerden.
William war ein ganz normales Kind ohne magische Kräfte. Maire hatte nie ein Problem damit gehabt, sie hatte Will immer sosehr wie Celine geliebt und sich nie Gedanken darüber gemacht, dass Will keine Magie wirken konnte, das sowohl sein Körper als auch sein Geist einfach nicht dazu in der Lage waren diese Kraft aufzubringen.
Ihn hatte es eigentlich auch nie besonders gestört, dass Will das nicht konnte und es nie können würde, aber das Gerede der Leute hatte ihn gestört. Als Arzt war er ständig unter Leuten gewesen, welche ihn immer wieder darauf angesprochen hatten, dass es doch eigentlich eine Schande wäre, dass ein so begabter Magier wie er ein nicht magisches Kind besäße.
Robert hatte Maire irgendwann gebeten wegzuziehen. Er hatte es nicht mehr ausgehalten mit diesem Gerede zu leben und mit der Tatsache, dass die Leute erwartete, dass er sich für seinen Sohn schämte.
Er liebte Will, auch wenn dieser keine Magie wirken konnte. Er liebte ihn sehr, deshalb hasste er es ungemein, wenn Magier, die nicht magische Kinder hatten, ein magisches Kind haben wollten.
Für ihn war es in diesem Moment nicht mehr nur das Befördern eines magischen Waisenkindes in eine magische Familie, sondern ein Kampf mit sich selber, in dem er immer wieder daran denken musste, dass es immer noch genug Leute gab, die wollten, dass er sich von William trennte und ihn abgab an eine weltliche Familie.
In diesem Moment riss Will die Tür auf und stürzte in das Zimmer seines Vaters, welches so unordentlich wie immer war, aber nicht den geringsten Zweifel daran ließ, dass sein Vater verreisen wollte.
Will wusste nicht, warum er das Zimmer seines Vaters so verwirrt anguckte. Das Zimmer sah genauso aus wie immer.
Der Schreibtisch seines Vaters stand immer noch in der linken Ecke des Zimmers, weil sein Vater Linkshänder war, genau wie er, die Papierstapel darauf waren genauso hoch wie immer, sie drohten immer noch abzustürzen und es war immer noch ein Wunder, dass die Tischplatte diese enorme Belastung aushielt. Daneben stand immer noch der abgewetzte Sessel, in dem Robert öfter einschlief als in seinem Bett, weil er dort Formulare ausfühlte. Im Moment lagen auf dem Sessel alte Klamotten, die Robert dort hingeworfen hatte, vermutlich hatten sie davor an einem Platz gelegen, den er benötigt hatte. Über dem Sessel hing ein Bild, aus dem eine glückliche Maire ihn im Hochzeitskleid anstrahlte, man konnte deutlich sehen, dass sie schwanger war. In den Ecken und an der rechten Wand standen Bücherregale in dunklen Holzfarben, in denen sich die vielen Bücher seines Vaters gesammelt hatten, sie verteilten sich weiter auf den Boden und lagen teilweise aufgeschlagen auf dem Holzboden, dessen warme Farbe man kaum noch unter den Massen an Klamotten und Büchern erkennen konnte. Derselbe Holzboden, auf dem Will und Celine schon im Alter von wenigen Jahren nach ihrem Vater gesucht hatten.
Will riss sich von dem gewohnten Anblick los. Gewohnt. Vermutlich war das der Grund für sein seltsames Verhalten, dachte er sich. Er war mit diesem Zimmer groß geworden und während sich alles um ihn veränderte, blieb dieser Raum einfach konstant. Eine Konstante in der Welt um ihn herum.
Will schüttelte den Kopf um ihn wieder freizubekommen. Egal wie vertraut der Raum auf ihn wirkte, außerhalb dieses Raums starben gerade seine Mutter, seine Schwester und Nate. Das war definitiv nicht normal und auch nicht vertraut.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass sein Vater dabei war zu packen. Nein! Er darf nicht gehen, er darf mich nicht mit ihnen alleine lassen, er muss ihnen helfen!
Will wusste nicht woher diese plötzliche Entschlossenheit kam, die er davor noch nicht gespürt hatte. Aber er wusste, dass er seinen Vater zum Bleiben überreden musste, er konnte nicht gehen. Nicht jetzt, nicht so kurz bevor seine Frau und seine Tochter vielleicht starben. Will durfte das nicht zulassen.
„Dad!“, schrie er in den dämmrig beleuchtenden Raum und suchte nach seinem Vater. „Dad, du musst mir helfen, bitte komm sofort raus!“
Er sah sich suchend um. In all dem Durcheinander konnte er seinen Vater kaum finden. Er wollte gerade die Hoffnung aufgeben und einfach akzeptieren, dass sein Vater nicht hier war, als er aus der Ecke links neben der Tür ein Rascheln vernahm. Er drehte sich ruckartig in die Richtung des Geräuschs und sah seinem Vater in die Arme.
Ehe Robert verarbeiten konnte, dass sein Sohn gerade in den Raum gestürmt war und panisch nach ihm geschrien hatte, schlang Will schon seine Arme um ihn und ließ ihn am eigenen Leib spüren, wie groß die Panik war, die er gerade empfand. Panik, Angst und die schreckliche Gewissheit, dass gerade jemand starb.
„Will“, stöhnte er erschlagen, „du musst mich loslassen, dass ich dir helfen kann und du musst mir sagen, was überhaupt los ist, ansonsten habe ich nämlich keine Chance dir irgendwie zu helfen, hast du verstanden?“
Natürlich hatte Will seinen Vater akustisch verstanden, aber irgendwie hatte dieses Signal nicht gereicht um in seinem Gehirn eine Reaktionskette auszulösen, die seine Arme vom Körper seines Vaters gelöst hätte. Robert musste seinen Körper selber sanft von dem umschlingenden Griff seines Sohns befreien.
Erleichtert atmete er ein, Will hatte ihm ordentlich die Luft abgeschnürt, dann wandte er sich an seinen Sohn und fragte ihn: „Was ist mit dir los, Junge? Normalerweise bist du doch auch nicht so stürmisch.“
Will stand einfach nur im Raum, unfähig sich von der Stelle zu bewegen oder einen Satz über die Lippen zu bekommen. Er hätte nicht einmal stottern können und es war ihm beim besten Willen nicht klar, warum er auf einmal nicht mehr sprechen konnte. Sein Körper kam ihm wie ein lästiges Hindernis vor.
„William“, hörte er die Stimme seines Vaters, „was ist los mit dir? William, kannst du mir antworten? Hast du einen Schock? Was ist passiert, Junge?“
Warum kann ich nicht reden? Er atmete schneller, er spürte wie seine Lunge zu klein für die Laute, die er produzierten wollte, wurde. Er konnte spüren, wie sein Herz unregelmäßig stark gegen seine Rippen schlug und er hörte die Stimme seines Vaters dröhnend in seinem Kopf.
„William!“
Panik schwang in ihr mit. Sehr viel Panik, von der Will gar nicht gewusst hatte, dass Robert sie besaß.
„William!“
Sein Vater hatte ihn nie William genannt, er hatte verstanden, dass sein Sohn keinen komischen, veralteten Namen tragen wollte, sondern lieber eine Koseform des Namens.
Wenn sein Vater ihn William nannte, musste es erst sein, er konnte sich nicht einmal ausmalen, wie er aussehen musste, wenn sein Vater ihn William nannte.
„Will, wo sind die anderen? Wo sind Nate, Celine und Maire, kannst du mir das sagen, Will?“
Er wollte nicken, er wollte seinem Vater deutlich machen, dass seine Familie in diesem Raum war, aber es war ihm einfach nicht möglich, er konnte seinen Körper nicht kontrollieren, er bekam erneut Panik.
Dann spürte er wie die Arme seines Vaters ihn sanft in eine Richtung schoben, in Richtung des Sessels. Sein Vater ließ sich darauf nieder und legte ihm eine Hand auf den Kopf.
Fast augenblicklich lichteten sich seine Gedanken, das Panikgefühl verging und ihn überkam wieder das träge Gefühl, dass er als kleines Kind oft gehabt hatte, wenn sein Vater ihn in den Schlaf gewiegt hatte.
Er bemerke wie ihn Ruhe überkam, er kämpfte gegen den Drang an sich einen Daumen in den Mund zu stecken und daran zu saugen, stattdessen konzentrierte er sich auf seine Atmung und probierte sie zu normalisieren.
„William“, hörte er wieder die Stimme seines Vaters, „du musst mir sagen wo sie sind, bitte. Ich kann euch nicht helfen, wenn du mir nicht hilfst, bitte William.“
Will schluckte ein letztes Mal, seine Atmung war ruhig, sein Herz schlug mit gleichmäßiger Geschwindigkeit gegen seine Rippen, er konnte spüren wie die Zeit verging und er nahm seine Umgebung wieder detaillierter wahr. Das berauschte Gefühl lies nach, er hörte die Stimme seines Vaters nicht mehr wie aus der Ferne, sondern wieder klar, er bemerkte seinen besorgten Gesichtsausdruck und er wusste, dass er gerade einen verstörenden Eindruck machen musste. Er wusste nicht, ob er schon wieder reden konnte, aber er musste es versuchen, zumindest für Celine, Nate und seine Mutter.
„Nates Zimmer“, keuchte er schließlich erstickt, „sie sind in Nates Zimmer, hilf ihnen, bitte Daddy.“
Robert zuckte zusammen, William hatte ihn schon seit Jahren nicht mehr Daddy genannt. Eigentlich nicht mehr seit sie damals aus der Stadt weggezogen waren. William war damals zwar noch sehr jung gewesen, aber Robert hatte immer das Gefühl gehabt, Will hätte die wütenden Blicke bemerkt, die er ihm damals zugeworfen hatte und verstanden, dass Robert ihm teilweise die Schuld dafür gegeben hatte, auch wenn Robert das niemals ausgesprochen hatte.
Er hatte allerdings nicht viel Zeit sich über Wills ungewöhnliche Reaktion Gedanken zu machen, schließlich hatte er ihm gerade gesagt, wo Nate war, er musste ihn retten, genau wie er Celine und Maire retten musste.
Er sprang auf, ließ Will in seinem Stuhl sitzen, dann rannte er raus und stürmte den Gang entlang, den Will gerade eben schon zu ihm langgerannt war. Er bemerkte nicht mehr wie schnell er lief, er flog die Treppen förmlich hoch und raste durch die Gänge, dass die Bilder an seiner Seite verschwammen und sich zu sinnlosen Formen und Schlieren verzogen, die sein Blickfeld immer wieder kreuzten. Dann nahm er den süßlichen Duft von Magie war, er war schon sehr stark, als er ihn bemerkte und er kam eindeutig aus Nates Zimmer. Er riss die Tür auf und starrte auf das Bild, das sich ihm bot.
Nate seelenruhig in seinem Bett liegend, Celine und Maire davor, bewegungslos und mehr tot als lebendig. Er sank neben seinem Adoptivsohn zu Boden und fühlte seinen Puls.
Beruhigend pochte sein Puls gegen seine Finger und erfüllte ihn mit einem Gefühl der Beruhigung.
Als nächstes wandte er sich Maire zu. Ihr Puls flatterte unter ihren Fingern und beunruhigte ihn, genau wie der Puls von Celine ihm Schockwellen durch den Körper sandte.
„Dad, was haben sie?“, fragte Will auf einmal hinter ihm.
Robert war gar nicht aufgefallen, dass Will ihm gefolgt war, er hatte sich ja auch nicht umgeschaut, als er losgerann war. Wäre es ihm aufgefallen, wäre er langsamer gelaufen, so wie normale Menschen laufen.
Will schien jetzt viel ruhiger, als in seinem Zimmer und das obwohl auf dem Boden vor ihm seine halbtote Mutter und seine nicht lebendigere Schwester lagen. Robert war beunruhigt von seinem Verhalten, aber vermutlich lag das am Schock.
„Will, bitte geh raus.“
„Sag mir was du machst“, flehte Will ihn an. Er war heute schon rausgeschickt worden, als seine Mutter Nate hatte heilen wollen und als er wieder reingekommen war, waren seine Mutter und seine Schwester halbtot gewesen, er wollte nicht noch seinen Vater auf diese merkwürdige Art verlieren.
„Will, bitte. Du würdest nicht verstehen, was ich mache. Es würde dich verletzten.“
„Vater bitte, ich verspreche auch, dass ich auf mich aufpassen werde, aber ich möchte dich nicht verlieren, so wie ich Mutter und Celine fast verloren habe.“
„WILLIAM, geh jetzt sofort raus!“, brüllte Robert seinen Sohn entnervt an. Warum konnte Will nicht wie jeder normale Mensch einfach aus dem Zimmer gehen, wenn man ihn dazu aufforderte. Er würde schon nicht sterben, er musste nur Maire und Celine wieder ins Leben holen, aber dafür benötigte er Energie, die er nicht in Gegenwart Wills ausüben konnte.
Will zuckte zusammen, als sein Vater ihn zum widerholten Mal William rief, er war es nicht gewohnt von seinem Vater angebrüllt zu werden, es traf ihn wie eine Peitsche, die er auf ihn niedersausen ließ um ihn zu verletzten.
Enttäuscht drehte er sich um und ließ die Tür lautstark ins Schloss fallen, er konnte den Blick seines Vaters nicht länger ertragen.
Nachdem Will endlich den Raum verlassen hatte, beugte sich Robert wieder über seine Frau und seine Tochter, um Nate machte er sich im Moment keine Sorgen, der schien bestens versorgt mit der Kraft die Maire und Celine ihm gegeben hatten.
Als Robert den Raum betreten hatte, war ihm schon klar gewesen, was Maire gemacht haben musste und wozu sie Celine überredet hatte.
Maire hatte ihn bei Wills und Celines Geburt um einen Gefallen gebeten. Sie hatte einen Zauber kennenlernen wollen, mit dem sie ihre Kinder im Notfall wieder zum Leben erwecken konnte, wenn sie im Sterben liegen sollte. Ihr größter Albtraum, so wie der vermutlich jeder Mutter, war es, dass ihre Kinder sterben könnten.
Um ihre Sorge zu mindern, hatte Robert Maire den Energiezauber beigebracht. Er erlaubte es jedem Magier, der ihn kannte, Energie von seinem eigenen Körper auf den Körper eines anderen zu übertragen, wenn sich die beiden in einem abgetrennten System befanden.
Robert hatte damals gewusst, dass dieser Zauber möglicherweise auch den Tod seiner Frau bedeuteten könnte, aber es war der einzige Zauber in diese Richtung, den wirklich jeder Magier wirken konnte, egal wie stark er war.
Da Robert sowohl seine Frau als auch seine Tochter heilen musste, kam dieser Zauber nicht für ihn in Frage, er würde zu viel Energie verlieren und sterben, ohne das eine Garantie darauf bestand, dass seine Frau oder seine Tochter überleben würden.
Robert kannte den Zauber, den er wirken musste, er hatte ihn schon öfter ausgeübt, auch wenn der ihn eigentlich hasste.
Ihm war klar, dass Magie auch in Form von Energie vorlag, aber im Gegensatz zu seiner Frau wusste er auch, dass man diese Form der Magie auch wirken konnte, wenn man sie nicht visualisierte.
Die Macht die ein Magier besaß, lag im Blut des Magiers und war von Magier zu Magier unterschiedlich, es gab unterschiedlich starke Magier und je stärker der Magier, desto höher das magische Energieniveau in seinem Blut. Wurde diese Energie in Magie umgewandelt, was immer geschah, wenn ein Magier Magie wirkte, sank das Niveau, wurde aber wieder aufgefüllt, wenn der Magier zu Ruhe kam.
Die magische Energie konnte aber auch zu körperlicher Energie umgewandelt werden, wodurch Magier überdurchschnittlich hohe sportliche Leistungen erreichen konnten, weswegen sie auch so schnell laufen konnten.
Diese Form der Magie konnte man schon bei Kindern bemerken, bevor das komplette magische Potential in ihnen erwachte.
Da Robert bewusst war, dass die Energie eines Magiers im Blut lag, machte er sich dieses Wissen zu nutzen.
In seiner Hand erschien ein Messer, er biss die Zähne zusammen und bereitet sich mental auf den Schmerz, der folgen würde vor.
Mit einer geübten Bewegung schlitzte er sich den Unterarm auf. Ein Keuchen entwich seinem Mund und er starrte einen qualvollen Moment auf den Schlitz in seinem Unterarm, bis das Blut hervorquoll. Ein normaler Mensch hätte diesen Moment gar nicht so detailliert wahrnehmen können, aber für Robert war es eine gefühlte Ewigkeit bis endlich Blut aus dem Schlitz lief, die Klinge des Messers überzog, an dem scharfen Metall hinunterlief und schlussendlich zu Boden tropfte.
Eine Ewigkeit, bis er sich wieder vorstellen konnte, wie die Wunde versiegte und der brennende Schmerz nachlassen konnte.
Als die Wunde versiegt war, sah er die Klinge des Messers in seiner Hand an. Sie war blutverschmiert, das Blut tropfte immer noch auf den Teppich und das Parkett, aber Robert ignorierte es, genau wie die Erinnerung an den brennenden Schmerz, welcher noch vor wenigen Sekunden in seinem rechten Unterarm getobt hatte, welcher nun nicht mal mehr eine Narbe trug.
Magie konnte so viel heilen, aber auch so viel zerstören. Nur ein Blick auf die Körper seiner Frau und seiner Tochter führten ihm wieder die bloße Gewalt der Magie vor Augen.
Er kniete vor Maire nieder, ihr ging es schlechter als Celine. Es war wichtiger ihr zu helfen, als seiner Tochter.
Ein blauer Kreis erschien um Maire, als er sie auf seinen Schoß zog, eine blaue Wand aus Licht baute sich um ihn und seine Frau herum auf, als er sie in seine Arme schloss.
Es war keine liebevolle Umarmung und auch keine freiwillige, es war eine Pflicht für ihn, er musste es tun, er musste sie im Arm halten, auch wenn es ihm nicht gefiel.
Er umschlang sie mit dem rechten Arm und drückte sie fest an seinen Körper, in der linken Hand hielt er immer noch das Messer umklammert, mit welchem er sich die Pulsadern aufgeschlitzt hatte um seine Frau und seine Tochter zu retten.
Es fühlte sich für ihn nicht komisch an sie so zu halten, ihm fehlten die Emotionen um sie anders zu halten. In diesem Moment durchschlug seine Unfähigkeit mit anderen Leuten umzugehen alles andere und sie trieb ihn auch dazu, mit kalter, unmenschlicher Fassung weiterzuarbeiten.
Er ließ das Blut von der Messerklinge rinnen und vorsichtig in ihren Mund tropfen. Einzelne Blutstropfen landeten in ihren Mundwinkeln und flossen über ihr Gesicht nach unten, wo sie auf Roberts weißes Hemd tropfte.
Robert legte das Messer beiseite und beobachtete den Körper seiner Frau aufmerksam. Ihr Atem wurde ein bisschen tiefer, ihr Herzschlag ruhiger, aber sie schlug die Augen noch nicht auf.
Robert zuckte zusammen, eigentlich hätte die Magie in seinem Blut ausreichen müssen um sie wieder zum Leben zu erwecken, vor allem mit der Magie aus dem Kreis, welche die beiden in einem geschlossenen System absperrte.
Sein Blut hatte nicht gereicht, dann musste er es anders machen. Die stärkste Energiekonzentration war im Blut, also musste er es wieder über die Energieübertragung mit dem Blut probieren. Aber der Weg vom Mund zum Herzen war zu lang gewesen, oder sie hatte nicht mehr die Kraft gehabt es zu schlucken und aufzunehmen.
Robert legte Maire einen Moment zu Boden, ließ sie von seinem Schoß rutschen und hob das Messer mit der linken Hand wieder auf. Er hielt es zögernd in der Hand, dann krempelte er den rechten Ärmel wieder hoch und schlitzte seinen Arm erneut auf.
Das Blut quoll hervor, befleckte den Boden und den Teppich, floss auf seine Hose und befleckte den schwarzen Stoff und hinterließ feuchte, wenn auch unsichtbare Flecken auf ihr. Das alles interessierte Robert nicht wirklich, genauso wenig wie der stechende Schmerz der eingesetzt hatte, als er sich das Messer zum zweiten Mal in den Arm gerammt hatte und das leichte Schwindelgefühl, das mittlerweile einsetzte.
Das warme Blut floss in Strömen seine Hand hinunter, als er sich über Maire beugte. Sein Blut befleckte ihr Oberteil, es floss förmlich über das weiße Hemd, färbte es rot und klebte es an ihren Oberkörper, wodurch die Konturen ihres Oberkörpers nur zu gut zur Geltung kamen.
Robert ekelte sich vor sich selbst, als er bemerkte, dass es ihn trotz des Blutes erregte sie so zu sehen.
Er machte sich nicht die Mühe die Knöpfe ihres Oberteils zu öffnen, er krallte seine Finger in das durchweichte Gewebe des Stoffs und riss es ihr vom Leib.
Durch die weiße Haut schimmerten die blauvioletten Adern, durch die schwarzen Haare wirkte sie noch blasser als sowieso schon.
Roberts anfängliche Erregung ließ sofort nach, als er sah wie blass sie war, wie die Adern unter der blassen Haut durchschimmerten und wie alt sie aussah, obwohl sich weniger etwas an ihrem Aussehen, als an ihrer Ausstrahlung geändert hatte.
Robert atmete tief ein, als er sie so daliegen sah, dann nahm er das Messer und schlitzte Maires Brust auf. Direkt über dem Herzen. Er schlitzte nicht tief, gerade so, dass er ihr Herz nicht verletzte, aber trotzdem tief genug.
Er hielt seinen blutenden Arm über ihre Wunde und betete, dass der gewünschte Effekt auftreten würde. Die Magie des Kreises sollte dafür sorgen, dass Maire genau so viel Energie aufnahm, wie er benötigte. In Form von Blut. Ihr Körper würde so lange das Blut aufsaugen, das Robert ihr anbot, bis sie genug hatte.
Robert hoffe, dass Maire nicht ganz so viel Energie brauchte, ihm war schon sehr schwindelig und er konnte bereits einen Teil seines Körpers nicht mehr spüren.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Maires Wunde endlich aufhörte das Blut aufzusaugen, das Robert ihr anbot. Als ihre Wunde sich schloss, atmete Robert erleichtert aus, er hatte schon Angst gehabt, dass der Moment gar nicht mehr kommen würde und Maire ihn totsaugen würde.
Als sie die grünen Augen aufschlug, wurde Robert schwindelig – vor Glück. Sie war noch am Leben, sie war nicht gestorben, sie war … wunderschön.
Er wusste, dass es nicht richtig war, aber er beugte sich zu ihr herab und drückte seine warmen Lippen auf ihre kalten, vorhin noch halbtoten Lippen.
Sie war zu erschrocken um seinen Kuss zu erwidern, zu erschrocken um ihn von sich zu weisen, sie ließ ihn einfach gewähren und hoffte, dass er sich bald wieder unter Kontrolle bringen würde, normalerweise dauerten diese Phasen nie besonders lange.
Wie erwartet, löste sich Robert relativ schnell von seiner Frau. Er hatte instinktiv ihre Wunde geschlossen, danach seine eigenen.
Während er noch das Blut aus ihren Mundwinkeln küsste und seine Energie wieder aufnahm, flüsterte er ihren Namen. Immer wieder nur ihren Namen, nichts anderes.
Erst als Robert zitternd wieder die Hände von ihr abließ, seine Hände fest auf seine Schenkel presste und sich darauf konzentrierte sie nicht so anzusehen, als ob er sie gerade im Moment extrem attraktiv fand, bemerkte Maire, dass sie kein Oberteil mehr trug, sondern lediglich einen BH.
Einen blutverschmierten BH.
Genau genommen waren auch ihre Brüste blutverschmiert.
Ihr ganzer Oberkörper war blutverschmiert.
Aber sie sah besser aus als Robert. Sein rechter Unterarm war bis zu den Fingerspitzen blutverschmiert, seine Hose ebenfalls, er kniete in einer Blutlache, die er anscheinend selber verursacht hatte. Er hätte leichenblass sein sollen, aber stattdessen waren seine Wangen gerötet und er sah verlegen zu Boden.
Sie wollte etwas sagen, irgendetwas geistreiches, aber alles was sie herausbrachte war: „Robert, ich … du … mein Oberteil.“
Robert errötete noch mehr, als sie den Umstand ansprach. Erst jetzt fiel ihm auf, dass zwei seiner drei Kinder im selben Zimmer waren und der dritte vor der Tür stand. Das alles weckte in ihm den Wunsch seiner Frau ein Oberteil zu reichen, aber ihres war blutverschmiert, dass konnte er ihr beim besten Willen nicht anbieten.
„Ähm, also…“, stotterte er, „ich würde dir ja gerne dein Oberteil geben, aber es ist voller Blut, ich musste es zerreißen um dich zu retten …“
Maire öffnete den Mund zum Protest, als hätte sie etwas sagen wollen, aber ihr kam kein sinnvoller Protest in den Kopf, keiner den sie hätte erwähnen können, keiner der sinnvoll war.
„Dann gib mir deins“, forderte sie schließlich gebieterisch.
„Du willst mein Hemd haben?“, widerholte Robert verwirrt. Es war nicht Besonderes zwischen den beiden, dass sie sich die Kleidungsstücke des Partners ausliehen – solange der Schnitt es zuließ – aber Robert missfiel es trotzdem in diesem Moment ihr sein Hemd zu geben.
„Ja, ich möchte nicht vor meinem Adoptivsohn und meiner Tochter nur in BH dastehen“, antwortete Maire etwas gereizt, „Celine möchte ihre Mutter bestimmt auch nicht in BH sehen und Nate würde es vermutlich gerne machen, aber mir wäre es lieb er würde mich nicht so sehen, nicht wahr Celine, nicht wahr Nate?“
Erwartungsvoll hoffte sie auf eine Antwort. Robert verstand erst gar nicht, warum sie so erwartungsvoll lauschte, dann verstand er. Sie hatte erwartet, dass er sich zuerst um Nate und Celine kümmern würde und erst danach um sie.
„Nate, Celine? Warum antwortet ihr mir nicht?“, fragte Maire überrascht. Nach einer längeren Pause wandte sie sich an Robert. „Hast du sie schon nach draußen geschickt, damit du dich in Ruhe um mich kümmern kannst?“, wandte sie sich nervös an Robert.
Dieser hustete nervös, während er dem erwartungsvollen Blick seiner Frau probierte standzuhalten. „Also genau genommen müsste man sagen, dass ich noch gar nicht probiert habe Celine zu retten“, brachte er schließlich hervor.
Maires Gesichtsausdruck wandelte von erschrocken zu verständnislos zu angeekelt, wie konnte er es wagen sich zuerst um sie zu kümmern anstatt sich zuerst um ihre Tochter zu sorgen?
„Du hast was?“, fragte sie ihn schockiert. „Warum, wie konntest du nur?“, kreischte sie ihn hysterisch an. „Du hast dich um mich gekümmert, aber nicht um sie, ich meine, sie ist deine Tochter, du solltest dich zu allererst um sie kümmern …“
Robert unterbrach sie mit einem liebevollen, aber bestimmten Kuss, der ihr das Wort im Mund abschnitt.
Angeekelt stieß sie ihn von sich, wie konnte er es wagen sie jetzt so zu küssen, während sie mit ihm über ihre Kinder redete? Wie konnte er es überhaupt wagen sie so zu küssen, wenn sie nur so wenig trug wie im Moment? Das verstieß gegen sämtliche Manieren und passte gar nicht zu Robert.
„Du kannst mich nicht einfach auf so unhöfliche Weise unterbrechen, während ich gerade mit dir über unsere Kinder rede! Sie sind auch deine Verantwortung, genau wie sie meine sind! Und du solltest sie mir vorziehen, du solltest dich an erster Stelle um sie und erst danach um mich sorgen!“
Robert ließ resigniert den Kopf hängen, er hatte gedacht er würde ihr einen Gefallen tun, wenn er sich zuerst um sie sorgte, stattdessen hatte er sie angewidert mit seinem Verhalten.
„Aber dein Herzschlag war weniger kräftig“, probierte Robert verzweifelt seine Entscheidung zu rechtfertigen und ihr klarzumachen, warum er so gehandelt hatte, „du warst kaum noch am Leben, ihr hingegen fehlte nicht besonders viel…“
„Selbst wenn ihr nur ein bisschen fehlt, ist das zu viel!“, brüllte Maire ihn an. „Du solltest dafür sorgen, dass es ihr gut geht, komplett gut, egal ob mir etwas fehlt oder nicht!“
Robert hatte Maire noch nie so wütend gesehen. Nicht als er Nate damals ungefragt mit nach Hause gebracht hatte und ihn adoptiert hatte, nicht als er den letzten Hochzeitstag vergessen hatte, nicht einmal als er die Geburt seiner Kinder fast verpasst hatte.
Jetzt schimmerten ihre Wangen tiefrot vor Zorn, ihr Atem ging schnell und sie sah nicht aus, als würde sie sich beruhigen lassen wollen.
„Du kümmerst dich jetzt sofort um mich!“, brüllte sie Robert an. „Noch bevor du irgendetwas machst, wirst du dich um Celine kümmern! Jetzt sofort!“
Roberts Blick wandte sich langsam von ihrem unbekleideten Oberkörper ab und wandte sich der am Boden liegenden Celine zu.
Er probierte in seinem Herzen zu verstehen, was Maire ihm hatte erzählen wollen, warum er zuerst an Celine zu denken hatte und danach an jemand anderen, aber es ging ihm nicht in den Kopf, warum er sich zuerst um Celine hätte kümmern sollen, obwohl seine Frau im Sterben gelegen war.
Um sie zu beschwichtigen, beschwor er ein Oberteil herauf. Es war ein Oberteil, welches Maire sich schon lange gewünscht hatte und mit dem Robert die Hoffnung besaß sie einfach zu besänftigen und zu beruhigen.
Maire freute sich zwar nicht so sehr wie erhofft über das neue Oberteil, aber sie freute sich, was Robert durchaus glücklich stimmte und ihm ein Gefühl der Befriedigung verschaffte, weil er es immer noch schaffte seine Frau glücklich zu machen, auch wenn sie eigentlich extrem sauer auf ihn war.
Dann wandte er sich wirklich seiner Tochter zu. Er schlitzte sich diesmal nicht den Arm auf, so schwer war Celine zum einen nicht verwundet, zum anderen fehlte ihm schlicht und ergreifend die Kraft um Celine auf diese Art und Weise zurück ins Leben zu holen.
Stattdessen strich er mit einer Hand über das Gesicht seiner Tochter, während er ihr mit der anderen Hand über ihr Gesicht strich und ihr seinen warmen Atem ins Gesicht blies um sie wieder lebendig zu machen.
„Und das soll helfen? Ihr ins Gesicht zu pusten und zu beten, dass es ihr wieder gut geht?!“, fragte Maire gereizt, er sollte ihr helfen und nicht probieren Staub von ihrem Gesicht zu pusten.
„Könntest du bitte einmal leise sein?“, fauchte Robert sie lediglich an. Er musste sich konzentrieren und er konnte es sich nicht erlauben sich stören zu lassen, dass konnte dazu führen, dass er sich nicht genau auf Celine konzentrieren konnte und ihr damit auch nicht helfen konnte.
Maire hielt verbissen den Mund, sie musste sich eingestehen, dass Robert der bessere und vor allem der mächtigere Magier wahr, aber es gefiel ihr trotzdem nicht, dass sie ihm ihre Tochter praktisch willenlos übergeben musste. Sie hätte ihr viel lieber selber geholfen.
Robert registrierte erleichtert, dass Maire endlich still war. Er beugte sich wieder über Celine und blies ihr seinen warmen Atem ins Gesicht. Ihre Haare bewegten sich leicht, ihre Wimpern bebten, ansonsten tat sich nicht besonders viel.
Er blies noch einmal sanft über ihr Gesicht, dann begann er einige Zeilen zu murmeln, von denen Maire keine einzige verstand. Ihr Geist sagte ihr, dass Robert gerade keine allzu reine Magie anwandte, sondern bestimmt etwas Schwarzmagisches darin mitschwang, es war ihr allerdings egal, solange er dafür sorgte, dass es Celine wieder besser ging.
Robert biss sich auf die Lippe, als er seinen Sprechgesang beendet hatte. Er kauerte im blutigen Oberteil über Celine und umklammerte jetzt ihre Hände statt wie zuvor ihre Haare festzuhalten.
„Celine, bitte“, wimmerte Maire, als sie sah, dass ihre Tochter sich nicht rührte. „Celine, du kannst mir das nicht antun, denk doch mal an Daddy und mich“, wimmerte sie.
Es war schon lange her, dass Maire Robert für ihre Tochter „Daddy“ genannt hatte. Damals war Celine gerade zwölf gewesen und hatte gefragt, warum Maire Robert immer „Daddy“ nannte, obwohl er doch gar nicht ihr Daddy war.
Maire hatte nur gelacht und Celine erklärt, dass sie ihn seit der Geburt von Will und ihr immer so genannt hatte, obwohl sie natürlich kein Kind von Robert war.
Celine hatte es damals nicht verstanden und gemeint, sie könnte ihn ruhig Robert nennen, sie könne sich schon alleine merken, dass er ihr Daddy war, sie müsse nicht immer daran erinnert werden.
Maire musste bei der Erinnerung daran schmunzeln, auch wenn ihr die Tränen in den Augen standen und sie verzweifelt probierte nicht um ihre einzige Tochter zu weinen, sondern sie am Leben zu erhalten.
Roberts Finger hatten in der Zwischenzeit die Halsschlagader von Celine gefunden und er fühlte ihren Puls statt wie ihre Mutter nur in der Gegend zu stehen und zu wimmern.
Kräftig schlug ihr Puls gegen seine Finger und verlieh ihm wieder neue Hoffnung. Obwohl sie die Augen noch nicht aufgeschlagen hatte, ging ihr Atem gleichmäßig und ruhig, ihr Puls war ebenfalls wieder gleichmäßig und stark, wenn er gegen seine Finger klopfte.
„Robert, tu doch irgendetwas, du kannst doch nicht zulassen, wie unserer Tochter stirbt, du bist doch ihr Vater“, wimmerte Maire wieder entsetzt auf, sie hatte Roberts erleichterten Gesichtsausdruck wohl falsch gedeutet. „Und jetzt freust du dich wohl noch darüber, dass sie im Sterben liegt, oder wie?“, keifte sie ihn an. „Du bist abstoßend!“
„Maire, beruhige dich“, wandte Robert sich an seine hysterische Frau. „Celine geht es gut, sie wird nur noch eine Weile schlafen, genau wie Nate, in Ordnung. Ihnen geht es beiden gut, hast du verstanden? Ich war rechtzeitig hier.“
Maire schluckte. Sie konnte die Beleidigungen, die sie ihm gerade an den Kopf geworfen hatte, nicht so einfach zurücknehmen, dafür waren sie zu tiefgreifend gewesen. Stattdessen neigte sie unterwürfig den Kopf und nuschelte ein „Danke“.
Robert schüttelte langsam den Kopf. „Du musst dich nicht demütig verhalten. Du hattest eben Panik, in der Tat nichts, was ich nachvollziehen kann, aber viele Leute werden panisch, wenn ihre Liebsten im Sterben liegen, deshalb musst du dich nicht entschuldigen.“
Maire probierte aus dem Satz ihres Mannes schlau zu werden. Hatte er gerade wirklich gesagt, dass er nicht nachvollziehen konnte, dass sie panisch geworden war, als sie ihre Tochter hatte am Boden liegen sehen? Er war doch abstoßend, zumindest für diesen Gedanken musste sie sich nicht entschuldigen.
Statt auf seinen Kommentar einzugehen, sagte sie nur: „Der Boden, er ist voller Blut, wir müssen etwas dagegen machen, bevor die Kinder wieder wach werden und es so sehen können.“
„Geht es dir gut, Maire?“, fragte Robert sie nur, statt etwas gegen das Blut zu unternehmen. „Du weichst mir normalerweise nie aus, aber jetzt tust du es andauernd, ist etwas?“
„Wir müssen etwas gegen das Blut machen!“, brüllte Maire ihn hysterisch an. Was war los mit ihr? Warum reagierte sie schon bei ein bisschen Blut so über, normalerweise war sie doch die Abgehärtetere.
Ein kleiner Wink mit der Hand und das Blut am Boden und an seiner Kleidung war verschwunden. Robert besaß im Gegensatz zu Maire keine Hemmungen einfach so mit Blut zu hantieren – was als Arzt möglicherweise auch seine Vorteile besaß.
Maire atmete erleichtert aus, als das Blut verschwunden war. Sie legte Nate vernünftig auf sein Bett und bat Robert Celine in ihr Zimmer zu bringen, wobei sie ihn allerdings begleitete, sie wollte nicht riskieren, dass ihrer Tochter möglicherweise noch etwas passierte.
Will stand immer noch vor der Tür. Als Maire und Robert das Zimmer verließen, betrachtete er die beiden. Als er seine Schwester sah, die Robert zärtlich im Arm trug, drehte er sich nur um und verschloss sich in seinem Zimmer.
Tag der Veröffentlichung: 01.09.2017
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