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Leseprobe

Antoine de Saint-Exupéry

Der kleine Prinz

neu übersetzt von Alexander Varell
mit den Original-Illustrationen des Verfassers

aionas kinderbuch

Auf seiner Reise von Planet zu Planet begegnet der kleine Prinz in der afrikanischen Wüste einem notgelandeten Piloten. Nach und nach offenbart ihm der kleine Prinz das Geheimnis seiner Herkunft und berichtet von seiner Rose, seinen Erlebnissen bei den »großen Leuten« und seiner Freundschaft mit dem Fuchs. Dabei entfaltet er seine ganze Lebensweisheit rund um echte Freundschaft, Liebe, Glück und Menschlichkeit, Weisheiten, die bereits 140 Millionen Leser weltweit zu tiefem Nachsinnen angeregt haben. »Man sieht nur mit dem Herzen gut.«

Antoine de Saint-Exupérys (1900–1944) Meisterwerk gehört zu den wichtigsten Büchern des 20. Jahrhunderts und wurde weltweit in über 210 Sprachen übertragen. Weitere Werke von Saint-Exupéry sind u.a. »Die Stadt in der Wüste«, »Bekenntnisse einer Freundschaft«, »Wind, Sand, Sterne«, »Nachtflug« und »Südkurier«.

 

 

 

aionas Verlag, Marstallstr. 1, Weimar

1. Auflage, 2015

Übersetzung: Alexander Varell

ISBN (Print): 978-1508548737

FÜR LÉON WERTH

Entschuldigt bitte, dass ich dieses Kinderbuch einem Erwachsenen widme. Das hat nämlich einen wichtigen Grund: Er ist der beste Freund, den ich in der Welt habe. Ich habe einen weiteren Grund: Er versteht alles, auch die Bücher für Kinder. Ich habe auch noch einen dritten Grund: Er wohnt in Frankreich, wo er hungert und friert. Er muss wirklich getröstet werden. Wenn euch diese Gründe allesamt nicht genügen, widme ich das Buch dem Kind, das dieser Erwachsene einmal war. Alle großen Leute waren einmal Kinder (aber nur wenige erinnern sich daran). So verbessere ich also meine Widmung:

FÜR LÉON WERTH
ALS ER EIN JUNGE WAR

1

Als ich sechs war, sah ich einmal ein wunderbares Bild in einem Buch über den Dschungel, das »Wahre Geschichten« hieß. Auf dem Bild war eine Königsschlange, die gerade ein wildes Tier verschlingen wollte. Hier ist eine Kopie des Bildes:

In diesem Buch heißt es: »Boas verschlingen ihre Beute als Ganzes, ohne zu kauen. Danach können sie sich nicht mehr bewegen und schlafen sechs Monate zur Verdauung.«

Ich grübelte daher viel über die Ereignisse im Dschungel. Mit einem Farbstift gelang mir meine erste Zeichnung. Meine Zeichnung Nummero 1. Sie sah so aus:

Ich legte mein Meisterwerk den großen Leuten vor und fragte sie, ob ihnen die Zeichnung nicht Angst mache.

Sie sagten: »Warum sollten wir Angst vor einem Hut bekommen?«

Meine Zeichnung stellte aber gar keinen Hut dar. Es war eine Riesenschlange, die einen Elefanten verdaut. Ich zeichnete also das Innere der Boa, damit es die großen Leute genau erkannten, denn sie brauchen immer Erklärungen. Meine Zeichnung Nummero 2 sah so aus:

Die großen Leute rieten mir dann, das Zeichnen von offenen oder geschlossenen Boas bleiben zu lassen und mich mehr mit Geographie, Geschichte, Mathematik und Grammatik zu beschäftigen. So kam es, dass ich im Alter von sechs eine wunderbare Karriere als Maler aufgab. Ich hatte durch das Scheitern meiner Zeichnungen Nummero 1 und Nummero 2 meinen ganzen Mut verloren. Die großen Leute verstehen nie etwas von selbst. Und für die Kinder ist es viel zu mühevoll, ihnen die Dinge immer und immer wieder von neuem zu erklären.

Ich musste mir also einen anderen Beruf wählen, und ich lernte Flugzeuge zu fliegen. Ich flog durch die ganze Welt. Die Geographie, das ist richtig, hat mir gute Dienste dabei geleistet. Auf den ersten Blick kann ich nun China von Arizona unterscheiden. Das ist besonders hilfreich, wenn man sich in der Nacht verirrt hat.

In meinem Leben lernte ich viele bedeutende Menschen kennen. Ich lebte mit ihnen zusammen und beobachtete sie ganz genau. Doch an meiner Meinung über sie änderte sich nichts.

Immer, wenn ich jemanden traf, der mir ein wenig schlauer vorkam, zeigte ich meine Zeichnung Nummero 1, die ich mir dafür aufgehoben hatte. Ich wollte wissen, ob er sie verstand. Aber alle antworteten sie nur: »Dies ist ein Hut.« Dann wusste ich, dass ich mit diesen Leuten nicht über Boas oder den Dschungel reden konnte. Mit ihnen sprach ich über Brettspiele, Golf, Politik und Krawatten. Die großen Leute waren dann immer froh, einen vernünftigen Mann kennengelernt zu haben.

2

So kam es, dass ich allein lebte und niemanden hatte, mit dem ich mich wirklich unterhalten konnte, bis ich vor sechs Jahren in der Sahara eine Panne hatte. Etwas in meinem Motor war gebrochen. Weil ich aber weder einen Mechaniker, noch Passagiere an Bord hatte, machte ich mich ganz allein an die schwierige Reparatur. Es ging für mich um Leben oder Tod, denn ich hatte Trinkwasser für nur acht Tage.

Tausend Meilen von jeder bewohnten Gegend entfernt schlief ich in der ersten Nacht im Sand. Ich fühlte mich einsamer als ein schiffbrüchiger Matrose auf einem Floß im Ozean. Umso größer war meine Überraschung, als mich bei Sonnenaufgang eine seltsam kleine Stimme weckte. Sie sagte:

»Bitte ... zeichne mir ein Schaf!«

»Äh?«

»Zeichne mir ein Schaf ...«

Ich sprang auf die Füße, als hätte mich der Blitz getroffen. Ich rieb mir die Augen und schaute ganz genau hin. Da entdeckte ich einen kleinen außergewöhnlichen Mann, der mich ernst betrachtete. Dies ist das beste Porträt, das mir später von ihm gelang. Aber meine Zeichnung ist bestimmt nicht so liebenswürdig wie das Original. Das ist aber nicht meine Schuld. Als ich im Alter von sechs, von den Leuten ganz entmutigt, meine Karriere als Maler aufgab, konnte ich nichts weiter zeichnen als offene und geschlossene Riesenschlangen.

Mit großen Augen starrte ich also diese Gestalt an. Vergesst dabei nicht, dass ich tausend Meilen von jeder bewohnten Gegend entfernt war. Der kleine Mann schien sich weder verirrt zu haben, noch sah er todmüde, verhungert, verdurstet oder ängstlich aus. Er sah nicht wie ein verlorenes Kind in der Wüste aus, das tausend Meilen von jeder menschlichen Behausung entfernt war. Als ich meine Sprache wiedergewann, sagte ich zu ihm:

»Aber ... was machst du denn hier?«

Und dann wiederholte er langsam, als wäre es eine sehr ernste Sache:

»Bitte ... zeichne mir ein Schaf ...«

Wenn etwas Geheimnisvolles besonders beeindruckend ist, kann man nicht widerstehen. So absurd es mir auch erschien, in Todesgefahr tausend Meilen von jeder menschlichen Behausung entfernt, ich nahm aus meiner Tasche ein Blatt Papier und einen Füllfederhalter. Doch dann erinnerte ich mich wieder, dass ich vor allem Geographie, Geschichte, Mathematik und Grammatik studiert hatte. So sagte ich dem kleinen Kerl (ein wenig verärgert), dass ich nicht zeichnen könne. Er antwortete:

»Kein Problem. Zeichne mir ein Schaf.«

Da ich noch nie ein Schaf gezeichnet hatte, zeichnete ich ihm eines der beiden Bilder, die ich nur zeichnen konnte. Das von der Boa. Ich war sehr erstaunt, als ich den kleinen Mann sagen hörte:

»Will ich nicht! Will ich nicht! Ich will keinen Elefanten in einer Riesenschlange. Eine Boa ist sehr gefährlich und ein Elefant braucht zu viel Platz. Bei mir zu Hause ist es viel zu klein. Ich brauche ein Schaf. Zeichne mir ein Schaf.«

Also zeichnete ich eines:

Er sah es aufmerksam an und sagte:

»Will ich nicht! Das ist sehr krank. Zeichne ein anderes.«

Ich zeichnete dieses:

Mein Freund lächelte nun sanft und nachsichtig:

»Sieh doch … das ist kein Schaf, es ist ein Widder. Er hat Hörner …«

Also machte ich noch eine weitere Zeichnung:

Aber auch sie wurde abgelehnt wie die beiden zuvor:

Dieses ist zu alt. Ich will ein Schaf, das noch lange leben wird.

Mir ging nun die Geduld aus, denn ich musste ja unbedingt meinen Motor reparieren, so kritzelte ich diese Zeichnung:

Und ich brummte:

»Das ist eine Kiste. Das Schaf, das du willst, ist dort drin.«

Ich war sehr überrascht, als sich das Gesicht meines jungen Kritikers aufhellte:

»Es ist ganz so, wie ich es wollte! Glaubst du, dass das Schaf viel Gras benötigt?«

»Warum?«

»Da, wo ich lebe, ist alles sehr klein …«

»Es wird sicher genug haben. Es ist ein kleines Schaf.«

Er beugte sich über die Zeichnung:

»Nicht so klein, wie … Schau nur! Es ist eingeschlafen …«

So machte ich meine Bekanntschaft mit dem kleinen Prinzen.

Das ist das beste Porträt, das mir später von ihm gelang.

3

Es dauerte lange, bis ich verstand, woher er kam. Der kleine Prinz, der mir so viele Fragen stellte, schien mir selbst nie zuzuhören. Stück für Stück offenbarten sich mir seine Worte. Als er zum ersten Mal mein Flugzeug sah (ich werde keine Zeichnung von meinem Flugzeug machen, das ist mir viel zu kompliziert), fragte er mich:

»Was ist das denn für ein Ding?«

»Das ist kein Ding. Es fliegt. Das ist ein Flugzeug. Es ist mein Flugzeug.«

Und ich war stolz, ihm zu sagen, dass ich fliege. Da sagte er:

»Wie! Bist du vom Himmel gefallen?«

»Ja«, sagte ich bescheiden.

»Ah! Das ist lustig …«

Da bekam der kleine Prinz einen riesigen Lachanfall, was mich sehr verärgerte. Ich wünschte mir, dass er mein Unglück ernst nehmen würde. Da sagte er noch:

»Du kommst also auch aus dem Himmel! Von welchem Planeten bist du denn her?«

Da ging mir ein Licht über das

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 27.02.2015
ISBN: 978-3-7368-8116-7

Alle Rechte vorbehalten

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