Markus stieß mir den Ellbogen in die Seite.
„Au! Was ist denn?“, fragte ich genervt. Das war heute schon das dritte Mal.
„Guck mal, wie scharf Julia heute aussieht. Und die Lehrer wundern sich, warum wir uns nicht auf den Unterricht konzentrieren können“, lachte er. Dabei zuckte seine Nase. Markus hatte schon immer so seltsam gelacht. Die braunen Augen weit aufgerissen und den Mund mit den strahlend weißen Zähnen zu einem breiten Lachen verzogen.
„Vielleicht ist die Kartoffel heute krank. Dann können wir eine Pizza in der Stadt essen, ich hab‘ schon wieder einen riesen Hunger“, stöhnte er.
Es war erst halb acht. „Ist es nicht ein bisschen früh für Pizza?“
„Alter, es ist niemals zu früh für Pizza. Ich könnte drei verdrücken.“
Das stimmte. Sein Rekord lag bei vier Pizzen hintereinander. Obwohl Markus ziemlich dünn war, konnte er den ganzen Tag essen, ohne zuzunehmen. Ich konnte das von mir leider nicht behaupten. Ich war nicht übermäßig dick, aber ein paar Kilos weniger würden mir auch nicht schaden. Und Muskeln hatte ich auch so gut wie keine. Die Haare hingen mir immer in der Stirn und meine Klamotten hatten auch schon besser ausgesehen. Ich beneidete Markus, dass er besser aussah als ich, und auch bessere Noten schrieb. Aber vorallem beneidete ich ihn darum, dass er seine Freundin wechselte wie seine Unterwäsche. Ich dagegen hatte noch nie eine Freundin, und der einzige Kuss war mit Maddy auf einer Geburtstagsfeier gewesen. Wir waren beide betrunken gewesen, und der Kuss hatte mich nicht ganz unberührt gelassen. Als Maddy das gesehen hatte, war sie rot geworden, und hatte seitdem nicht mehr mit mir geredet.
Markus holte mich mit seinem lauten Aufstöhnen aus meinen Gedanken. Frau Kaffel, meist wegen ihrer runden Figur Kartoffel genannt, war endlich zum Unterricht erschienen.
„Tut mir Leid für die Verspätung, aber ich musste noch schnell etwas kopieren“, lächelte sie, „denn wir werden jetzt einen kleinen Test über den Ablauf der Photosynthese schreiben.“
Seufzer und leises Murren erfüllten die Klasse. Mit einem Biologietest hatte niemand gerechnet. Markus verdrehte die Augen und fluchte. Frau Kaffel reichte jeden Schüler ein Blatt. Als sie gerade bei Kati angekommen war, öffnete sich die Tür zum Klassenzimmer und Lia betrat mit roten Kopf den Raum.
„Schön, dass sie auch endlich auftauschen, Fräulein Masser. Setzen sie sich, wir schreiben einen kleinen Test. Ich hoffe, sie haben sich ausreichend vorbereitet.“
Lia senkte den Kopf und schlich leise zu ihrem Platz in der hintersten Reihe des Zimmers. Ihre langen Haare lagen in weichen Wellen auf ihren Schultern, die Jeans spannte ein wenig über ihrem wohlgeformten Hintern.
Lia redete nicht viel. Ich wusste nichts über sie, eigentlich hatte ich mich noch nie mit ihr unterhalten. Sie hatte keine Freunde, aber ich war mir ziemlich sicher, dass sie auch keine wollte. Jedenfalls versuchte sie nicht krampfhaft Anschluss an eine Gruppe zu finden, und ließ die Lästereien und Sprüche mühelos über sich ergehen.
Ich sah, wie sie sich über das Aufgabenblatt beugte, und konnte einen Blick in ihren Ausschnitt erhaschen. Sie bemerkte meinen Blick und sah mich ärgerlich mit ihren kastanienbraunen Augen an. Schnell sah ich auf die Aufgaben. Ich sollte nicht zu viel über sie nachdenken. Sie war einfach ein Mädchen, das nirgendwo hinein zu passen schien. Nichts weiter.
Regen. Ich mochte Regen nur, wenn ich drinnen war und nicht nass werden konnte. Nun musste ich aber auf meinen Bus warten, nachdem ich den Biotest verhauen und mich von Markus verabschiedet hatte. Der war schon zu seinem Zug gelaufen. Bestimmt war er klatschnass und ärgerte sich über seine ruinierte Frisur. Markus stand jeden Tag sogar eine Stunde früher auf, um seine Haare zurecht zu machen. Von dieser Stunde Arbeit war bestimmt nicht mehr viel übrig. Ich musste grinsen.
Aber jetzt musste ich erst einmal jemanden finden, bei dem ich mich mit unter den Regenschirm stellen konnte. Doch ich konnte niemanden aus meiner Klasse sehen.
Ich erblickte ein schlankes blondes Mädchen. Leonie. Sie war dafür bekannt jeden Jungen, den sie wollte, um den Finger wickeln zu können, nur um ihn dann wieder fallen zu lassen, und sich schließlich zusammen mit ihren dick geschminkten Freundinnen über diesen Jungen lustig zu machen.
Ich fand sie nicht schön, nicht einmal hübsch. Sie war zu makellos, wie eine perfekte Puppe. Ich glaubte nicht daran, dass sie versuchen würde mich anzumachen. Dafür war ich nicht gut genug. Ich wusste, dass Markus ein paar Mal etwas mit ihr hatte und mit seinem besten Freund würde sie bestimmt nichts anfangen. Also ging ich auf den pinken Regenschirm zu, der aus der Masse der schwarzen Schirme herausstach, wie ein Papagei zwischen Spatzen.
„Hi, Leonie. Darf ich mich mit unter deinen Schirm stellen? Ich hab keine Lust, total nass zu werden“, fragte ich sie mit einem kleinen Lächeln. Sie zog ihre perfekt gezupfte Augenbraue nach oben, doch dann lächelte sie breit mich an und zwinkerte:
„Klar, ich kann dich ja nicht einfach im Regen stehen lassen, wenn du schon so nett fragst." Diese Gespräch schlug keine gute Richtung ein. Ich versuchte, mich irgendwie herauszureden:
„Danke, aber eigentlich bin ich nur zu dir gekommen, weil ich niemanden…“
„Das ist doch egal, “ unterbrach sie mich, „wie lief Bio bei dir? Ich hab den Test total versaut. Meine Eltern bringen mich um. Jetzt wo ich keinen Freund mehr habe, waren sie kurz davor, mir… Hörst du mir überhaupt zu?!“, fragte sie mich verärgert.
„Was? Achso, ja, ich höre dir zu, “ stammelte ich, und sie fuhr in ihrem Wortschwall fort:
„Ich meine, manche Menschen sind wirklich unfreundlich. Lia zum Beispiel. Ich hab sie vorhin gefragt, warum sie in den Pausen immer auf der Mädchentoilette verschwindet. Ich denke ja immer noch, dass sie ihr Mittagessen wieder hervorholt, sie ist doch ziemlich dünn. Jedenfalls hat sie mir gesagt, das würde mich nichts angehen. Stell dir das doch mal vor. Sie kann doch nicht einfach so mit mir reden. Aber ich hab ihr dann schon gezeigt, dass man so nicht mit mir umspringen darf.“
Sie hatte aufgehört zu reden. Ich wusste, dass Leonie sehr nachtragend sein konnte, letztes Jahr hatte sie einem Jungen, der mit ihr Schluss gemacht hatte, Abführmittel in die Wasserflasche geschüttet. Wer konnte schon wissen, was sie mit einem Mädchen machte, dass nicht nach ihrer Pfeife tanzte.
„Was hast du mit ihr gemacht?“, fragte ich und versuchte so beiläufig wie möglich zu klingen.
„Jetzt mach dir nicht gleich ins Hemd. Ich hab nur heute nach Sport ihre Kette beim Umziehen gefunden, als sie sich noch mit dem Lehrer unterhalten hat. Sie bekommt sie wieder, sobald sie sich entschuldigt hat.“
„Leonie, das kannst du doch nicht machen, du musst ihr die Kette zurückgeben“, fuhr ich sie an.
„Was ist denn in dich gefahren? Stehst du etwa auf die Verrückte? Ich gebe dir einen Tipp: Bleib von ihr fern, mit der stimmt irgendetwas nicht. Halt dich lieber an die richtigen Mädchen“, erwiderte Leonie ärgerlich, drehte sich um und ließ mich verdutzt im Regen stehen.
Ich versuchte, mich auf das Geräusch des Regens zu konzentrieren, aber meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Was hatte Leonie gemeint? Lia war anders, sie schien nirgendwo hinein zu gehören, aber sie war doch nicht verrückt. In dem Moment fuhr mein Bus in die Straße ein und ließ mich das seltsame Mädchen vergessen.
Lia
Ich spürte den Regen, wie er mein Gesicht hinunterlief, die nassen Haare klebten an meinem Rücken, aber das störte mich nicht. Regen war perfekt. Ich folgte dem Feldweg der zum Wald führte, meine Schritte wurden immer schneller. An der großen Fichte schaute ich mich hektisch um, aber bei dem Wetter waren keine Spaziergänger unterwegs. Ich schob das Gestrüpp über dem Graben an der Seite des Weges ein wenig zur Seite, bis ich den Durchgang fand, den ich schon vor ein paar Jahren entdeckt hatte. Schnell brach einen Zweig von einem Busch ab und verwischte meine Fußspuren, die ich im Matsch hinterlassen hatte. Niemand durfte mir folgen. Niemand durfte mich sehen. Ich ging einen anderen Weg zur kleinen Lichtung im Herzen des Waldes. Ich konnte nicht immer den selben Weg einschlagen, man würde früher oder später einen Trampelpfad erkennen. Als ich auf der Lichtung angekommen war, schloss ich die Augen und atmete tief durch. Es konnte los gehen.
Tag der Veröffentlichung: 10.01.2014
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