Hast du je die Wand in deinem Kopf bemerkt?
Diese Wand, die dich von all dem Unsinn und all dem Verantwortungslosen trennt, denn du theoretisch tun könntest, aber doch irgendwie nicht. Die dich z.B. davon abhält, am helllichten Tage nackt durch die Stadt zu laufen oder alles Geld, das du besitzt, zu packen, in eine Schale zu legen und zu verbrennen. Warum du so etwas tun solltest, magst du fragen, etwas ohne Nutzen, das nur Probleme bringt. Aber warum ist doch egal.
Stell dir nur mal vor, du würdest es wollen. Könntest du es tun? Theoretisch ja, denn wo ist schon groß der Unterschied, zwischen nackt in die Dusche steigen und nackt eine Straße entlang gehen, dazwischen ein Stück Papier zu verbrennen oder einen Geldschein? Aber könntest du es wirklich tun?
Wahrscheinlich nicht. Alles in dir würde sich dagegen sträuben, alle Vernunft, jeglicher menschliche Verstand, weil dir sofort die Folgen bewusst würden. Und spätestens wenn du das Feuerzeug in den Händen hieltest oder nur noch in Unterwäsche dastündest, bekämest du es mit der Angst zu tun. Die Wand wäre steinern, die Tür versperrt. Keine Chance, sie zu überwinden.
Nun stell dir aber vor, auf der anderen Seite der Wand steht nicht öffentliche Demütigung oder Verarmung, sondern etwas ganz Banales, Wünschenswertes. Stell dir vor, du sitzt neben jemandem, dem du regelmäßig begegnest, den du auch magst, aber mit dem du dich noch nie wirklich unterhalten hast, und willst diese Person ansprechen oder ihr auch nur in die Augen blicken.
Dieser Mensch sitzt nur da, unterhält sich mit niemandem und tut auch sonst nichts, wobei man ihn stören könnte, aber du bekommst kein Wort heraus, kannst nicht einmal den Kopf länger als eine Zehntelsekunde in seine Richtung drehen. Und das nicht, weil du verliebt wärst, sondern einfach so, weil du den Mensch neben dir nicht gut genug kennst, seine Reaktion nicht erraten kannst und du dir bloß fehl am Platz und störend vorkommst.
Wieder steht diese Mauer zwischen dir und der Außenwelt, deinen Wünschen, deinen Möglichkeiten; genauso steinern und scheinbar undurchdringlich wie vorhin. Du weißt, dass es unsinnig ist, dennoch ist sie da und versperrt dir den Weg. Andere Menschen haben dort nichts, sie öffnen einfach den Mund und sagen, was sie sagen wollen. Ohne darüber nachzudenken. Ohne Sorgen. Ohne Selbstzweifel.
Aber nicht du.
Wenn du dir das vorstellen kannst, hast du zumindest einen Eindruck davon, wie ich mich und so viele andere Menschen sich auch manchmal fühlen.
Diese Wand ist eigentlich keine Wand. Es sind vier Wände… ein Haus, winzig und beengt. Wenn du rausgehen willst, siehst du zuerst aus dem Fenster, aber es ist aus Trickglas. Die Menschen dahinter sehen aus wie Monster, die einen verschlingen wollen, einen verspotten, verstoßen oder einem ausweichen, sobald sie einen sehen und sehen, dass man anders ist. Dabei ist man das vielleicht gar nicht, aber das Haus legt einen rein, damit man nicht geht. Und meistens kommt es damit durch. Es wirkt sicher. Nicht mehr ein Schuhkarton, sondern eine gemütliche Höhle, die einen vor den bösen Gestalten dort draußen beschützt.
Doch irgendwann kommt die Zeit, in der du des Hockens, des sinnlosen Wartens überdrüssig wirst. Und du vermisst wieder das Licht und die unglaubliche Weite. Und du willst endlich wieder ins Freie.
Aber dein Haus will dich nicht gehen lassen und versucht es auf altbekannte Weise.
So kann das nicht ewig gehen. Irgendwann musst du raus und erkennen, dass die ganze Welt dein Zuhause ist und andere Menschen, auch Fremde, nun mal zu deinem Leben gehören. Ansonsten lebst du nicht, du träumst nur. Aber es ist nicht leicht, aufzuwachen.
Entweder du gehst ganz schnell durch die Tür, ohne auf das Fenster zu achten, oder du schaust so lange hindurch, bis du erkennst, wie verzerrt und übertrieben das alles ist und du dir ein Herz fasst, wenigstens einen Schritt vor die Tür zu setzen... und dann noch einen... und noch einen.
Immer wieder musst du dir sagen, dass dir nichts passieren kann. Dass ein Fehltritt, oder zwei, kein Weltuntergang sind. Dass niemand dich bewusst anstarrt und schon gar nicht alle zusammen. Und dass niemand über dich herfallen und dich bloßstellen wird, denn du machst das schließlich auch nicht mit deinen Mitmenschen, oder?
Aber es ist nicht leicht.
Jeder kleine Rückschlag, den dein Gegenüber wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, wirft einen viel zu stark aus der Bahn. Ein nicht erwidertes „Hallo“ kann wie ein Schlag ins Gesicht wirken, und man will am liebsten im Boden versinken vor Scham. Sagt man nach langem Hadern und Studieren der Person, die auf einen zukommt, dann doch nicht „Guten Tag“, wird von ihr aber angesehen, wirkt das mindestens ebenso erniedrigend, weil man sich Vorwürfe macht, als unhöflich eingeschätzt zu werden.
Ich persönlich hasse es, einkaufen zu gehen. Zu viele Menschen um einen herum, ständig das Gefühl, man stehe jemandem im Weg. Wenn ausweichen, dann wohin? Enges Herumgestehe an der Kasse, das gezwungene „Hallo“, „Danke“, „Nein, danke“, „Tschüss“, „Danke, ebenfalls“…
Manchmal könnte ich Heulen, einfach weil es zu viel wird. Manchmal bin ich nah dran. Und das Schlimmste, finde ich, ist, wenn eine Nachfrage kommt, weil man mich nicht richtig verstanden hat. Ich selbst nicke viel lieber oder antworte irgendwie auf das, was ich glaube, gefragt worden zu sein, anstatt „Wie bitte?“ zu fragen. Doch diese zwei Wörter selbst zu hören, ist viel schlimmer. Selbst wenn es rein akkustische Gründe hat.
Und Warum? - Weil es einen unter Druck setzt. Dieser Zwang, jetzt etwas zu sagen zu müssen und es lauter zu sagen und klarer, bringt einen in eine unglückliche Lage: Erstens muss man genau den Grad finden zwischen laut genug, damit die Gesprächspartner es verstehen, und leise genug, damit man die anderen Umstehenden nicht belästigt. Zweitens wird der Fragende nun genau zuhören, d.h. wenn du etwas dummes von dir gibst, wird er es garantiert merken. Und drittens wird er wohl auch nur fragen, wenn er denkt etwas interessantes verpasst zu haben. Wenn es nun aber völlig unwichtig oder möglicherweise auch falsch war...
Am liebsten würde ich dann gar nichts mehr sagen, würde man nicht eine Antwort von mir erwarten.
Außerdem neige ich dazu, immer leiser zu reden, je unsicherer und gestresster ich werde, als auch wenn ich etwas für unwichtig halte, aber es dennoch erwähne. Mich wiederholen zu müssen, bringt mich total aus dem Konzept und ich will nur noch in Ruhe gelassen werden.
Überhaupt finde ich es unvorstellbar belastend, ständig etwas sagen zu müssen, wenn ich nichts zu sagen habe. Durch den Druck und die Aufregung fällt mir dann erst recht nichts mehr ein. Daheim sage ich nie „Guten Morgen“. Meine Eltern fanden das stets unhöflich, dabei meine ich das doch nicht böse. Es ist für mich nur fürchterlich anstrengend, den Mund aufzumachen, vor allem bei so leeren Floskeln. 'Wer nichts zu sagen hat, soll den Mund halten', dieses Motto würde ich sofort unterschreiben.
Natürlich wünsche ich ihnen einen guten Tag. Und auch gute Mahlzeiten, einen guten Abend eine und eine gute Nacht. Und das jede Nacht und jeden Tag...
Nur, weil ich das nicht laut sage, heißt das nicht, dass ich das nicht trotzdem meine.
Aber das haben sie nie verstanden.
Wer versteht das schon?
Und das ist, meiner Meinung nach, eines der schrecklichsten Dinge, die einem passieren können: nicht verstanden zu werden.
Dieses Gefühl kennt jeder, besonders in der Pubertät. Aber Jugendliche haben meist Freunde, die ihre Probleme im Gegensatz zu ihren Eltern nachvollziehen können und ihnen Trost spenden. Das Problem ist aber, dass
Menschen mit solchen Schwierigkeiten meist wenige Freunde haben, mit denen sie darüber reden könnten, manche leben teilweise völlig isoliert.
Wie kannst du über deine Probleme reden, wenn du Probleme hast, zu reden?
*** Buch noch nicht vollständig ***
Tag der Veröffentlichung: 13.08.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Dich.
Wo auch immer Du bist.
Wie auch immer Du aussiehst.
Was auch immer Du tust.
Was auch immer Du denkst.
Was auch immer Du fühlst.
Wer auch immer Du bist.
Ich schreib es für Dich.