Cover

Leseprobe

 

 

 

 

 

Ria Wolf

 

 

 

 

Historischer Liebesroman

 

Impressum:

 

 

Ein Herz, zerbrechlich wie Glas

by Ria Wolf

 

Copyright © 2020 Marita Böttcher, 33829 Borgholzhausen

Alle Rechte vorbehalten.

 

Buchcoverdesign: Sarah Buhr / www.covermanufaktur.de

unter Verwendung von Bildmaterial von Conrado (Frau); Bokehstore (Himmel); Ian Johnston (Haus)/ Shutterstock

 

Lektorat/Korrektorat: G.W., 35500 Lanzarote/Spanien

 

 

ISBN Buch: 9798639202940

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sämtliche Personen und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden.

 

Prolog

 

Liebster Vater,

 

wir schreiben nun 1841. Ein weiteres Jahr ist vergangen, seit ich Antwerpen 1839 verließ und Dir einige Zeilen widmete. Die Zeit eilt so rasch dahin, dass es mich erschreckt. Natürlich bin ich froh, mir mit meiner geliebten Arbeit Brot und Dach zu verdingen, doch das Leben hier in Ashington scheint Erinnerungen mit Staub zu bedecken. Sei es der vom Kohlebergbau oder der des trockenen Erdreichs. Die Jahre mit Dir in Antwerpen schwinden hinter grauen Schwaden über meinem Gedächtnis. Was war Realität, was entspringt verzerrtem Wunschdenken, weil hier alles so freud- und farblos erscheint? Einzig die Arbeiten, die Hände und Mund verrichten, bilden ein vertrautes tröstliches Band zur Vergangenheit. Zu Dir.

Was mich besonders traurig stimmt, auch Dein Gesicht verblasst unter der verrinnenden Zeit und dem Staub. Ich möchte es wieder in aller Deutlichkeit vor mir sehen, es berühren und küssen. Ich sehne mich nach dem Schalk in Deinen Augen und Deiner Liebe für mich. Hier begegnet mir nur Burschikosität und Herablassung und meine Liebe kann ich einzig meiner Arbeit widmen.

Ich möchte heimkehren. Doch, ja, mir ist bewusst, das geht nimmer mehr. Verzeih mir diesen kindischen Wunsch. Ich weiß, ich muss nun erwachsen sein und mein Leben allein bewältigen.

 

 

Ich vermisse Dich so sehr.

Deine Dich liebende Tochter

 

Riccia

 

1. Kapitel

 

 

«Ich will jede dieser skizzierten Tierfiguren haben!»

Lady Elisabeth Townsend, Tochter des Earl of Leechham, so hatte sie sich jedenfalls vorgestellt, festigte den ersten Eindruck von ihrer Person nicht gerade mit einem ruhigen, besonnenen Auftreten.

Wie ein aufgescheuchtes Huhn schritt sie vor Riccias Brotherrn auf und ab. Stieß immer wieder mit der Spitze ihres Sonnenschirms auf die ausgebreiteten Zeichnungen, auf dem Tisch in der Mitte von Stanleys Arbeitszimmer. Riccia fürchtete, die schöne, doch offensichtlich missgestimmte Lady würde noch Löcher in die Papiere stanzen.

In der Ecke bei den Musterregalen wurde sie selbst kaum wahrgenommen. Wenn überhaupt. Hausangestellte waren für viele Herrschaften so gut wie unsichtbar und diese Dame bildete mit ihrer Ignoranz keine Ausnahme.

Vorsichtig ließ Riccia die Federn des Staubwedels weiter über ihre zierlichen Werke in den Regalen gleiten und beobachtete still das Szenario. Ihnen, sowie wohl den meisten in Ashington, war diese Lady gänzlich unbekannt. Ein strahlender Schwan in einem Dorf voller verstaubter, zerrupft aussehender Hühner. Was trieb sie in dieses trübselige Nest?

Ja, sicherlich, die Glasfiguren und Tafeldekorationen der Glasmanufaktur Hazard in Ashington genossen mittlerweile einen ausgezeichneten Ruf in ganz England. Selbst in Teilen Schottlands. Die Lady hätte sich allerdings auch von einem Handelsvertreter in der ihr nächstgroßen Stadt beraten lassen können. Außer den Vertretern brauchte sich niemand auf den langen, beschwerlichen Weg hier her zu begeben, um Hazards Glaswaren zu erstehen.

«Ich verlasse mich darauf, dass diese Figuren und alles weitere, wie Sie versprechen, Unikate sein werden! Mein zartes Gemüt würde nicht verkraften, wenn ein Gast äußerte, er oder sie besäße bereits ähnliche Stücke.»

Riccia kannte diese Frau erst wenige Minuten, doch ‚zartes Gemüt‘ ersetzten ihre Gedanken umgehend durch ‚zänkisches Naturell‘. Jeden Laut unterdrückend wandte sie den Blick gen Himmel und leistete Abbitte für den schäbigen Gedankengang.

Stanley Hazard stand hinter seinem Schreibtisch, wie ehrfürchtig geblendet von der blonden Schönheit und auch sichtlich eingeschüchtert von deren Auftreten. Unruhig strichen die Finger über den grasgrünen Brokat der Weste, die auf dem feisten Bauch spannte. So wirkte er recht tölpelhaft, was ihm wohl bewusst wurde, denn kurz darauf verschränkte er die Hände an der Rückseite des um einige Nuancen dunkleren Samtrockes.

Man sah ihm an, dass er sich am liebsten auf den Sessel fallen lassen wollte, wie er es immer gleich tat, sobald er sein Arbeitszimmer aufsuchte. Solange die Dame das Platzangebot jedoch nicht in Anspruch nahm, entsann er sich guter Manieren, die ihm verbaten, sich als erster zu setzen.

Sein Blick folgte jeder Bewegung der Besucherin. Ihrem goldgleichen Haar, auf dem ein keckes schwarzes Hütchen saß, ihren blassblau funkelnden Augen und dem puppenhaften rosigen Lippen. Das Rascheln der gelben Seide ihres Kleides war für diesen Moment das einzige Geräusch im Raum.

Ob Stanley die Dame gerade mit seiner Gattin verglich, die neben dieser Erscheinung wie eine pausbäckige grobschlächtige Marktschreierin wirken würde, läge sie nicht hüstelnd in ihrem Bett?

Riccia ertappte sich dabei, wie auch sie vor Faszination immer wieder mit dem Staubwedel innehielt. Lange hatte sie keine so edle Dame mehr gesehen. Zuletzt vor zwei Jahren auf den Straßen von Antwerpen. Vom Droschkenfenster aus, als Stanley mit ihr zum Hafen fuhr, um sie nach Ashington zu bringen.

Mit der Spitze des Sonnenschirms schob Lady Townsend die Skizzen auseinander, von denen nur Stanleys Familie wusste, dass Riccia sie gezeichnet hatte. Die metallene Spitze klopfte auf einige Bilder.

«Außerdem will ich noch diese zehn wie Blüten geformten Vasen, samt dazu passenden Obstschalen! Damit lässt sich wenigstens etwas Eleganz in das armselige Haus bringen! Und mit den Möbeln, die ich bestelle, natürlich auch!»

Der Auftrag nahm Ausmaße an, wie sonst nur ihre Händler sie aufgaben. Für mehrere Interessenten. Dieser Dame musste ein unermessliches Budget zur Verfügung stehen. Und in Stanleys Augen trat bereits ein sehr zufriedener Glanz. In Gedanken hörte er wohl schon das Geld klimpern.

Riccia hielt sich nie gern in Stanleys Arbeitszimmer auf, dennoch entbehrten die Verkaufsgespräche selten einer gewissen Spannung. Heute war es sogar eine Spur spannender als üblicherweise. Die Dame war ein regelrechtes Spektakel im Vergleich zu den sonst ausschließlich männlichen Händlern.

Würde Stanley Hazard nicht darauf bestehen, dass sie während der Verkaufsgespräche in sichtbarer Nähe weilte, um sich per Blickkontakt bei ihr zu versichern, ob Wünsche und Vorstellungen realisierbar waren, wäre ihr heute wirklich etwas entgangen.

Ein kleines Nicken oder Kopfschütteln genügte ihm zur Antwort. Das hatte sich in den letzten zwei Jahren so eingespielt. Kaum merkliche Zeichen eines unscheinbaren Hausmädchens, welches sich zufällig im Zimmer befand. Er wollte unter allen Umständen vermeiden, dass jemand erfuhr, dass sie die Glaskünstlerin war und nicht sein Sohn Albert, den er fortwährend als Meister der Glasbläserei anpries.

Innerlich schnaubte sie. Tatsächlich hatte Albert Hazard nur so viel Ahnung von Glas, dass man bei Fenstern hindurchsah und aus anderen Formen Wein und Brandy trank. Erbärmlich für den Sohn und Erben einer Glasmanufaktur. Ach ja, und er wusste, wie man den erwirtschafteten Gewinn in den Schänken bei leichten Mädchen, Alkohol und Spiel ließ. Aber was grämte sie sich um dessen Verhalten, das stand ihr nicht zu.

Der unvermittelte Stimmungsumschwung ihrer Kundin war für Riccia spürbar wie eine heftige Windböe. Eben nur etwas herrisch und zänkisch, umgab sie nun eine Aura von unterdrückter Wut. Und wie eine Windböe rauschte die Dame sogleich durch den Raum, streifte die ausgestellten Exponate mit flüchtigen Blicken und wendete schwungvoll, sobald sie die Enden der drei U-förmig an den Wänden stehenden Regale erreicht hatte. Ihre wehenden Röcke drohten ein um das andere Mal Stücke aus den unteren Fächern zu fegen.

Riccia stockte der Atem. Die Frau mutierte zu einem unberechenbaren Sturm in diesem filigranen Interieur. Immer wieder unterdrückte sie einen entsetzten Ausruf, wenn eines ihrer Kunstwerke ins Wanken geriet.

Natürlich wagte Stanley nicht, die Lady zur Vorsicht anzuhalten. Er witterte ein gutes Geschäft und die aufwändigen Glasskulpturen waren ihm ersetzbarer als eine adelige Dame im Kaufrausch. Die Scherben konnten eingeschmolzen und neu verarbeitet werden. Ihn kostete das fast nichts, nur Riccias Zeit und ihre Tränen, weil sie an jedem ihrer Werke hing und deren sinnlose Zerstörung wie Messerstiche in der Brust schmerzen würden. Immer, wenn eines zu Bruch ging, blutete ihr das Herz.

«Möchten Mylady nicht vielleicht doch erst etwas Tee zu sich nehmen?», Stanley deutete auf das Tablett auf dem Schreibtisch, wo leichter Dampf aus der Tülle der zarten Porzellankanne aufstieg.

Das Angebot beruhte wohl eher auf der Hoffnung, sich endlich setzen zu dürfen, wenn die unwirsche Besucherin sich niederließ, als zum Schutz der Musterstücke.

Die winkte jedoch fahrig ab.

«Nein, danke. Ich will diesen leidigen Einkauf schnell abgewickelt haben. Langwieriges Auswählen zwischen Farben und Formen ermüdet mich und das schadet meinem Teint! Ich denke, ich habe keinen Zweifel daran gelassen, was ich haben möchte. Schickt alles in den Haushalt des Earl of Chapperford, meinem zukünftigen Gatten.»

Stanleys Rücken drückte sich durch, als hätte ihm jemand hineingetreten. Sein zuvorkommendes Lächeln wirkte schlagartig wie eingemeißelt.

«Sagtet Ihr Chapperford, werte Dame?»

«Ja! Haben Sie etwas an den Ohren?»

«Nur gelegentlich ein leises unangenehmes Pfeifen. Entschuldigt bitte. Doch dieses ist der undankbare Moment, wo ich Euch darauf hinweisen muss, dass die Bestellung sehr kostspielig wird», wagte er tatsächlich anzumerken, was Riccia bei seinem ansonsten kriecherischen Verhalten verblüffte.

«Mein Sohn muss dafür viel Zeit und Material investieren.»

Riccia riss sich gewaltig zusammen, damit ihr kein hörbares Schnauben über die Lippen rutschte. Sein Sohn musste Zeit investieren! Heuchlerischer Bückling!

Die prompte Veränderung in Lady Townsends Gesicht ließ Riccia innerlich zusammenzucken. Deren perfekt geformte Lippen pressten sich zu einem bärbeißigen schmalen Strich zusammen, bevor sie mit rauschenden Röcken zu Stanley herumfuhr. Der Blick musste nicht minder unheilverkündend sein, denn Stanley zog den Kopf ein, dass der kurze Hals gänzlich hinter dem Doppelkinn verschwand.

Mit einem bunten Glashahn zwischen den behandschuhten Fingern wedelte die Dame rüde durch die Luft, haarscharf an einer Regalkante vorbei, die dem Tierchen fast die zierlichen Schwanzfedern gekostet hätte.

«Wollen Sie mich mit dem Geschwafel über Geld beleidigen? Wenden Sie sich mit solch trivialen Angelegenheiten an meinen zukünftigen Gatten! Wie es sich gehört!»

Nun erklärte sich zumindest ansatzweise dieser ungewöhnliche Besuch. Chapperford! Der Stammsitz der Familie war hier in Ashington und Stanleys plötzliche Zurückhaltung trat nicht grundlos zu Tage. Soweit Riccia dem Getuschel in der Stadt Glauben schenken konnte, haftete dem Titel Chapperford Mittellosigkeit an.

«Es liegt mir fern Euch beleidigen …»

Riccia zuckte unter dem Knall zusammen, als der zierliche Sonnenschirm auf die Steinkante des Kamins traf und anschließend einen unübersehbaren Knick im oberen Drittel des Gestänges aufwies.

«Meine undankbare Aufgabe besteht darin, ein angemessenes Ambiente in dem hässlichen Steinhaufen zu schaffen, der mein Zuhause werden soll, Mister Hazard», spie die Lady ungehalten aus. «An diesem gottverlassenen Ende der Welt!»

Wie ein gezückter Degen deutete nun die geknickte Spitze des Schirmes auf Stanley.

«Koste es, was es wolle! Und speziell die Kosten liegen in der Verantwortung meines Verlobten!»

Die blassblauen Augen der Lady schienen Feuer sprühen zu wollen.

«Ein Schloss nannte Vater mein zukünftiges Zuhause! Was finde ich beim ersten Besuch meines zukünftigen Wohnsitzes vor? Ruinen! Ruinen, hören Sie? Ich soll nicht nur in einem erbärmlich kleinen Dorf vermodern, nein, das angebliche Schloss besteht nur aus unbewohnbaren kahlen Steinwänden mit Fenstern ohne Glas und Türdurchgängen ohne Türen! Und man erwartet von mir, dass ich in dem ebenso hässlichen, zudem noch beengend kleinen Cottage, das auf dem Grundstück steht, lebe!»

Theatralisch riss sie die Hände in die Höhe.

«Als LEBEN, bezeichnen sie das! In so einer Hundehütte! Ich weiß nicht, was schlimmer ist, die Hütte oder der schäbige Gasthof, der es wagt, sich Hotel zu nennen, in welchem ich mit meinem Vater bis zur Hochzeit logieren muss. Der Begriff Schweinestall träfe es präziser. Wie erbärmlich, dass dieses fürchterliche Dorf nicht mal über eine einzige Bleibe verfügt, die auch nur ansatzweise meinem Stand gerecht wird!»

Schweinestall fand Riccia reichlich übertrieben für den Gasthof von Ashington. Ja, ihr Ort war nur ein kleiner Weiler mit einer Hand voll Häusern, die den Kern bildeten, aber man bemühte sich um Reinlichkeit und gepflegte Erscheinung, soweit es die Armut der Bewohner und der Kohlenstaub zuließen. Neue Stoffe oder gar modische Gewänder konnten sich hier nur die Familie Hazard, der Wirt des Gasthofes und der Gemischtwarenhändler leisten. Also begegnete dem Blick stets geflickte, verwaschene Kleidung. Fast jeder lebte hier von seinen persönlichen Fähigkeiten im Tausch gegen etwas, was der eigene Garten und Stall nicht hergaben. Und dem jämmerlichen Lohn für die Arbeit in den Kohlengruben.

Man munkelte, der Kohleabbau in Ashington sollte bald in viel größerem Rahmen vorangetrieben werden. In industriellen Ausmaßen. Das klang nach großem Bedarf an Arbeitern und hoffentlich besseren Löhnen.

Doch wenn es dieser Lady Townsend hier nicht genehm war, warum sah sie sich dann nicht nach einer anderen Bleibe um? Zum Beispiel in Ellington? Das nicht weit entfernte Dorf war etwas wohlständiger und hatte mehr Geschäfte als einen Gemischtwarenladen zu bieten. Da fand sich womöglich auch eine feinere Unterkunft.

«Lady Townsend», setzte Stanley mit roten Flecken auf den Wangen an, die sein Unbehagen widerspiegelten. «Ihr habt mein ganzes Mitgefühl für die zugemuteten Umstände. Aber die Herstellung der von Euch gewünschten Stücke benötigt einige Zeit. Wärt Ihr vielleicht vorerst damit zufrieden, dass wir nächste Woche nur sechs Vasen samt passenden Obstschalen liefern?»

Aha. Stanley versuchte, die Risiken zu mindern auf einer horrenden unbezahlten Rechnung sitzen zu bleiben sowie eine mögliche lukrative Kundin einzubüßen.

«Wie lange braucht denn sowas?», keifte die Lady ihn derart an, dass er Riccia fast leidtat. «In vier Wochen ist meine Hochzeit! Bis dahin will ich alles haben!»

Ich will! Ich will! Ich will! Störrische, verzogene Kinder äußerten sich so. Riccia sträubte ein derartiges Gebaren die Nackenhaare. Doch egal was sie von dem Auftreten der Frau hielt, es beeinflusste nicht ihre Arbeit. Vier Wochen genügten, um die gesamte Bestellung herzustellen. Es machte ihr nichts aus, ganze Tage und Nächte in der Werkstatt mit ihrer Lieblingsbeschäftigung zu verbringen.

Stanley räusperte sich, dachte sichtlich nach.

«Nun, womöglich kann ich die ein oder andere Bestellung anderer Kunden hintanstellen, aber das muss ich mit jenen erst klären», versuchte er, eine bindende Zusage zu umgehen. «Und ich erlaube mir noch zu erwähnen, dass die Begleichung der Rechnung stets bei Auslieferung der Ware erfolgt. Seien es zunächst auch nur einzelne Positionen.»

Empört schnappte die Lady nach Luft für einen weiteren verbalen Ausbruch.

«Verzeiht, Lady Townsend», ließ er die Dame tatsächlich nicht zu Wort kommen, was sich eher kontraproduktiv für eine der Risikominderungen entwickeln konnte. «Doch wir sind nur arme Handwerker und benötigen das Geld», fügte er sogleich an. «Um das Material für die nächsten Stücke beschaffen zu können. Ohne Material lässt sich nichts herstellen.»

Die Bezeichnung ‚arme Handwerker‘ fand Riccia lächerlich unglaubwürdig, angesichts seines dicken Bauches, seiner kostspieligen Kleidung und der Möblierung aus aufwändig gedrechseltem und poliertem Holz.

Nur sie selbst wirkte in diesem Zimmer schäbig, in dem mehrmals geflickten braunen Kleid, das ihr vor zwei Jahren die Hausherrin überließ. In der mehr grauen als weißen Schürze und der ebenso verwaschenen Haube auf dem Haar. Aber, sie war hier ja auch nicht mehr wie ein Hausmädchen. In solchen Momenten wie diesem und auch dann, wenn keine Kunden oder Gäste in der Nähe weilten. Ein Hausmädchen, an dessen Kunstfertigkeit mit Glas die Familie Hazard sich zugleich goldene Nasen verdiente. Doch sie wollte deswegen nicht mit ihnen hadern. So hatte sie ein Dach über dem Kopf, ein sauberes, wenn auch hartes Bett in einer winzigen Kammer unter den Sparren, regelmäßige Mahlzeiten und vor allem, eine gut ausgestattete Werkstatt, in der sie ihrer geliebten Glasbläserei nachgehen konnte.

Die Blicke von Lady Townsend schweiften herablassend über Stanley und durch den Raum. Riccia gewann den Eindruck, als wäre in deren Augen wahrhaftig alles erbärmlich. Was für Luxus musste sie gewöhnt sein. Wie sehr musste sie den Earl of Chapperford lieben, dass sie mit ihm in diesem Ort und seinem bescheidenen Haus leben wollte? Riccias romantische Ader siegte über ihre Abneigung gegen die Dame. Mochte die sich hier auch bärbeißig zeigen, war sie zweifellos zu tiefen Gefühlen und Selbstaufgabe fähig.

«Ja. Es ist nicht zu übersehen, dass es Ihnen an Mitteln fehlt, um in Vorleistung zu gehen», kommentierte die Lady schließlich ohne jede Spur von Ironie, dafür mit Ekel bekundend verzogenen Mundwinkeln. «Bringen Sie die sechs Vasen und Schalen zum Earl of Chapperford und Sie werden umgehend die Entlohnung für die nächsten Stücke erhalten.»

Riccia verkniff sich die Geste, eine Hand gegen ihre Stirn zu pressen. Gott, diese Frau hatte vermutlich noch nie ärmliche Behausungen samt deren Bewohner wahrgenommen! Dabei war der Gasthof davon umgeben.

2. Kapitel

 

 

«Hoffentlich verschwende ich an diese Frau nicht Zeit und Geld», brummte Stanley, während er die Abfahrt der Kutsche von Lady Townsend durch das Fenster des Arbeitszimmers verfolgte. «Aber womöglich hat der Earl ja schon etwas von ihrer Mitgift erhalten oder ist anderweitig zu Geld gekommen und somit zahlungsfähig. Ich wusste gar nicht, dass der hier ist. Seit dem Brand des Herrenhauses hat den niemand mehr gesehen und das ist zwanzig Jahre her. Da war er noch ein Bube, gerade neun Jahre alt.»

Sie stellte sich neben ihn, erhaschte einen Blick auf zwei rassige Schimmel in glänzendem schwarzem Zuggeschirr, die einträchtig trabend die offene Kutsche Richtung Blyth zogen. Hufe und Gefährt wirbelten den grauen Staub auf, der ihnen wie eine schäbige Fahne folgte.

Mit etwas Glück stand der Wind auf der Fahrt nach Blyth für die Lady günstig und würde sie und ihre Kutsche am Ziel noch immer strahlen lassen. Hielt ihr Verlobter, der Earl, sich etwa dort auf, dass man ihn hier nie zu Gesicht bekam?

Nun, vermutlich genügte die kleine Hafenstadt den Ansprüchen der verwöhnten Lady auch nicht, es sei denn, sie hatte dort nur Augen für den zukünftigen Gemahl.

Sie wandte sich Stanley zu.

«Ein Mann soll doch seit Jahren wöchentlich Lebensmittel bei Pubbels einkaufen, die angeblich mehr als zwei Mägen füllen könnten. Der wohnt in dem Cottage, erzählt man sich. Kann das nicht der Earl sein?»

Mit einem Grunzen drehte Stanley sich vom Fenster weg und ging zum Arbeitstisch.

«Dummes Kind! Kein Earl geht selbst einkaufen. Auch völlig mittellos wahren die Adeligen noch irgendwie den Schein. Ich habe den natürlich schon gesehen. Dieser schweigsame Kerl muss ein Verwalter oder so etwas sein. Vom Alter her könnte der zwar passen, aber du hast die Lady gesehen. Glaubst du, die würde einen zum Mann nehmen, der zwar gut aussieht, jedoch immer nur wie ein unterbezahlter Jagdaufseher herumläuft?»

Sie hatte nicht mal eine Vorstellung davon, wie ein anständig bezahlter Jagdaufseher aussah. Vertretern dieser Berufsgruppe war sie noch nie begegnet. Stanleys Tonfall ließ allerdings darauf schließen, dass der Aufzug eines solchen einer Lady nicht gerecht wurde. Schon gar nicht der eines Unterbezahlten.

Seine Aufmerksamkeit wandte sich den Zeichnungen auf dem Tisch zu. Nacheinander schaute er sie an.

«Der Kerl wird für sich und unseren Doktor einkaufen, der ja bei ihm im Cottage wohnt. Falls er nicht alles allein auffrisst. Ein dritter Mann dort im Haus hätte sich längst herumgesprochen. Die Anwesenheit des heimgekehrten Earls ganz bestimmt. Wahrscheinlich müssen die beiden sich bald nach einer anderen Bleibe umsehen, wenn der Earl zurück ist und auch noch beizeiten ein Eheweib mitbringt, denn das Herrenhaus könnte mit allem Geld der Welt nicht in vier Wochen repariert werden.»

Nur die Staubfahne hinter der Kutsche gesehen zu haben löste bei ihr schon den Reflex aus, imaginären Staub von ihren Ärmeln zu streichen.

«Aber die Lady sagte, wir sollen die Lieferung zum Earl ins Cottage bringen.»

Stanley begann die Zeichnungen zu sortieren.

«Vielleicht hat er ihr nur erzählt, dass er dort wohnt oder er zieht bis zur ersten Lieferung ein oder der Verwalter nimmt sie an. Was weiß ich! Mich sorgt mehr, dass unser lieber Doktor dann unter Umständen in ein anderes Dorf abwandert. Ich würde ihm ja hier im Haus ein Zimmer anbieten, einen Arzt im eigenen Heim zu haben, kann nicht schaden, aber ich kann mir nicht erlauben, dass dein Geheimnis gelüftet wird. Das bringt mir mehr ein als der Hungerlohn eines Arztes. Also muss er woanders unterkommen.»

Nächstenliebe gehörte wahrlich nicht zu den Eigenschaften der Familie Hazard. Nur Profitgier. Wie hatte ihr Vater sie bloß diesem unsympathischen Mann anvertrauen können? Sicher, sie waren enge Geschäftspartner gewesen. Ihr Vater und heimlich auch sie, hatten in Antwerpen nicht nur nützliche Gefäße, sondern auch gläserne Kunstwerke hergestellt, die Stanley in ganz England und Schottland verkaufte. Aber das genügte doch nicht zur Befähigung als guter Vormund.

Ooh, ihren Wert als Glasbläserin wusste Stanley wohl zu schätzen. Auch den als Hausmädchen, aber in ihren Unterhalt wollte er möglichst nichts investieren. Sie bekam keinen Lohn, nur das Dach über dem Kopf, Mahlzeiten und eben abgetragene Arbeitskleider seiner doppelt so massigen Gattin.

Drei Kleider besaß sie, um genau zu sein, und zwei Paar Strümpfe, sowie zwei Paar Schuhe. Ein zu großes Grobes, das sie alltäglich trug und ein Feineres ihrer ehemaligen Ausstattung, welches sie nur sonntags anzog. Zu ihrem hellen Sonntagskleid, dem Einzigen, das ihr bei der Ankunft in Ashington von Mrs. Hazard gelassen worden war, nebst brauner Haube und selbstgenähtem Retikül.

Mehr gestand ihr die Hausherrin nicht zu. Was die an besseren Kleidern nicht mehr haben wollte, verkaufte sie zu unverschämten Preisen in Ellington, wo bestimmt auch Riccias eigene Ausstattung gelandet war, oder zog mit abgewetzteren Stücken armen Frauen den letzten Penny aus der Tasche.

Wie anders war das Leben mit ihrem Vater gewesen, der sie abends in schöne Kleider gehüllt zum Essen sehen wollte. Der ihr Zimmer mit Samt und Seide und weichen Federkissen ausstaffiert hatte, damit seine Prinzessin trotz der harten Arbeit und der Jungenkleidung niemals vergaß, eine Frau zu sein. Das alles war nur für ihrer beider Augen gewesen und die der verschwiegenen Haushälterin, aber dieses Zeremoniell hatte sie beide glücklich und fröhlich gestimmt, wie ihre gemeinsame Arbeit mit dem Glas.

Tränen wollten ihr in die Augen drängen. Das Herz begann vor Schmerz zu stechen. Jetzt war alles anders. Alles.

Stanley stapelte die Zeichnungen und reichte sie ihr.

«Halt nicht Maulaffen feil und zerbrich deinen Kopf nicht über Dinge, die dich nichts angehen! Bring das verdammte Teetablett hier meiner Gattin und dann mach dich mit der Bestellung an die Arbeit. Auch die Tierfiguren. Wenn sich der Earl als zahlungsunfähig herausstellt, kann ich den Kram immer noch an meine Händler verkaufen.»

Sie gab sich einen Ruck, blinzelte die aufsteigenden Tränen fort und rollte die Zeichnungen zusammen. Samt Federwedel klemmte sie die dicke Rolle unter den Arm und nahm das Tablett auf. Stanley bewies wenigstens so viel Höflichkeit ihr die Tür aufzuhalten.

Kaum, dass sie die Tür hinter sich wieder ins Schloss rasten hörte, hob sie auf dem Flur vor dem Treppenabsatz den Ellenbogen an. Federwisch und Skizzenrolle plumpsten auf den Teppichläufer. Sie würde das Zeug auf dem Rückweg aufsammeln und mitnehmen. Stanley verließ das Arbeitszimmer erst wieder zum Abendessen, die Herrin kam heute garantiert nicht herunter und Albert … der schlief einen Rausch aus oder war überhaupt nicht daheim.

Leise klapperten die beiden Tassen auf den Untertellern, als sie die Stufen hinaufstieg. Mit dem Knarren des Holzes unter den Sohlen verband sich das Klappern zu einer skurrilen, längst vertrauten Melodie. Dieser Gang zählte zu ihren leidigsten Aufgaben. Wäre Mrs. Hazard eine freundliche Frau, täte sie es gern, doch die Herrin war stets kratzbürstig und berieselte sie bei jeder Gelegenheit mit Gejammer von Wehwehchen, die nur ihrer Einbildung entsprangen. So gingen der Hausdame zumindest nicht die Ausreden aus, weshalb sie nicht selbst Hand im Haushalt anlegen konnte.

Für ein zweites Dienstmädchen war die Familie zu geizig. Immerhin gab es noch eine Köchin, die sich um die Mahlzeiten und die meisten Besorgungen kümmerte.

Dicker Staub auf dem goldfarbenen Bilderrahmen von anmutigen Rehböcken stach Riccia ins Auge. Den hatte sie beim letzten Staubwischen offensichtlich vergessen. Ihr schlechtes Gewissen schlug sofort an. Nachlässigkeit konnte sie sich nicht gut vergeben, obwohl sie wusste, dass sie Zauberei beherrschen müsste, um allen Aufgaben einwandfrei gerecht zu werden.

Ein richtiges Hausmädchen wäre hier dringend erforderlich. Viele Frauen aus dem Dorf wären dankbar für diese Arbeitsstelle, doch der Geiz der Hazards stand dem im Weg und die Sauberkeit des Hauses litt darunter.

Einmal auf ihre Nachlässigkeit aufmerksam geworden, suchte und fand sie weitere übersehene Stellen. In den Stufenecken, zwischen den Geländerstreben. Nein, heute kein Staubwischen mehr. In der Werkstatt warteten dringende Aufträge. Zum Glück hatte Stanley bei seiner Gattin in der Beziehung Rückgrat gezeigt, dass Riccias Arbeit in der Werkstatt Priorität einnahm. Sonst käme sie gar nicht mehr dazu, Glaskunstwerke herzustellen.

Auf dem oberen Korridor passierte sie die schmale Stiege, die unters Dach zu ihrer Kammer führte. Dann Alberts verschlossenes Zimmer. Das Schlafzimmer der Hazard-Eltern lag am Ende dieses Flures.

Sie wich erfolgreich einer ausgefransten Stelle des Läufers aus, über die sie schon des Öfteren stolperte, verlagerte das Gewicht des Tabletts auf den linken Arm und streckte die rechte Hand nach der Klinke aus.

Bevor sie die Klinke greifen konnte, wurde die Tür schwungvoll von innen geöffnet. Nicht darauf gefasst, schrak sie zusammen, dass die Tassen rappelten. Der hoch gewachsene Rücken von Doktor Barseley schob sich auf sie zu. In der energischen Drehung, mit der er die Tür hinter sich zuzog, stieß er fast gegen das Tablett.

Gute Güte! Was für ein stattlicher Mann! Noch nie sah sie ihn aus so direkter Nähe. Natürlich zitierte Mrs. Hazard ihn oft hier her, doch das wusste sie nur von Erzählungen, weil sie bei seinen Besuchen bisher immer in der Werkstatt arbeitete. Gelegentlich hatte sie ihn auf der Straße gesehen, von Weitem. Allerdings musste sie sich aufgrund der Entfernung stets mit dem Bestaunen seiner schlanken Größe und dem Schimmern des honigfarbenen Haares unter der Hutkrempe begnügen. Jetzt trug er den Zylinder mit der Tasche in der Hand. Jetzt konnte sie das hingerissene Seufzen bei Gesprächen über ihn verstehen.

Glatte sonnengebräunte Haut zierte seine Züge, betonte die hohen Wangenknochen und blonden Haare.

«Hopla, Verzeihung Miss … oh, Sie müssen das Hausmädchen sein, von dem Mrs. Hazard gelegentlich spricht?»

Kornblumenblaue Augen sahen freundlich auf sie hinunter. Er hatte hübsche Lachfältchen in den Augenwinkeln. Irgendwie wollte ihr die Stimme nicht gehorchen, so deutete sie einen Knicks an und nickte nur. Ein bezauberndes Lächeln teile seine Lippen und gab einwandfreie Zahnreihen preis.

«Moment, ich öffne Ihnen die Tür zu Mrs. Hazard.»

Er streckte schon die Hand aus, schnell räusperte sie sich, um einen Ton herauszubekommen.

«W … warten Sie, Doktor Barseley.»

Was sprach sie da? Ein kurzer Dank hatte ihr im Sinn gelegen. Warum wollte sie ihn stattdessen aufhalten? Während sie noch über ihre Reaktion irritiert war, hielt er in der Bewegung inne. Sein Gesicht verzog sich leicht, als hätte er in etwas Saures gebissen.

«Ed. Nennen Sie mich bitte Doktor Ed. Oder einfach nur Ed. Das genügt mir völlig.»

War das nicht zu vertraut? Aber wenn ihm das lieber war.

«Also gut … Doktor Ed.»

Ihr Blick huschte zu der geschlossenen Tür, hinter der Mrs. Hazard ruhte. Wieso wünschte sie dem Doktor nicht einfach einen guten Tag und erfüllte ihre Aufgabe?

«Mit was müssen Sie sich heute als Lohn begnügen?», drang ihr über die Lippen. «Einem halben Brotlaib, der schon die besten Tage hinter sich hat?»

Sein Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen, dessen Charme ihre Knie kraftlos werden ließ.

«Tatsächlich darf ich mir heute vier Eier bei der Köchin abholen, nachdem ich das Brotangebot höflich ablehnte. Mrs. Hazard möchte sich offensichtlich meiner weiteren Dienste versichern.»

«Dass Sie über solche Knauserei scherzen können, Doktor.»

Voller Entrüstung ob dieser erbärmlichen Entlohnung von wohlhabenden Leuten wie den Hazards, sah sie ihm in die Augen und fühlte sich umgehend etwas schwindelig. Was war nur mit ihr los?

«Sie sollten Ihre Dienste ordentlicher bezahlen lassen», brachte sie wie durch einen Nebel hervor und konnte sogar Richtung Tür nicken. «Zumindest von den Leuten, die es sich leisten können.»

Seine Schultern zuckten kurz in die Höhe.

«Jeder gibt, was er für angemessen hält oder entbehren kann. Da halte ich es mit allen Patienten gleich.»

Und lebte davon vermutlich auch nur am Existenzminimum. Kragen und Säume seines braunen Rockes waren abgewetzt, die Ärmel hatten an den Ellenbogen Flicken.

Mit dem Tablett schob sie eine Vase auf der kleinen Kommode unter dem Fenster beiseite und stellte die Last ab, bevor der merkwürdige Schwindel eine Katastrophe hervorrief.

«Dann ist Ihnen zu den vier Eiern vielleicht eine Tasse Tee recht? Mrs. Hazard wird nicht bemerken, dass die Kanne nicht voll ist, weil sie immer nur eine Tasse trinkt.»

«Bei Gott, ja, gern», stieß er mit einem schelmischen Seufzer aus. «Seit heute früh habe ich keinen mehr getrunken und mein Hals ist wie ausgedörrt.»

Seine gelöste Reaktion auf ihr Angebot vertrieb den sonderbaren Nebel um ihre Sinne und bewirkte, dass sie seine Gesellschaft zunehmend genoss. Sie goss Tee in eine der Tassen und bemerkte ein leichtes Zittern ihrer sonst so ruhigen Finger.

«Ich fürchte allerdings, er ist nur noch lauwarm. Ein schlechter Lohn für Ihre Mühe.»

«Das ist unwichtig. Er wird mir auf jeden Fall munden und die angenehmste Gabe des heutigen Tages sein.»

Vorsichtig reichte sie ihm die Tasse.

«Ein lauwarmer Tee? Sie sind sehr einfach zufriedenzustellen.»

«Das Gefühl entspringt der Kombination. Ein Tee zur rechten Zeit von einer bezaubernden Frau. Darf ich nach Ihrem Namen fragen oder ist das ein wohlgehütetes Geheimnis?»

Hitze stieg ihr in die Wangen. Komplimente kannte sie nur von ihrem Vater. Gespräche mit anderen Männern waren bisher nur knapp und sachlich geprägt. Zudem äußerst selten, außer die Anstellungsbedingten mit Stanley und Albert. Dagegen wirkte dieser Moment sehr persönlich, sehr intim.

«Riccia, nennen Sie mich bitte Riccia.»

«Richard?» Irritiert runzelte er die Stirn. «Ein männlicher Name?»

«Nein, es wird Ritscha ausgesprochen ohne rd am Ende.»

«Oh, verzeihen Sie. Ritscha. Ist es so richtig?»

Sie nickte erfreut über seine schnelle Auffassungsgabe.

«Ja.»

Als er ihr die Tasse abnehmen wollte, berührten seine Finger ihre an der Untertasse. Wie ein Glockenschlag setzte der Nebel wieder ein. Die Berührung endete nicht, obwohl sie es doch sollte? Ihr war, als schlinge sich ein unsichtbares magisches Band um ihre Hände das auch ihr Herz erreichte und zu einem wilden Klopfen animierte.

Völlig verwirrt von den Regungen schaute sie dem Doktor in die Augen und erkannte darin ebenfalls Überraschung und Irritation.

«Riccia? Bist du das auf dem Flur?», hallte es dumpf durch das Holz der Tür.

Das war wie ein weckendes Schnippen. Doch sie fühlte sich noch immer durcheinander.

«Ent… Entschuldigung, Doktor.»

Langsam zog sie ihre Finger von der Tasse fort. Der Verlust der Verbindung kam ihr falsch vor, obwohl es doch andersherum sein müsste.

Durch den Doktor schien ein kleiner Ruck zu gehen, als käme auch er aus fernen Gefilden zurück.

«Nein, ich muss mich entschuldigen. Ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten.»

Zu nahetreten? Hätte er die Berührung provoziert, hätte man es so auslegen können, doch diese ganze Verwirrung war aus einem Versehen heraus entstanden. Das fand sie nicht verwerflich.

«Das sind Sie nicht, Doktor Ed. Ganz sicher nicht.»

Leider konnte sie nicht länger hinauszögern ihre Herrin aufzusuchen, ohne in Erklärungsnot zu geraten.

«Verzeihen Sie, wenn ich Sie nun einfach stehen lasse, doch ich muss zu Mrs. Hazard hinein.»

«Miss Riccia.»

Er deutete eine kleine Verbeugung an, die ihr sehr schmeichelte. Sie galt doch nur als Dienstmädchen, aber das schien ihn nicht zu kümmern.

 

Als sie das Schlafzimmer wieder verließ, war der Doktor leider fort. Seine Tasse stand leer und verlassen auf der Kommode. Ihre Finger glitten zart an dem Porzellan entlang, dann nahm sie das Gefäß auf und drückte es an die Brust. Was für eine alberne Geste wegen einer ungewöhnlichen Verwirrung, aber so zerstob der Zauber nicht sofort, bevor sie sich wieder ganz der Arbeit widmete.

Wie närrisch! Sie sollte gar nicht anfangen, Interesse für einen Mann zu entwickeln. Die Hazards würden sich mit Händen und Füßen dagegen wehren, sie gehen zu lassen, und wenn sie dennoch ginge, bliebe ihr aus Antwerpen mitgebrachtes Werkzeug bei Stanley, weil er es als sein Eigentum betrachtete. Wie sie.

Wohin schweiften nur ihre Gedanken? Wenn sie sich auf eine Ehe einließe, könnte sie ohnehin nicht mit der Glasbläserei fortfahren. Kein Gatte würde das akzeptieren, oder? Und wenn doch, wie sollte sie ihre Werke in den Handel bringen? Es würde niemand glauben, dass sie die derzeit populärsten Kreationen hergestellt hatte. Man würde ihr höchstens das Imitieren unterstellen und die Preise weit unter Wert drücken. Schon allein, weil sie eine Frau war.

Ach, und überhaupt! Sie hatten ein paar Worte gewechselt und es gab eine versehentliche Berührung ihrer Finger. Wie absurd deswegen gleich an eine Ehe zu denken.

Bewusst burschikos hielt sie auf die Treppe zu, in der Hoffnung damit jeglichen zarten Gefühlen zu entrinnen. Entsprechend laut polterten ihre Schritte auch auf den Stufen. Sie war keine zarte, behütete Braut wie Lady Townsend, sondern eine Arbeiterin, die weder Zeit noch Grund für romantische Flausen hatte.

Am Fuß der Treppe vermisste sie den Staubwedel und die aufgerollten Zeichnungen. Suchend sah sie sich um. Auf einem Beistelltisch bei der Eingangstür fand sie die Sachen wieder. Fein säuberlich darauf abgelegt. Garantiert nicht das Werk von Stanley oder Albert Hazard. Sie wären einfach über die am Boden liegenden Gegenstände gestiegen. Der Doktor musste sie aufgehoben haben. Ob er einen Blick in die Zeichnungen geworfen hatte? Wenn ja, welche wäre sein Favorit?

3. Kapitel

 

 

«Hier treibst du dich also herum! Natürlich bei Spiel, Wein, Weib und Gesang wie deine elenden Vorväter!»

Sean McLean ließ sich leider in den zweiten Sessel an seinem kleinen Tisch fallen, von wo aus er die Tanzdarbietung auf der Bühne verfolgte. Die Beine schwingenden Damen waren erfreulich leicht bekleidet. Eine erbauliche Abwechslung zu den sonst sittsam gekleideten Anblicken.

Das Nahen des Alten hätte er ahnen müssen und den freien Sessel vorsorglich entfernen sollen. Aber wie er den Mann kannte, wäre der nicht darum verlegen gewesen sich selbst einen Sitzplatz heranzuziehen. Schon allein, weil Sean wusste, dass er ihm damit auf den Nerv ging.

Langsam schwenkte er den bernsteinfarbenen Whisky in seinem Glas und versuchte, den Ärger über die unerwünschte Gesellschaft nicht zu zeigen.

«Ich höre niemanden singen, werter Großvater. Verkraftet dein Herz ein Etablissement wie dieses überhaupt noch?»

Der launische Greis, oder eher herrische Wurzelzwerg, revidierte Aiden die Bezeichnung, strich seinen allzeit gegenwärtigen Kilt über den Knien glatt, dann fuhr die Hand mit dem wuchtigen Siegelring über den sorgfältig gestutzten schneeweißen Bart.

«Wenn nicht, gehst du leer aus, Aiden. Also solltest du wenigstens bis zu deiner Hochzeit darum bemüht sein, dass mein Herz nicht aus dem Tritt gebracht wird. Ich sah dich über meinen Grund und Boden reiten, ohne dass du dir die Zeit für einen Besuch genommen hast. So etwas nagt mehr an meinem Herzen als nackte Tänzerinnen.»

«Eher an deinem Stolz als an deinem Herzen. Also hast du dir gleich ein frisches Pferd geschnappt und bist mir nach, um mir mal wieder eine Predigt zu halten.»

Aiden Montgrey versuchte, so oft wie möglich, seinem Großvater mütterlicherseits aus dem Weg zu gehen. Dem einzigen, dafür aber auch sehr nervtötenden nahen Verwandten, den er noch hatte. Der Alte war anstrengend in seinen Ansichten, verübelte ihm die englische Elternhälfte, die ihm die Tochter abspenstig gemacht hatte, statt einen Schotten zu heiraten und liebte es Menschen zu manipulieren. Besonders ihn.

«Das Pferd, auf dem ich saß, war noch frisch genug, wenn auch nicht so flott wie deines. Wie kannst du dir diesen schneidigen Zossen leisten?»

«Ist nur gemietet.»

Der Alte gab einen abfälligen Laut von sich.

«Natürlich. Wie komme ich auf den Gedanken, du besäßest plötzlich etwas Wertvolles. Und sei es nur ein gutes Pferd.»

Dass der Alte ihn in diesem Etablissement gefunden hatte, obwohl er ihn bei der Verfolgung sicherlich aus den Augen verlor, war kein Kunststück. Der Großvater hatte ihn selbst vor einigen Jahren in diesen Club eingeführt und seitdem trafen sie hier gelegentlich aufeinander. Deshalb waren Aiden die Clubs in London eigentlich lieber, aber der Weg dorthin war weit. Für einen Aufenthalt dort musste er sich mehr Zeit einräumen.

«Eine Predigt halten. Hm. Nimm dich nicht wichtiger, als du bist, Aiden! Mein Weg führte ohnehin hier her. Habe Geschäfte zu erledigen.»

Ein schrumpeliger Finger deutete auf das Päckchen gebrauchte Karten auf dem Tischchen.

«Hast du heute schon gespielt?»

«Ja.»

«Und sicherlich verloren.»

Aiden zuckte mit den Achseln. Es ging den Alten nichts an, ob er gewann oder verlor. Auch dann nicht, wenn sein zukünftiger Wohlstand von dessen Launen abhing. Solange er die für ihn bestimmte Braut nicht geheiratet hatte, lag es in Sean McLeans Gutdünken, sein Vermögen alternativ an einen, um etliche Ecken verwandten, schottischen Cousin zu vermachen.

Tatsächlich hatte er jedoch nichts verloren. Bisher spielte er gut genug, um letztendlich mit einem durchschnittlichen Gewinn sein mageres Kapital aufzustocken. Mehr noch nutzte er solche Abende, speziell die Spielrunden, um Geschäftskontakte zu pflegen und neue zu knüpfen. Für die Vermittlung von Handelswaren oder dem Abschließen von Handelsverträgen erhielt er Provisionen von Londoner Geschäftsleuten.

Irgend wovon musste er ja leben. Die saisonalen Mieteinnahmen für sein Londoner Stadthaus im noblen Stadtteil St. James’s genügten bei Weitem nicht und zu dem Herrenhaus in Ashington gehörte, außer dem Garten, kein Land, das jemand bestellen könnte. Ergo verfügte er über keine Pachteinnahmen wie viele andere Adelige. Die einstmals großen Ländereien, wie eine dreihundert Jahre alte Karte an der Wand seines Arbeitszimmers belegte, waren von den Ahnen allesamt verspielt worden.

Sein Vater hatte der Verarmung das Krönchen aufgesetzt, als er im trunkenen Zustand mit einer Öllampe stürzte und daraufhin der noch bewohnte Teil des Herrenhauses ausbrannte. Samt verbliebenen wertvollen Ölgemälden und dem meisten Mobiliar. Es glich einem Wunder, dass sein Vater das Inferno fast unbeschadet überlebte und mit von Alkohol benebeltem Schädel sogar daran dachte, seinen Sohn in Sicherheit zu bringen. Aiden erinnerte sich noch gut, dass es in Sturzbächen regnete, was letztlich dazu beitrug, dass der Brand nicht das gesamte Herrenhaus zerstörte. Als er es nach so vielen Jahren wiedersah, war er überrascht gewesen, wie begrenzt das Feuer gewütet hatte.

Und die elend lange nasskalte Fahrt in der Brandnacht, von Ashington zu ihrem Londoner Stadthaus, war ihm ebenfalls unvergessen. Noch heute konnte er die Angst vor den Flammen spüren und das Zittern und Frieren in seinem Nachthemd, nur gewärmt von einer muffigen Pferdedecke.

Dass der Vater mit ihm nicht Zuflucht bei Sean suchte, dessen Gut wesentlich schneller zu erreichen gewesen wäre als London, zeugte von der Missstimmung

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 30.07.2020
ISBN: 978-3-7487-5200-4

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
1841 Ashington, Northumberland. Nach zwei Jahren Arbeit in einer Glasmanufaktur, läuft Riccia erstmals dem Arzt des Dorfes über den Weg. Hals über Kopf verliebt sie sich in den attraktiven Mann. Doktor Ed Barseley. Um ihn wiederzusehen, muss sie das vernachlässigte Anwesen des Earl of Chapperford aufsuchen. Dort wird sie gewahr, was sonst niemand weiß, der Arzt teilt sich das Cottage mit dem Earl, Aiden Montgrey. Eine ebenso anziehende Erscheinung. Beide begegnen ihr nett und liebenswert. Beide können die Herzen von Frauen im Sturm erobern. Ihres schlägt heftiger für Ed. Zweifellos erwidert er ihre Gefühle und bringt ihr ungeahnte Empfindungen nahe. Doch das Dekolletee von Lady Townsend, der Verlobten des Earls, scheint ihm auch sehr zu gefallen. Und er zögert bei Riccias Frage nach einer gemeinsamen Zukunft. Aiden Montgrey hadert mit seiner Zwangslage. Nur wenn die bezaubernde Riccia ihn und seinen Freund besucht, fühlt er Leichtigkeit im Herzen.

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