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Prolog

Um mich herum war es still, zu still für einen Sonntagnachmittag. Normalerweise hätte man hier irgendwo laut kreischende Kinder hören müssen, die vollkommen in ihrer eigenen kleinen Welt aufgingen. Eltern hätten dann entweder nach ihren Kindern gerufen oder mit einem guten Freund getratscht. Das Kreischen der Sägen aus dem Sägewerk um die Ecke hätte man hören müssen. Einen Vogel oder zumindest den Wind, der laut raschelnd durch das Laub der Bäume fuhr, hätte erklingen müssen. Doch stattdessen herrschte absolute Stille. Totenstille. Ein schreckliches Gefühl.

Dennoch ließ ich mich nicht entmutigen, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Bebend holte ich Luft und setzte einen Fuß vor den anderen. Das Knirschen des Kieses und das Brechen kleiner Äste unter meinen Schuhen waren ohrenbetäubend. Mein Herz hämmerte wie wild in meiner Brust. Warum tat ich das hier? Auch ja, ich wollte unbedingt nach Erinnerungsstück suchen, bevor das Gehöft komplett zerfiel. Andere Menschen hätten einfach den jetzigen Besitzer um Erlaubnis gefragt, aber ich doch nicht, denn ich war ja Nory.

So kam es, dass ich an einem Sonntagnachmittag halb vermummt vor meinem alten Zuhause stand. Es war eine Mischung aus total genial und absolut lächerlich. Zumindest mein Adrenalin feierte mich und ließ meine Finger wie bei einer alten Dame zittern. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte ich mir dann endlich einen Weg zum Hintereingang erschlichen. Vermutlich hätte ich hier auch laut trällernd und wild herum hüpfend reinmarschieren können, es hätte eh keine Menschenseele interessiert. Warum auch? Es war hier ein gottverlassenes Dorf. Tja, aber so wie ich halt war, hielt ich mich dicht an der Hausmauer. Was von außen betrachtet wirklich zum Schreien komisch gewesen wäre. Ein Mädchen mit einer blütenweißen Mütze, einem rein weißen Schal vor dem Mund, einem knallrotem Mantel und sagenhaften zehn Zentimeter Absätzen presst sich im Hochsommer gegen den gräulichen Putz einer dreißig Jahre alten Hauswand, um nicht entdeckt zu werden.

Wie dem auch war, ich hatte Glück, denn in der Tür vor mit steckte ein goldener Schlüssel. Geschwind, das hieß so geschwind wie man ungeübt auf zehn Zentimetern Pfennigabsatz halt sein konnte, schlüpfte ich durch die große, verblichene Tür ins kühle Innere des Hauses. Den Schlüssel ließ ich augenblicklich in meiner Manteltasche verschwinden. Erst danach sah ich mich in dem Raum um. Er war kniehoch mit den verschiedensten Dingen aus unserer Zeit hier bedeckt und roch nach altem Lack. Der Geruch beruhigte mich und erinnerte mich daran, dass hier einst unser Vater an seinem Motorrad rumgewerkelt hatte. Mein Bruder half ihm viel dabei. Ich wurde immer nur aus der Garage gescheucht, da ich entweder mit den Pinsel und dem Lack herumspielte oder Werkzeuge verschleppte. Was war ich doch für ein freches Kind. An die Gesichter der beiden, wenn sie Motorrad fuhren, konnte ich mich noch gut erinnern, als wäre es gestern gewesen. Die beiden waren so glücklich gewesen.

Das Scheppern eines umgestürzten, leeren Lackeimers vor meinem Schuhe brachte mich zur ins Hier und Jetzt. Ich würde den Raum durchqueren müssen, um ins Haupthaus zu gelangen. So begann ich mir einen Weg durch sieben Jahre Kindheit zu bahnen. Dank meiner Schuhe dauerten diese fünf Meter geschlagene fünf Minuten. Die Sachen waren allesamt verdreckt und zerrissen. Es versetzte mir einen Stich ins Herz, das jemand so achtlos mit unseren Dingen umging. Aber was hatte ich auch erwartet? Für den heutigen Besitzer hatten all diese Dinge keinen Wert.

Schweren Herzens ging ich durch die alte Waschküche, den kurzen Flur herunter und stand dann im großen Flur. Unsere alte Garderobe hing noch am selben Fleck wie eh und je. Mit einem Lächeln auf den Lippen hing ich meinen Mantel, den Schall und die Mütze dorthin. Früher musste ich dazu immer auf die Bank klettern, doch mittlerweile war ich großgenug, nun meinen Mantel so aufzuhängen. Danach ging ich in unser kleines Vorhaus, um meine Stiefel auszuziehen. Nostalgisch sah ich mich um, dort standen die Fußballschuhe meiner Mutter, Schuhe meines Bruders und winzige Schühchen von mir. Aus Gewohnheit sah ich in die Schublade der Kommode und als hätte ich es gewusst, fand ich darin unsere alten Schlüssel. Ohne lang darüber nachzudenken steckte ich mir die Schlüssel ein.

Auf dem Rückweg zögerte ich kurz an der Schwelle unseres Kellers. Doch ich traute mich nicht allein in die Dunkelheit, genau wie früher. Meike, mein großer Bruder, musste immer mit mir Kartoffeln holen gehen. Unsere Eltern fanden das immer ziemlich lustig. Mit schnellen Schritten ging ich weiter, nun war ich nur noch barfuß, trug ein rotes Top und kurze Shorts. Mein nächstes Ziel waren unsere Küche und das Wohnzimmer. Kaum hatte ich die Türschwelle überschritten, brach eine Welle von Erinnerungen über mir zusammen. Wir haben uns hier gestritten und versöhnt, gelacht und geweint. Doch das Wichtigste war, das wir hier alle immer wieder zusammenkamen. Das alles war vor der Trennung meiner Eltern und der Krankheit meines Bruders.

Ohne es selbst wirklich zu bemerken, hatte ich mich auf der alten Essecke niedergelassen. Ich fühlte mich in diesem Moment steinalt und das mit achtzehn. Mit Mühe hielt ich meine Tränen zurück. Es tat so weh an all das Schreckliche zu denken und doch ist es passiert. Ich würde all das nicht mehr rückgängig machen können, ob ich es nun wollte oder nicht, denn das Leben hatte keinen Reset-Knopf. Langsam stand ich auf und ging weiter. Meine Schritte waren schwer auf dem abgewetzten Parkett. Früher hatte ich gehofft ein Heilmittel für Meike zu finden. Irgendetwas. Doch wer war ich? Ein Wunderkind, das binnen vier Monaten ein Mittel gegen Kerbs fand?

Erst das laute Klatschen meiner Handflächen auf den Steinfließen holte mich in die Realität zurück. Ich musste an einer Stufe hängengeblieben sein und hatte mich der Länge nach hingelegt. Junge, brannte das vielleicht an meinen Schienbeinen. Morgen würde ich an diesen Stellen zwei dicke, fette, blaue Flecke haben. Etwas benommen rappelte ich mich wieder auf. Die steinernen Treppen brannten sich eisig in meine Fußsohlen. Mit jeder weiteren Stufe nach oben wurde ich langsamer bis ich am Ende auf der letzten Stufe stehenblieb. Wie oft wir hier die Stufen heruntergerutscht sind. Es tat zwar höllisch weh, war aber wenigstens ebenso lustig. Unsere Mutter fand das immer nicht so lustig, nicht dass sich nochmal jemand das Steißbein brechen könnte. Mensch, das gab Ärger, wenn sie uns erwischt hatte. Der Einzige, der uns in solchen Momenten vor Strafen bewahrt hatte, war unser Vater. Er meinte immer, wir seien noch Kinder und Kinder müssen sich austoben dürfen.

Es fühlte sich so seltsam an, nach all den Jahren hierher zurückzukommen. Hierher wo wir alle so glücklich waren, bevor sich alles veränderte. Aus dem Augenwinkel sah ich meine weiße Zimmertür. Wie es wohl dahinter aussehen würde? Die Neugier packte mich und ich überwand die letzten Meter bis zu meinem Zimmer. Früher stand an der rechten Seite ein Hochbett, links zwei Schränke und an der Wand neben dem Fenster hing ein Regal mit meiner heißgeliebten Steinsammlung.

Mit schweißnassen, zittrigen Hände drückte ich die Klinke herunter und zog die Tür auf. Grelles Licht blendete mich. Aus Reflex versuchte ich meine Augen mit den Händen abzuschirmen, als mich etwas nach vorn zerrte. Ein gellender Schrei löste sich von meinen Lippen, dann versank die Welt um mich herum in Dunkelheit …

Kapitel 1

 

„Sie ist wach! Sie ist wach! Sieh nur!“, kreischte jemand aufgeregt in meiner Nähe. Stöhnend setzte ich mich auf und rieb mir meine Augen. Was zur Hölle war passiert in meiner Zimmertür?

„Na sieh mal einer an, Dornrösschen ist doch noch aufgewacht“, spottet ein andere. Blinzend öffnete ich meine Augen und sah in ein Paar leuchten orangen Augen, deren Pupille einen vertikalen Schlitz darstellte. Mit einem Schrei krabbelte ich panisch weg von ihm. Was ihn und den anderen nur zu belustigten schien. Ich legte mir die Hand auf mein wildpochendes Herz, um es irgendwie zu beruhigen. Doch als ich die beiden ansah gefror mir das Blut in den Adern. Vor mir standen zwei Typen in zerfetzten, schwarzen Klamotten mit Flügeln, die der einer Fledermaus in nichts nachstanden, und einem Paar Hörner auf dem Kopf, die denen eines Stiers ähnelten. Durch ihr Erscheinungsbild und meiner Verwirrung kam es zu einer Art geistigen Kurzschluss bei mir.

„Oh mein Gott. Was hab ich getan um in der Hölle zu landen? War es der Einbruch? Ich bereue in zu tiefst, aber bitte lasst mich nicht in der Hölle verrotten“, brach es aus mir heraus und ich konnte nur mit Mühe Tränen unterdrücken. Der größer von beiden mit den schwarzen Haaren und dem asiatischen Touch brach in schallendes Gelächter aus: „Die Hölle, du bist gut.“

„Du bist noch sehr lebendig und in Eyschen“, klärte mich der etwas kleinere, blonde Typ auf, dessen Augen blutrot waren.

„Eyschen?“, wiederholte ich ungläubig. Was sollte das sein? Ein mir unbekannter Freizeitpark? Ein Shoppingcenter? Ein …

„Eyschen, das Land der vielen Möglichkeiten. Eine von vielen Parallelwelten“, sprach er weiter und breitete dabei seine Arme einladen aus. Mit einem Schlag verpuffte all meine Angst, sodass ich ganz trocken antwortete: „Willst du mich verarschen? Unsere Forscher und Astronauten erforschen jahrelang unseren Weltraum und finden kein Zeichen von Leben und ihr zwei Typen, die sich wie Ausgeburten der Hölle verkleiden, erklärt mit allen Ernstes, dass es Parallelwelten gibt. Euer Ernst?“

„Ich sag dir doch, sie ist nicht von hier. Damit hätte ich die Wette gewonnen“, meinte der Größere amüsiert. Genervt rollte der andere mit den Augen und warf ihm etwas zu. Etwas verstört beobachtete ich die beiden. Sie konnten unmöglich Recht haben. Doch ich beschloss erst einmal nicht weiter zu wiedersprechen, denn übernatürlich waren die beiden auf alle Fälle.

„Dankeschön“, flötete der Größere nur.

„Och man, das war meine letzte Packung“, maulte der Kleinere rum und beide schien mich vollkommen vergessen zu haben. Ich nutzte die Zeit um mich etwas umzuschauen. Es war wirklich schön hier. Das Gras und die Blätter der Bäume waren ganz weiß, das Wasser des kleinen Bäuchleins neben uns hingegen war kristallklar und der fast schwarze Boden war von Rissen durchzogen, an diesen Stellen trat rosa Licht hervor, welches allem einen rosanen Schimmer gab. Der Himmel war mit einer Art Nebel verhangen und ich konnte den weißen Fleck, den ich als Sonne wahrnahm, nur erahnen.

„Sagt mal wer seid ihr eigentlich?“, warf ich gedankenvolleren ein. Damit unterbrach die beiden und ihre Gekabbelei. Der Kleiner antwortete mir: „Wir sind zwei Dämonen aus Locas Armee. Ich bin der zweite General Nathan und das ist unser erster General und Locas rechte Hand Silver.“

Ohne mein Zutun klappte mir die Kinnlade herunter: „Im Ernst?“

„Nein, im Detlef“, erwiderte Silver etwas genervt und erntete dafür nur einen finsteren Blick von mir.

„Was machen wir jetzt mit ihr? Wenn sie nicht von hier ist hat sie sich auch noch nicht für eine Seite entschieden“, gab Nathan zu bedenken. Silver legte seine Stirn in Falten und meinte dann ruhig: „Wir nehmen sie mit zu Loca. Soll er entscheiden was mit ihr passiert. Wie heißt du eigentlich?“

„Nory“, gab ich kurz zurück und mir gefiel gar nicht, was die beiden da beschlossen hatten. Ich bildete mir gehört zu haben, dass Silver kaum hörbar meinen Namen wiederholte. Da er mich bei allerdings nicht weiter beachteten, musste es wohl Einbildung gewesen sein. Warum sollte er auch meinen Namen wiederholen? Mir schossen verschiedenste Gründe dafür ein und ich fragte mich wirklich, ob alles bei mir in Ordnung war. Schließlich schieden mindesten die Hälfte der Gründe aus, weil er eine mir komplett fremde Person war. Ich schüttelte ganz leicht den Kopf, um meine Gedanke loszuwerden. Zugegeben die zwei faszinierten mich schon etwas und sie war vermutlich ziemlich attraktiv. Beide hatten trainierte Körper und waren recht schlank. Silver war allerdings kräftiger als Nathan, der neben ihm etwas schlaksig wirkte. Die mächtigen Schwingen beeindruckten und ängstigten mich zugleich. Nathan hatte etwas kleiner pechschwarze Schwingen, die beinahe schon samtig wirkten. Die Silbergrauen von Silver bildeten ein komplettes Kontrastprogramm dazu. Sie waren von dünnen, dunklen Adern durchzogen und wirkten dadurch spröde und rissig, wie altes Pergament. Nichts destotrotz  musste ich mich jetzt nicht wie ein Teeniemädchen verhalten, dass alles tot analysiert und immer einen romantischen Hintergrund dabei sieht. Diese Phase hatte ich mit dreizehn, also brauchte ich sie jetzt nicht noch einmal. Es war eine echt anstrengende Zeit.

Eilig konzentrierte ich mich wieder auf die Fakten und verschränkte demonstrativ meine Arme vor der Brust: „Ihr nehmt mich hier nirgendwo mithin. Immerhin ist das hier ein freies Land!“

Nathan lachte nur, während Silver mich von oben herab betrachtete: „Ich enttäusche dich ja nur sehr ungern, aber du hast hier nichts zu melden. Mir wäre es ein Leichtes dich auszuknocken und dann einfach zu verschleppen oder dich einfach zu packen und mitzunehmen. Du bist ohnehin viel zu schwach, um dich zur Wehrzusetzen. Und zum Thema freies Land, du bist hier in einer Parallelwelt. Also ganz egal woher du vielleicht kommst, dies hier ist kein freies Land. Hier gibt es zwei große Königreiche, die nun schon seit mehr als zehn Jahren im Krieg miteinander liegen. Zum einem wäre da unser König Loca und zum anderen Elenya und ihr Gatte Yamato, das Königspaar, dass die Allianz der Gerechtigkeit, wie sie sich selbst nennen, anführt. Beide Seiten nehmen sich nicht viel.“

„Was soll das denn heißen? Außerdem muss das Volk ja nicht gleich ungerecht behandelt werden, nur weil es Könige gibt“, warf ich bissig ein. Warum ich ausgerechnet Silver mit seinem stechenden Blick und der grimmigen Miene wiedersprechen musste, wusste ich auch nicht so genau, denn sein Gesicht verdunkelte sich nur noch mehr und da passierte es wieder. Ich hatte einen meiner geistigen Kurzschlüsse. Völlig zusammenhangslos haute ich spöttisch raus: „Mach so weiter und du bekommst tiefe Furcht an Stelle deiner jetzt schon vorhandenen Falten, da würde nicht mal mehr aufspritzen dagegen helfen können.“

Nathan blieb das Lachen im Halse stecken. Silvers Gesichtszüge war am spannendsten zu beobachten. Zunächst sah er mich wie so ein Schaf an, sprich mit einem komplett verständnislosen Blick, dann hörte ich das wohl mit Abstand schönste und aufrichtigste Lachen seit langer Zeit. Nur damit er dann wieder seine Maske von über dreißig Jahren aufsetzen konnte, schließlich dachte ich für einen Moment er könnte Mitte zwanzig sein.

„Du hast Mut, das muss ich dir lass, Nory. Allerdings weiß ich nicht, ob es wirklich Mut oder eher Dummheit bei dir ist“, er hielt kurz inne und sah mich abschätzig an, „Wie dem auch sei. Du solltest gewarnt sein so einen Spruch vor Loca zu reißen, denn nicht einmal ich könnte dich vor seinem Zorn beschützen, auch wenn ich der zweitmächtigste Mann im Königreich bin, denn so sieht es in unserer Welt aus. Der König und auch nur der König allein hat die Entscheidungsmacht über das Schicksal jedes Einzelnen in seinem Königreich.“

Seine Warnung gab mir zu denken. Warum sagte Silver mir das? Aber noch viel wichtiger, warum sah Nathan so aus, als würden man ihm diese Worte körperliche Schmerzen zufügen? Irgendetwas was damit zu tun hatte verband die beiden, da war ich mir sich. Ich beschloss zu versuchen, herauszufinden was vorgefallen war. Schließlich würde ich vermutlich in nächster Zeit nicht nach Hause zurückkönnen und war in dieser Parallelwelt, oder was auch immer das hier war, gefangen, dann könnte ich auch das Beste daraus machen und meine Neugierde stillen. Auch wenn es nie gut war seine Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken.

„Gut, wo lang muss ich, um zu Loca zu kommen?“, wollte ich wissen und akzeptierte damit das Unvermeidliche. Wer weiß vielleicht gab ich zu leicht auf und vertraute den beiden zu sehr, aber was blieb mir groß anderes übrig? Gut, ich hätte mich wie alle Schauspieler in Filmen laut stark heulend und zeternd dagegen sträuben können, dass das hier nicht real war und so weiter. Doch um ehrlich zu sein, seit ich mich erinnern konnte, glaubte ich fest daran, dass irgendwo all die Fabelwesen aus den ganzen Geschichten zu finden waren. Es machte mich beinahe schon glücklich zu wissen, dass ich mich nicht geirrt hatte, auch wenn meine momentane Situation eher zum Verzweifeln war. Wenn ich hier auf eine Nixe stoßen würde, würde ich vermutlich Bauklötze staunen, denn von Nixen war ich am aller meisten fasziniert.

„Du bist echt lustig, erst meckerst du rum, dass du nicht zu Loca willst und jetzt bettelst du regelrecht dorthin zu kommen. So typisch für euch Frauen“, amüsierte sich Nathan nur und riss mich damit unsanft aus meinen Tagträumen. Silver quittierte das nur mit einem zufriedenen Nicken. Wie einfach die beiden doch zufrieden zu stellen waren. Danach blickten sie mich etwas abschätzend an und tauschten Blicke miteinander aus.

„Was waren das denn bitte für Blicke?“, wollte ich empört von ihnen wissen.

„Wir mussten eben abschätzen wie schwer du bist“, kam die knappe Antwort von Silver zurück und mir klappt die Kinnlade herunter. Das hält man nicht im Kopf aus mit den beiden.

„Wie bitte?!“, schrie ich sie beinahe an, damit kugelte sich Nathan förmlich vor Lachen. Silver sah mich nur trocken an: „Irgendwie müssen wir ja einschätzen können, wer von uns beiden dich mitnimmt. Da du für Nathan zu schwer bist, nehme ich dich mit. Was im Übrigen nicht üblich ist, da ich den höheren Rang habe.“

Die Aussage klang jetzt auch gar nicht arrogant oder so … was ein widersprüchlicher Typ dieser Silver. Doch das Beste sollte erst noch kommen: „So bald wir im Palast sind, werden wir General Nathan und General Silver für dich sein, verstanden?“

„Alle klar, Herr General“, gab ich belustigt zurück. Ausnahmsweise reagierte Silver nicht auf meine Witzeleien. Er schenkte mir nur einen seiner finsteren Blicke. Auf einmal versteiften sich die beiden und waren mucksmäuschenstill. Mit ihren Augen fixierten sie einen Punkt hinter mir an Horizont.

„Wir sollten los“, warf Nathan ein. Silver nickte nur und kam auf mich zu. Unsicher was gleich passieren würde stand ich etwas unbeholfen auf.

„Du klammerst dich am besten gut an mir fest und lässt auf keinem Fall los“, riet mir Silver und legte seine Arme um meine Taille. Unfreiwillig brannten mir die Wangen. Herrgott nochmal! Nory reiß dich zusammen, rief ich mich selbst zur Besinnung. Zögerlich schlang ich meine Arme um seinen Hals.

„Die Beine auch, sonst fällst du nur runter“, wies er mich etwas genervt an. Seine Stimme war leise, rau und viel zu dicht an meinem Ohr. Ich bewegte mich nicht einen Millimeter. Keine Ahnung, wie ich das mit meinem Kopfkino überleben sollte. Rational gesehen war ja eigentlich nicht viel dabei, aber in meinem Kopf ging es ab. Scheinbar lebte mein inneres Alter Ego von dreizehn Jahren gerade voll auf.

„Beeilt euch wir müssen los. Die Wachen sind gleich da“, mahnte uns Nathan. Silver hob mich daraufhin einfach mit einem leicht genervten Schnauben hoch. Im ersten Moment starrte ich ihn einfach nur an. Er erwiderte völlig ungerührt meinen Blick. Mit brennenden Wangen schluckte ich meinen ersten Schreck herunter und gab innerlich klein bei. Während ich meine Beine um seine Hüfte schlag, behielt ich meinen Blick fest auf das Gras gerichtet. Das war jetzt irgendwie seltsam gewesen. Seit wann musste mich denn nur noch jemand ansehen, um mich komplett einknicken zu lassen?

Keine zwei Sekunden später schlug Silver kräftig mit seinen zwei Flügeln, sodass wir uns langsam in die Luft schraubten. Nach fünf Höhenmetern schnappte ich nach Luft. Ich hatte nicht gemerkt, dass ich die Luft angehalten hatte. Mein Plus raste je höher wir stiegen. Allerdings wurde der Anblick, der sich mir bot, immer atemberaubender. Dieses Gefühl, das mich durchströmte. Einfach unbeschreiblich. Einerseits war es unglaublich tatsächlich zu fliegen oder besser es war unglaublich, dass Silver fliegen konnte. Andererseits ängstigte mich die Tatsache an die achtzig Meter nur an Silver festgeklammert in der Luft zu hängen zu Tode. Man könnte wohl sagen, dass es mir einen unglaublichen Adrenalinkick gab, denn ich nie wieder vergessen würde. So gesehen war es der reine Wahnsinn.

Ab und an verdrehte ich mir meinen Hals, um irgendetwas von der Aussicht mitzubekommen. Unter uns flogen die rosafarbenen Baumwipfel dahin und ich erkannte, dass der ganze Boden von Rissen überzogen war. Das Gefecht was sich daraus ergab war atemberaubend. Doch viel mehr als die Landschaft faszinierten mich Silvers Flügel. Sie hoben und senkten sich gleichmäßig. So dünn und doch belastbar. Außer der eisigen Luft, die mich in einen Eisblock verwandeln wollte, war der Flug eigentlich ganz aushaltbar. Von Zeit zu Zeit beobachtete ich auch mal Nathan. Er schien allerdings ganz in Gedanken versunken zu sein und flog ganz brav Silver nach, was das Beobachten von ihm eher uninteressant machte. Verrückt war nur die Vorstellung, dass die zwei Generäle sein sollten. Gut ich weiß auch, dass man Büchern nicht nach ihrem Einband bewerten soll, aber die zwei wirkten auf mich einfach nicht so. Das könnte auch daran liegen, wie ich sie erlebt hatte, als ich hier aufgewacht bin.

„Ist dir kalt?“, fragte eine warme Stimme neben meinem Ohr. Vor Schreck hätte ich beinahe losgelassen, doch dann besann ich mich, dass es Silvers Stimme war. Mittlerweile klapperte ich lautstark mit den Zähnen und zitterte am ganzen Körper. Ich hätte es auch gar nicht wirklich gemerkt, wenn er mich nicht gefragt hätte. Allerdings hinderte mich dieser Zustand nicht daran die große Klappe zu haben.

„Nein, warum auch? Ich hänge hier ja nur in Top und Shorts rum“, gab ich sarkastisch zurück. Warum hatte ich eigentlich schlechte Laune? Musste wohl an der Kälte liegen. Silver schnaubte nur: „Ich kann auch nichts dafür, dass du nur die paar Fetzen anhast.“

„Das sind keine Fetzen, das sind Kleidungstücke“, fauchte ich und funkelte ihn wütend an, wofür ich mir etwas den Hals verrenken musste, aber das war mir in diesem Moment egal.

„Bei uns würde das nicht einmal als Unterwäsche durchgehen, zumindest was deine Hose angeht“, gab er belustigt zurück. Ich schnappte nach Luft.

„Dein Ernst?! Das ist keine Unterwäsche! Das sind ganz normal Klamotten, die immer Sommer fast jedes Mädchen auf der Straße trägt“, erwiderte ich empört und stemmte schon mal mental meine Hände in die Hüfte. Wenn er glaubte mich, wegen meiner Kleidung beleidigen zu können, hätte er sich geschnitten. Was dachte er sich eigentlich, wer er war?

„Ihr habt schon eine komische Welt, wenn dort Frau mit am Tag in Unterwäsche herumrennen dürfen und sie nicht einer bestimmten Arbeitsgruppe angehören“, meinte Silver nur ruhig. Mir klappte die Kinnlade herunter: „Hast du mich gerade wirklich als Prostituierte bezeichnet?!“

„Nein, so etwas heißt bei uns Hure“, erklärte er mir seelenruhig mit einem undefinierbaren Funkeln in den Augen. Und da passierte es. Hirnfrost, denn ein Kurzschluss allein, konnte die folgende Aktion nicht erklären, geschweige denn entschuldigen. Ich stieß in mit voller Wucht von ihm weg und fauchte: „Du hast sie ja nicht mehr alle!“

Was danach geschah war nicht mehr ganz so lustig, denn ich fiel wie ein Stein vom Himmel. Es geschah für mich alles in Zeitlupe, während ich fiel. Ich hatte die Überraschung und den Schock in seinen Augen gesehen, als ich ihn weggestoßen hatte. Der Gesichtsausdruck passte nicht zu ihm. Schreckgeweitete Augen und leicht geöffnete Lippen. Seltsam, wenn ich so darüber nachdachte. Ich hörte Nathan fluchen und Silver meinen Namen schreien. Seine Stimme klang so schrill und verzweifelt. Nur ich selbst fühlte nichts mehr. Der Himmel war so milchig mit zwei schwarzen und einem weißen Fleck.

Die Äste krachten und barsten unter meinem Rücken. Sie konnten meinen Fall nicht mehr bremsen. Doch der Schmerz, den ich normalerweise in meinem Rücken empfinden müsste, wollte nicht kommen. Völlig unvermittelt musste ich an das klinisch weiße Krankenhauszimmer denken in dem Meike gelegen hatte. Wie er sich damals wohl gefühlt hatte? Ist er einsam am Ende gewesen? Ich konnte mich noch zu gut an diesen Abend erinnern. Unsere Eltern wollten wieder nach Hause gehen und Meike hatte mich noch gebeten zu bleiben, weil er nicht alleine sein wollte beim Essen. An diesem Tag war unsere Mutter unglaublich entnervt gewesen und wurde von mörderischen Kopfschmerzen geplackt, während unser Vater schon zu sehr mit der Trennung beschäftig gewesen war. Sie hatten es auf jeden Fall geschafft mich irgendwie aus dem Raum zu zerren. Meike hatte am Ende nur leicht gelächelt und gemeint, dass es in Ordnung wäre. Der Weg zum Auto war schrecklich beklemmend gewesen. Je näher wir dem Auto kamen und unsere Eltern sich wieder leise gestritten hatten, desto schlechter ging es mir. An der Autotür hatte ich gewusst, dass etwas nicht stimmte. Ohne auf die Rufe meiner Eltern zu hören bin ich zurück gesprintete. Die zwei Etagen hoch und den Flur runter. Mein Blut war so unglaublich laut in meinen Ohren gewesen. Nur ein Ton hatte alles andere übertönt und jede Hoffnung erstickt. Der Ton erklang aus Meikes Zimmer und hatte sich in meine Ohren hineingefressen.

In meinem Kopf erklang das monotone Piepen aus dem Krankenhaus. Das letzte Geräusch vor der endlosen Stille. Eine große, karamellfarbene Hand tauchte in meinem Blickfeld auf. Noch in Trance griff nach der Hand und wurde in die Realität zurückgezerrt oder besser in Silvers Arme. Er zog mich fest an sich und legte seine Flügel wie ein Kokon um uns herum. Wir krachten zusammen durch die Baumwipfel auf den Boden zu. Ich spürte, dass sich seine rechte Hand zwischen meinen Schulterblättern bewegte und flink ein Zeichen beschreib. Was genau er da zeichnete, vermochte ich nicht zu sagen. Danach krachten wir mit einem ohrenbetäubenden Grollen auf die dunkle Erde. Beim Aufprall kniff ich meine Augen fest zusammen. Vorsichtig blinzelte ich durch meine Wimpern und blickte in Silvers besorgtes Gesicht. Verblüfft riss ich meine Augen auf. Er hatte Angst um mich?

 „Mach das nie wieder“, knurrte Silver nach einem kurzen Schweigen und zerstörte den Moment.

„Dann nenn mich nie wieder eine Hure“, zischte ich zurück. Ich wollte mich von ihm losmachen. Doch er war nicht gewillt mich loszulassen.

„Ich nenne dich, wie ich will“, grollte er, wobei seine orangen Augen aufglommen und fügte hinzu, „Ich hab dich nur nicht zerschellen lassen, weil wir dich vielleicht noch brauchen können.“

Mir lief es eiskalt das Rückgrat runter und ich hätte bestimmt etwas Zynisches erwidert, wenn Nathan nichts gesagt hätte. Aus einiger Entfernung hörte ich ihn nur fragend rufen: „Seid ihr in Ordnung?“

„Ja“, rief Silver ruhig zurück und legte seine Flügel an, sodass sich mir ein Blick auf unsere Umgebung bot. Hätte er mich nicht festgehalten, wäre ich vor Schreck in die Knie gegangen. Um uns herum war ein riesiger Krater von dem Aufprall. Er war gute vier Meter tief und hatte einen Durchmesser von drei Metern. Um uns herum schien alles verbrannt zu sein. Selbst die Bäume außerhalb des Kraters waren versengt, als ob hier gerade ein Komet in die Erde gekracht wäre.

„Was ist denn hier passiert?“, hauchte ich und konnte nicht fassen, was ich hier sah.

„Irgendeiner musste nachgeben. Entweder der Boden oder ich und ich gebe nicht nach“, kommentierte Silver das Ganze trocken. Ich schluckte und wurde mir erst jetzt annähernd bewusst wie viel Kraft er haben musste. Wobei war das gerade wirklich seine körperliche Kraft gewesen oder etwas anderes? Mir kam der Gedanke an Magie, denn was sollte ihr nicht möglich sein?

„Kommt ihr zwei da alleine raus?“, unterbrach Nathan meinen Gedankengang.

„Wird schwierig, ich hab mir die Flügel teilweise aufgerissen und sie kann für die nächsten paar Tage nicht mehr alleine stehen“, gab Silver selbstsicher zurück.

„Was? Natürlich kann ich alleine stehen“, protestierte ich. Er sah mich bloß abschätzig an und meinte: „Nein, kannst du nicht.“

„Das kannst du doch gar nicht wissen“, schoss ich trotzig zurück und funkelte ihn wütend an. Silver ließ mich daraufhin einfach los. Ich stand für zwei Millisekunden, dann knickte mein linker Oberschenkel in der Mitte ein und ich war zu meinem eigenen Schock im Begriff zu Boden zu segeln. Er fing mich auf bevor ich den Boden erreichte, mit den selbstgefälligen Worten: „Sag ich doch.“

Mich selbst hingegen durchflutete heiß-kalte Panik. Mein Oberschenkel war gebrochen und wer weiß wie mein Rücken aussah. Das einzige Problem was mir einen richtigen Schock versetzte, war die Tatsache, dass ich keinerlei Schmerzen spürte. War mein Rückgrat gebrochen? Würde ich gelähmt sein? Ich brach innerlich komplett in Panik aus. Es ging sogar soweit, dass Schweißperlen auf meiner Stirn auftraten. Silver beobachtete mich währenddessen aufmerksam.

„Wenn ich sie rausfliege, schaffst du es dann alleine nach oben?“, hörte ich Nathan am Rande fragen.

„Denke schon, aber erstmal musst du Nory hieraus bekommen“, gab Silver zurück. Keine fünf Sekunden später stand Nathan hinter mir. Er holte scharf Luft: „Das hast du jetzt nicht wirklich gemacht?“

„Das ist jetzt unwichtig. Hilf ihr lieber hieraus“, wies Silver ihn an. Doch Nathan konnte nicht die Füße stillhalten: „Du weißt, dass dich das alles kosten kann, was wir uns aufgebaut haben?“

„Ich sagte, dass das jetzt unwichtig ist“, knurrte Silver mit finsterem Blick. Ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt, als den beiden richtig zuzuhören. Vielleicht könnte ich nie wieder laufen können.

„Unwichtig?“, wiederholte Nathan aufgekratzt.

„Nathan, es würde mehr helfen, wenn du sie hieraus bringst. Wir können später darüber reden“,  meinte Silver eindringlich und da Nathan vorerst kleinbeigab, wand er sich mir wieder zu, „Nathan fliegt dich jetzt hieraus. Du musst dich nur gut festhalten.“

Er war irgendwie viel zu freundlich für seine Verhältnisse. Ich zögerte kurz, dann schluckte ich meine Panik fürs erste herunter und versuchte mich mit seiner Hilfe an Nathan festzuhalten. Für den Bruchteil einer Sekunde war mir so, als hätte ich Blut an Silvers Hand gesehen. Ich musste mich geirrt haben, denn wann sollte dort Blut herangekommen sein?

„Halt dich fest“, wies mich Nathan an. Ich krallte meine Finger regelrecht in seinen Nacken, während er begann mit seinen Flügel zu schlagen. Nachtschwarze Schwingen. Nathan ächzte unter meiner Last und es brauchte zwei Versuche bevor wir uns langsam in die Luft schraubten. Die fünf Meter nach oben dauerten eine gefühlte Ewigkeit. Mir tat es leid, dass Nathan so ins Schwitzen kam wegen mir und ich hatte das Gefühl, dass ich akut übergewichtig war. Silver war vor uns oben. Flink nahm er mich Nathan ab, bevor ich auf nur ansatzweise protestieren konnte.

„Wir werden die nächste Zeit am Boden bleiben müssen“, eröffnete uns Silver. Für mich war es nur eine Information, für Nathan scheinbar der Weltuntergang: „Bist du denn wahnsinnig?! Wir sollen im Wald bleiben? Erinnerst du dich noch daran, warum wir den letzten Krieg verloren haben? Es lag daran, dass wir in den Wald gegangen sind, weil deine Vorgänger das so befohlen hatte. Und weißt du noch durch wen so viele Dämonen gestorben sind? Dryaden!“

„Nathan, entspann dich und hör auf hier so rumzuschreien. Sonst wirst du schuld daran sein, dass uns die Dryaden finden“, meinte Silver locker und quittierte das Ganze mit einem überheblichem Grinsen, „Außerdem kannst du auch schon vorausfliegen, wenn es hier dir zu riskant sein sollte. Fakt ist, dass ich nicht innerhalb der nächsten zwei bis drei Tage fliegen kann und du kannst weder mich noch Nory nach Hause tragen, weil deine Flügel dafür einfach nicht ausgelegt sind.“

Nathan öffnete seinen Mund, nur um ihn gleich wieder zu schließen.

„Musst du jedes Mal auf meinen Flügeln rumhacken?“, war alles was er trotzig herausbrachte.

„Klar, kennst mich doch“, lachte Silver und lief los. Für eine Weile schwiegen wir. Ich bewunderte still den schillernd grünen Wald, der sich nach dem Krater eröffnete. Überall huschten Vögel und Tier, die unseren Eichhörnchen ähnelten, durch die Bäume. Der Ort hier war wunderschön und so friedlich, wie ein kleines Paradies. Doch eine Frage brannte mir noch immer auf der Seele. Zögerlich verlieh ich meiner Angst Worte: „Werde ich je wieder laufen können?“

Silver sah mir seelenruhig in die Augen und ich spürte Tränen aufkommen.

„Sag mir bitte, dass ich wir laufen werde“, wisperte ich panisch.

„Ja, wirst du“, erwiderte Silver ruhig. Doch sein Lächeln wirkte aus mir unerklärlichen Gründen traurig. Ich wagte mich nicht zu fragen, warum er dabei so unglücklich aussah. Was hatte ich auch für ein Recht darauf, danach zu fragen. So kam es, dass wir alle schweigend unseren Gedanken nachhingen. Der Weg war wirklich schön, wäre zu gern barfuß über das Moos gelaufen. So konnte ich nur die milde Brise und die warme Sonne auf meinem Gesicht genießen. Die Region hier war der komplette Unterschied zu dem Ort, an dem ich aufgewacht war. Hier grünte alles und schien der Innbegriff von Lebendigkeit zu sein. Der andere Wald hatte wie ein Kristallwald gewirkt. Kühl und fremd.

Ich begann mich zu fragen, welche Orte diese Welt hier wohl noch bereit hielt und spürte zu meinem Erschrecken einen gewissen Forscherdrang in mir. Dabei sollte ich so schnell wie möglich zurück zur Erde gelangen. Meine Mutter würde sich vermutlich schon um mich sorgen, da ich nur kurz in unser altes Haus gehen wollte. Wahrscheinlich würde mein Vater das nur als weiteres Argument sehen, um meiner Mutter eins auszuwischen. So ging das schon seit Meikes Tod. Machte ich irgendwas Tolles, ging das natürlich auf ihn zurück. Passierte mir etwas oder machte ich Fehler, ging das alles auf die schlechte Erziehung von ihr zurück. Das ich vielleicht auch einen eigenen Kopf hatte, soweit dachte die beiden nicht mal. Schließlich stand meine Mutter ihm in nichts nach, wenn es hart auf hart kam.

Wie ich so darüber nachdachte, empfand ich den Gedanken nicht mehr zurückzukommen oder zumindest für einen Zeit hierzubleiben gar nicht mal so schrecklich. So könnten sich meine Eltern wenigsten in Ruhe allein an die Gurgel gehen und ich musste mir ihr ewiges Gezanke nicht mehr geben. Ich würde ja nur so lange hierbleiben, bis mein Studium anfängt und ich endlich alleine weit weg von meinen Eltern leben würde. Aber der Tag war noch zwei nicht enden wollende Monate hin.

Silver war schon eine ganze Weile gelaufen, als er abrupt auf einer kleinen Lichtung stehenblieb und verkündete: „Wir werden heute hier rasten.“

„Du wirst uns alle noch umbringen Silver“, murmelte Nathan, während er sich aufmerksam umsah, „Ich werde sehen, ob ich etwas Essbares auftreiben kann. Du wirst es schon schaffen auf sie aufzupassen.“

Ohne lang zu fackeln stapfte Nathan davon. Silver legte mich behutsam in das Gras und setzte sich selbst daneben. Ich wollte mich gerade aufsetzen, als er meinte: „An deiner Stelle würde ich mich jetzt nicht viel bewegen. Dein Rücken und deine Beine sind stark lädiert und teilweise gebrochen, wenn du dich jetzt bewegst, könnten sie am Ende falsch zusammenwachsen.“

„Und sagst du mir als Arzt?“, erwiderte ich sarkastisch.

„Ich sage dir das bloß, als gutgemeinten Ratschlag“, entgegnete er mir. Doch ich ließ mich nicht beirren und konterte voller Sarkasmus: „Ist klar, weil gebrochene Knochen neuerdings nur noch ein paar Tage, anstatt mehrere Wochen zum Zusammenwachsen benötigen.“

„Gebrochene Knochen brauchen im besten Fall nur ein paar Stunden um zu verheilen“, ich konnte die Verwirrungen deutlich aus Silvers Stimme hören. Er schien wirklich davon überzeugt zu sein.

„Wenn das stimmt. Was habt ihr dann bitte für eine gestörte Wundheilung? Ein Schnitt müsste ja innerhalb weniger Sekunden bei euch verheilen“, überlegte ich laut und sah ihn ungläubig an.

„Viel länger dauert es auch nicht“, stimmte er mir zu.

„Das glaube ich dir nicht. So etwas ist unmöglich“, widersprach ich ihm. Silver sah mich kurz an: „Gut dann beweise ich es dir.“

In einer fließenden Bewegung zog er einen Dolch aus einer seiner Hosentaschen, die mir zuvor gar nicht aufgefallen waren. Die Klinge blitzte silbern auf, als er sich in die Hand schnitt. Gebannt starrte ich auf den Schnitt. Zunächst quellten winzige, dunkle Blutströpfchen heraus. Schnell wurden sie größer und ein kleines Rinnsal entstand. Der erste Tropfen fiel nieder auf das Gras. Einige folgten ihm und dann hörte das Blut auf zu quellen. Erstaunt zog ich seine Hand auf die Höhe meines Gesichtes. Ich tastete die Stelle mehrfach ab, doch dort war kein Schnitt zu erspüren.

„Das ist verrückt so etwas sollte gar nicht möglich sein“, haute ich und kroch beinahe schon in seine Hand hinein mit meinem Gesicht. Silver entzog mir grinsend seine Hand: „Ich habe dir doch gesagt, dass das geht.“

„Warum heilen deine Flügel dann nicht auch so schnell?“, wollte ich neugierig wissen.

„Mit unseren Flügeln verhält es sich etwas anders. Es dauert ungefähr zwei Tage bis Risse vollständig verheilt sind und wir wieder fliegen könnten. Falls ein Flügel bricht kann es passiert, dass er entweder gar nicht mehr heilt oder es eine Woche dauert bis man wieder fliegen kann. Manche behaupten, dass unsere Flügel schlechter heilen würden, weil wir sonst das Fliegen nicht schätzen würden. Andere sagen, dass wir verfluchte Kreaturen wären und uns die Flügel ergaunert hätten. Ich für meinen Teil denke, dass es einfach an der schlechteren Durchblutung liegt. Das Blut braucht auch viel länger um durch die Flügel zu zirkulieren, als durch unseren Körper“, klärte er mich auf.

„Wie ihr seid verfluchte Kreaturen?“

„Ach, das behaupten die ganze Elfen, weil sie nicht damit klarkommen, dass sie nicht fliegen können. Dabei würde sie ja von den Feen abstammen und wir wären der letzte Abschaum. Naja, aber was soll man auch von einer vor dem Altar stehengelassenen Frau erwarten“, seufzte Silver und ich wurde hellhörig: „Wie vor dem Altar stehengelassen?“

„Elenya, die Königin der Elfen, war eigentlich Loca, unserem König, versprochen, um den uralten Twist zwischen unseren Völker endgültig zu beenden. Dumm nur, dass Yamato, ihr jetziger Ehemann und König der Elfen, mit Loca am Vorabend der Hochzeit eine, nennen wir es mal, hitzige Diskussion hatte. Dabei ging es darum, dass Loca vor Jahren aus purer Verzweiflung Vieh von ihm geschlachtet hatte, um mit seiner fünf Mann starken Truppe zu überleben. Yamato hat das natürlich als böswilligen Angriff gesehen und wollte an diesem Abend eine Entschädigung für den Vorfall. Ohne lang zu zögern bot Loca ihm Gold an. Doch das langte Yamato nicht und es kam zu einem Handgemenge, das in einem Kampf ausartete. In diesem Kampf wurden Locas Flügel gebrochen. Er lag noch im Morgen bewegungsunfähig in seinem zerstörten Rosengarten, als die Glocken der Kirch läuteten. Elenya wartete vergebens auf ihren Verlobten am Traualtar. Mit ihren verletzten Gefühlen wand sie sich an Yamato. Dann kam eins zum anderen und du kannst dir gar nicht vorstellen wie schnell die Kriegserklärung von ihrer Seite kam. Das alles ist jetzt schon zehn lange Jahre her. Keine von den beiden Seiten konnte über ihren Schatten springen und Frieden schließen“, schloss Silver seine Erzählung gedankenvolleren. Sein Blick war weit in die Ferne gerichtet. Ich fragte mich wie viele Tribute der Krieg jeden Einzelnen in dieser Welt gekostet hatte. Die armen Kinder, die in solch einer Zeit aufwachsen mussten.

„Wie kommt es, dass du und Nathan dann nicht mit der an der Front sind?“, kam es mir in den Sinn. Silver sah mich kurz an: „Wir waren eigentlich gerade auf Erkundungsmission, als du uns vor die Füße gefallen bist. Die Front braucht uns im Moment ohnehin nicht. Der Krieg ist seit nun mehr als zwei Jahren festgefahren und bei Grabenkämpfen bin ich keine große Hilfe. In solchen Momenten gibt es genügend fähige Taktiker in unseren Reihen, denen ich voll und ganz vertraue.“

Mich erstaunte seine Offenheit, hatte ich ihn doch für ziemlich mürrisch und verschlossen gehalten. So stellte ich auch meine nächste Frage ohne Scheu: „Was habt ihr denn erkundet?“

„Nichts Besonderes. Die Dryaden sollen sich angeblich wieder mit Elenya verbündet haben. Wir wollten es überprüfen, da sie sich laut vertraulichen Quellen im Westen sammeln, um zu Elenyas Truppen zuzustoßen…“, Silver endete abrupt mit seiner Ausführung und spannte seinen ganzen Körper an. Den Blick richtete er da starrt in den Wald. Binnen weniger Sekunden erschien Nathan zu seiner Linken. Ich hatte nicht bemerkt wie er wieder zu uns gestoßen war. Um seine Füße herum lagen Hölzer, Wurzeln und jede Menge Beeren. In einer einzigen fließenden Bewegung stand Silver auf. Zeitgleich gingen die beiden leicht in die Knie und verfielen in eine Art Angriffshaltung. Die Stille war zum Zerreißen gespannt. Ich wünschte, ich hätte aufstehen können und nicht würde nicht nur hilflos auf dem Rücken liegen müssen. Momentmal, das musste ich doch gar nicht. Silver hatte es mir nur empfohlen, wobei mein Oberschenkel tatsächlich gebrochen war. Ich entschloss mich ruhig liegenzubleiben und der Dinge die da kamen auszuharren, als Silvers Wispern die Stille durchbrach: „Sie kommen.“

Kapitel 2

 

 „Sieh einer an. Wen haben wir denn hier? Wenn das mal nicht zwei der wohl bedeutendsten Dämonen des Landes sind auf die eine gutes Kopfgeld in Namen von König Yamato ausgeschrieben sind. Man soll sogar zu einem seiner Berater ernannt werden, wenn man einen von euch beiden dem König übergibt“, ertönte eine alte, melodische Stimme aus dem Wald vor uns. Der Baumstamm schien sich zu öffnen  und aus ihm schälte sich eine hölzerne Frauengestalt. Ihre Haare erinnerten an die Zweige junger Weiden. Die Lippen hatte die Farbe eines Rotahorns. In diesem Moment schlug sie ihre moosgrünen Augen auf: „Oh, wen habt ihr denn bei euch? Ein Dämon ist es nicht, aber es ist auch sonst kein Wesen, das ich kenne…“, ihr Blick streifte über meinen Körper, als sich ihre Augen vor Erstaunen weiteten, „Ihr habt es also tatsächlich geschafft Elenyas Wunschgeschöpf zu stehlen.“

Wunschgeschöpf? Ich musste nicht ganz richtig zugehört haben.

„Sie ist nicht Elenyas Wunschgeschöpf, sonst müsste sie Elenyas Mal auf ihrem Körper tragen und das tut sie nicht. Wie andere vor ihr, ist sie lediglich eine Durchreisende in unsere Welt“, erklärte Silver ihr mit finstere Miene. Die Dryade war ein Weilchen um uns herum geschlichen und blieb fünf Fuß vor uns stehen: „Was sollte ihr für eine Interesse an einer Durchreisenden haben? Ihr habt euch seit jeher geweigert einen von ihnen Asyl zu gewähren, geschweige denn hätte ihr euch mit einem von ihm untrennbar verbunden.“

Ich horchte auf, was meinte sie mit untrennbar verbunden? Sollte sie damit mich und einen der beiden gemeint haben? Doch ich schwieg, anstatt nachzuhaken. Ruhig lag ich auf dem Rasen und beobachtete die drei, die von hier unten wie Riesen aussahen. Mir fielen die vielen, kleinen Schnitte und größeren Risse auf Silvers Flügel auf. Teilweise perlte noch Blutströpfchen aus den Wunden. Seine Flügel verheilten wirklich langsamer. Ich sah die vielen, dünnen Narben auf seiner Flügelhaut und fragte mich, wie oft er sich wohl verletzt haben musste, um solch ein Netz aus Narben mit sich herumzutragen.

„Dir kann es doch egal sein, was wir mit einer Durchreisenden anfangen und ob wir uns mit ihr verbinden“, erwiderte Silver. Ich konnte beobachten wie sich seine Nackenmuskulatur anspannt. Doch das eine Wort zog all meine Gedanken auf sich „Durchreisende“. Was meinte sie damit? Gab es etwas schon vor mir Menschen oder andere Wesen, die nach Eyschen kamen und wieder in ihre eigene Welt zurückgekehrt sind? Ich musste nicht, was ich empfinden sollte. Tief in mir stieg Freude auf, die von einer Welle der Enttäuschung fortgespült wurde. Wenn ich wieder Zuhause wäre, würde die Hölle auf Erden beginnen. Schnell schon ich die Gedanken beiseite, ich würde vermutlich genügend Zeit haben um darüber nachzudenken, wenn es so weit war.

„Hm, nun gut. Durchreisende liegen wohl wirklich nicht Interessengebiet meines Volks. Vielleicht würde sich eine Elfe oder eine Fee mehr über ihre Gesellschaft freuen oder eine Harpyie. Sie sollen, so sagt man, recht schmackhaft Eintöpfe aus solchen Geschöpfen zubereiten, um ihren Windgott zu ehren“, plauderte die Dryade und mir drehte sich der Magen um.

„Diese Harpyie essen nicht wirklich Menschen?“, stöhnte ich, während ich eine Würgereiz unterdrücken musste. Schließlich schenkte mir eine Phantasie gerade ein Bild von diesem Eintopf in Hochauflösung. Die Augen der Dryade weiteten sich, sobald ich mit dem Sprechen begonnen hatte: „Sie spricht ja. Ihr nennt euch selbst also Menschen, interessant. Nein, die Harpyien essen euch nicht. Sie kochen euch nur als Altarbegabe“, sie hielt kurz inne und blickte mir tief in die Augen, „So sage du mir, was du in Begleitung zweier Dämonen machst?“

Verblüfft sah ich sie an. Was mache ich eigentlich bei Silver und Nathan? Streng genommen hatte sie es mir befohlen, aber ich hatte mich auch nicht wirklich gewehrt. Ihre Blicke lasteten auf mir, als ich antwortete: „Sie haben mir Hilfe angeboten, während mein Bein verheilt.“

Ich sah für den Bruchteil einer Sekunde Erstaunen in den Gesichtern der beiden, dann entspannt sie sich kaum merklich. Die Dryade wiederrum betrachtete mich noch misstrauischer: „Weswegen solltest du dich dann mit einem von ihnen verbinden?“

„Zum Schutz“, log ich, ohne zu wissen was genau sie damit meinte. Bedächtig legte sie ihren Kopf schräg und verengte ihren mandelförmigen Augen: „Dämonen beschützen keine Durchreisende. Sie töten und quälen sie, aber auf keinen Fall würde sie eine Durchreisende beschützen.“

„Er musste, sonst hätte ich ihn getötet“, kam die Lüge fließend über meine Lippen, obgleich es mir eiskalt den Rücken herunterlief bei ihren Worten. Silver verkniff sich ein Grinsen und ich hoffte, dass sie diese Lüge schlucken würde. Scheinbar klappte es auch.

„Du bist also aus freien Stücken mit ihnen mitgegangen?“, wollte sie nochmals sichergehen. Ich fragte mich, was das für eine Relevanz haben sollte, antwortete aber selbstsicher: „Ja, das bin ich.“

„Nun gut, dann werde ich auch keine Rücksicht auf dich nehmen, denn du hast deine Wahl getroffen“, eröffnete sie mir mit eindringlichem Blick. In mir regte sich ein Stimmchen, das leise bemerkte, dass ich mich gerade selbst auf die Abschussliste gesetzt hatte.

„Und was hast du jetzt mit uns vor?“, wollte Silver locker wissen. Etwas zu locker für meinen Geschmack. Nathan schwieg noch immer angespannt und verfolgte jede noch so kleine Bewegung von ihr. Selbst Silver, der sich so locker gab, hatte seine Angriffshaltung noch nicht aufgeben.

„Da ich nicht weiter aus dem Wald treten kann, werde ich wohl Verstärkung rufen müssen“, sinnierte sie. Nathan unterbrach sie ungeduldig: „Das wird ein paar Stunden dauern und wir könnten während dessen fliehen. Also wofür entscheidest du dich?“

Schmollend schob sie ihre Unterlippe vor: „Typisch Dämonen mit euch kann man einfach nicht spielen. Ihr seid schon ein nerviges Volk. Ich werde Verstärkung holen und euch laufen lassen, da ihr den Wald nicht innerhalb von vier Stunden verlassen werdet. Bis dahin habe ich euch alle auf den Hals gehetzt“, ich schenkte mir einen amüsierten Blick, „Wer weiß, vielleicht finde ich ja auch noch die Zeit den Harpyien zu erzählen, dass wieder eine Durchreisende in Eyschen gelandet ist“, ihr Gesicht erhellte sich vor Verzückung, als sie in mein erblasstes Gesicht schaute, „Wir werden sehen. Eure Zeit zum Weglaufen fängt jetzt an. Wir sehen uns.“

Mit diesen Worten wurde sie wieder eins mit dem Baumstamm, der danach so unberührt wie zuvor aussah. Verblüfft starrte ich regelrecht auf die Stelle, wo die Dryade verschwunden war.

„Ich hab’s dir gesagt! Du wirst uns noch alle umbringen“, brach es aus Nathan heraus. Doch Silver schien ihn gar nicht wirklich wahrzunehmen. Gerade als ich glaubte Nathan würde ihn anspringen, fand Silver die Sprache wieder: „Du fliegst vor und warnst Loca, dass sich die Waldwesen aus Elenyas Armee sammeln. Ihr müsst die angrenzenden Felder vom Wald ständig beobachten und ab sofort immer in Bereitschaft sein. Ich komme mit Nory nach. Wir sollte es vor vier Stunden aus dem Wald schaffen und mit etwas Glück sollte ich bald zumindest für kurze Zeit fliegen können.“

„Das kannst du nicht machen. Es wäre glatter Selbstmord“, wand Nathan ein.

„Das war ein Befehl. Hast du mich verstanden?“, wiederholte Silver tonlos und wechselte von gutem Kumpel zum eiskalt berechnenden General oder zumindest Chef.

„Verstanden“, gab Nathan wiederwillig zurück. Er wirkte vor dem Kopf gestoßen und funkelte mich finster an. Was konnte ich denn dafür? Gut, ich war eigentlich an der ganzen Misere schuld, weil ich mich von Silver losgerissen hatte, aber er hätte mich auch nicht als Hure bezeichnen dürfen.

„Wir sehen uns in ein paar Stunden, aber sucht nicht nach uns“, wies Silver ihn noch an, bevor Nathan sich in die Lüfte schwang und als kleiner schwarzer Punkt im Himmel verschwand. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei, als sich Silver zu mir umdrehte.

„So und nun zu dir. Wir müssen das etwas anders machen“, erklärt er mir mit prüfendem Blick.

„Inwiefern?“, ich wollte eigentlich gar nicht so genau wissen, was Silver vorhatte, aber ich würde wohl nicht drum herumkommen. Deswegen setzte ich ein unschuldiges Lächeln auf und hoffte auf das Beste.

„Du wirst dich dazu aufsetzen müssen“, wies er mich an. Schon im nächsten Moment half Silver mir auf und warnte mich: „Jetzt wirst du ein paar Schmerzen aushalten müssen.“

„Was warum?“, fing ich an und endet mit einem markerschütternden Schrei. Keine Ahnung, was er getan hatte, aber die Stelle zwischen meinen Schulterblättern brannte wie Hölle. Es fühlte sich an, als würde die Haut an der Stelle gleich aufreißen. Der Schmerz jagte durch meinen ganzen Körper. Gerade als ich dachte ich müsste den Verstand verlieren, hörte es einfach so auf und ich sackte in mich zusammen. Schweratmend rang ich nach Luft, während mir der Schweiß von der Stirn perlte.

„Alles gut, Nory?“, hörte ich Silver fragen. Ich war noch viel zu benommen von dem was gerade passiert war und nickte nur, anstatt zu antworten.

„Gut, du solltest jetzt wieder laufen können. Versuch am besten aufzustehen“, schlug er mir vor. Ich konnte einen Hauch von Besorgnis in seiner Stimme hören. Konzentrierte mich dann aber lieber voll und ganz auf das Aufzustehen und tatsächlich es klappte, auch wenn ich noch recht wacklig auf den Beinen war. Der positive Schock holte mich mit einem Schlag in die Realität zurück.

„Was hast du gemacht?“, wollte ich fast schon panisch von ihm wissen.

„Sag wir, ich habe eine Art Heilungszauber verwendet“, wich Silver mir aus. Ein Heilungszauber, meine Augen wurden riesengroß: „Magie?“

„Ja, aber dazu haben wir keine Zeit. Ich erkläre es dir später, wenn wir in Sicherheit sind“, meinte er abwesend und zog mich an der Hand in Richtung des Waldes weg von der Lichtung. Ich stolperte ihm am Anfang noch etwas unbeholfen hinterher, aber wir fanden schnell ein gemeinsames Tempo. Auch wenn ich es immer noch verstören fand, dass ich ganz plötzlich wieder laufen konnte, obgleich ich noch vor wenigen Momenten einen gebrochenen Oberschenkel hatte. Zumindest hatte es den Anschein gehabt, auch wenn ich keine Schmerzen spüren konnte. So gesehen war es wirklich seltsam, aber was ist hier schon nicht seltsam gewesen.

Die ersten hunderter Meter spürte ich praktisch nicht, jeder weiterer Meter machte sich bemerkbar. Erst war es ein leichtes Seitenstechen, das mir mit der Zeit immer schlimmer wurde. Bis sogar das Luftholen beißend brannte. Ich wollte mich nur noch übergeben und danach keinen Meter mehr weitergehen, aber Silver zerrte unbarmherzig weiter.

„Beeile dich“, drängelte er mich. Irgendwie ging es auch weiter. Ich japste, keuchte und wollte einfach nur sterben. Das hier war viel schlimmer, als der achthundert Meter Lauf im Schulsport. Eine Wurzel erlöste mich von meinem Leiden und ließ mich längs auf den harten Waldboden krachen. Der Aufprall raubte mir die Luft aus den Lungen. Betäubt von dem Adrenalin in meinem Körper setzte ich mich auf.

„Steh auf Nory. Wir müssen weiter“, meinte Silver ungeduldig die Umgebung mit seinen Blicken abzusuchen. Ich versuchte wieder Luft zu bekommen, während er mich schon wieder auf die Beine stellte.

„Ich kann dich nicht tragen. Das heißt du musst rennen, wenn du die Sache hier überleben willst.“

Er hatte mich an den Schultern gepackt und eindringlich angesehen, während er darauf hoffte, dass ich endlich begriff wie brenzlig die Situation war. Strenggenommen war ich mir dessen auch irgendwie bewusst. Das einzige Problem bestand darin, dass ich seit fast zwei Jahren keinen wirklichen Laufsport gemacht hatte. Meine Kondition war dementsprechend nicht vorhanden. Silver kannte keine Gnade und zerrte mich weiter.

Keine fünfhundert Meter weiter, blieb Silver abrupt stehen. Ungebremst rannte ich in ihn hinein und machte nähre Bekanntschaft mit seinem Rücken. Ohne es zu wollen atmete ich seinen Geruch ein. Er roch irgendwie vertraut und in mir kam ein behagliches Gefühl auf, aber ich konnte den Geruch beim besten Willen nicht beschreiben. Natürlich roch Silver auch nach Schweiß. Doch der andere Teil roch wirklich gut.

„Was sollte das denn?“, fauchte ich, um die Gedanken aus meinem Kopf zu vertreiben. Silver legte nur einen Finger an seine Lippen. Ich verstand, dass ich jetzt besser meinen Mund halten sollte. Sein Blick war angestrengt ins dichte Unterholz gerichtet. Keine Ahnung was er da hörte, aber das was ich nach wenigen Augenblicken hören konnte war nicht gut. Aus weiter Entfernung erklangen Rufen und Getrappel. Mein Blick suchte panisch den seinen. Silver nickte nur kurz und zog schnell weiter. Wir kamen ab von unserem Weg, aber ich wagte es auch nicht zu widersprechen. Schließlich hallten mir die Worte der Dryade in Bezug auf Harpyien und Durchreisende noch immer im Kopf nach und ich wollte wirklich nicht als Suppeneinlage für einen Windgott dienen.

Unsere gehetzten Schritte sollten nicht lang erklingen, denn wir stießen auf einen kleinen See. Der Blick, den er mir zu warf, gefiel mir gar nicht, denn ich konnte mir denken worauf das hinauslief. Ohne Worte sprangen wir ins kühle Nasse. Zum Glück hatte ich tief Luft geholt, denn Silver zog mich nach unten. Bevor mir die Luft ausging, tauchten wir in einer Höhle auf. Ich schnappte lautstark nach Luft: „Du willst mich wirklich umbringen, oder?“

„Immer doch“, lachte er und half mir aus dem Wasser. Danken ließ ich mich auf die kleine Sandfläche fallen: „Was machen wir jetzt?“

„Fürs erste sollte sie uns nicht folgen können. Bis sie rausbekommen haben wo wir sind, sollten meine Flügel soweit geheilt sein, dass ich uns hierausfliege“, erkläre Silver mir zuversichtlich. Zu meinem eigenen Erschrecken musste ich feststellen, dass Silver komplett erschöpft war. Eigentlich hatte er die ganze Zeit so gewirkt, als könne ihm nichts auch nur irgendetwas anhaben, aber scheinbar musste ich mich geirrt haben. Es sei denn der Heilungszauber hatte ihn Kraft gekostet.

In mir drängte sich plötzlich eine ganz andere Frage auf: „Warum machst du das?“

„Warum mache ich was?“, wollte sichtlich verwirrt wissen.

„Warum hilfst du mir?“

„Ich helfe dir nicht. Ich kann nur momentan nicht fliegen.“

„Du hättest mich einfach der Dryade übergeben oder mich stehenlassen können, aber du schleppst mich trotzdem mit. Warum?“

„Ach, das meinst du. Du bist eine Art Jagdtrophäe und Trophäen lasse ich nur ungern stehen. Außerdem muss ich dich noch Loca zeigen“, stellte er klar und sah strikt auf die gegenüberliegende Höhlenwand. Ich zog zweifelnd eine Augenbraue hoch: „Weshalb musst du mich Loca zeigen?“

Das mit der Trophäe hatte gesessen, ich war in seinen Augen nichts weiter als eine nutzlose Trophäe.

„Du bist eine Durchreisende, so jemanden darf man nicht vor seinem König verstecken. Schließlich könnte Elenya uns auffordern dich auszuliefern, deswegen sollte Loca von dir wissen“, erklärte er mir.

„Warum sollte Elenya Interesse an mir haben? Ich bin doch nichts weiter als ein nutzloses Schmuckstück für den Wandschrank“, gab ich freudlos zurück. Woraufhin Silver in schallendes Gelächter ausbrach. Es war so ansteckend, das ich nicht umhin kam mit ihm zu lachen.

Der Moment verband uns und wir konnten beide für einen Augenblick die Gefahr vergessen. Es tat gut sorgenfrei zu lachen zu können. Wir sahen uns beide noch immer lachenden an. Scheu sah ich als erste weg, während in meinem Kopf die Achterbahn der Gefühle losging. Die irgendwann mit einem Oh mein Gott, er mag mich endete. Ich wünschte mir wirklich, dass ich reifer wäre, aber das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert und ich keine vernünftige Frau.

„Wie kamst du eigentlich in unsere Welt?“, hörte ich Silver fragen. Erstaunt wand ich mich ihm wieder zu: „Wie genau weiß eigentlich auch nicht. Ich habe bloß meine alte Zimmertür geöffnet. Das nächste an was ich mich erinnere, ist das ich bei euch aufgewacht bin.“

„Nichts weiter?“, fragte er ungläubig.

„Nein, ich habe nichts weiter gemacht“, bestätigte ich ihm und er stutzte: „Komisch normalerweise hatten alle Durchreisende irgendwelche bestimmte Wünsche.“

„Inwiefern?“, hakte ich nach und wurde hellhörig. Silver sah mich abschätzend an: „Jeder von ihnen wollte unbedingt etwas erreichen. Die meisten wollten Reichtum und Macht. Doch einige wenige hatten andere Wünsche. Ich erinnere mich noch gut an das eine Mädchen. Sie wollte unbedingt ihren Bruder heilen. Du kannst dir gar nicht vorstellen wie versessen sie darauf war ihn zu heilen. Nathan und ich hatten sie damals gefunden und Peach getauft. Sie hat es auch wirklich geschafft ihren Wunsch zu erfüllen, als einzige von den Durchreisenden. Ihr Bruder wurde zwar geheilt, aber sie selbst musste hierbleiben bis auf alle Ewigkeit als steinerne Engelsfigur in Medusas verwunschenen Garten. Ich habe ihr damals nicht geholfen und sie stehengelassen. Das war vor zwölf Jahren.“

Warum erzählte er mir das? Hatte er etwas für diese Frau empfunden?

„Warum hast du ihr nicht geholfen?“, fragte ich etwas verwirrt, denn es klang so als würde er seine Tat bereuen. Silver holte tief Luft und sah gequält aus: „Ich war zu jung und der Frieden war fast wiederhergestellt. Außerdem hatte ich nicht gewusst, dass irgendjemand sie zu Medusa bringen würde. Aber irgendwie…“

„Hast du dennoch Schuldgefühle“, beendete ich seinen Satz und spürte Traurigkeit in mir aufsteigen. Ich wurde das dumpfe Gefühl nicht los, dass ich bloß ein Ersatz dafür war um sein Gewissen zu beruhigen. Mir brannten Tränen in den Augenwinkel, als ich mein Gesicht von ihm wegdrehte.

„Nein, warum sollte ich Schuldgefühle habe? Sie ist den Deal mit Medusa freiwillig eingegangen. Außerdem hätte ich ihr ohnehin nicht helfen können. Wir Dämonen können gar nicht an den Ort wo die kristallenen Mondblumen wachsen und die waren das Einzige, was ihren Bruder retten konnte“, redete er sich heraus. Ich schwieg und unterdrückte ein Schluchzen. Heute war ich aber auch wieder empfindlich. Mir hätte das alles auch gar nicht so nahe gehen dürfen, schließlich kannte ich ihn doch kaum.

„Alles in Ordnung mit dir oder hast du einfach nur so deine Zunge verschluckt? Du hast doch sonst immer so eine loses Mundwerk“, hörte ich Silver sagen und spürte seine warme Hand auf meiner Schulter. Die Wärme fühlte sich gut an. Schnell schluckte ich meine Traurigkeit herunter.

„Klar, alles super“, log ich mir rauer Stimme und hielt meinen Daumen hoch, um es zu unterstreichen. Ich war so eine schlechte Lügnerin, denn meine Tränen bahnten sich schon längst ihren Weg über meine Wangen. Behutsam legte er mir seinen Finger unter mein Kinn und drehte mein Gesicht zu sich.

„Warum weinst du?“, wollte Silver leise wissen.

„Ist doch egal“, schluchzte ich und vergrub meinen Kopf an seiner Brust. Er schob mich ein Stück von sich weg, um mir ins Gesicht sehen zu können: „Ich kann dir nicht helfen, wenn du mir nicht sagst, was los ist.“

Einen Moment zauderte ich noch mit mir und holte bebend Luft, in der Hoffnung mich irgendwie beruhigen zu können. Meine Stimme hörte sich schrecklich an, als ich sprach: „Du benutzt mich doch nur um dein Gewissen zu beruhigt.“

Kaum hatte ich es laut ausgesprochen, bereute ich es auch schon. Er würde mich für eine Verrückte halten. Blitzschnell drehte ich mich weg und kauerte mich zusammen, als ich Silvers schallendes Lachen hörte: „Du bist wirklich witzig. Es stimmt vielleicht, dass ich es bereue Peach nicht geholfen zu haben, aber ich setze hier bestimmt nicht mein Leben aufs Spiel, um mir selbst irgendetwas zu beweisen.“

Fahrig fuhr ich zu ihm herum: „Warum machst du das dann? Und jetzt komm mir nicht wieder mit irgendwelchen Trophäen.“

Silver zögerte und kaute auf seiner Unterlippe: „Sagen wir es war aus einem Impuls heraus.“

„Aus einem Impuls heraus, bringst du dich fast selbst um?“, zweifelte ich, während ich meine Tränen wegwischte. Er zuckte lediglich mit seinen Schultern: „Kann auch mal vorkommen.“

„Ich würde das ja vielen Leuten glauben, aber nicht so einen beherrschten Typen wie dir. Schließlich bist du auch General und die rechte Hand eures Königs. Ein lebensmüder, impulsiver Mann würde das nicht sein. Auf ihm wäre kein Verlass, dann was wenn er mitten in einem Kampf die Nerven verliert und alle in den sicheren Tod führt?“, fragte ich. Mich ärgerte es, dass er nicht ehrlich zu mir sein konnte.

„Was willst du von mir hören?“, wollte er entnervt wissen.

„Die Wahrheit“, entgegnete ich ihn ehrlich und beobachte jeder seiner Regungen. Im ersten Moment schien er mit sich zu ringen.

„Bist du sicher?“, fragte er nach. Ich zögerte nicht und sah ihm fest in die Augen: „Ja.“

Silver traf seine Entscheidung. Schnell beugte er sich vor, sodass unsere Gesichter sich kaum mehr voneinander trennten. Mein Plus raste und mein Herz hämmerte wie wild in meiner Brust. Unfähig meinen Blick von dem seinen zu lösen, sah ich tief in ein Paar leuchtend orangener Augen. Er überwand die letzten Zentimeter und unsere Lippen trafen aufeinander. Im ersten Moment fühlte es sich merkwürdig an. Zwei Lippen aufeinander. Dann schaltete sich der analytische Teil meines Gehirns ab und die Gefühle überfluteten mich, während ich gleichzeitig die Augen schloss. Mich durchströmte ein warmes, wohliges Gefühl. Seine Hände wanderten an meinem Rücken auf und ab und machten mich wahnsinnig. Meine eigenen hingegen fanden einen Weg in sein Haar. Sie vergruben tief darin.

Schweratmend lösten wir uns voneinander. Ich holte Luft um etwas zu sagen, schwieg aber, weil mir kein sinnvoller Satz in den Kopf kommen wollte. Zaghaft nahm ich meine Hände aus seinen Haaren.

„So jetzt hast du deine Antwort“, platzte er heraus und knallte mir seine Worte wie ein Brett an den Kopf. Mir klappte die Kinnlade herunter. Was zur Hölle er der Typ für ein Problem? Außerdem wer hatte ihm überhaupt erlaubt mir meinen ersten Kuss zu stehlen? Das mit meinem Kurzschluss war praktisch schon beschlossene Sache. So war es auch nicht weiter verwunderlich, dass meine Stimmung von einem Moment auf den anderen komplett kippte.

„Danke für die Antwort“, grollte ich sauer und funkelte ihn wütend an. Silver machte einen auf Unschuldig und meinte nur zuckersüß mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen: „Warum bist du so sauer? Ich habe dich gefragt, ob du es wissen willst.“

„Jetzt tu nicht so verdammt unschuldig. Du weißt genau was ich meine“, fuhr ich ihn an. Silver lachte nur: „Ich habe keine Ahnung wovon du redest.“

Empört schnappte ich nach Luft: „Wirklich jetzt?! Du hast keine Ahnung? Erst küsst du mich, dann lachst du darüber und jetzt tust du so, als würdest du mit all dem nichts zu tun haben?“

„Okay, okay, eins muss man dir lass. Du kannst einfach nicht böse gucken“, zog Silver mich weiter auf.

„Du …. Du …“, fing ich an und plusterte mich auf. Er packte meine erhobenen Hände: „Was willst du jetzt tun? Mich mit diesen kleinen, zarten Händchen etwa schlagen?“

„Jetzt hör aber auf. Ich bin weder klein noch schwach“, knurrte ich.

„Ach wirklich“, mit diesen Worten drückte er mich zu Boden. Ich zerrte an meinen Handgelenken oder versuchte wenigstens meine Beine zu bewegen. Vergeblich, denn Silver saß praktisch auf meinen Beinen. Es war in etwa so wie wenn eine Fliege sich aus dem Netz einer Spinne winden wollte. Am Ende wurde sie dennoch gefressen.

„Glaub ja nicht, dass das hier etwas zu bedeuten hat“, fauchte ich.

„Hat es auch nicht. Es ist nur der Beweis, dass du klein und schwach bist“, meinte er mit einem selbstgefälligen Grinsen im Gesicht. In mit kochte siedend heiß die Wut auf. Was hatte denn nun schon wieder für eine Macke? Vor wenigen Augenblicken war er noch lieb und hatte eine fast schon verletzliche Seite und benahm er sich wie ein Arsch. Wenn ich mich hier befreiet hatte, dann würde ich …

Plötzlich setzte sich Silver ruckartig auf. Ich sah wieder diesen wachsamen Ausdruck in seinem Gesicht und meine Wut verpuffte mit einem Schlag.

Verdammt, sie haben den anderen Eingang gefunden, erklang eine fluchende Stimme in meinem Kopf.

„Was zur …“, fing ich an.

Nory, sei jetzt still. Wir müssen weiter.

Warum?, fragte ich in meinen Gedanken. Auch wenn mir das befremdlich vorkam. Telepathie gehörte nicht wirklich zu den Dingen mit denen ich mich tiefergehend beschäftigt hätte. Das Gefühl war auf alle Fälle seltsam, vielleicht war es auch erste Anzeichen von Wahnsinn,

Du wirst nicht wahnsinnig und jetzt komm. Wir tauchen zuerst aus der Höhle und dann kann ich uns einige Kilometer weit fliegen.

Wie möchtest du das denn anstellen? Ich dachte deine Flügel sind verletzt und die Heilung dauert Tage.

Bis sie gänzlich geheilt sind, aber für den Notfall wird es gehen müssen. Sei darauf gefasst, dass vor der Höhle eine ganze Meute auf uns warten wird. Die uns tot sehen möchte, also keine Metzchen.

Sagte der, der mich eine Hure nannte, und uns dass alles eingebrockt hat.

Das ist jetzt etwas ungerecht. Schließlich hast du dich losgerissen und uns damit beide fast umgebracht.

Ich denke das heißt denn wohl, dass wir beide schuld daran sind.

Mag sein, aber jetzt ab mit dir und hole tief Luft, bevor du mir da unten noch erstickst.

Am liebsten hätte ich gegrollt. Doch ich beließ es bei einem Augenrollen und glitt nach ihm ins kühle Nass. Mich erstaunte immer noch wie gut er mit seinen großen Flügel tauchen konnte. Silver nahm meine Hand und nickte mir zu. Ich holte tief Luft, dann erwiderte ich das Nicken. Ohne zu zögern zog er mich in die Tiefe und obwohl ich den Weg kannte, hatte ich das Gefühl ertrinken zu müssen. Zum Glück durchbrachen wir in diesem Moment die Wasseroberfläche. Ich schnappte nach Luft, während ich gleichzeitig meine Augen aufschlug. Um den See herum standen allerlei Fabelwesen, die sich Befehl zuriefen, sobald sie uns erblickt hatten. Ich bildete mir ein im Licht der untergehenden Sonnen silbernes Glitzern von Waffen zuerkennen.

Silver zog mich an sich und ich klammerte mich wie aus einem Reflex an ihn. Seine Flügel schlugen kräftig. Sie füllten sich mit Wind und wir schraubten uns empor. Pfeile suchten ihren Weg zu uns. Ich hörte Silver etwas murmeln und die Welt um uns herum ging in Flammen auf. Wie ein Phoenix, der aus der Asche stieg. Die Flammen verbrannt mich nicht. Sie waren wie ein sanftes, lauwarmes Streicheln über meine Haut. Doch die Pfeile verbrannten sie restlos.

Unter uns ertönte zorniges Gebrüll und ich hoffte, dass Silver uns möglichst weit tragen konnte. Wir schwiegen den Rest des Fluges. Ich hing meinen Gedanken nach, in der Hoffnung nicht einzuschlafen. Silver hingegen kämpfte zusehendes mit jedem Meter. Wie ich mir doch wünschte ein paar Kilo leichter zu sein, damit er nicht so viel zu schleppend hätte.

Du bist nicht zu schwer, ertönte seine Antwort in meinem Kopf und selbst durch unsere mentale Verbindung konnte ich die Angestrengtheit hören.

Kann ich dir nicht irgendwie helfen? Eine sehr dumme Frage, aber mir fiel nichts Besseres ein.

Wie willst du mir denn helfen? Meine Flügel kann ich schlecht abnehmen und dir geben. Ein Lachen schwang in seiner Stimme mit und ich musste schmunzeln. Er hatte Recht, ich konnte ihm im Moment nicht helfen. Es war wirklich frustrierend, aber da musste ich wohl durch.

Der Wald flog unter uns nur so hin, als Silvers rechter Flügel sich plötzlich nicht mehr bewegte. Sein Körper wurde auf einmal ganz schlaff. Ich verstärkte meinen Griff und betete, dass uns irgendetwas retten würde, während wir dem Wald entgegen drudelten. In einiger Ferne tauchte vor uns eine wunderschöne, alte Burg auf. Sie war unglaublich düster und mit dem dunkelsten Stein, den ich je gesehen hatte, erbaut wurden. Vom Stil erinnerte sie mich an eine gotische Kirche, nur der Aufbau stimmte nicht mit dem einer Kirche überein. Die Fenster hatten tiefrot gefärbte Gläser. Normalerweise wäre ich nicht einmal in die Nähe von so einem Gebäude gegangen, denn es jagte mir Angst ein. Doch im Moment hätte ich mir nichts Schöneres vorstellen können, als das Ende des weitläufigen Waldes. Mit etwas Glück würden uns Silvers Leute von dort aus sehen und uns vorm Abstürzen bewahren. Schließlich waren wir praktisch eine leuchtender Komet, der in der Dämmerung auf den Boden zu raste. Was allerdings auch eine Signalleuchte für die Dryade und ihre Leute war.

Ich überlegte fiberhaft, wie ich unseren Fall abbremsen konnte. Ein Fallschirm hätte ich gebrauchen können oder eigene Flügel. Flügel. Mein Blick fiel auf Silvers lose im Wind flatternde Flügel, als mir eine Idee kam. Ich betete, dass sie funktionieren und ich nicht gleich abstürzen würde. Steif streckte ich einen Arm nach seinem Flügelknochen aus. Er entwischte mir und die Baumkronen kamen immer näher. Mit einem Ruck bekam ich den äußeren Knochen zu fassen. Wind füllte den Flügel, sodass wir einseitig nach oben gezerrt wurden. Um ein Haar hätte ich meinen Halt verloren. Doch meine Beine waren wie festgeschweißt an seiner Hüfte. Soweit so gut. Ich konnte die Baumwipfel fast in meinem Rücken spüren, als ich endlich den anderen Flügel zu fassen bekam. Auch er füllte sich mit Luft und wir gingen in eine Art Gleitflug über. Das Festhalten war schwierig als gedacht. Der Wind zerrte an Silvers Flügeln und gab mir das Gefühl, dass er jeden Moment meine Arme abreißen würde. Mir liefen Tränen über mein verbissenes Gesicht. Ich konnte nicht anderes, als seinen Namen unaufhörlich zu beten. In der Hoffnung Silver würde dadurch aufwachen.

Stein schabte meinen Rücken auf. Was dann geschah ging zu schnell für mein träges Gehirn. Silver und ich mussten die Burg erreicht haben, zumindest die oberen Zinnen. Wir prallten mit voller Wucht auf den Gang auf. Der Aufprall presste all meine Luft aus meinen Lungen und ich ließ seine Flügel los. Wie ein Gummiball prallten wir vom Boden ab. Ungebremst schnellten wir auf die nächst beste Wand zu. Seine Hörner bohrten sich links und rechts neben meinem Hals in den Stein. Dann wurde alles schwarz um mich herum. Ich spürte noch wie er auf mich krachte und hörte die Schreie der Wachen. Doch an mehr vermochte ich mich nicht zu erinnern.

Kapitel 3

 

Ich hörte eilige Schritte ganz in meiner Nähe und schmerzerfüllte Laute. Wo war ich? Benommen blinzelnd setzte ich mich auf. Das Licht in dem Raum war sehr gedimmt, sodass ich nur schemenhafte Gestalten wahrnahm. Erst mit der Zeit gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Um mich herum bereitete sich ein Meer von Verletzten aus. Alle langen aus einfachen Pritschen, die mit einst weißen Lacken überzogen waren. Viele von ihnen trugen Verbände und kümmerten sich schmerzverzehrt auf der Pritsche. Ich sah, dass einigen sogar ein Körperteil verfehlte.

Das Leid, das sich mir bot, schnürte mir die Kehle zu. Meine Augenwinkel brannten und mich übermahnte eine Welle von Hilflosigkeit. Ich konnte nichts tun, außer ihnen hilflos beim Leiden zuzusehen. Es war genauso wie bei Meike, ich war absolut nutzlos und zum Zusehen verdammt. Es schien sich zu wiederholen, obgleich ich all diese Leute hier nicht kannte. Ungehindert rannen mir Tränen über die Wangen. Langsam zog ich meine Beine an, wie um mich selbst vor diesen Qualen zu schützen.  Ich umschloss sie mit meinen Armen und bettete meinen Kopf auf den Knien. Sanft wog ich mich hin und her, bis die Bilder von Meike aus meinem Kopf verschwanden, denn einen Nervenzusammenbruch konnte ich mir nicht leisten.

Die Erinnerung, an das was kurz zuvor hier gesehen war, jagte durch meinen Körper wie ein elektrischer Schlag. Silver. Lag er auch hier unten? Hoffentlich hatten er und seinen Flügel die ganzen Strapazen gut überstanden. Ich richtete mich langsam wieder auf. Meine Tränen verebbten und ich fasste einen Plan, denn im Verdrängen war ich Meister. Schnell suchte ich mit meinen Blicken den Saal ab. Doch ich konnte ihn nirgends erkennen. Das konnte zwei Dinge bedeuten. Entweder es ging ihm so gut, dass er gesund und munter draußen herum spazierte oder er war tot. Ich verbat mir an Letzteres zu denken und suchte weiter. Meine Suche wurde nicht von Erfolg gekrönt, egal wie lange ich in die Dunkelheit stierte. Mir ging jegliches Zeitgefühl verloren. Hin und wieder sah mich einer der anderen Verletzten forschend an. Jedes Mal wenn das passierte, blickte ich fluchtartig weg.

Nach einiger Zeit bemerkte ich zu meinem eigenen Erstaunen, dass mein ganzer Oberkörper in Verband gehüllt wurden ist. Meine Shorts trug ich zwar noch, aber sie hatten mir das gesamte linke Bein geschient. Meinte Silver nicht, dass er mein Bein geheilt hatte? Sie hatten meinen rechten Unterarm ebenfalls verbunden, auch wenn ich mich nicht daran entsinnen konnte, mich dort verletzt zu haben. So langsam zweifelte ich schon etwas an ihren Heilfertigkeiten. Unschlüssig was ich tun sollte, stand ich auf und begann mir einen Weg durch die verletzten Dämonen zu bahnen. Wohin ich ging, wusste ich eigentlich auch nicht so genau. Ich stand gerade hinter einem breiten, steinernen Pfeiler, als zwei Stimmen ertönten.

„Hier entlang, werter Herr. Die Durchreisende ist gleich dort hinten“, hörte ich eine alte Stimme sagen, die ich einer älteren Frau zu ordnete.

„Und sie ist sicher noch hier? Die rechte Hand des Königs hat sie noch nicht geholt?“, fragte ihre männliche Begleitung. Mir lief es eiskalt den Rücken herunter. Die beiden sprachen von mir und das konnte nichts Gutes bedeuten. Die Frau schnaubte belustigt: „Nein, warum sollte er auch?“

„Er kam mit ihr hierher, also wird sie ihm etwas bedeuten“, erwiderte der Mann. Ich sollte Silver etwas bedeuten? Mir kam die Erinnerung an die Höhle in den Sinn. Doch ich war mir nicht sicher, ob er sich nicht einfach nur über mich lustig gemacht hatte. Ich konnte ihn einfach nicht einordnen. Silver war entweder einfach nur lebensmüde oder er musste etwas in mir gesehen haben. Wahrscheinlich gab es auch noch die verschiedensten anderen Möglichkeiten, aber die zog ich gar nicht in Betracht.

„Es wäre ein Wunder, wenn sie ihm etwas bedeuten würde“, gab die Frau nur zurück. Sie lief gerade an meinem Versteck vorbei. Mir hämmerte das Herz bis in den Hals. Doch die beiden setzten unbeirrt ihren Weg mit gemächlichem Schritt fort. Langsam stieß ich die angehaltene Luft aus.

„Wir werden sehen“, meinte er siegessicher. Bei dem Klang seiner Stimmer fragte ich mich, worum es ihm hier eigentlich ging. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit wollte ich das gar nicht wissen.

„Weshalb, werter Herr, hegt Ihr so ein großes Interesse an der Durchreisenden?“, sprach die Frau meine Gedanken aus. Ich erschauderte.

„Es ist allgemein bekannt, dass die Harpyien einen hohen Preis für Durchreisende zahlen“, erwiderte er und ich konnte mir sein schmieriges Lächeln nur zu gut vorstellen.

„Ihr wollte sie also verkaufen?“, schlussfolgerte die Frau. Na ganz toll, noch einer der mich tot sehen möchte, ging es mir durch den Kopf. Ich fragte mich, was ich verbrochen hatte, um so weit oben auf der Abschussliste zu stehen. Die beiden musste jeden Moment meine Pritsche erreichen.

„Vielleicht halte ich sie mir auch als Sklavin, exotische Sklaven sind mir die liebsten“, kommentierte er das Ganze nur. Der Typ wollte mich wie ein exotisches Tier halten, als Sklavin. Im welchen Jahrhundert lebten die Leute hier? In mir stieg Wut auf, wer zur Hölle erlaubte Sklaverei? Nun gut, die Dämonen hatten auch noch einen König. Das war trotzdem keine Begründung.

„Wo ist die Durchreisende denn nun? Ich sehe hier nur eine leere Pritsche“, stellte der Mann angesäuert fest. Ich freute mich innerlich, dass er nicht alles bekam, was er wollte.

„Ich weiß auch nicht, wo sie hin ist. Aber ich versichere ihnen, dass sie bis vor wenigen Minuten von hier lag“, gab sie hektisch zurück. Mit aller Beherrschung kämpfte ich gegen ein Lachen an, denn ich konnte mir sein zornverzerrtes Gesicht lebhaft vorstellen. Ungeduldig schnalzte er mit der Zunge: „Es kann ja nicht so lange dauern die Kleine zu finden. Hat hier irgendjemand eine Frau ohne Flügel gesehen?! Wer mir sagen kann wo sie ist, wird reich belohnt!“

Mit einem Schlag wich all meine Farbe aus dem Gesicht, denn plötzlich kehrte Leben in diese halbtote Zombiegemeinschaft. Sie riefen alle durcheinander und wiesen mit dem Finger auf die Säule von allen Richtungen. Die Schritte kamen geschwind näher. Ich kauerte mich ängstlich zusammen. Er würde mich gleich entdecken. Gleich war ich einmal frei.

„Ah, da ist sie ja“, er zerrte mich grob auf die Beine. Mit schreckgeweiteten Augen starrte ich ihn an. Ich hatte diesen Dämon noch nie zuvor gesehen. Er hatte blasse Haut, giftgrüne Augen und feuerrotes Haar. Geschwind sah ich fort und versuchte möglichst finster wegzusehen. Auf keinem Fall wollte ich ihm die Genugtuung geben meine Angst zu sehen.

„Sie trägt ja fast nichts am Leib wie eine …“, fing er überheblich an.

„Wag es ja nicht“, knurrte ich und war bereit ihm an die Gurgel zu gehen, wenn er seinen Satz beenden sollte. Der Typ grinste überheblich: „Was denn? Hast du etwa etwas dagegen, wenn man dich Hure nennt?“

Und da war er wieder mein geistiger Kurzschluss. Ich ballte meine rechte Hand zur Faust, holte aus und schlug ihm mit voller Wucht ins Gesicht.

„Du brauchst dir gar nichts darauf einbilden, dass du der Herr von Sklaven bist. Du bist einfach nur ein erbärmlicher Wurm, der ohne seine Sklaven ein Nichts wäre“, grollte ich. Binnen weniger Sekunden verzerrte sich sein Gesicht vor Zorn. Mit einer Bewegung schleuderte er mich gegen die Wand. Ich rang nach Atmen, während er schon wieder vor mir stand und mich in die Mauer presste. Dicht neben meinem Ohr zischte er: „Ich werde dir kleinen Huren noch zeigen, wer ich bin.“

„Du wirst gar nichts“, fauchte ich und holte zum nächsten Schlag aus. Er sah den Schlag kommen. Ohne mit der Wimper zu zucken fing er meine Hand ab und rammte sie in den Stein. Ich jaulte auf vor Schmerzen, wenn das keine gebrochene Hand gab, wusste ich auch nicht.

„Wie ich werde. Du wirst mir gehorchen und mir all meine Wünsche erfüllen“, grollte er. Mir wurde schon übel bei dem Gedanken. Hasserfüllt spuckte ich ihm ins Gesicht. Er schlug mir ins Gesicht und ich ging zu Boden. Mein Blut rauschte laut in meinen Ohren, als seine Stimme erklang: „Du wirst ein Nichts sein, wenn ich mit dir fertig bin.“

„Werter Herr, ich muss euch bitten zu gehen. Die rechte Hand hat heute ebenfalls einen Besuch angesagt. Sie wird bald da sein“, mischte sich die Dame ein.

Silver! Mir schwirrte der Kopf. Er könnte mir hieraus helfen und verhindern, dass der Kerl mich mitnahm. Mit neuer Kraft, die ich aus meiner Hoffnung schöpfte, rappelte ich mich auf und begann zu rennen. Ich kam keine drei, da stand der Mann belustigt vor mir: „Du wirst mir nicht entkommen, ganz gleich was du mit Silver zu schaffen hast.“

Ich starrte ihn nur finster an, was ihn nur noch mehr anzuspornen schien. Es schien ihn nicht zu interessieren, denn das Letzte was ich hörte, bevor die Welt um mich herum in pechschwarzer Nacht versank, war seine Worte: „Du gehörst jetzt mir. Mir ganz allein.“

 

Unter Schmerzen stöhnend erwachte ich. Mein Kopf schien jeden Augenblick zu explodieren. Ich entsann mich wieder was geschehen war. Der widerliche Typ hatte mich niedergeschlagen und wie es aussah zu sich gebracht. Entnervt seufzte ich, warum musste mir immer so ein Mist passieren?

Ich sah mich in dem Raum um. Er war in Erdtönen gehalten mit großen Fenstern. Der Boden war eine einzige Matratze, die mit unglaublich vielen Kissen übersät war. Es war wirklich gemütlich hier. Allerdings wusste ich noch nicht, was der Typ damit bezwecken wollte. Eine Art orangener Glasperlenteppich trennte diesen Raum vom nächsten ab. Ich verspürte keinen Drang mich von hier fortzubewegen und blieb still sitzen. Wer weiß was mich hier noch erwarten würde.

Ich erschauerte bei dem Gedanken an den Dämon, der mich hierher verschleppt hatte. Was er wohl für Pläne mit mir hatte? Lieber nicht darüber nachdenken. In meiner Phantasie malte ich mir ohnehin immer viel schrecklichere Szenarien aus, als die die ich dann in der Realität erlebte. Ob Silver mich suchen würde? Auf irgendeine Art und Weise schien er sich scheinbar schon für mich zu interessieren, aber würde sein Interesse ausreichen um mich zu suchen? Auch das wusste ich nicht. Immer wenn ich an ihn dachte, kam mir unser Kuss jedes Mal aufs Neue brandheiß ins Gedächtnis. Was hatte er sich bloß dabei gedacht? War es für ihn nur ein Spaß gewesen oder empfand er wirklich etwas für mich?

Laut seufzend ließ ich mich in die Kissen fallen. Ich sollte mir aufhören etwas vorzumachen. Bei dem Kuss waren keine Gefühle im Spiel gewesen. Wie hätte das auch sein können? Zu dem Zeitpunkt kannte ich ihn nicht einmal einen Tag. Eilig rief ich mir seine offensichtlichen Schuldgefühle in den Sinn. Die sprachen zwar dafür, dass er mir suchen würde. Gleichzeitig riefen sie in mir den Wunsch hervor, dass er mich nie finden würde, denn ich wollte nicht als Mittel für seinen persönlichen Seelenfrieden dienen. Was empfand ich eigentlich selbst für Silver? Er war ein Fremder, der mir zweimal das Leben gerettet hat. Mich geküsst und sich danach über mich belustigt hat. Ein General und nicht zuletzt ein Dämon. Ein Dämon, der Magie besaß und die Kunst Telepathie beherrschte. Gut war auch noch die rechte Hand des Königs. Eigentlich wenn ich es so betrachtete ein totaler, verstörender Typ. Schließlich war Silver nicht mal allzu alt, zumindest wirkte er vom Aussehen nur wie um die dreißig. Ich fiel mir schwer mir vorzustellen, dass er ganze Armee befehligen konnte. Außerdem wer weiß, wie lange er dieses Amt schon innehatte.

Ich atmete tief durch und schloss meine Augen. Abgesehen von den offensichtlichen Tatsachen, wer er war. Was war er für mich persönlich? Schließlich schien ich daraufzusetzen, dass Silver mich hierrausholen würde. Für mich war er …

Das Rascheln des Glasperlenhangs unterbrach meine Gedanken jäh. Erschrocken zuckte ich zusammen, während meine Augen panisch aufflogen.

„Sieh einer an, mein kleines Vögelchen ist wach“, sagte der Mann, den ich schon aus dem Krankenlager kannte. Im Licht fiel mir die ungewöhnliche Farbe seiner Flügel auf. Sie schimmerten blutrot und waren von goldenen Adern durchzogen. Die beiden Farben spiegelten sich in seiner Kleidung wieder.

„Ich hoffe, du hast gut geruht“, schnurrte er förmlich und mir wurde schlecht. Doch ich gab keinen Mucks von mir. Er kam weiter auf mich zu: „Hab keine Angst mein Vögelchen. Ich werde dich nicht an die Harpyien verkaufen, dafür bist du mir viel zu schade. Viel lieber werde ich dich als meine Sklavin brechen und Silver vorführen. Sein gequältes Gesicht wird mir der beste Lohn von allen sein.“

„Wie kannst du dir so sicher sein, dass es ihm zu schaffen machen würde, wenn du mich brichst?“, wollte ich sauer wissen. Mich regte dieser Typ so sehr auf, dass ich jedes Mal aufs Neue meine Angst vor ihm verlor. Ich meine, wer hätte denn bitteschön Angst vor so einem eingebildeten Typen?

„Hat er dir nicht die herzzerreißende Geschichte von der kleinen Peach erzählt? Vor Jahren hat er sie alleingelassen, weil ich ihm versprochen hatte mich um das Balg zu kümmern. Die Kleine war nicht zu ertragen, ständig redete sie davon ihren Bruder retten zu müssen. Irgendwann ging sie mir so auf die Nerven, dass ich Peach zu Medusa brachte. Silver erzählte ich, dass sie heil zurück in ihre Welt gekommen wäre. Das Gerücht verbreitete sich natürlich, aber bis dahin hatte ich mir selbst eine Stellung erarbeitet und Silver konnte nichts gegen mich tun. Er hasst mich seit dem Tag, an dem er die Wahrheit erfahren hatte. Es ist so herrlich diesen Goldjungen endlich leiden zu sehen“, schloss er und verfiel in hysterisches Gelächter. Mit Mühe und Not konnte ich mich davon abhalten dieses Monster nicht kurz und klein zu schlagen. Was für ein widerwärtiges Geschöpf.

„Schade nur, dass du nicht weißt was leiden heißt und dein Hirn dauerhaft ausgeschaltet ist“, grollte ich nur. Vor mir sah ich Silvers zerknirschtes Gesicht, als er mir von Peach erzählt hatte. Die Frage, warum Silver diesem Typen Peach überhaupt überlassen hatte, stellte sich zwar, aber sie war zweitranig. In erster Linie war ich einfach nur voller Zorn auf diesen Typ.

„Wie war das?“, binnen weniger Sekunden verengte er seine Augen und verzerrte sein Gesicht zu einer hässlichen Grimasse. Ich war völlig ruhig, als ich sagte: „Du hast mich schon verstanden.“

Mit einem Ruck packte er mich an der Kehle und hielt mich gut einen Meter in die Luft: „Du hässlicher Wurm, wagst es mir zu unterstellen. Ich wüsste nicht, was leiden bedeutet?! Oh, ich weiß nur zu gut, was das bedeutet. Dieser Goldjunge hat mir alles genommen. Er wurde an meiner Stelle die rechte Hand des Königs. Also erzähl mir nicht, dass ich nicht wusste, was es heißt zu leiden!“

Mit diesen Worten schleuderte er mich mit voller durchs Fenster. Das Glas splitterte, während ich keine Luft mehr bekam. Ich hörte ihn noch wutverzerrt hinter mir her schreien: „Du dreckige, kleine Hure wirst schon noch lernen, was es heißt sich mit dem mächtigen Shadow anzulegen!“

Zu meinem Schreck gab es keinen Aufprall. Ich stürzte einfach ab, ohne jeglichen Halt. Alles wozu ich noch im Stande war, war ein markerschütternder Schrei. Keinen zwei Sekunden später bremste irgendetwas unsanft meinen Fall. Es fühlte sich so an, als würden mein Rücken und meine Knie brechen.

„Schön dich wiederzusehen. Wäre nett gewesen mir eine Nachricht zu hinterlassen, wo du abgeblieben bist. Aber nein, das kommt Madame nicht in den Sinn. Sie geht lieber mit dem nächsten besten Kerl mit“, grollte Silver. Ich freute mich wirklich ihn zu sehen, aber seine Worte vermiesten mir die Laune. Als ob ich freiwillig mit dem Typ mit bin, was dachte er sich dabei mir so etwas vorzuwerfen?

 

//Audienz bei Loca (Silver = komplett anders; kalt, usw.)//

 

Silver landete geschmeidig im Burghof und Nathan tat es ihm gleich. Ohne auf irgendetwas von ihm zu warten, machte ich mich los von ihm. Durch den langen Flug waren allerdings meine Arme und Beine taub geworden, sodass ich wie eine bleierne Ente zu Boden ging. Es kribbelte zwar unangenehm, aber sonst spürte ich nichts weiter. Die Wachen beäugten mich interessiert, gerade so als hätten sie noch nie jemanden ohne Flügel gesehen.

„Seid gegrüßt General Silver und General Nathan“, riefen die Wachen und salutierten. Die beiden nickten nur.

„Wo ist König Loca?“, wollte Silver harsch wissen. Ich konnte förmlich spüren wie sehr er sich verändert hatte, er war ein komplett anderer Mensch geworden.

„Im Thronsaal, General“, erwiderte eine der Wachen. Mir fiel auf das die Wachen keinen der beiden direkt ansahen. Die Tatsache verwirrte mich, aber ich schlussfolgerte, dass es etwas mit dem Rang zu tun haben musste. Ohne weitere Worte zu verlieren zerrte Silver mich an den Wachen vorbei ins Innere der Burg. Nathan marschierte schweigend hinter uns her und ich stolperte regelrecht über meine eigenen Füße. Junge, hat Silver einen festen Griff, wenn das mal keine blauen Flecken geben würde. Sein Griff wurde natürlich nicht spontan leichter, allerdings würde das wohl mein geringstes Problem sein. Ich versuchte irgendwie mit ihm Schritt halt zu können, doch es völlig aussichtslos. Er schleifte mich mindestens zwei Treppen hoch und einen langen Flur herunter. Meine Knie küssten ungefähr dreimal die Stufen, beim dritten Mal sprang die Haut auf. Der Dreck brannte schrecklich in der Wunde. Mir liefen die Tränen über die Wangen und ich wimmerte eigentlich nur noch. Oh man, die sollten hier mal besser putzen. Überall war Rus, Dreck und Spinnenweben. Einfach widerlich.

Plötzlich hielten wir spontan vor einem riesigen Portal. Das abrupte Anhalten hatte zur Folge, dass ich ungebremst in Silver hinrannte und Bekanntschaft mit seinen Flügeln schloss. Sie waren viel weicher als ich erwartet hätte. Von Material her hätte ich auf Leder getippt, aber anders Leder als auf einer Couch. Natürlich hatte ich keine zwei Sekunden Zeit für einer Materialanalyse, denn er trat die Flügeltüren schon mit seinem Fuß ein. Es musste einen wirklich seltsamen Anblick abgeben wie Silver mich durch das große, dunkle Portal des Thronsaals zerrte. Natürlich ließ er mich augenblicklich los, was zur Folge hatte, dass ich vor dem Thorn auf den Boden knallte. Das laute Klatschen meiner Hände auf dem kalten, schwarzen Marmorboden, war das einzige Geräusch in diesem riesigen Raum. Wenn er nicht so schrecklich dunkel und dreckig gewesen wäre, wäre es ein traumhaft schöner Audienzsaal gewesen. Mit brennenden Handflächen versuchte ich mich aufzurichten, als Silver und Nathan mit einem Ruck auf die Knie, während mein Kopf wieder zu Boden gedrückt wurde. Auwa, das würde eine weitere Beule geben. Was war ich für diesen Kerl? Sein persönlicher Sandsack, den er behandelt konnte wie er wollte oder will er mich einfach nur so leiden sehen?

„Seid gegrüßt eure Hoheit, Herrscher über das Ödland und allem was dahinter liegt“, erklang es im Chor von beiden. Ich schwieg oder besser versuchte nicht allzu laut zu wimmern, denn mir tat jeder einzelne Knochen im Leib weh.

„Sprecht, welch seltsames Geschöpf habt ihr mir wieder angeschleppt?“, ertönte eine tiefe leicht genervte Stimme unmittelbar vor uns. Wenn ich hätte raten müssen, dann würde ich darauf tippen, dass die Stimme zu Loca gehörte.

„Sie ist eine aus der anderen Welt, vermutlich diejenige, die Elenya seit zwei Jahren verzweifelte sucht um gegen euch siegen können und eine neue Weltordnung zu schaffen, eure Hoheit“, gab Silver monoton wieder. Keine Ahnung, warum ich den Drang verspürte Silver in diesem Moment kräftig durchzuschütteln, aber das war nicht weiter von Belang, wenn ich hier ungeschoren davon kommen wollte. Dennoch wagte ich einen kurzen Blick in Locas Richtung. Zu dumm nur das sich unsere Blicke kreuzten. Er war von der Statur her ein Schrank. Nein, das war noch untertrieben. Sonst hatte Loca recht wenig an, aber war er trug waren Felle, Ketten, Hörner und schwarzes Leder. Dazu kamen sein vernarbter Körper, glühend rote Augen und langes, nachtschwarzes Haar. Nicht zu vergessen seine gewaltigen, marmorierten Hörner, die monströsen, pergamentartigen Flügel und der Griff eines mächtigen Breitschwerts der in seiner Hand ruhte. Ich schluckte trocken unfähig meinen Blick von ihm zu lösen. Mit voller Wucht knallte mein Kopf auf die Fliesen zurück. Oh man, tat das vielleicht weh.

„Wie bitte diese kleine Hure soll Elenyas Rettung der Welt vor mir sein? Wenn du einen Grund dafür brauchst sie mit zu dir zunehmen, nenn mir einen anderen. Aber lüg mich nicht an!“, herrschte Loca ihn an.

„Ich bin keine Hure“, grollte ich kaum hörbar. Daraufhin folgte eisige Stille, die von Locas zorniger Stimme durchbrochen wurden: „Wie bitte?!“

Schneller als man „Einundzwanzig“ sagen konnte, flog ich einmal quer durch den Saal und knallte gegen die nächste Wand. Für die nächsten Sekunden bekam ich keine Luft mehr, während Loca mich schon wieder packte und gegen die Wand presste. Wie durch ein Wunder bekam ich irgendwie wieder Luft.

„Du wagst es mir zu wiedersprechen?!“, donnerte er los. Das Komische an all dem war, dass ich die Situation oder besser diese Welt noch immer nicht ganz ernstnahm. Ob es daran lag, dass ich es nicht wahrhaben wollte oder es nicht wahrhaben konnte. Ich wusste es nicht. Alles was ich wusste, war das wenn ich es nicht bald ernstnehmen würde, mein hübsches Köpfchen bald rollen lernen würde. Über Locas Schulter sah ich ein Paar vor Schreck geweitete, orange Augen.

„Eure Hoheit, ich bitte um Verzeihung, wegen ihres unangebrachten Verhaltens, aber was habt Ihr anderes von Elenyas Wunderkind erwartet?“, erklang Nathans Stimme beinahe säuselnd. Loca wand sich von mir ab und lachte. Wie hätte es anders sein können? Er ließ mich natürlich nicht los. Mittlerweile krallte ich mich mit beiden Händen an seinem Arm fest, um irgendwie Luft zu bekommen.

„Ihr habt Recht Nathan. Aber was mache ich nur mit dieser armseligen Kreatur? Es zu töten war die einfachste, aber auch die langweiligste Methode. Bleiben noch Lösegeld zu fordern oder sie zu versklaven, auf das sie niemanden jemals finden wird. Hm, ich denke am amüsantesten wäre es dieses Ding zu versklaven und immer in meiner Nähe zu haben, um mich daran zu belustigen“, sinnierte Loca ruhig. Wenn ich nicht zu beschäftig damit gewesen wäre, um Luft zu ringen, hätte ich ihn böse angefunkelt. Ich meine was für ein Arsch war dieser Loca eigentlich? Zu seiner persönlichen Belustigung, der würde mich bald mal kennenlernen. Ich hasste es von oben herab behandelt zu werden. Das war schon immer so und würde sich auch bei einem Dämonenkönig nicht ändern. Ich hatte keine Angst vor dem was geschehen würde, warum auch? Er konnte mich nicht brechen, dieser eingebildete Möchtegern König. Das konnte ich vermutlich auch nur behaupten, weil Loca zuvor die Variante mich zu töten ausgeschlagen hatte. Sein Kopf drehte sich in Silvers Richtung, der ihn seinerseits aufmerksam beobachtete.

„Silver klagte deine Frau nicht immer über mangelnde Haushaltsunterstützung?“, fragte Loca berechnend. Mit einem Schlag wurde mir eiskalt und ich vergaß das Atmen. Unsere Blicke trafen sich über –Locas Schulter.

„Ja, ich glaube Morgan hat so etwas mal erwähnt“, gab Silver zurück und sah Loca wieder direkt an. Nathan war unterdessen immer ruhiger geworden.

„So sei es, dann gebe ich sie dir als Sklavin mit und lass dich über ihr Schicksal urteilen, als rechte Hand des Königs“, mit diesem Urteil schleuderte er mich vor Silvers Füße, wo ich hustend und würgend liegen blieb. Er sich verbeugte vor seinem König: „Habt Dank eure Hoheit, Morgan wird dieses Geschenk sehr zu schätzen wissen.“

Keine paar Sekunden später schleifte Silver mich wieder durch die ganze Burg. Nur um mich dann keine drei Meter vor dem Burgtor an einem Baum abzusetzen. Gott, fühlte ich mich grauenvoll, als wäre ein Bulldozer über mich drüber gerollt. Kraftlos fiel ich auf den Boden und blieb reglos liegen. Ich war so unglaublich müde. Irgendjemand hörte ich besorgt meinen Namen rufen, doch die Dunkelheit war zu schwer und zu verlockend.

Kapitel 4

 

„Ist das dein Ernst?! Erst kommst du Tage lang nicht heim, während ich mir Gerüchte anhören darf, dass du mit einer anderen durchgebrannt bist. Und jetzt tauchst du hier einfach so auf mit irgendeiner billigen Hure in deinen Armen. Was sollen denn Nachbarn von mir denken?“, hörte ich eine hysterische Frauenstimme herumschreien.

„Verdammt nochmal. Ich bin keine Hure! Kann sich das endlich mal jemand merken!“, fachte ich noch im Halbschlaf und schlug zornig meine Augen auf. Direkt vor mir stand eine übertrieben geschminkte Dämonin mit weißem Haar und eisblauen Augen und weißen Flügeln. Sie trug einen Hauch von Stoff, was mich zu meinem nächsten unbedachten Kommentar verleitete: „Außerdem habe ich immer noch mehr Klamotten an als du.“

Das warme mir bekannte Lachen erklang etwas zu nah wie ich feststellen musste und schüttelte mich durch. Ein Blick nach oben und mir wurde klar, dass Silver mich getragen haben musste, denn er hielt mich noch immer fest.

„Wie bitte?!“, schrie die Frau mich an. Um ein Haar hätte ich heute einen weiteren Schlag abbekommen, wenn ihre Hand nicht wenige Zentimeter vor meiner Wange gestoppt wurden wäre. Zu unser beider Erstaunen hatte Silver sie aufgehalten.

„Du wagst es“, grollte sie, wobei ihre Augen aufglommen und die Raumtemperatur gefühlt um zehn Grad abnahm. Er schwieg, was sie nur noch mehr antrieb: „Du wagst es, mich davon abzuhalten meine Sklavin zu züchtigen?“

Die Raumtemperatur sank soweit, dass mein Atem weiße Wölkchen bildete. Ich fragte mich, ob das etwas mit ihr zu tun hatte. Da in diesem sogenannten Eyschen nichts wie auf der Erde war, lag die Wahrscheinlichkeit, dass es hier Magie und ähnliches gab ziemlich hoch. Schließlich war dieser Planet auch komplett von Fabelwesen bevölkert. Vielleicht macht der Fakt es mir auch so sehr, diese Welt nicht als surreal abzustempeln. Ich musste an die ganzen Märchen und Geschichten denken, in denen Kinder, die deutlich jünger waren als ich, eine andere Welt betraten und daran glaubten, was sie dort sahen. Lag es daran, dass sie mehr Phantasie als ich hatten? Oder war ich mit meinen achtzehn Jahren einfach schon zu desillusioniert von der Welt, dass ich an so etwas wie Wunder nicht mehr glaubte? Ja es stimmt, ich mochten Nixe, aber konnte ich mir vorstellen, dass sie real existieren? Nein, das konnte ich nicht. War mein inneres Kind also schon verschwunden?

Mein eigenes Zähneklappern holte mich ins Hier und Jetzt zurück, in meine momentane Realität.

„Sie untersteht meinem Schutz und ich darf mit ihr machen, was ich will. Alles was sie für dich tun wird ist dich bei den häuslichen Aufgaben zu helfen“, eröffnete Silver ihr und ich spürte die Hitze die von ihm ausging.

„Wir sind verheiratet. Schon vergessen, was mein ist soll auch deins werden?“, erinnerte sie ihn. Ich für meinen Teil wusste, dass ich diesen Streit nicht sehr lange aushalten würde. Schließlich wurde ich von vorn schockgefrostet und von hinten gegrillt. Interessant wäre es die Frage zu klären, ob ich nun gegart oder eher gefroren werden würde. Feststand in jedem Fall, dass es verdammt schmerzhaft werden würde.

„Ich für meinen Teil habe weder diesen Schwur geleistet, noch dich freiwillig zu meiner Frau genommen. Die Hochzeit war von Loca arrangiert, da du sein teures Cousinchen bist und seine Tante darauf bestand, dich mit der rechten Hand des Königs zu vermählen“, gab Silver zornig zurück. Ich holte tief Luft und versuchte mich zu konzentrieren, einmal am Tag ohnmächtig zu werden reichte mir vollkommen. Seinen Worten zu Folge wäre die Frau vor mir dann Morgan, seine Ehefrau, und es war eine Zwangsehe. Waren Zwangsehen bei uns nicht mittlerweile verboten? Stimmt ja, hier war ja nicht bei uns, sondern Eyschen. Mir war so schwindlig.

Nory, reiß dich zusammen!

Genau, es war verboten, weil es gegen die Grundrechte verstieß.

Gegen was?

Grundrechte, sind die Rechte die zum Schutz des einzelnen Menschen dienen und die Grundlage einer demokratischen Ordnung darstellen. Warum auch immer ich mir das jetzt definierte. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich wetten können, dass mein Gesicht von einer dünnen Schicht Raureif überzogen war. Mein Rücken hingegen musste jeden Moment Feuer fangen. Was war nur falsch mit den beiden? Und da war es wieder, dieses Gefühl zwischen Schwerelosigkeit und Erbrechen mit einem ordentlichen Schuss von Taubheit und Schwindel.

Nory, knurrte jemand in meinem Kopf. Ich selbst war unfähig auch nur noch einen klaren Gedanken zu fassen.

Hab hier nicht immer so eine große Klappe, nur um dann spontan umzukippen!

Die Worte hörte ich zwar, aber der Sinn erschloss sich mir nicht mehr. Vor meinen Augen begannen weiße Punkte herab zu rieseln. Dann ging alles ganz schnell. Es wurde kochend heiß, ein schriller Schrei verließ meine Lippen, das Bild wurde kurz schwarz und dann fand ich mich zwei Räume weiter auf einem kühlen, glatten Laken wieder.

„Was war das denn?“, krächzte ich bewegungsunfähig. Verschwommen machte ich die Gesichtszüge von Silver über meinem Gesicht war. Er wirkte belustigt oder doch besorgt? Das vermochte ich nicht wirklich auszumachen.

„Das war eine Auseinandersetzung unter Dämonen, eine der du nicht gewachsen bist“, klärt mich Silver ruhig auf, „Ich frage mich wirklich, ob du Elenyas letzte Hoffnung bist. Falls es stimmt musst sie wirklich verzweifelt sein.“

„Warum muss sie verzweifelt sein?“, fragte ich ins Blaue hin, während sich mein Kopf langsam klärt. Silver musste lachen: „Die Frage war hoffentlich ein Scherz. Was soll eine zierliche Frau wie du ohne jegliche Kräfte oder Fähigkeiten, schon gegen eine Welt voller mächtiger, magischer Wesen, die seit Jahren im Krieg miteinander liegen, auch schon ausrichten können?“

Es war eine Fangfrage, aber da ich wieder klar denken konnte, kränkte mich diese Aussage schon etwas. Ich fackelte nicht lange mit dem Konter: „Dein Ernst? Ihr seid viel zu versessen auf eure magischen Kräfte, ohne die seid ihr ja auch nicht mehr als ich.“

Bist du dir da sicher? Das ich ohne Magie nicht mehr kann als du, Nory?, flüsterte es in meinem Kopf. Was war das? Woher kam diese Stimme in meinem Kopf. Ich sah mich panisch um, doch hier war niemand mehr außer Silver und mir. Also wer oder was zum Geier war das hier in meinem Kopf? Wurde ich verrückt und fing schon an Stimmen zu hören? In mir stieg eiskalte Panik auf, die mir die Luft zum Atmen abschnürte. Silver beobachte mich währenddessen amüsiert: „Keine Angst du wirst nicht verrückt.“

Aber wie?

Ich kann mit dir auf telepathischem Weg reden.

Nicht dein Ernst?

Doch.

Warum geht das denn?

Schweigen.

„Warum geht das? Liegt das an meinem schwachen Menschsein oder woran?“, hackte ich leicht verzweifelt nach. Er holte tief Luft und sah zum ersten Mal seit dem ich ihn getroffen hatte, etwas unbehaglich aus. Doch Silver schwieg beharrlich weiter. Ich zog eine Augenbraue hoch, holte Luft und dann passierte es, einfach so nebenbei.

„Außerdem bin ich selbst ohne Magie noch stärker als du“, damit packte er meine Handgelenke blitzschnell meine Handgelenke. Flink zog er sie über meinen Kopf zusammen und hielt sie mit einer Hand fest. Meine Atmung wurde immer flacher. Ich starrte ihn mit schreckgeweiteten Augen an und hatte keine Ahnung, was genau er mit mir vorhatte. Silver beugte sich ganz dicht zu mir runter. Unsere Gesichter trennten keine zwei Zentimeter mehr. Ich spürte seinen Atem auf meiner Wange. Mir schoss die Röte ins Gesicht.

„Wer ist jetzt der Stärker?“, hauchte Silver mir spöttisch ins Ohr. Sein Ernst. Ich schloss die Augen, konzentrierte mich und versuchte meine Handgelenke freizubekommen. Der Versuch rang ihm lediglich ein leises Lachen ab. Schnell klemmte ich ein Bein um das seine und versuchte ihn damit abzulenken, während ich ein Handgelenk frei riss. Es schien ihn wirklich etwas zu überrascht, aber er fing sich schnell und wir begannen miteinander zu ringen. Am Ende war Silver mir ganz klar überlegen. Er saß triumphierend auf mir und hielt meine Handgelenke über meinem Kopf einzeln fest, während seine Schiebeine und Füße jegliches Regen der Beine meinerseits unmöglichen machten. Wir sahen uns in die Augen. Mir fielen seine geröteten Wangen auf und ich musste unwillkürlich Grinsen. Silver erwiderte es und einen Moment schien die Zeit stehen zu bleiben.

Dann war der Augenblick vorbei. Wir besannen uns der Situation und stoben auseinander, als hätten wir uns gegenseitig verbrannt. Schnell sah ich zu Boden. Mein Blick fand seine bloßen Füße. Zugegeben das erstaunte mich dann doch etwas. Hatte Loca Schuhe getragen oder Morgan? Sicher wusste ich es nicht. Vielleicht war es hier ja Gang und gebe barfuß durch die Welt zu laufen. Nicht das ich gerade mehr an den Füßen trug. Ich war noch in Gedanken versunken, als Silver mit etwas auf den Bauch warf. Erschrocken zuckte ich zusammen und musste feststellen, dass es sich um Kleidung handelte.

„Zieh das am besten an, bevor du mit noch mehr Leuten aneckst“, gab Silver von sich bevor er den Raum verließ. Sachte setzte ich mich auf und sah mich um. Das große Zimmer war durch hunderte von Kerzen erhellt: Große, Kleine, Frische, Alte, Dick, Dünne. Es war ein Meer aus tiefroten und schwarzen Kerzen. Nur zwei Dinge befanden sich noch in dem Raum. Ein überdimensionales Himmelbett, das fast den gesamten Raum einnahm und eine Kommode aus Ebenholz. Ich erhob mich wie in Zeitlupe von dem Bett, aus Angst der Schwindel könnte mich wieder überkommen. Die Sachen waren aus sandgelber und orangegelber Seide mit verschiedensten Edelsteinen. Ob die echt waren? Ich zweifelte etwas daran, dass es in dieser Welt nachgeahmte Edelsteine gab. Aber wenn sie echt waren, dann musste das Ganze ein halbes Vermögen gekostet haben. Mit einem mulmigen Gefühl begann ich mich zögerlich umzuziehen. Das Gefühl verstärkte sich je mehr ich von der Kleidung anzog. Ich sah zwar wie eine echt schöne Bauchtänzerin aus, fühlte mich aber deutlich unwohler als in meiner eigenen Kleidung. Nur eines erschloss sich mir nicht so ganz. Warum sollte ich jetzt weniger wie eine Hure aussehen als vor?

Weil jetzt jeder sieht, dass du zur rechten Hand des Königs gehörst, hallte es in meinem Kopf wieder. Erschrocken fuhr ich zusammen und hielt mein laut pochendes Herz fest.

Ich gehöre zu dir? Im Kopf Fragen an jemand anderes zu formulieren war wirklich seltsam, gerade so als würde ich Stimmen hören oder einfach gesagt verrückt werden. Nur das ich tatsächlich Antworten auf meine Fragen erhielt, mit denen ich selbst nicht rechnete.

Ich korrigiere, du gehörst nicht zu mir, sondern du gehörst mir.

Ich gehöre dir ganz bestimmt nicht. Nur weil dein König, dass von sich gegeben hat, heißt das noch lange nicht, dass ich dem zustimme oder es akzeptiere. Meine innere Stimme schrie nur so vor Zorn, was dachte Silver sich dabei mir das Gefühl zugeben ein Nichts zu sein.

Hier bist du ein Nichts und gehörst mir, mir ganz allein, trällerte er beinahe schon in meinem Kopf.

Es scheint dich ja sehr zu freuen, dass ich nun dir gehöre.

Vielleicht tut es das.

Noch eine Frage. Wo genau endet dieses „Hier“?

Anstatt einer Antwort ging die Tür auf und in meinem Kopf hallte sein Lachen wieder.

„Folge mir“, erklang eine warme, weibliche Stimme. Perplex starrte ich die junge Frau im Türrahmen an. Es war nicht Morgan, der ich gegenüber stand, sondern einer kleineren, sonnengebräunten Frau ohne jegliche Flügel. War sie etwa ein Mensch? Komischerweise keimte ein Funke Hoffnung in mir auf, doch nicht ganz allein zu sein. Diese Hoffnung lebt ungefähr so lange wie sie sich nicht umdrehte. Beim Anblick ihres Rückens erstarb sie und mir krachte eine Faust ungebremst in die Magengrube. Was hatte man mit ihr gemacht? An der Stelle, bei der den anderen Dämon die ledrigen Flügel aus den Schulterblättern wuchsen, zierten zwei riesige Narben ihren Rücken.

Das geschieht in unserer Welt bei Ungehorsam und das „Hier“ endet außerhalb deiner Reichweite, jagte seine distanzierte Stimme durch meine Gedanken. Er riss mich damit aus meiner Schockstarre. Schnell senkte ich den Blick und folgte ihr. Was eigentlich gar nicht so leicht war, da sie unglaublich flinke Schritte machte. Ich verfiel in einen Laufschritt. Wir liefen viele, verwirrende Gänge herunter, bogen nach links und nach rechts ab, stiegen Treppen auf und ab. Am Ende hatte ich keine Ahnung mehr, ob ich nun über oder unter der Etage von Silvers Schlafzimmer war. Wie sollte ich hier je wieder herauskommen? Die Idee mit der Flucht aus dem Land hier, würde allein schon an der Tatsache mit der Flucht aus Silvers Heim scheiterten. Es war völlig aussichtslos.

Einen Augenblick später knallte ich in ihren Rücken, da sie ohne jede Vorwarnung stehenblieb.

„‘tschuldigung“, murmelte ich hektisch und stolperte zurück. Sie nickte nur: „Dies hier ist die Küche des Hauses. Hier wirst du heute deine Arbeit verrichten. Fürs erste putzt du das Gemüse und die Kartoffeln. Danach fegst du die Küche. Wenn das Essen fertig ist, bringst du es zu unserem Herrn und seiner Gemahlin. Den Weg findest du, indem du den Fackeln an den Wänden folgst. Damit sollte alles geklärt sein. Ab an die Arbeit Neuling.“

Meine Laune sank auf den absoluten Tiefpunkt, als ich den Berg aus Kartoffeln, Möhren, Zwiebeln, Sellerie, Lauch und einem überdimensionalen Bündel von Kräuter erblickte. Ist das sein Ernst? Ich falle in eine fremde Welt mit allen möglichen Fabelwesen und realexistierender Magie, nur um dann Küchenmagd für die rechte Hand eines Dämonenkönigs zu spielen?

„Kann seine Frau nicht kochen oder warum macht sie das nicht selber?“, rutschte es mir genervt heraus. Binnen weniger Millisekunden erdolchte mich jedes einzelne Augenpaar in der Küche und die war riesig mit zig Öfen, Herden, Arbeitsflächen, Wasserbänken und deckenhohen, dunklen Schränken.

„Hüte deine Zunge Neuling“, zischte sie giftig. Unfreiwillig machte ich mich klein. Die Angst kroch ganz langsam über meine Füße, an den Beinen hoch und jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken.

Du solltest lernen deine Zunge zu beherrschen, denn nur die Tatsache, dass du meine Sklavin bist, wird dich nicht immer retten können.

Und du solltest lernen was Privatsphäre heißt, denn meine Gedanken sind privat. Innerlich knurrte ich regelrecht, denn ich hasst es bevormundet zu werden. Tatsächlich verstummte Silvers Stimme in meinem Kopf. Es fühlte sich so gut an, ihm mal zu sagen, dass er nicht alles durfte.

Ich schloss meine Augen und holte tief Luft. Zu aller erst musste ich mich beruhigen, denn wenn man Dämonen für Ungehorsam die Flügel abhackte, was würde man dann erst einen Menschen antun. Etwas ruhiger ging ich an die Arbeitsplatte, warf mir eine Schürze oder was auch immer dieses rote Ding darstellen sollte über, nahm das Messer in die Hand und begann stumm mit meiner Arbeit. Nach und nach wanden sich die Blicke von mir ab. Alle Bediensteten gingen ihren Aufgaben weiter nach, nur meine Begleiterin stand wie eine Aufseherin seelenruhig an der Tür. Die nächsten Stunden hatte ich nichts Besseres zu tun, als Gemüse zu putzen und die Küche zu fegen. Je länger es dauerte, desto ruhiger wurde ich. Schließlich hatte hier zumindest Küchenarbeit nichts mit übermenschlichen Fähigkeiten zu tun. Meine Gedanken glitten ab, ob sie Zuhause schon gemerkt hatten, dass ich verschwunden war? Vermutlich noch nicht. Schließlich hatte ich mir den Golf meiner Mutter mit den Worten „Ich schlaf übers Wochenende bei Freunden“ ausgeliehen. Es ist nicht so, dass sie sorglos oder ich ihr egal wäre. Sie war einfach nur nicht mehr sie selbst, seit dem Tod meines Bruders vor einem Jahr. Keine Ahnung wie ich es geschafft hatte nicht daran zu zerbrechen. Vielleicht, weil ich mir einredete, es ihm jetzt besser gehen würde. Ein Teil von mir starb jedes Mal von neuem, wenn ich mich daran erinnerte wie er die letzten Monate im Krankenhaus verbrachte. Das Piepen des Beatmungsgerätes hallte mir immer noch monoton in den Ohren. Er sah so zerbrechlich aus mit all diesen Schläuchen in diesem klinisch weißen Raum. Ich könnte heute noch erbrechen bei dem Geruch von Desinfektionsmittel. Das Einzige was noch schlimmer war, war der Moment in dem ich ihn im Stich gelassen hatte, als er mich am meisten brauchte. Ich werde es mir nie verzeihen, damals Kaffee holen gegangen zu sein, obgleich er mich bat zu bleiben.

„Was stehst du hier so rum wie eine Trauerweide? Das Essen muss zu unserem Herrn“, fuhr mich der etwas kräftigere Koch an. Hastig wischte ich meine Tränen weg und zwang mich zur Konzentration. Ich durfte hier nicht auffallen, denn ich musste weiterleben. Wenn schon nicht für mich, dann für meinen großen Bruder. Der Gedanke beruhigte mich.

„Du schiebst diesen Speisewagen einfach die Gänge entlang. Halte dich dabei an die brennenden Fackeln und komme ja nicht vom Weg ab. Die Wege hier führen nicht alle zurück ins Haupthaus“, warnte sie mich für meinen Geschmack etwas zu eindringlich.

„Aso, zieh das dreckige Ding vorher aus!“, schallte mich eine der anderen Frau in der Küche. Eilig zog ich die Schürze aus. Nur um dann geschwinden Schrittes den Wagen zur Tür hinauszuschieben. Kaum war ich aus der Küche heraus, verdrehte ich die Augen. Ablenkung war schon immer das beste Mittel, um auf andere Gedanken zu kommen. Wirklich schwierig war es ja nicht gerade mich darüber aufzuregen, was gerade in der Küche gelaufen ist. Während ich etwas vor mich hin grollte, wich die eisige Hand von meinem Herzen. Das Atmen fiel mir wieder leichter. Am Rande meiner Aufmerksamkeit nahm ich wahr, dass die Gänge kalt und klamm waren. Ich zitterte schon am ganzen Leib, als ich ein Knurren aus den Nebengängen vernahm. Ein spitzer Schrei löste sich von meinen Lippen. Mit hämmernden Herzen blieb ich wie angewurzelt stehen. Ich fühlte mich wie ein kleines Mäuschen, das genau weiß, dass im nächsten Gang eine monströse Katze auf sie wartete, um sie zu verspeisen. Regungslos starrte ich in die Dunkelheit, ohne auch nur das Geringste zu erkennen. Ich hatte mich fast schon so weit zusammengerissen um weiterzugehen, als tonnenschwere Schritte ertönten. Staub rieselte von der Decke herunter und der Boden bebte. Die Stille zwischen den Schritten war Ohrenbetäubend. Mein Herzschlag setze aus, als ein markzerschmetternder Schrei erklang. Ich erwiderte ihn viel schriller und stürzte los mit dem Speisewagen vor mir. Dumm nur das ich keine drei Schritte kam, bevor ein schreckliches Ungetüm aus dem Gang hinter mir herausbrach. Es wirkte wie ein riesiger Gorilla mit Hörnern, Klauen und dem Maul eines Löwen. Dieses Vieh würde mich töten. Panisch rannte ich in den nächsten Seitengang. Dummer Fehler. Es war stockdunkel, aber umdrehen konnte ich auch nicht mehr. Der Schoßhund von wem auch immer war mir schon zu dicht auf den Fersen.

Wer hat denn bitte so ein Monster bei sich im Haus, als Schoßhund?!

Monster?

Ich war überglücklich seine Stimme wieder zu hören und hätte weinen können, wenn dieses Vieh nicht gewesen wäre.

Na, das Vieh was in deinen Gängen haust und mich fressen will!

Du meinst Lou-Lou?

Lou-Lou?! Was soll das denn sein? Mich will ein riesiges, gehörntes Vieh fressen, das definitiv nicht nach einer Lou-Lou aussieht!

Das ist Lou-Lou. Warum ist sie nicht in ihrem Käfig? Bist du in andere Gänge gelaufen?

Jetzt schon. Ich wollte ungern gefressen werden. Wäre es dem gnädigen Herrn jetzt mal möglich seinen Wachhund zurückzurufen?!

Wenn nicht innerhalb der nächsten Sekunden ein Wunder geschah, würde das Vieh seine Krallen in mich schlagen. Meine Lungen brannten und mir tränten die Augen. Unfassbar das ich noch nicht gegen eine Wand gerannt war. Kaum kam mir dieser Gedanke, streckte ich mich die Länge nach hin. Das war mein sicheres Ende. Als die Welt um mich herum verstummte und ich nur noch das Rauschen meines Blutes in meinen Ohren hörte. Ich spürte den Luftzug, mit dem das Vieh über mich hinwegfegte. Danach reagierte mein Körper wie von selbst. Er ließ mich auf die Seite rollen und in die entgegengesetzte Richtung davon sprinten. Mein Kopf war leer. Ich spürte nichts mehr. Alles wozu ich fähig war, bestand daraus das flackernde Licht in den großen Gang zu erreichen zu wollen. Ich hatte Glück das Vieh, sprich Lou-Lou, brauchte tatsächlich deutlich länger als ich um zu wenden. Daraus ergab sich ein kleiner Vorsprung für mich, der immer weiter abnahm durch mein Straucheln. Keuchend zerrte ich mich die letzten Meter auf den Gang und rannte in den Speisewagen. Die Suppe war sieden heiß. Sie ergoss sich über meinen bloßen Bauch und brannte sich in meine Haut. Ich wand mich schreiend auf den Boden, als der Schrei von Lou-Lou ertönte. Mir fehlte die Kraft um wieder aufzustehen und Lou-Lou kam unaufhaltsam immer näher. Panisch schreiend kauerte ich mich weinend zusammen.

„An deinen kämpferischen Fertigkeiten müssen wir noch arbeiten, die sollten wir an deinem ungehobelten Mundwerk anpassen“, hörte ich Silver spötteln. Danach gab es einen lauten Knall und ich riss meine Augen weit auf. Vor mir stand leibhaftig Silver, der Lou-Lou gerade mit einer einzigen Hand in eine Wand geschmettert hatte und nun mit Feuerbällen bearbeitete. Das sah zwar alles spektakulär aus, aber seine flüchtigen, besorgten Blicke zu mir, machten mir mehr zu schaffen.

Heute war wirklich nicht mein Tag und diese Welt muss mich wirklich töten wollen.

„Das kannst du laut sagen Nory. Lou-Lou dürfte hier eigentlich gar nicht freiherumlaufen. Ich weiß auch gar nicht“, Silver stutzte, „ Oh, ich glaube das könnte auch einer von Morgans verdrehten Willkommensgrüßen an dich sein“, überlegte er laut.

Willkommensgruß? Ich brachte es einfach nicht mehr zustande meinen Mund aufzumachen, um auch nur ein Wort über meine Lippen zu bringen. Meine Augenlieder klappten einfach zu und ich versuchte auch gar nicht richtig gegen die linderte Dunkelheit anzukämpfen.

Nory!

 

Mit brummenden Kopf erwachte ich zum dritten Mal an diesem Tag aus meiner Ohnmacht. Meine Statistik von keiner Ohnmacht in meinem kompletten Leben zu dreimal an einem Tag stieg beständig. Entnervt von mir selbst drehte ich mich mit verschränkten Armen schwungvoll auf die Seite. Nur um danach vor Schmerzen ins nächstbeste Kissen zu brüllen. An der Stelle zwischen meinen Schulterblättern auf meiner Wirbelsäule explodierte ein greller, eiskalter Schmerz. Mir liefen Tränen übers Gesicht, während er endlich etwas abebbte. Was zur Hölle ist passiert, nachdem ich mein Bewusstsein verloren hatte? Aus den Augenwinkeln sah ich das Zittern meiner Hände. Die Angst überkam mich und quälte mich mit Freuden. Ich wollte noch nicht sterben. Das ging nicht. Vorher musste ich nochmal zurück, zurück zu meinen Freunden und zu meiner Mutter. Sie würde es nicht ertragen noch ein Kind zu verlieren. Ich konnte jetzt noch nicht abtreten.

„So kämpferisch wie eh und je“, ertönte Silver belustigte Stimmen. Vor Schreck zuckte ich zusammen. Natürlich ließ mein Rücken keine Gnade walten und bestrafte die ruckartige Bewegung sofort.

„Nicht so hektisch. Du hast gestern einen starken Tritt von Lou-Lou abbekommen“, mahnte er mich. Fast hätte ich mich zu ihm herumgedreht, um ihn wütend anzufunkeln, stattdessen meinte ich nur: „Wie bitte? Gestern? Ich wollte euch doch gerade erst das Abendessen bringen.“

„Stimmt ja, das ist nun schon zwei Tage her“, korrigierte er sich lässig. Zweifelnd zog ich eine Augenbraue hoch: „Ich habe zwei Tage geschlafen?“

„In meinem Bett, wofür Morgan dich am liebsten töten würde“, kommentierte Silver seelenruhig. Morgan, allein bei dem Namen hätte ich mich am liebsten unter die Bettdecke verkrochen.

„Warum? Weil sie für zwei Tage auf Intimitäten mit dir in eurem Bett verzichten musste?“, spottete ich gespielt locker, denn eigentlich hatte ich Angst vor ihr und der Tatsache, dass sie mich jeden Moment in einen Eisblock verwandeln konnte. Silver lachte nur: „Nein, deswegen nicht, ehre weil weder sie noch andere Frauen seit Monaten in meine Gemächer durften.“

„Ich bin eine Ausnahme?“, fragte ich mit Zweifel in der Stimme. Auf sein lässiges Schulterzucken, als wäre es das normalste der Welt, eine wildfremde Frau, die jetzt seine Sklavin war, zwei Tage lang in seinem Bett schlafen zu lassen, folgte dann eine für mich komische Aussage: „Ich konnte dich ja nicht von Morgan und ihrem Personal umbringen lassen, wo ich dich doch gerade erst gerettet habe.“

„Richtig, du hast mich vor Lou-Lou, euren „Wachhund“ gerettet. Warum eigentlich?“, wollte ich selbst etwas erstaunt wissen. Damals in der Situation hatte ich es für selbstverständlich gehalten, aber im Nachhinein war es schon ungewöhnlich, dass der Herr eine einfache Sklavin vor seinem „Wachhund“ schützte. Silver zuckte bloß mit den Schultern: „Warum auch nicht? Schließlich hat Loca mir dein Schicksal überlassen und nicht Morgan. Das heißt ich entscheide was mit dir passiert.“

„Ahja?“, war alles was ich daraufhin zustande brachte, denn ich kaufte Silver diese Aussage kein Stück ab. Doch ich wusste, dass ich keine ehrliche Antwort von ihm zu diesem Thema erwarten konnte.

„Sag mal, wie kommt es eigentlich dazu, dass ich in den letzten drei Tagen nicht verdurstet bin und auch jetzt weder Hunger noch Durst verspüre?“, wunderte ich mich laut. Biologisch gesehen war es soweit ich wusste, ein Ding der Unmöglichkeit nach drei Tagen ohne Flüssigkeitszunahme keine Anzeichen von Dehydrierung zu haben.  Von dem Hunger mal abgesehen, denn ich konnte eigentlich immer essen und hatte rund um die Uhr Appetit. Doch selbst der hatte sich auf unbestimmte Zeit verdrückt.

„Wir Dämonen haben nie wirklich Hunger oder Durst und können es tagelang ohne Essen und Trinken aushalten“, erwiderte Silver und wollte damit meine Frage umgehen. Nicht mit mir: „Was habt ihr Dämonen jetzt mit mir zu tun?“

„Ruh dich aus, deine Schmerzen sollten bald besser sein. Ich muss jetzt zu Loca“, verabschiedete er sich, anstatt einer Antwort.

Ist das jetzt dein Ernst!? Anstatt mal irgendeine meiner Fragen zu beantworten rennst du davon! Was zum Teufel ist so sehr daran mir zu antworten und nicht dauerhaft auszuweichen!, brüllte ich ihm gedanklich hinterher und vergaß dabei wer von uns beiden besser brüllen konnte.

Und ist das deiner, mich ständig mit belanglosen zu nerven? Bis ich von Loca zurück bin, will ich nichts mehr von dir hören, grollte er. Ich zuckte zusammen und wurde prompt mit Schmerzen dafür belohnt. Musste Silver wirklich immer so schlechte Laune haben? Er könnte ja auch einmal freundlich zu mir sein. Ich seufzte leise. Tja, das würde ich wohl nicht mehr ändern können. Viel wichtiger war die Frage, ob ich wirklich bei Silver und seiner mordlustigen Frau bleiben wollte. Schließlich konnte sie mich in jedem Augenblick umbringen und wenn nicht sie es tat, gab es da noch den Dämonenkönig Loca, der mich ohnehin schon nicht sonderlich mochte. So gesehen, kam eigentlich nur noch die Flucht für mich in Frage. Nur wie sollte ich das anstellen? Falls ich den Weg aus diesem Haus hier finden sollte, wie würde ich einen Weg aus Locas Königreich finden? Wenn mich Dämonen verfolgen würden, wäre ich heillos unterlegen. Dämonen konnten fliegen, kämpfen und besaßen Magie. Ich konnte mich mit keinen der drei Eigenschaften brüsten. Alles was ich war, war eine achtzehnjährige Abiturientin und damit konnte ich mir hier auch nichts kaufen. Meine kämpferischen Fertigkeiten beliefen sich auf ein Halbjahr Tebo in der Schule und das war es auch schon. Außerdem, angenommen ich hätte mehr Glück als Verstand, was würde ich danach tun? Zurück in meine Welt würde ich alleine wohl schwer kommen. Zu Elenya und mir anhören, was sie von mir wollte? Soweit ich verstanden hatte lagen Elenya und Loca im Krieg miteinander. Vielleicht sollte ich zu aller erst etwas über diesen Krieg in Erfahrungen bringen. Nur für den Fall der Fälle. Es würde besser sein zu wissen, wer hier die Guten waren.

Ein anderer Gedanke drängte sich mir auf. Meine Mutter würde mich bestimmt schon als vermisst gemeldet haben. Sie war wahrscheinlich schon krank vor Sorge um mich.

Halte noch ein bisschen durch Mama, dachte ich im Stillen und schlief erschöpft ein.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.01.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Silvio

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