Die Kälte und verhältnismäßige Ruhe von draußen, halten hier im Gebäude nicht lange vor – es ist stickig und heiß, die Aufzüge sind brechend voll, im Radio läuft gerade irgendeine Rockballade aus den 70er Jahren und mein Handy klingelt nonstop. Ein wirklich besinnlicher Abend Anfang November eben.
Ich stackse auf meinen Absätzen wackelig über den Gang und nach draußen an die frische Luft; quetsche mich durch das Konvolut dicht gedrängt umherirrender Massen, auf die kleine weiße Tür am Gebäude gegenüber zu.
»Ms. Valentine«, unterbricht mich die drängende Stimme des Assistenten eines Vorstandsmitglieds, der mir bis hierher gefolgt ist, »Sie können mich nicht ewig ignorieren!« Oh doch, ich kann.
Schnell laufe ich durch den Laden, erreiche eine Tür auf der in fetten Lettern ›Nur für Personal‹ prangt und knalle eben diese Tür hinter mir zu, sobald ich hindurch bin. Auf der anderen Seite kann ich ihn noch pochen und zetern hören.
Den Lärm nicht weiter beachtend, seufze ich ob der Ruhe und Geborgenheit meines Büros, bloß ein paar Schritte weiter. Leider hält auch diese Ruhe nicht allzu lange vor, denn ich muss feststellen, dass die Zahlen die mir vorliegen, mich wirklich in Bedrängnis bringen. Bloß weil dieser Pinguin so leicht auszusperren ist, heißt das leider nicht, dass sie es auch sind. Die Gerichtsvollzieher.
Ich habe Schulden. Hohe Schulden. Oder na ja, nicht direkt ich, aber … der Laden hat sie. Das kleine Café, von dem ich mein Leben lang geträumt und das ich erst vor vier kurzen Jahren eröffnet habe. Nun gehe ich gerade mal auf die Dreißig zu und der Traum soll bereits ausgeträumt sein? Und das Schlimmste ist: wenn sie alles zerschlagen haben, wird daraus ein Schuhladen.
Ein Schuhladen. Versteht mich nicht falsch, ich bin eine Frau und für ein Paar echter Manolos würde ich vielleicht sogar sterben oder töten, aber ein Schuhladen in meinem Café?
Das ›Valentine’s‹ ist alles, was ich habe. Alles was ich besitze und wofür ich lebe. Was tue ich, wenn ich das nicht mehr habe?
Ich habe mein gesamtes Erbe in diesen Traum gesteckt. Es ist buchstäblich meine gesamte Existenz! So habe ich mir das hier nicht vorgestellt. Es hätte nicht so laufen sollen, wirklich nicht.
Noch einmal seufzend, strecke ich mich in meinem knarrenden Bürostuhl und überschaue mein Papierchaos. Eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter am Rande des Schreibtischs; von den Massen an Unterlagen beinahe über die Kante gedrängt.
Ich rücke ihn gerade und drücke auf ›abspielen‹. »Hey Lida … wie geht’s dir? Lange nichts mehr gehört«, vernehme ich Trisha aus den schlechten Lautsprechern meines Telefons, ihre Stimme brüchig, als würde sie weinen oder wäre zumindest kurz davor, »Hast du nicht Lust, die Weihnachtsfeiertage hier in Hanford zu verbringen? Wird bestimmt lustig und die Kinder würden sich freuen, immerhin haben sie ihre Tante ewig nicht gesehen. Ich weiß, du bist beschäftigt, aber ruf einfach zurück, wenn du mal Zeit findest, okay? Lieb dich.« Toll, noch mehr miese Neuigkeiten.
Sofort wähle ich die Nummer meiner Schwester ein und warte auf das Freizeichen. Es dauert nicht lange, ehe es klickt. »Was willst du, Lydia?« Ich kann seine Fahne bis hierhin riechen.
»Du mich auch, Dan. Wo ist Trish?«
»Nich zu Hause. Wüsst auch gern, wo die sich wieder rumtreibt.«
Super. »Dann gib mir mal eins von den Kindern.« Wären wenigstens erwachsenere Gesprächspartner. Angenehmer in jedem Fall.
»Sind in der Schule.«
»Um die Zeit?«
»Keine Ahnung. Vielleicht Nachsitzen. Bau'n doch dauernd nur Scheiße.«
»Tja, wie der Vater …«
»Was?«, ranzt er mich von seiner Seite der Leitung aus an und ich verdrehe die Augen.
»Passt schon, danke. Sag ihr bitte, dass ich angerufen habe, ja?«
»Mach ich. Wenn ich dran denke.«
Was du sicher nicht wirst. »Wiederhören.« Arschloch.
Genervt drücke ich den roten Hörer und Stelle das Gerät zurück in die Station. Wäre ich nicht selbst in einer solch verzweifelten Situation, würde ich vermutlich längst in meinem Auto sitzen und nach Kalifornien fahren, selbst wenn es noch so weit von New York entfernt ist.
Aber so wie es jetzt steht, sitze ich in meinem Büro in Brooklyn und vergrabe mein Gesicht in den Händen, ehe ich mir die Haare raufe und mich dann aufraffe. »Also gut, es reicht!«, entscheide ich und erhebe mich, um meine kleine schwarze Handtasche zu greifen.
Dieser Laden gehört mir und ich werde darum kämpfen. Es wird doch wohl reichen, um die nächsten Rechnungen zu begleichen, ohne gleich alles hinschmeißen zu müssen. Ich muss keine Miete zahlen und niemand kann mich hier herauswerfen, bevor nicht alles – wirklich alles – verloren und am Ende ist. Und selbst, wenn ich den Boden erreicht habe, werde ich nicht liegen bleiben.
Mein Baby davor bewahren, dass es völlig pleitegeht, obwohl in letzter Zeit viel zu wenig Umsatz gemacht worden ist?
Na, das wär doch gelacht.
›Wär doch gelacht‹, nicht wahr?
Ich rolle geschlagen mit den Augen und lasse den Kopf lustlos auf den Tisch fallen. Die Finanzen sehen mau aus, die Rechnungen wachsen mir über den Kopf und meine Sparkonten, die ich seit meiner Jugend gehegt und gepflegt habe, noch lange bevor ich durch das Erbe meiner Eltern nach Brooklyn aufbrechen konnte, stehen auf ihren letzten, wackeligen Beinen.
Eigentlich könnte ich kotzen, stattdessen strecke ich mich jedoch über den Schreibtisch und nehme mein Telefon zur Hand, ehe ich damit zur Backstube hinter dem Café laufe. Es sind noch Reste von fast allem vorhanden, was man zum Backen braucht. Alles was darüber hinausgeht, werde ich zuerst versuchen an andere Bäckereien oder Konditoreien abzutreten, dann auf eBay mein Glück strapazieren und letztendlich, wenn dann nichts mehr geht, selbst darauf sitzen bleiben.
Ja, ganz Recht, ›was übrig bleibt‹. Es ist vorbei. Vielleicht bekomme ich das meiste ja heute noch verbacken, dann kann ich davon vielleicht noch eine Weile leben oder die Backwaren wie ein Penner auf der Straße verkaufen.
Mein Kopf schmerzt, während ein ums andere Mal der Freizeichenton zu hören ist. So wie die letzten Tage immer wieder. Mein Magen grummelt mit dem schlechten Vorzeichen, das das Auslaufen des Tons im Hörer für mich darstellt, bis eine Stimme sie unterbricht um mir zu berichten, dass niemand erreichbar ist.
»Herrgott, ja, ich weiß, dass der gewünschte Gesprächsteilnehmer gerade nicht zu erreichen ist. Das ist sie nun schon seit Wochen nicht«, schimpfe ich mit dem Sack Mehl, den ich in der Hand halte.
Tatsächlich habe ich zuletzt von Trish gehört, nachdem sich Dan bei mir gemeldet hat – ist das zu glauben? Dieser miese Dreckskerl hat es gewagt, mich anzurufen und nach meiner Schwester und den Kindern zu fragen. Er ging davon aus, dass sie bei mir sei, was ja auch verständlich ist. Doch da muss ich ihn leider Gottes enttäuschen. Und das meine ich ernst, es tut mir wirklich leid.
Nicht, weil ich diesen Hurensohn enttäuschen musste, sondern weil ich wirklich und wahrhaftig keinen blassen Schimmer habe, wo sie mit den Kindern hin verschwunden sein könnte. Ich weiß bloß, dass die Kleinen nicht vermisst werden. Von der Schule hat sie sie offiziell abgemeldet und vorübergehend Homeschooling beantragt, nehme ich an. Keine Ahnung, vielleicht sind die beiden ja auch auf einer ganz anderen Schule.
Wenn ich das nur wüsste … eigentlich kann ich nur dasitzen und hoffen, dass es ihnen gut geht. Ihnen noch mehr hinterhertelefonieren kann ich eigentlich gar nicht, da ich sonst Angst haben müsste, die horrende Telefonrechnung nicht mehr tragen zu können. Es wird sicher schon schwer genug werden, die Rechnung zu begleichen, die bisher zustande gekommen ist.
Mit meiner Existenz, die die vergangenen Tage immer weiter den Bach runtergegangen ist, der Tatsache, dass der Vertrag für den Verkauf meiner Immobilie unterzeichnet ist und ich hier in einer zukünftigen Ruine stehe, habe ich ehrlich gesagt Angst ein Magengeschwür zu entwickeln. Es wäre toll, hätte ich bloß eine Sorge weniger.
Gestresst werfe ich das Rührgerät an, nachdem ich noch einige Zutaten zu denen hinzufüge, die bereits zusammengeworfen sind, von meiner letzten Backwut, die erst ein paar Minuten her ist. Ich seufze und rühre gleichzeitig, als gerade jemand den Bereich betritt, zu dem normalerweise nur ich Zutritt habe.
Verwirrt sehe ich mich um, nur um eine Person zu erkennen, die ich schon vollkommen vergessen habe. »Oh, hey Jenny. Schon fertig für heute?«
Traurig lächelt sie mich an. »Ja, ich muss ein bisschen früher gehen, aber meine Schicht ist sowieso in zwanzig Minuten vorbei.«
Bei der Erwähnung geht mir ein Licht auf. »Ach, stimmt ja. Du hattest gesagt, du hättest heute ein Vorstellungsgespräch?«
»Ja.« Sie betrachtet mich mit einem Ausdruck im Gesicht, den ich jetzt wirklich nicht gebrauchen kann, während sie da in der Tür zur Backstube stehen bleibt, »tut mir echt leid, wegen dem Laden. Wenn ich dir noch irgendwie helfen kann, dann-«
»Nein, Jenny. Kümmer dich erstmal um dich selbst. Du brauchst einen neuen Job und ich kann dir nicht mehr viel bezahlen, also muss es schnell gehen. Ich bin froh, wenn du endlich weg bist. Das bedeutet dann, dass du hier nicht mehr arbeiten musst. Das ist gut!«, bestärke ich sie in ihrer Entscheidung.
Es geht einfach nicht anders. Am Anfang war alles in Ordnung. Ich hatte fünf Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Zwei davon in den Küchen tätig und drei in dem kleinen Café; gleichzeitig Verkäuferin, Bedienung und Barista zu sein, das ist nicht leicht. Aber bei vollem Haus haben wir zu dritt gearbeitet, vielleicht sogar zu viert.
Doch die Tage in denen das nötig gewesen ist, sind schon sehr lange her. Dabei steht das Valentine’s erst seit vier Jahren. Vier wirklich kurze Jahre, wie mir klar wird. Als sich Jenny verabschiedet und ihre Schürze an den Haken hängt, seufze ich erneut.
Es kotzt mich einfach an.
Das Klirren einer Tasse hallt laut in dem kleinen Hinterzimmer wieder, das die Spülküche darstellt. Die Backstube ist der große Raum nebenan und gegenüber ist die kleine Küche für andere Speisen, die wir angeboten haben. Es war nicht viel - eine Küchenfee hat dafür ausgereicht. Und ich war immer hier, fast jeden Tag, vom Morgen bis zum Abend. Mein Büro ist direkt hinter der Backstube, wenn man einmal hindurchläuft.
Das alles hier war so perfekt, wie auf mich zugeschnitten – ist es immer noch. Kaum zu glauben, dass ich all das verlieren soll. Der Gedanke lässt meine Augen an Feuchtigkeit gewinnen, die ich sofort wegzublinzeln versuche.
Ich atme tief durch. »Das wird schon, Lydia. Alles wird wieder gut werden.«
Das hat damals auch meine große Schwester zu mir gesagt, als unsere Eltern starben. Damals bin ich gerade erst achtzehn geworden. Trish hatte zu der Zeit bereits beide Kinder gehabt, eines vier, das andere drei und mit ihren gerademal zweiundzwanzig Jahren. Sie war voller Hoffnung und hat fest auf ihre Familie gebaut. Ich konnte das nicht.
Heute ist sie einunddreißig, pleite, hat zwei Kinder und einen versoffenen Scheißkerl zum Ehemann. Da wär ich auch abgehauen. Ehrlich, ich meine, am Anfang, da war Dan Tonelli noch ein wirklich erträglicher Mensch gewesen, auch wenn es schwer zu glauben ist und ich ihn auch da schon nicht sonderlich leiden konnte. Ich weiß nicht, was es war – vielleicht einfach Intuition, die Trish gefehlt hat, weil sie so sehr in ihn verschossen gewesen ist.
Heute ist alles anders. Nachdem sie erstmal offiziell seine Frau geworden ist, hat er sich angefangen zu verhalten wie der Affe im Porzellanladen. Er hat immer mehr getrunken. Außerdem hat er immer mehr mit Wetten verzockt. Das ging so lange, bis er seinen Job verloren und eine Weile nur noch von Trishs Erbe gelebt hat. Die beiden Kinder haben darunter gelitten; Trish hat darunter gelitten.
Aber das Schlimmste waren die Handgreiflichkeiten, die irgendwann dazu kamen. Als ich davon erfahren habe, ist für mich die Welt zusammengebrochen. Ich hab ihn angezeigt. Doch am Ende kam nichts dabei rum, weil sie es nicht zur Anzeige bringen wollte. Sie meinte, er sei doch ihr Ehemann und sie liebe ihn. Und was würde dann aus den Kindern und bla, bla, bla …
Eins kann ich mit Sicherheit sagen. Ich werde niemals Heiraten. Nie. Nie. Nie und nimmer.
Ich gehe den Entschluss noch einmal durch, während ich Geschirr aus der Spülmaschine ins Regal räume und dabei immer mal wieder um die Ecke in den Verkaufsbereich spähe. Es ist niemand da und ich würde die Glocke hören, wenn jemand kommt, doch es ist einfach eine Angewohnheit geworden, seit ich so gut wie allein im Laden bin.
Außer Jenny sind bereits alle Angestellten weg; haben was Neues gefunden. Und wie ich Jenny schon sagte, freut es mich. Dennoch stimmt es mich auch traurig, so viel ist sicher.
Ein plötzliches Läuten schreckt mich auf und bringt mich dazu, eilig hinter den Tresen zu treten. Mit Augen wie zwei Untertassen, starre ich einen Typen an, der sich wie verirrt in den Laden begibt.
Das Ganze hier ist zwar ein Komplex, doch nicht wie eine gewöhnliche Mall aufgebaut. Unter der Oberfläche gibt es eine große Parkgarage, die ich auch nutze. Das war auch der Ort, von dem aus mich dieser vertreterähnliche Angestellte neulich verfolgt hat. Keine Angenehme Erinnerung.
Hier sind überall kleine Geschäfte und eine große Einkaufsstraße die sie verbindet. Doch es kommt in der Regel niemand zu mir herein. Es wirkt einfach zu unscheinbar. Anfangs kamen viele, es war wie ein Geheimtipp, doch nach dieser Phase vor etwa einem Jahr, hat sich das schlagartig geändert. Es kommen nur noch wenige, besonders, da die Leere hier drin nicht gerade einladend auf Menschen wirkt, die unzählige Ausweichmöglichkeiten haben und sich im Bruchteil einer Sekunde einen Eindruck machen. Ein Wimpernschlag und schon sind sie weg.
Weswegen es mich umso mehr schockiert, als der leicht nassgewordene Mann seinen Mantel ablegt und sich setzt. Dabei kommen Dinge zum Vorschein, die mir die Sprache verschlagen. Ein teurer Anzug, vermutlich von irgendeiner Designermarke. Dinge, die man hier bloß in Upperclass-Wohngegenden zu sehen bekommt. Dort, wo die Gentrifizierung zugeschlagen hat. Eher nicht in einem kleinen, armseligen Geschäft wie dem Valentine’s.
Ich schüttle den Gedanken ab und reiße mich aus meiner Starre, um mich an den Tisch zu begeben und ihm mein schönstes Lächeln entgegenzubringen.
Oh, sein Gesicht ist auch nicht zu verachten, wie ich sehe. Die Reichen und Schönen, hm? Nun, ich sagte, ich würde niemals heiraten. Von Sex hat niemand gesprochen.
Aber der Kerl ist vermutlich ein reicher Pinsel, also ist Vorsicht geboten. »Schönen guten Tag, was darf ich Ihnen bringen?«
»Wie ist Ihr Kaffee?«
Mit meinem gewinnenden Lächeln, lege ich ihm die Karte in die Hände. »Er ist großartig und heiß – genau das, was man bei diesem Wetter braucht. Mit Milch oder Zucker?«
Scheinbar habe ich sein Interesse geweckt. »Schwarz, bitte. Aber ich hätte vielleicht gerne eines von Ihren kleinen Törtchen. Was können Sie mir empfehlen?«
»Wenn Sie es nicht ganz so süß mögen, empfehle ich den etwas frischeren Zitronencremekuchen mit einer Glasur aus dunkler Schokolade und einem Cremetopping. Falls Sie es eher fruchtiger mögen, dann hätte ich davon noch einen mit Kirschfüllung und Cremetopping im Angebot. Da ist allerdings eine Menge Alkohol beigemischt.«
»Interessant. Was für ein Alkohol denn?«
»Vierzig prozentiger Zacapa Rum, aus Guatemala.«
»Ich bin mir der Herkunft dieses Rums bewusst. Vielen Dank.« Er sieht noch einmal zur Karte und reicht sie dann an mich zurück. »Ich denke, das nehme ich.«
»Alles klar, bin schon unterwegs.«
Gerade will ich die gemahlenen Bohnen in einen Filter geben – per Hand gemachter Kaffee, wie ihn mir meine Großmutter gezeigt hat und wie er am besten schmeckt – da werde ich unterbrochen.
»Sagen Sie, arbeiten Sie hier allein? Es ist so still«, fragt er von seinem Platz aus.
»Oh … im Moment schon, ja.« Verdammt, was sage ich denn jetzt?
Das sieht doch merkwürdig aus. Vielleicht sollte ich aber ganz normal damit umgehen. So tun, als sei es kein Anzeichen für schlechte Backkunst, dass wir dicht machen … dass ich dicht mache. Apropos ›allein‹ ... Ich bin mir sicher, das Vorstellungsgespräch heute ist ein Erfolg. Ich hoffe es für die Kleine. Sie hat mehr verdient, als die paar Kröten, die ich ihr für die wenigen Stunden ihrer aktuellen Schicht noch zahlen kann. Aber mehr geht nicht, sonst kann ich selbst nicht mehr leben und das wäre echt uncool.
»Wow, das muss hart sein. Haben Sie deshalb alle Informationen über Ihre Kuchen und Zutaten auswendig gelernt?«
»Ich hab sie nicht bloß auswendig gelernt – ich hab sie selbst gebacken und die Flasche Rum dabei auch in der Hand gehabt. Sogar mehr als einmal.« Weitaus mehr sogar.
»Respekt. Dann hoffe ich mal, ich kann Ihnen reinen Gewissens nur Gutes über Ihre Arbeit sagen.«
Ich bringe ihm die Sachen mit einem Lächeln und sehe zur Uhr. Schon wieder nach fünf.
Es war bisher bloß ein anderer Gast hier. Bertha Lewis, eine alte Stammkundin, die heute noch ein letztes Mal ein Stück von meinem Schokoladenkuchen ›naschen‹ wollte, wie sie es selbst ausgedrückt hat. Heute schließen wir etwas eher. Es ist der letzte Tag. Der allerletzte. Der Gedanke öffnet Tür und Tor zu einer endlosen Leere in meinem Inneren, die sich mit nichts füllen lassen will.
Ein letztes Mal schrubbe ich die Theke und kümmere mich um die Backstube. Ich will alles noch einmal strahlen sehen. Die leise Musik, die über die Lautsprecher den Gästebereich erfüllt, lässt mich dabei nicht im Stich. Ich denke nicht, dass ein Kerl in einem so teuer wirkenden Anzug, einfach so verschwinden würde. Außerdem ist nicht genug los, als dass man die alte Glocke nicht hören würde, wenn er verschwindet. Also macht es nichts, wenn ich hier hinten bin. Es macht überhaupt nichts …
Gerade trete ich wieder zurück in den Gang, da sehe ich noch, wie er sein Telefon neben sich auf den Tisch legt. Der Teller ist leer. Bei näherer Betrachtung, die Tasse auch.Ich sehe zur Uhr und erkenne, dass es bereits fast sechs ist.
»Sie sind fertig?«, frage ich und trete in den Gästebereich ein.
»Ja, es war wirklich köstlich. Ich denke, das ist das beste Törtchen gewesen, das ich je probieren durfte«, lobt er in merkwürdig tiefem Tonus und zwinkert mir mit einem Auge zu.
Ehrlich lachend, nehme ich seinen Teller vom Tisch mit der einen Hand und die Untertasse inklusive Kaffeebecher mit der anderen. »Danke, aber das sagen Sie sicher bloß, weil Sie mit der Frau sprechen, die es gebacken hat.«
»Nein, wirklich. Es war toll. Und mit dem Kaffee haben Sie vorhin auch nicht übertrieben.«
Ich erinnere mich vage, etwas zu dessen Qualität gesagt zu haben. Die Maschine ist bereits aus, weswegen ich ihm den Kaffee selbst aufgebrüht habe. Die Zeit ist bei dieser Kunst der entscheidende Faktor. Man darf es nicht übereilen. Es muss mit Ruhe geschehen. Jenny hat das nie hinbekommen, sie ist immer zu ungeduldig gewesen. Aber das ist jetzt auch nicht mehr wichtig.
»Vielen Dank«, entgegne ich ernster als gewollt und der Gedanke sticht mir mitten ins Herz, »ich freue mich immer, wenn Gäste so zufrieden gehen.«
»Dann bedanke ich mich für die Gastfreundschaft. Der Regen hat nachgelassen und mein Wagen scheint angekommen zu sein. Alles andere war voll, Sie waren wirklich meine Rettung, ich mag kleine Geheimverstecke wie diese«, sagt er sanft, während er sich erhebt und seinen Mantel wieder überstreift, das Handy bereits in der Hand, um irgendeinen stumm klingelnden Anruf wegzudrücken, »Und danke für die nette Unterhaltung, Miss …?«
»Valentine«, helfe ich aus, wobei mir auffällt, dass ich ganz vergessen habe, mein Namensschild anzustecken, »Der Laden gehört mir.«
»Oh, Konditorin und Inhaberin und das noch so jung, ich bin beeindruckt. Ich werde sicher noch öfter kommen, schließlich bin ich neu in der Stadt und brauche noch ein Stammlokal, nicht wahr?«
Beinahe lächle ich zurück, doch zucke stattdessen freundlich die Achseln. »Da müssen Sie sich aber beeilen, Sie haben nämlich nur noch heute. Ab morgen ist das Café dauerhaft geschlossen.«
Er zieht die Augenbrauen zusammen, in seinen Handlungen etwas langsamer werdend. »Wie darf ich das denn verstehen?«
Mit einem Kopfnicken weise ich auf einen, zugegebenermaßen gut versteckten, Hinweis der hinter ihm an der Wand klebt. Vielleicht habe ich ihn dort angebracht, um fair gegenüber den Gästen zu sein, aber doch nicht sichtbar genug, um es selbst immer vor Augen zu haben. Ich will ies immer noch nicht wahrhaben.
»Das Café ist verkauft. In zwei oder drei Wochen steht hier ein Schuhgeschäft. Die Verträge sind bereits unterzeichnet, also ist da nichts zu machen. Und selbst wenn, ist das Geld ohnehin weg, also keine Chance, dass-«, ich halte mich selbst auf, ehe ich noch mehr sage, »Aber ich langweile Sie sicher bloß mit all dem Gerede. Ich hoffe, Sie leben sich gut ein, hier in New York. Vielleicht finden Sie sogar ein Stammlokal das nicht kurz vor der Schließung steht.«
»Natürlich«, sagt er und blinzelt auf irritierende Art und Weise; etwas wirkt komisch an seinem Blick, doch dieser verschwindet direkt wieder, als er sich ein bedauerndes Lächeln abringt, »das tut mir leid. Dann wünsche ich noch eine schöne Zeit.«
»Leben Sie wohl«, sage ich, das erste Mal, als hätte ich so etwas wie eine Beziehung zu einem Kunden, obwohl er nicht einmal ein Stammgast ist, geschweige denn schon mehr als einmal hier war.
»Sie auch.«
Während ich das Geschirr vorn abstelle, sehe ich nur noch seinen Rücken, als er nach draußen verschwindet und direkt auf ein Auto zusteuert, das soeben dort anhält. Hinter ihm schließe ich die Tür und drehe das Schild daran um, sodass die Außenwelt es ab jetzt als ›Geschlossen‹ lesen kann.
Dann lasse ich die Jalousien an den großen Fenstern herunter, sowie an dem kleinen Fenster der weißen Holztür. Das war’s.
Heute war der letzte Tag … und das war mein letzter Gast.
Ich klappe an der Tür zusammen, rutsche daran zu Boden, umschlinge meine Knie fest mit beiden Armen und breche in Tränen aus.
Das war’s mit meinem Lebenswerk.
Überrascht von einem lauten Knall, wache ich auf. Ich zucke dabei so stark zusammen, dass meine Decke ein Stück nach oben fliegt.
Für ein paar Sekunden bin ich völlig desorientiert und muss mich erst einmal sammeln, ehe ich realisiere, wo ich mich genau befinde und was ich hier tue. Ich bin es kaum noch gewohnt, hier zu sein.
In meinem Büro stand immer ein altes Klappbett in der Ecke. Oftmals bin ich einfach dort geblieben, statt die knapp sechs oder sieben Meilen nach Hause zu fahren. Jetzt wieder jede Nacht in meinem ranzigen Apartment in Greenpoint zu verbringen, bin ich einfach nicht mehr gewohnt.
Müde richte ich mich auf, während ein weiterer Schlag nach dem anderen ertönt. Meine Beine schwingen über die Kante, schwer wie Blei und ich reibe über mein Gesicht, in dem Versuch, etwas wacher zu werden. Ich muss schlecht geträumt haben, denn ich bin völlig durchgeschwitzt. Mein ärmelloses, graues Shirt hat auch schon bessere Tage erlebt.
In den Spiegel geblickt habe ich seit gut einer Woche nicht, doch ich kann mir denken, was mir entgegensehen würde, würde ich es endlich wagen. Ein schweres Seufzen kommt mir über die Lippen, während ich mir fahrig durch das fettige und zerzauste Haar streiche. Wieder ein Schlag.
Wütend krache ich mit dem Ellenbogen von meiner Seite aus dagegen. Den sofortigen Schmerz, der mir durch den Arm wandert, ignoriere ich gekonnt. Das war selbstverständlich so geplant.
»Seid endlich still, ihr kleinen Mistmaden!«, brülle ich zur anderen Seite.
Die Nachbarskinder lieben es, mich auf die Palme zu bringen. Entweder das oder es interessiert sie einfach gar nicht, dass jemand auf der anderen Seite der Wand lebt, wenn sie ihren Ball dagegen kicken. Andererseits habe ich davon lange Zeit überhaupt nichts mitbekommen, weil ich entweder gar nicht hier gewesen bin oder aber zu einer Uhrzeit heimkam, zu der diese beiden vermutlich längst im Land der Träume waren und schon wieder weg war, ehe sie aufgewacht sind.
Diese miesen kleinen Bastarde.
Kopfschüttelnd hieve ich mich dann endlich hoch. Der Blick durch die Wohnung ist ebenso wenig schön, wie es ein Blick in den Spiegel wäre, da bin ich mir sicher. Ich wackle unsicher in Richtung Kühlschrank, den ich öffne, um mir den geöffneten Beutel Milch herauszunehmen und mir einen großen Schluck daraus zu genehmigen. Dabei zucke ich jedoch zusammen und eile würgend zum Waschbecken, nur ein paar Schritte neben mir.
Der widerliche Geschmack saurer Milch will sich auch nach mehrmaligem Spucken und ausspülen nicht vertreiben lassen. Gott, ich muss endlich wieder frische Lebensmittel einkaufen gehen.
Nachdem der Beutel geleert und im Müll gelandet ist, stehe ich noch einmal da und atme tief durch. Es kann so nicht weitergehen. Meine Bude ist die reinste Müllhalde, ich sehe aus wie ein schiffbrüchiger Seemann und meine Katze hält mich für verrückt. Zumindest würde ich davon ausgehen, so wie sie mich ansieht.
Wow … jetzt bilde ich mir schon ein, dass selbst meine Katze etwas gegen mich hat. Diese Paranoia nimmt kein Ende.
Ich lege sowohl Daumen als auch Zeigefinger meiner rechten Hand an meinen Nasenrücken und beginne, ihn sanft zu massieren. Das stehe ich durch. Auch wenn ich noch so sehr resigniere, weiß ich innerlich, dass ich noch eine Chance habe. Meine Füße tragen mich zurück in den Wohnbereich. Der Tisch ist völlig verschwunden, unter einem gigantischen Haufen an Papier. Unterlagen und Mappen – Bewerbungsmappen. Und jede Menge leerer Flaschen, aber die sind bloß auf der Durchreise, versteht sich.
Es kann nicht sein, dass es so schwer ist, einen neuen Job zu finden. Gott, was mach ich nur falsch?
Im Schneidersitz vor meinem Chaos sitzend, wühle ich durch den Berg vor meiner Nase.
Bewerbung – Absage.
Bewerbung – Absage.
Bewerbung – Absage.
Tja, sie kommen eben immer in Zweierpaaren. Abgesehen von denen, von denen ich nie eine Antwort erhalten habe, doch ich gehe davon aus, dass diese dieselbe Bedeutung haben, wie die Antworten, die mich erreicht haben. Doch das Interessanteste waren wohl die Bewerbungen, deren Absage eine kleine Einladung zu einem Gespräch vorausging.
In dem einen Laden, in dem ich mich als Kellnerin beworben hatte, stellte sich heraus, dass ich wohl nicht realisiert habe, was für eine Art von Etablissement es ist, um das es sich dort handelt. Da ich nicht bloß in einer Schürze durch den Laden rennen wollte, haben sie mir nach dem Gespräch höflich die Tür gezeigt.
Aber noch besser waren die beiden, die mich zu sich gerufen haben, nachdem ich mich bei ihnen als Bäckerin oder Konditorin gemeldet habe. Einer meinte, ich habe noch nicht genügend Erfahrung, doch würde ich meine Rezepte aus dem Valentine’s – er kannte den Laden offensichtlich! – mit in seinen Laden bringen, dann würde das einiges wett machen und wir kämen ins Geschäft. Dieses dreiste Angebot habe ich mit einem Glas Wasser in seinem Gesicht gefeiert.
Der Zweite hatte da eine ganz ähnliche Vorstellung. Ich solle die Rezepte meiner Großmutter an ihn verkaufen und er würde mir gerne einen Vertrag unterbreiten, laut dem ich an den Umsätzen beteiligt würde, die dadurch erhoben werden. Selbstverständlich könne ich auch in Teilzeit selbst bei ihm in der Stube stehen, hat er gesagt. Als würde ich das jemals tun! Diese Rezepte gehören unserer Familie, meiner Großmutter! Sie sind alles, was mir von ihr noch geblieben ist und ich würde sie niemals verkaufen!
Dieser ganze Scheiß wirkt so aussichtslos. Ich habe absolut keinen Schimmer, wie ich das wieder richten soll. Was kann ich denn noch tun? Bleibt mir wirklich nichts anderes übrig, als mich auf einen Job in einem Stripclub einzustellen oder meine Großmutter zu verkaufen, um meine Miete zahlen zu können?
Schon vor Wochen waren meine alten Ersparnisse erschöpft, doch jetzt? Ich kann kaum einen weiteren Monat meine Rechnungen zahlen. Genau genommen, bin ich mit dem Strom bereits im Rückstand und mein Festnetz wurde abgestellt.
Ich lasse den Kopf auf das Altpapier fallen und spüre die Tränen, die in meinen Augenwinkeln brennen. Nein, Lida, verlier jetzt nicht die Hoffnung!
Schnell wische ich das Salz beiseite und erhebe mich erneut, um nach draußen zu gehen, in die Kälte, und in meinen Briefkasten zu sehen. Betend, dass wenigstens ein einziger, weiterer Brief vorzufinden ist, der mich nicht sofort ablehnt.
Mit zittrigen Händen schiebe ich den Schlüssel in den kleinen Schlitz und drehe ihn herum. Meine Haut berührt dabei das eisige Metall und für einen Moment fürchte ich, daran festzukleben. Jetzt oder nie …
Kaum ist die Klappe geöffnet, plumpst mir ein kleiner Stapel entgegen. Ich atme tief ein, ehe ich alles zusammen packe und zurück in meine Müllhalde flitze, um mir den erstbesten Gegenstand zu schnappen, mit dem ich die kleinen Papierlaschen auftrennen kann, ohne den Inhalt zu beschädigen. Einen nach dem anderen, öffne ich die Klappen.
»Es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen«, lese ich und werfe den Brief beiseite. Nächster.
»Wir bedauern sehr …« Nächster. »Leider müssen wir Ihnen heute-« Nein.
Einer nach dem anderen, landen die Briefe auf meinem maßlos überfüllten ›unbrauchbar‹-Stapel, so lange, bis ich mit leeren Händen dastehe. Völlig verzweifelt, doch wie erstarrt. Handlungsunfähig. Ich kann mich nicht daran erinnern, mich noch bei weiteren Stellen beworben zu haben, zumindest bei keinen, die ihre Stelle mittlerweile nicht offensichtlich schon besetzt haben.
Erneut kämpfe ich gegen Tränen an, doch diesmal gelingt es mir nicht. Die Post war da. Mehr kommt nicht. Und mehr wird auch nicht kommen, denn mehr gibt es nicht.
Ich falle auf die Knie und schluchze erbärmlich vor mich hin. Mein gesamter Anblick ist die reinste Farce. Würde mich irgendein Mensch in diesem Zustand sehen, würde er eher die Polizei oder professionelle Hilfe rufen, als mich einstellen zu wollen. Und offensichtlich denken sich die Leute das auch schon, ganz ohne mich sehen zu müssen.
Dieser lächerliche Gedanke lässt mich kalt auflachen. Meine Schwester ist verschwunden, ihre beiden Kinder mit ihr und ich werde bald als Bettlerin auf der Straße sitzen. So geht es also mit der Valentine-Blutlinie zu Ende, was? Vielleicht ist Trish ja auch in Wahrheit längst tot und im Keller einbetoniert.
All diese dunklen Gedanken überrollen mich wie eine Dampfwalze.
Mitten in meinem kleinen persönlichen Gulag aus Selbstmitleid, in dem ich gerade ein sehr ausgiebiges Bad nehme - immerhin ist es überhaupt ein Bad - vernehme ich das sanfte Klingeln der Wohnungstür.
Das Schrillen lässt Nicky von der Couch aufspringen und fauchen, während ich bloß mit den Augen rolle. Ich weiß, da ich so selten zu Hause war, war sie entweder auch nicht hier oder es kam schlichtweg niemand vorbei, der an der Tür klingeln würde, daher ist sie immer noch nicht daran gewöhnt.
Dennoch lässt es mich seufzen. Ich schniefe, während ich mich auf die Füße kämpfe und in Richtung Ausgang torkle.
»Komm, Nicky«, wende ich mich an meine haarige Mitbewohnerin und sie macht einen Satz vom Sofa, um sogleich meine Beine anzusteuern.
Wer auch immer es sein wird, ich werde es ertragen. Und sollte es ein Typ von der Versicherung sein, die ich im Moment nicht bezahlen kann, oder der Mann von der Telefongesellschaft, dann werde ich ihn eben mit meiner Katze bekanntmachen.
Also, ich werde sie quasi nach ihm werfen. Das ist sozusagen Plan C im Falle einer Niederlage. Funktioniert eigentlich immer. Korrigiere: Es funktioniert zumindest immer in meiner Vorstellung.
Die Sicherheitskette eingehängt, mache ich mich bereit, die Pforte sofort wieder zuzuschlagen, sobald ich einen Menschen in einem nicht gut sitzendem, grauen Anzug sehe. Ich atme einmal durch und schließe die Augen, bevor ich mir ein Herz fasse und die knarrende, leicht quietschende Tür einen Spalt breit öffne. Sofort weht mir die kühle Luft von draußen um die halbnackten Beine und die baren Arme.
»Ja?«, sage ich bereits, noch ehe ich überhaupt sehe, wer dort steht. Umso überraschter bin ich, als ich den Mann erkenne.
Mit hochgezogener Augenbraue und unverhohlenem Ekel betrachtet mich der Postbote, wie ich dort im Hausflur stehe. Völlig zerzaust, ungepflegt und verwahrlost, hinter mir das reinste Chaos und in seinen Händen ein Brief, von dem er nun abwechselnd aufsieht, als wüsste er nicht, ob der denn wirklich mir gilt.
»Ms. Valentine?«, fragt er, »Ms. Lydia Valentine?«
Jetzt bin ich die, die die Augenbraue hebt. »Ja. Steht doch auf der Klingel und dem Briefkasten. Was ist das? Die Post war doch schon da.«
Noch ein paar Sekunden starrt er mich an, dann reißt er sich endlich selbst aus seiner fragwürdigen Faszination und hält mir den großen Umschlag entgegen, den er solange für mich warmgehalten hat.
Direkt vor meiner Nase, kann ich die Adresse in Greenpoint sehen, sowie meinen Namen, die durch das kleine Sichtfenster im Kuvert lesbar sind.
»Genau deshalb hab ich extra geklingelt, als ich gemerkt hab, dass ich den Brief übersehen hatte«, meint er und ist dabei sichtlich zurückhaltender mit seiner Meinung über meinen Look, als die ganze Zeit bis jetzt, »ich dachte mir, dass Sie vielleicht schon am Briefkasten waren und offensichtlich ist der Brief sehr wichtig, daher wollte ich ihn lieber persönlich überbringen. Sie wissen schon … damit Sie ihn auch ganz sicher rechtzeitig sehen.«
»Schon klar«, entgegne ich und beäuge argwöhnisch, was ich da gerade erhalten habe. Die Simon Wake Corporation? Kein Wunder, dass er verwirrt war, ihn zu jemandem wie mir bringen zu müssen.
Er steht noch einen Moment da, wie angewurzelt, ehe ich kapiere, dass ich ja noch etwas zu tun habe.
»Könnten Sie dann vielleicht …?« Subtil zeigt er auf das Gerät in seiner Hand.
»Oh, sicher. Tut mir leid.«
Die Unterschrift ist schnell gesetzt, so gebe ich ihm seine Sachen wieder und nicke anerkennend. »Alles klar«, bestätigt er.
»Vielen Dank.«
»Ebenso. Einen schönen Tag noch.«
Kaum ist mein Wort des Abschieds ausgesprochen, schließe ich die Tür.
Keine Phrase auf der Welt, die mir bekannt wäre, könnte ausdrücken, wie verwirrt ich gerade bin. Mein Blick wandert zu meinem Haustier, dann zu dem Brief in meiner Hand und wieder zurück zu Nicky. Ich schüttle den Kopf. Die Katze hat damit sicher nichts zu tun.
Könnte es vielleicht Werbung sein …? Nein, Quatsch, dann hätte es ja erstens jeder bekommen und zweitens wäre es wohl keine direkte Adressierung gewesen. Kann mich zumindest nicht daran erinnern, in ihrem Kundenregister zu stehen.
Und selbst wenn sie sich für Werbung so viel Mühe gegeben hätten, warum dann diese Art von Brief? Ich meine, das ist Express Mail, das heißt, es wird innerhalb eines Tages geliefert und kommt noch am Vormittag am Zielort an. Einer davon kostet schlappe fünfundzwanzig Dollar!
Ein bisschen teuer für simple Reklame, oder nicht? Dasselbe muss sich der Junge von der Post wohl auch gedacht haben. Vielleicht hat er den wichtig-wichtig-Brief deshalb übersehen, als er meine Absagen in den Kasten geschmissen hat. In dieser Gegend hat niemand mit Simon Wake zu tun, das kann ich ziemlich sicher behaupten. Ich hab die Wohnung in meiner Anfangszeit hier in Brooklyn gefunden. Und Gott weiß, in meiner Anfangszeit hier hab ich in diese Gegend gepasst wie Arsch auf Eimer. Nicht, dass ich jetzt gerade viel besser aussähe, aber das ist was anderes.
Irritiert lasse ich mich auf mein altes, durchgesessenes Sofa fallen und stöhne sofort genervt auf, da sich die Federn erwartungsgemäß in meinen Hintern bohren. Erinnert mich daran, dass ich mir ein Neues kaufe, sobald ich finanziell wieder Land sehe. Tze …
Mein Buttermesser schneidet durch die obere Lasche, dennoch warte ich einen Moment, ehe ich den Inhalt hervorhole. Ich werde doch wohl keine Schulden bei einem Unternehmen der SWC haben, oder? Nein, das kann nicht sein. Oder na ja, könnte schon, die besitzen viele Unternehmen in der Gegend und überall in den Staaten, wenn nicht auf der ganzen Welt. Aber im Endeffekt ist es egal, ob man die Übersicht verliert oder nicht: das hier ist vom Hauptkonzern. Vom Mutterschiff!
Effektiv bekommt man niemals Post aus der Chefetage. Warum sollten sich die hohen Tiere auch aus ihrem Elfenbeinturm begeben und uns Normalsterblichen mit ihrer Anwesenheit beehren? Zugegeben, der war jetzt etwas zynisch, aber lasst uns ehrlich sein: so ist die Realität. Also, ich denke mal nicht, dass es hier um Schulden gehen wird. Für sowas haben die ganze Anwaltskanzleien auf ihrer Seite, die mehr Geld in ihre Kleidung investieren, als ich in den vier Jahren mit meinem Café verdient habe.
Ein wenig über mich selbst den Kopf schüttelnd, verdrehe ich die Augen und sehe dann zu Nicky. »Dummer Gedanke, was?«
Es hat jedoch eine beruhigende Wirkung, über meine eigene, sinnlose Panik zu lachen, ehe ich den Papierstapel aus dem Umschlag ziehe.
»So, was wollt ihr wohl von mir …?«, murmle ich und manövriere die Unterlagen so, dass ich an der Fellplage vorbeisehen kann, die just in diesem Moment denkt, in meinen Schoß springen zu müssen. Seufzend kraule ich sie und überfliege gespannt die Zeilen. »›Sehr geehrte Ms. Valentine‹, wie höflich. ›wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen‹ …« Verwirrt zieht sich wie automatisch meine Stirn zu einer tiefen Furche zusammen. »… ›wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Sie den Anforderungen für die Stelle in unserem Unternehmen gerecht werden‹? Was?«
Ich schüttle den Kopf und fange nochmal von vorn an. Aber selbst nach mehrmaligem Lesen, verändern sich die Worte nicht. Sie tanzen auch nicht vor meinen Augen und versuchen sich zu verstecken, oder so. Auf Droge bin ich nicht und getrunken hab ich auch nicht. Okay, schon, aber heute noch nicht und so viel, dass es noch nachhalt, war es gestern auch nicht. Gar nicht genug Kohle, um mich so hart volllöten zu können, dass ich das hier halluzieniere.
Bei dem Gedanken springt mein Augenmerk zum Ende der Seite. Dort steht, der Brief wurde im Auftrag verfasst, von einer A.J. Armstrong. Hm … vielleicht war sie ja auf Droge. Oder betrunken? Vielleicht beides, das geht auch. Das macht sogar Sinn.
Jedenfalls macht es mehr Sinn, als zu glauben, dass ich ein Vorstellungsgespräch in der Höhle des Löwen persönlich habe. Der Gedanke allein treibt mir den Puls hoch, bis ich meine Katze mit zusammengekniffenen Augen betrachte.
»Hast du dich da beworben? Sag die Wahrheit, ich werde es ohnehin herausfinden, also besser ich weiß es von dir.« Die Drohung zieht nicht, denn anstatt mich mit einer Reaktion zu würdigen, springt sie lediglich von meinen Beinen und verzieht sich. »Klar. Mach dich bloß vom Acker. Glaub ja nicht, dass ich dir ein Souvenir mitbringe. Hast du gehört?«
Der Schwanz verschwindet durch die Tür und um die Ecke. Ich sehe mir die Daten noch einmal an. An diesem Punkt werde ich stutzig. Freitag … der 24. November. Um halb sechs am Abend. Irgendwas stimmt da nicht.
Langsam strecke ich mich nach meinem Mobiltelefon, das aktuell meine einzige Kommunikationsmöglichkeit darstellt. Das zersprungene Display des alten Smartphone Modells zeigt mir in leuchtenden Lettern, wie viel Uhr wir gerade haben. Und welchen Tag.
Zufällig ist heute der 24. November 2017. Ein Freitag, was für eine Überraschung.
Wie von der Tarantel gestochen, renne ich in die Küche und sehe in den Kalender. Eigentlich bringt mir das gar nichts, da ich seit Tagen keine Markierungen mehr gemacht habe und darum absolut keinen Anhaltspunkt dafür habe, welcher Tag heute ist. Doch irgendwie habe ich das Gefühl, ich weiß ziemlich sicher, dass mein Handy nicht falsch liegt.
Was mach ich jetzt bloß? Wir haben schon nach dreizehn Uhr und ich sehe aus wie ein Haufen fucking Roadkill. Ich weiß nicht mal, was ich anziehen soll. Okay, meine Maschine könnte sie sicher in zwei Stunden waschen und dann könnte ich sie auf dem Heizkörper trocknen.
Nervös tapere ich im Raum auf und ab, während ich meine Möglichkeiten durchgehe, wie ich mich selbst präsentabel machen kann, ehe die Zeit abläuft. Bis mir klar wird, dass ich immer mehr Zeit verliere, während ich darüber nachdenke.
Eilig reiße ich ein paar meiner alten Kostüme aus dem Schrank und schmeiße sie in die Wäsche. Ich kann kaum darauf achten, wie ich sie hineinwerfe und hoffe einfach, der erhöhte Stromverbrauch durch Maschine und Bügeleisen werden mir nicht noch auf die Füße fallen. Ich weiß nicht wie ernst es diesen Leuten ist, mit dem, was sie schreiben. Es klang, als hätte ich, ohne davon zu wissen, bereits eine Bewerbung abgeschickt und ein Vorstellungsgespräch mit Bravur gemeistert.
Dabei wusste ich nicht einmal, dass es ein auf meinen Bereich zugeschnittenes Unternehmen gibt, das Simon Wake gehört. Wo genau soll ich mich denn beworben haben?
Es ist dubios, dass nichts davon in dem Brief steht. Lediglich, dass ich das Gespräch bei einem Micheal Danton haben werde. Wer auch immer das sein soll. Er scheint zwar wichtig zu sein, wenn sein Büro im Wake Imperium zu finden ist, aber ich hab noch nie von ihm gehört, eine Bewerbung an ihn adressiert und mich persönlich bei ihm vorgestellt, hab ich schon dreimal nicht.
Ich kehre zum Tisch zurück, nachdem ich alles für eine ausgiebige Dusche vorbereite – Duschgel, Shampoo, Stahlschwamm, Kernseife … was man eben so braucht, wenn man sich zwei Wochen lang hat gehen lassen.
Aber was solls. Alles was ich will, ist, den Brief noch einmal zu durchzusehen. Stimmt, dort steht ›man würde sich gerne noch einmal zu einem offiziellen Geschäftsgespräch treffen, falls Interesse besteht‹.
›Noch einmal‹. Das heißt, ich habe schon einmal mit ihm geredet. Oder jemand verarscht mich.
Die Adresse scheint zu stimmen. Aber wer weiß, vielleicht kommt er in Wahrheit von einem ganz anderen Absender?
Ehrlich gesagt ist das die eine Option, die ich noch gar nicht bedacht habe und die Vorstellung, jemandem auf diese Art auf den Leim zu gehen und mich lächerlich zu machen, ist wie ein Schwall kaltes Wasser im Gesicht. Für den Moment fühle ich mich wie betäubt. Was nun?
Mein Elan verpufft im selben Augenblick und ich lasse mich erneut auf das unbequeme Sofa fallen. Dann ziehe ich das Handy hervor. Die schlechte Internetverbindung ausnutzend, gebe ich den Namen in die Suchmaschine ein. Den Namen der Person, die angeblich diesen Brief aufgesetzt hat, vermutlich im Auftrag von diesem komischen Danton-Typ.
Es dauert nur etwa eine Minute, da spuckt es auch schon ein Ergebnis aus. Für meine Verbindung ist das eine Höchstleistung, soviel steht fest.
Adrienne Julia Armstrong. Persönliche Assistentin, aber so viel hatte ich schon erwartet. Wobei sie auch irgendeine Sekretärin hätte sein können, dazu kenne ich mich aber in der Hierarchie nicht gut genug aus. Nicht, dass ich jemals etwas in dieser Richtung gehabt hätte.
Ich sehe einen kurzen Artikel in dem der Name Danton fällt, doch ignoriere ihn. Viel mehr interessiert mich ein Suchergebnis, in dem eine Kontaktmöglichkeit in der Vorschau hervorgehoben wird. Die Nummer ist schnell gewählt und ich lecke mir unsicher über die Lippen, während das Tuten ertönt. Alles oder nichts, Lida.
Es tutet so lange, dass ich bereits die Geduld verliere. Warteschleife. Mein Fuß wippt ungeduldig auf und ab. Klack. Klack. Klack.
Und dann klickt es plötzlich. »Simon Wake Corporation, Büro von Michael Danton – Adrienne Armstrong am Apparat – was kann ich für Sie tun?«
Zu viele Dinge kommen mir plötzlich in den Sinn – so viele, dass ich nicht mehr weiß, was ich sagen soll. »Mein Name ist Lida- Ich meine, Lydia Valentine. Ich habe Post bekommen … aus Ihrem Büro. Stimmt das?«
Für einige Sekunden herrscht Funkstille. »Worum ging es denn in dieser Post?«
»Es ging um ein Bewerbungsgespräch. Für heute, genau genommen. Heute Abend.«
Wieder ein Moment Stille, dann ein Tappen. »Ah, ja, da ist der Termin. Möchten Sie noch etwas dazu wissen?«
Ihre Worte erschrecken mich. »Oh, ähm … nein, ich wollte nur wissen, ob die Einladung noch steht.«
»Mr. Danton erwartet Sie um fünf Uhr dreißig in seinem Büro.«
»Okay, ich … ja, ich werde da sein. Vielen Dank«, krächze ich mit abgebrochener Stimme.
»Kann ich Ihnen noch irgendwie helfen?«
»Na-Nein, danke, vielen Dank.«
»Alles klar. Ich wünsche einen schönen Tag.«
»Ja, ebenso!«, rufe ich schnell, mit hochrotem Kopf, doch das Klicken verrät mir, dass sie das vermutlich kaum noch gehört hat.
Ich könnte mich jetzt darüber echauffieren, wie unhöflich das eigentlich gewesen ist, doch wirklich, ich habe größere Sorgen. Mit einem Mal wird der fixe Gedanke von vorhin Realität. Das Gewicht meiner Situation lastet tonnenschwer auf mir, besonders, als ich auf die Uhr sehe. Es ist schon nach zwei. Wie hab ich so viel Zeit verschwendet?
Und doch bin ich weiterhin wie gelähmt. Was mach ich nur? »Oh. Mein. Gott.« Ich sehe mich um, nur um noch einmal nachzusehen, ob nicht vielleicht doch irgendwo ein großes Schild herumsteht, auf dem in dicken Neonröhren ›April, April‹ prangt. »Ich hab ein Vorstellungsgespräch.«
Und ich bin sowas von am Arsch.
Ich atme tief durch. Alles gut, Lida. Du machst das schon.
Unsicher sehe ich zu dem Gebäude auf, das sich vor mir in unerreichbare Höhen erstreckt. Das ist dann also der berühmte Elfenbeinturm, was? Gar nicht mal so … eindrucksvoll, nicht wahr? Scheiße.
Ich brauche kaum einen Schritt in das Gebäude zu wagen, in meinem einzigen teuren Kostüm, um den eklatanten Unterschied zwischen mir und so ziemlich jedem anderen Menschen in der Halle herum zu spüren. Okay, Moment, dieser eine da drüben … der könnte vielleicht von meinem Schlag sein. Sieht aus wie der Hausmeister.
Kaum atmend, schließe ich die Augen. Nein, sie starren mich nicht an. Keiner interessiert sich für mich. Zumindest wünschte ich, dass dieses Mantra der Wahrheit entspräche. Leider bin ich nicht die einzige, die merkt, dass ich hier nicht hergehöre.
Ich kann mich damit rühmen, zumindest kein Pfannenkuchengesicht zur Schau zu tragen – ohne angeben zu wollen, muss ich zugeben, dass mein Gesicht für mein Alter noch wirklich jung wirkt und meine Augen sind zu einem Hundeblick im Stande, der jeden noch so harten Bankangestellten erweichen lässt. Aber es ist leider kein herausragendes Gesicht.
Bei dem geballten Modepüppchen- und Anzugständer-Aufkommen allein in diesem Eingangsbereich gibt bereits genug Potential für mich, als das entlarvt zu werden, was ich wirklich bin. Ich bin nur durchschnitt. Und meine Mittelmäßigkeit strahlt aus als wär ich radioaktiv. Meine Haare sind nicht professionell verunstaltet worden, auch nicht mein Gesicht. Das Schminken habe ich mir als junge Erwachsene selbst beigebracht. Dementsprechend sieht es auch aus. Keine kühnen versuche, meine Augen schön rauchig und mysteriös wirken zu lassen. Keine Spachtelmasse, mit der ich mir quasi ein neues Gesicht modellieren könnte, ohne dass es unnatürlich aussieht. Einfach bloß mein Gesicht und ein Hauch von Farbe, denn zu mehr bin ich nicht imstande. Meine Haare habe ich zumindest gewaschen. Und gekämmt.
Außerdem stammt dieses alte Kostum von meiner Mutter, gefühlt noch aus der Zeit der Prohibition. Ich finde es schön, aber es ist offensichtlich aus der Mode.
Also wem will ich etwas vormachen? Jeder hier weiß, dass ich keine von ihnen bin und dementsprechend interessiert sind sie daran, wer ich bin und wieso ich hier bin. Mitten unter ihnen, um ihnen Luft sauer zu machen. Es dauert zum Glück nur wenige Sekunden, selbst wenn sie sich wie Jahrzehnte anfühlen mögen. Gleich geschafft, da ist bereits der Aufzug. Nur noch ein paar Schritte …
»Miss?«, sagt jemand im Hintergrund, ziemlich eindringlich, sodass ich mich umdrehe.
Überrascht erkenne ich, dass er tatsächlich mit mir zu sprechen scheint. Ich lasse den Blick von den blauen Augen herabwandern, zu einer schwarzen uniform, mit einem grünen Aufnäher.
›Century Protection – Private Security Agency‹. Na Klasse, was will denn der Wachschutz von mir? So ein verdammter Scheiß. Ich sage ja, keiner hier glaubt ich gehöre hierher. Ich am allerwenigsten.
»Was?«, frage ich, unschuldig mit den Wimpern klimpernd, wie ein Reh im Scheinwerferlicht.
»Zutritt haben hier nur Angestellte und geladene Gäste. Die Sicherheit geht vor.«
»Oh«, entgegne ich, als wäre ich wirklich entsetzt, »aber ich bin eingeladen worden. Ich habe hier ein Vorstellungsgespräch.«
»Dann müssen Sie sich bitte zuerst anmelden. Wenn Sie einen Termin haben, wird sich das sicher schnell aufklären.«
Er lächelt dabei dieses ganz spezielle Lächeln, das man normalerweise zeigt, wenn man dem Gegenüber nicht wirklich glaubt und sich seiner Sache vollkommen sicher ist. Er ist davon überzeugt, dass ich schwindle und jeden Moment auffliege oder abhaue, so schnell mich meine Beine tragen.
Doch mein unschuldiges Lächeln schlägt lediglich in ein Gleichwertiges um. »Aber natürlich.«
Ich atme dennoch erst einmal tief durch, ehe ich den Weg nach links einschlage und mich an eine der drei Damen wende, die mich an eine noch erschreckendere Version von Pleasentville Erinnern. Eine mit Klonen.
Auf dem Namensschild der Frau vor mir steht ›Coraline Price‹. »Guten Tag«, grüße ich sie.
»Guten Tag, was kann ich für Sie tun?« Während sie noch spricht, sehe ich, wie sie mich so unauffällig skeptisch mustert, wie sie kann.
Kleine Notiz: Sie sollte nochmal üben.
»Ich habe oben einen Termin, doch der nette Herr hier«, mit einem Nicken weise ich auf den Sicherheitsbeamten hin, der bereits mit den Hufen scharrt, »will mich nicht hereinlassen, solange ich mich nicht anmelde. Was muss ich dafür tun?«
Sie lächelt starr und sieht dabei, wenn auch nur mit den Augen, ohne ihren Kopf zu bewegen, von mir zu dem Wachmann und zurück. »Erstmal müssen Sie dazu zu mir kommen und ihren Namen sagen«, erklärt sie, »dann sehe ich nach, ob ein Termin vorliegt, wenn nicht, sehen wir weiter.« Was wiederum ›weitersehen‹ im Speziellen bedeutet, lässt sie unter den Tisch fallen.
Wie gut, dass ich einen Termin habe und es nicht herausfinden muss. »Der Name ist Lydia Valentine«, sage ich und lehne mich mit den Armen auf den Tresen, um mich zu ihr zu beugen, »der Termin ist in ein paar Minuten.«
Ich sehe zu dem Mann neben mir und zeige ihm mit meinem Blick, dass ich bereits gewonnen habe.
Aus den Augenwinkeln erkenne ich, wie ›Coraline‹ sanft den Kopf schüttelt. »Also für diese Uhrzeit haben wir keinen Termin mit einer Einzelperson. Und ihr Name wird überhaupt nicht aufgeführt.«
Der Wachmann verschränkt die Arme und meine Aufmerksamkeit ist blitzschnell wieder bei der Empfangsdame, die ich eindringlich ansehe.
»Was? Das muss ein Fehler sein!«, insistiere ich, »Versuchen Sie es einfach nochmal. Es ist Lydia. L-Y-D-I-A Valentine. Haben Sie ihn auch richtig geschrieben?«
Sie wirkt perplex und klickt noch einmal mit ihrer Maus herum. Dann auf der Tastatur. »Äh, ja, alles richtig. Tut mir sehr leid, aber ich finde Sie nicht. Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht im Gebäude geirrt haben?«
»Wie soll das bitte funktionieren? Es gibt in dieser Stadt bloß ein Simon Wake Gebäude, oder nicht?«
»Ja, schon, aber …« Sie lässt den Rest im Sande verlaufen und sieht dann hilfesuchend zu dem Sicherheitsbeamten neben mir.
Mittlerweile starren noch viel mehr Leute, als vorhin. Ich merke es, da es plötzlich viel stiller ist. Das wirre Gewusel ist um ein solches Maß zurückgegangen, dass ich meinen Atem fast wieder hören kann.
Super. Auch noch Zeugen dieser glorreichen Pleite. Was ist das hier? Bin ich am Ende doch auf einen Trick hereingefallen?
Dann fällt mir plötzlich etwas ein. »Hören Sie, Coraline«, spreche ich sie so vertraut an, wie mir möglich, während ich meine Handtasche öffne und den Kopf senke, wobei mir einige der langen Strähnen ins Gesicht fallen, »ich habe ein Einladungsschreiben erhalten und es mir sogar telefonisch von der Sekretärin bestätigen lassen. Das Schreiben ist gleich hier!«
Fahrig durchsuche ich die Tasche, doch unter all dem anderen Kram, kann ich den Brief einfach nicht finden. Ich werde ihn doch wohl nicht zu Hause vergessen haben, oder? Wenn ich ihn nicht sogar auf der Straße verloren habe.
Scheiße! Unsicher streiche ich mein Haar zurück hinter das Ohr, da spüre ich den festen Griff zweier starker Hände an meinen Oberarmen.
Ich will sie sofort wegschlagen, doch da lässt sich gar nichts machen. So greife ich zurück auf verbalen Protest. »Was soll das?«, fauche ich ihn an, »Lassen Sie mich auf der Stelle los! Ich bin bloß hier, weil ich einen Termin mit Mr. Danton habe! Rufen Sie ihn doch einfach an und fragen Sie nach!«
Er lacht auf. »Mit dem Junior Chef persönlich? Vielleicht hätten Sie ein bisschen kleiner anfangen sollen.«
»Ich fürchte, Mr. Danton ist ein sehr beschäftigter Mann. Wir können Ihn nicht einfach anrufen, wenn es nicht wirklich wichtig ist«, schaltet sich der Empfang noch einmal ein.
»Und was ist dann mit seiner Sekretärin? Sie hat mir den Termin doch bestätigt! Rufen Sie sie an und fragen nochmal nach, okay?«
»Sie hat gerade Pause, ich-« Sie wird von dem freundlichen Mann hinter mit unterbrochen, der mich rüde zur Seite reißt, um mich in Richtung Ausgang schieben zu können. Danke für nichts, Coraline.
Empört nutze ich den Moment seiner Belustigung, um ihn kurz abzuschütteln, damit ich mich umdrehen und ihm meinen Finger in die Brust bohren kann.
»Jetzt hören Sie mir mal zu, Sie eingebildeter Fatzke!«, spucke ich ihm praktisch entgegen, denn wenn ich schon einen peinlichen Auftritt habe, dann wenigstens richtig. »Bloß weil ich nicht so eine aufgetakelte, arrogante, blonde-«
»Was zur Hölle ist hier bitte los?«
Mit einem Mal ist wirklich Funkstille. Die gesamte Eingangshalle sieht in Richtung Ausgang, wo eine solche, perfekt gestylte, blonde, arrogant wirkende Schönheit steht und uns so streng mustert, dass jede Mutter Oberin eines katholischen Waisenhauses noch neidisch wäre.
»Ms. Armstrong … Sie sind schon zurück?«, quiekt Coraline von rechts.
Ich blicke jedoch nur nach links, in Richtung des Neuankömmlings. Armstrong … dieser Name kommt mir doch bekannt vor, genauso wie diese Stimme. Auch wenn sie am Telefon vielleicht ein wenig verzerrt klang.
Unsere Blicke treffen sich und sie kneift die Augen zusammen, als würde sie etwas in mir sehen oder erkennen. »Sie …«, meint sie und lässt es ausklingen, »Sie sind doch Lydia Valentine, nicht wahr? Was tun Sie noch hier unten?«
Überrascht blinzelnd, weiß ich keine Antwort darauf.
»Ma’am, diese Dame wollte sich unerlaubt Zugriff verschaffen. Wir sind gerade dabei, Sie aus dem Gebäude zu entfernen«, erklärt mein einfühlsamer Begleiter an meiner statt.
»Und wer hat gesagt, dass sie entfernt werden soll?«, entgegnet die Angesprochene gereizt und wendet sich dann wieder an mich, »Ich wurde soeben angepiept. Sie sind zu spät und der Boss erwartet Sie bereits. Wir sollten uns sputen.«
›Wir sollten uns sputen‹, äffe ich im Geiste nach. Nette Ausdrucksweise.
Alles an dieser Frau schreit geradezu nach Powerfrau, Zielstrebigkeit und Workaholic. So hatte ich sie mir nicht vorgestellt, um ehrlich zu sein. Doch vielleicht muss man so drauf sein, um die persönliche Assistenten von einem Kerl zu werden, dem bald ein Milliardenschweres Unternehmen in den Schoß fällt und der selbst bereits ein Vermögen hat, das dem in nur wenig nachssteht. Der ›Junior‹, was? Noch eine Information, die ich nicht recht verdaut habe.
Darüber hinaus realisiere ich erst einige Sekunden später, was sie gerade gesagt hat. »Wie bitte, was?«
»Aber laut dem Computer existiert gar kein Termin«, höre ich Coraline nervös und kleinlaut einwerfen.
»Es ist ja auch ein privater Termin. Die verwalte allein ich. Und nun geht zurück an eure Arbeit.« Sie sieht sich einmal kurz um und schüttelt dann genervt den Kopf. »Habt ihr denn alle nichts zu tun, oder was ist hier los?«
Und wie auf Kommando geht das Gewusel wieder weiter. Die Halle versinkt im selben Lärm, in dem ich sie vorhin betreten habe, als wäre gar nichts gewesen. Auch wenn man auf vielen Gesichtern noch die Scham und die Nervosität aufblitzen sieht. Dann hebt sie eine Augenbraue in Richtung des Wachmanns, der mich noch immer festhält. Er lässt von mir ab, als hätte er sich gerade verbrannt.
Als die Sekretärin los läuft, mit ihrem großen Becher Kaffee in der Hand, weiß ich nicht recht, was ich tun soll, weswegen ich ihr einfach unsicher hinterher stapfe. Vorhin dachte ich, die Flucht in den Fahrstuhl sei das einzige, das mich zu retten vermag – dachte ich jedoch bloß. Nun wird mir mit einem Mal mein Denkfehler bewusst.
Ich realisiere, dass es mich nicht wirklich vor den Menschen in der großen Halle bewahrt, sondern mich eher mit einigen von ihnen auf kleinem Raum einsperrt. Ich kann ihre Blicke nun noch deutlicher spüren. So deutlich, dass ich mit jeder verstrichenen Sekunde nervöser werde.
Um mein Herzklopfen zu übertönen, wende ich mich an die Frau neben mir. »Vielen Dank«, flüstere ich.
»Keine Ursache«, gibt sie tonlos zurück.
Wieder herrscht Stille. Der Aufzug hält an einem der vielen Stockwerke zwischen dem Erdgeschoss und dem obersten Stock, den wir offenbar ansteuern.
Doch eine Sache lässt mir ebenfalls keine Ruhe. »Aber sagen Sie mal«, beginne ich leise, »der Termin ist doch erst jetzt, wie kann er mich da bereits vermisst haben?« Ist er dermaßen pedantisch, dass er mich zehn Minuten vor dem Zeitpunkt bereits als zu spät empfinden würde? Himmel.
Sie schnaubt und bedenkt mich mit einem kurzen Seitenblick. »Das tut er auch nicht. Ich dachte nur, so bekomm ich Sie schneller da raus. Ich hab Sie bloß durch Zufall erkannt, weil ich mal ein Bild von Ihnen gesehen habe.«
»Oh«, erwidere ich geistreich. »Vielen Dank.«
Sie zuckt bloß die Achseln.
Ein lautes ›Ding‹ weist uns in der Sekunde darauf hin, dass wir an einem weiteren Haltepunkt angelangt sind. Diesmal ist es unserer. Ich habe nicht einmal bemerkt, wie die Insassen sich immer weiter verringert haben, bis nur noch wir beide übrig geblieben sind, doch so ist es nun. Wir sind allein, als wir aussteigen.
»Dann mal viel Glück«, lässt sie noch fallen, ehe sie mir mit der freien Hand, eine Richtung weist.
Ab in die Höhle des Löwen.
Unsicher und mit dem Herz im Schlüpfer, stehe ich vor der großen Flügeltür. Es hängt bloß ein kleines, völlig absurd wirkendes Schild daneben, das mir den letzten Hinweis darauf gibt, wer sich hinter dieser Tür verbirgt.
Ich klopfe. Doch ob ich wirklich richtig steh, seh‘ ich, wenn die Tür aufgeht … Zumindest das der Gedanke.
Statt einer sich öffnenden Tür, höre ich bloß eine Stimme. »Herein.«
Meine Hand zittert ein wenig, als ich nach dem Henkel greife, weswegen ich sie zur Ruhe ermahnen muss. Ist doch bloß ein Zimmer, Mensch. Das Zimmer, in dem sich mit ziemlicher Sicherheit bald meine gesamte Zukunft und Existenz entscheiden wird. Aber hey, es ist doch bloß … ein Zimmer.
Mit allem Mut, den ich zusammenraffen kann, verblassen all meine bisherigen Vorstellungen und sogar meine Ängste, im Angesicht des Büros, das sich hinter dem schweren Mahagoni verbirgt.
Alles ist aus Glas und etwas, das nach schwarzem Stahl aussieht. Was weiß ich. Das, was mich wirklich fasziniert, ist der kleine Ausschnitt des Ausblicks aus dem riesigen Panoramafenster, hinter dem großen Schreibtisch, das beinahe die gesamte Außenwand einnimmt.
Von meiner Position aus, kann ich nicht richtig hinaussehen, doch bei Gott, ich sehe genug. Und es ist wunderschön, selbst wenn es bloß die Sicht über das sonst so triste Manhattan sein mag. Wow. Ich schwelge in der Vorstellung, wie es wohl wäre, tagtäglich aus einem solchen Fenster auf die Menschheit herabblicken zu können und plötzlich fühle ich mich klein. Sehr klein.
Dann höre ich ein Räuspern und wende irritiert den Blick ab, wobei mir wieder klar wird, wo ich hier bin und wieso. Peinlich berührt, schließe ich die Tür hinter mir, von der ich nicht einmal bemerkt habe, dass sie noch offen steht. Mit dem betörendsten Lächeln, das ich zu bieten habe, trete ich auf den Mann zu, der hinter dem zuvor erwähnten Schreibtisch sitzt und sich nun langsam erhebt.
»Uhm … Guten Tag, ich-« Mein Lächeln verblasst auf der Stelle. »Ich kenne Sie!«, platze ich stattdessen irritiert heraus.
»Oh, guten Tag! Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie eine ganz reizende Art haben, Leute zu grüßen? Zum Dahinschmelzen.« Der Sarkasmus ist auch ohne besondere Auffassungsgabe deutlich zu erkennen, doch ich lasse mich nicht davon beirren.
»Sie … Sie sind doch der Kerl, der in mein Café gekommen ist, oder etwa nicht?«, sprudelt es weiter aus mir heraus.
Ich weiß nicht, ob es überhaupt von Bedeutung ist, doch ich dachte nicht, dass ich ihn je wiedersehen würde. Und schon gar nicht so.
»Tja, die Welt ist klein, finden Sie nicht auch, Ms. Valentine?« Er zuckt die Achseln und steckt dabei seine Hände in die Hosentaschen, wobei sein perfekt sitzendes Jackett an den Seiten nach oben rutscht. »Aber genug der Formalitäten, von denen Sie offenbar ohnehin nichts halten. Wollen wir gleich zum geschäftlichen Teil kommen?«
Ich bin viel zu perplex, um zu antworten. Ich will ihm in diesem Moment so viel an den Kopf werfen, doch nichts davon ergibt Sinn. Zum Beispiel, dass er mir hätte sagen sollen, wer er ist, als er in meinem Café saß. Doch wieso hätte er das tun sollen? Ich entscheide mich daher für eine etwas klügere Konter.
»Erstmal würde ich gerne wissen, was genau dieses ›Geschäftliche‹ überhaupt darstellen soll. Ich bin zwar heute hier, doch mehr aus Neugierde, als aus Notwendigkeit oder gar eigenem Willen. Sie haben mich eingeladen, doch auf welche Bewerbung hin? Die meisten gewöhnlichen Geschäfte, die Simon Wake aus dem Schatten heraus leitet, sind Modeketten oder Schmuckgeschäfte. Sogar eine Tabak-Marke. Aber Konditoreien gehören nicht dazu. Ich hab keinen Grund, mich hier zu bewerben.«
Mal ganz davon abgesehen, dass ich dann dennoch nicht vor dem Boss persönlich stehen würde, selbst wenn ihm bisher bloß ein Teil der Firma zusteht, soweit ich das verstanden habe. Viel weiß ich nicht über ihn, bis heute nicht einmal seinen Namen, aber das muss ich auch nicht. Er ist ein reicher Pinsel, was soll es da schon groß zu wissen geben? Kennst du einen, kennst du sie alle.
Also, nicht, dass ich eine so reiche Person näher kennen würde, aber Tatsache ist doch, dass ich in der Vergangenheit auch schon die ein oder andere Erfahrung gemacht und mal ein Klatschblatt gelesen habe. Der Charakter der meisten Leute in diesem Metier scheint auf einen Bierdeckel zu passen. Wieso sollte es bei ihm anders sein?
»Eins nach dem anderen«, hält er dagegen, »ich habe Sie eingeladen, nicht weil Sie sich beworben haben, sondern weil ich Ihnen ein Angebot unterbreiten wollte. Ich dachte, mit dem Schreiben wecke ich ihr Interesse und wie ich sehe, hat es funktioniert.«
Mich plötzlich dumm fühlend, will ich empört sein, doch mir fehlt jegliche Motivation und auch die Munition. Was genau hat er denn Falsches getan? Er hat Recht. Es hat funktioniert.
»Außerdem stimmt das auch nicht ganz, hab ich nicht Recht?«, meint er dann jedoch und ruiniert damit seinen kleinen Sieg, »Sie sind hier, weil Ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Ansonsten wären Sie gegangen, als man Sie entfernen lassen wollte.«
Ertappt sehe ich zu Boden. Dann wird mir etwas klar. »Moment, Sie wussten Bescheid?«
Er lacht auf, als wäre meine Aussage irgendwie lächerlich. »Aber natürlich«, lässt er so fallen, »Glauben Sie, jemand könnte so eine Szene im Eingangsbereich machen, ohne dass ich davon höre? Ich dachte nur, ich warte mal ab, ob Sie es auch ohne mich hier rauf schaffen.«
Seine eingebildete Art gefällt mir ganz und gar nicht. Am liebsten würde ich dieses selbstgefällige Grinsen aus seinem Gesicht wischen.
»Wie Sie sehen, habe ich es geschafft. Auch ohne Sie. Zufrieden?«
»Offensichtlich haben Sie das«, sagt er, gespielt beeindruckt, »ohne meine Hilfe zumindest.«
Ich spüre, wie meine Wangen erröten wollen und zwinge sie mit Willenskraft dazu, es zu unterlassen. Klappt bestimmt.
»Wo ist Ihr Einladungsschreiben?« Seine kühle Frage kommt wie aus dem Nichts. »Hätten Sie es dabei gehabt, wären Sie mit meinem Siegel auch ohne AJ hier reingekommen. Sie müssen lernen, vorausschauend zu denken, sonst nutzen Sie mir nichts.«
Ich könnte jetzt argumentieren, dass ich es eingesteckt hatte oder zumindest wollte. Dass ich es wirklich einstecken wollte, nur für den Fall der Fälle, der dann wirklich eingetreten ist. Aber Rechtfertigungen wie diese wären nichts als verschwendeter Atem. Es ist offensichtlich, dass für ihn bloß Ergebnisse zählen, nicht der gute Wille. Deshalb ist er auch so erfolgreich.
»Und wer sagt, dass ich ausgerechnet Ihnen für irgendwas von Nutzen sein will? Da wären Sie nämlich falsch informiert, tut mir leid.«
»Das kommt schon noch«, meint er mit so viel Selbstvertrauen, dass mir fast schwindelig wird, »wenn Sie erst mal mein Angebot gehört haben.«
»Das da wäre?«, fordere ich ihn heraus.
»Wussten Sie, dass der Schuhladen im letzten Augenblick doch nicht mehr den Zuschlag bekommen hat?«, lenkt er dann plötzlich vom Thema ab.
Es ist so plötzlich, dass ich nicht einmal weiß, was ich darauf antworten soll, abgesehen von einem gedehnten »Huh?«
»Na, der Schuhladen«, spezifiziert er noch einmal ins Nichts, »Der, der eigentlich ihr Café kaufen sollte.«
Da macht es auf einmal klick. Ja, der Schuhladen. Ich habe ihn mir nicht ansehen wollen, also habe ich den Bereich, in dem mein Laden stand, nicht mehr auf 50 Meilen betreten, seit ich alles geklärt hatte und meine Rückkehr nicht mehr nötig gewesen war. Doch ich zähle eins und eins zusammen, denn so dumm wie er mich scheinbar sehen möchte, bin ich zu seinem Pech leider nicht. Ausdruckslos sehe ich ihn an.
Für mich ist er im Augenblick wie ein toter Fisch, so wie ich ihn betrachte. Leere, leidenschaftslose Seelenspiegel will ich sehen. Doch in Wahrheit sind sie das nicht. Dazu auch noch belustigt. Arschloch.
»Sie sind also der neue Inhaber der Räumlichkeiten in dem mein Laden noch bis vor kurzem seinen Sitz hatte, versteh ich das richtig?«
»So könnte man sagen. Oder kurz: Das Café gehört jetzt mir.«
»Und was wollen Sie jetzt von mir? Ich hab nichts mehr damit zu tun.« Ich lasse meine unverhohlene Skepsis und vielleicht sogar ein wenig Unmut über das Thema durchblicken, als ich ihn ansehe.
Groß, gut gebaut und ein wohl definiertes Gesicht mit hohen Wangenknochen, die von einem leichten Dreitagebart geziert werden. Ein wenig älter als ich, würde ich schätzen, aber nicht viel. Seine grauen Augen bohren sich tief in meine Dunkelgrünen; so tief, dass ich um ein Haar nicht standhalten kann. Doch so leicht lasse ich mich nicht unterkriegen. Er soll wissen, mit wem er es zu tun hat.
Er schnaubt, jedoch eher belustigt als herablassend. »Oh, sogar eine ganze Menge.«
Ich ziehe zweifelnd eine Augenbraue nach oben. »Ach ja?«
Mit einem Mal greift er sich einen Bogen mit Unterlagen von seinem Schreibtisch und tritt dann ein paar Schritte auf mich zu. »Das hier ist die originale Besitzurkunde Ihres Ladens. Keine Kopie.«
Blinzelnd sehe ich ihn an. »Und weiter?«
Für einen Moment sieht er mich an, dann zuckt er die Achseln und wirft das besagte Dokument auf den Tisch neben sich zurück. »Sie ist absolut wertlos für mich.« Er wirkt dabei vollkommen gleichgültig.
Noch ein wenig perplexer als zuvor, weiche ich einen Schritt zurück, als hätte er mir direkt ins Gesicht geschlagen.
Von Wut ergriffen wage ich einen Schritt auf ihn zu. »Wenn … wenn sie für Sie keinen Wert hat, wieso haben Sie das Café dann überhaupt gekauft?«
»Ganz einfach«, entgegnet er trocken, »ich esse nicht gerne Schuhe.«
Meine Augenbrauen bilden eine tiefgehende Furche zur Mitte meiner Stirn und schon weiche ich wieder ein Stück zurück. »Wie bitte …? Ich verstehe nicht ganz-«
»Der Schuhladen. Ich wollte ihn nicht dort sehen. Stattdessen wollte ich weiterhin ihr Café betreten können.«
»Aber wieso-«
»Sie sind nicht besonders helle, was?«, meint er und tritt nun auf mich zu, um mir unvermittelt mit den Knöcheln der rechten Hand leicht gegen die Stirn zu klopfen.
Irritiert schlage ich seine Hand beiseite und stampfe meinerseits noch einmal nach vorn, als würden wir Tauziehen spielen, um ihn zurückzudrängen. Und es funktioniert.
»Ach ja? Was Sie sagen, ergibt überhaupt keinen Sinn. Sie kaufen meinen Laden, um ihn vor dem Abriss zu retten? Schön und gut. Aber der Name gehört mir und die Kuchen- und Schokoladenrezepte ebenso. Das Café ist dennoch-«
Ich unterbreche mich selbst, als es plötzlich erneut klick macht. In dem Moment lächelt er spitzbübisch, bewegt seinen Kopf ein wenig zur Seite, wie in einer Art einseitigem Achselzucken. Als würde er meiner Eingebung, von der ich noch nicht einmal ein Wort laut ausgesprochen habe, bereits zustimmen wollen.
Damit zückt er ein weiteres Dokument, das unter der Urkunde verborgen liegt. »Genau darum biete ich Ihnen ja auch diese Gelegenheit. Werden Sie die Managerin des Cafés, die Konditorin, Bäckerin, oder als was auch immer Sie gerne bezeichnet werden möchten. Sie betreiben das Geschäft und ich zahle die Rechnungen. Dafür müssen Sie mir bloß ihren Namen und ihre Arbeit überlassen.«
Unsicher und überfordert sehe ich von dem Schreiben, das er mir nun zur Unterzeichnung vor die Nase hält, zu ihm auf. Als ob ich eine solch wichtige Entscheidung, einfach so mir-nichts-dir-nichts treffen könnte!
Scheinbar erkennt er meine Unentschlossenheit, weswegen er es sich nicht nehmen lässt, erneut den Mund an meiner statt zu öffnen.
»Ich habe mich über Sie und Ihr Unternehmen informiert, Ms. Valentine«, wirft er ruhig ein und bewegt sich zu seinem Schreibtisch, bis er zwei Gläser erreichen kann, die jeweils eine bernsteinfarbene Flüssigkeit mit einem runden Stück Eis beinhalten.
Er kommt zurück geschlendert, um mir eines davon zu reichen und dann sein eigenes ein wenig zu erheben, als würde er mit mir anstoßen wollen. »Der Laden lief gut, sogar sehr gut. Bis vor einer Weile zumindest. Ich glaube, wenn man ihn ein wenig renovieren würde, könnte man das groß aufziehen«, schwadroniert der eingebildete Lackaffe, »Ich hab schließlich nicht umsonst die Immobilie zusammen mit dem Inhalt gekauft. Ich biete Ihnen die einmalige Chance darauf, zu retten, was Sie noch retten können. Der Name ›Valentine‘s‹ soll in aller Munde sein. Ich will daraus eine Kette machen.«
»Und ich will bloß mein kleines Café zurück.«
Ein beinahe teuflisches Lächeln umspielt seine Lippen für den Bruchteil einer Sekunde. »Dann hätten Sie wohl besser darauf aufpassen sollen, nicht wahr?«
»Aber das hab-« Ich breche ab und verkneife mir den Rest.
Die Mühe kann ich mir sparen, er wird ja doch nicht zuhören. Ich kämpfe auf verlorenem Posten, das weiß ich; stehe mit dem Rücken zur Wand. Bloß dass meine Wand die ist, an der ich zerquetscht werde, wenn ich der gerade herannahenden Lawine nicht entkommen kann. Und er ist der einzige, der einen Vorschlaghammer parat hat. Er, der größte Arsch von ganz New York.
Alles, was mir bleibt, ist, zu tun, was er sagt. Fürs Erste nachzugeben. Doch was kommt dann? Was wird aus dem Valentine’s? Was wird aus Großmutters Vermächtnis? Und was wird aus mir?
Ich blinzle ein paar Tränen aus meinen brennenden Augen, denn ich will nicht, dass er sie sieht. Diese Blöße werde ich mir nicht geben.
»Ich muss mir das erst überlegen. Das ist nichts, das … ich einfach so entscheiden kann.«
Sein Lächeln wirkt verständnisvoll. Er gibt sich spendabel. »Aber natürlich. Sie können noch ein paar Tage darüber nachdenken.«
»Danke«, würge ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Ich will mich bereits verabschieden, doch da hält er mich noch einmal mit seinen Worten auf.
»Aber lassen Sie sich nicht zu lange Zeit. Ich warte nicht ewig«, lässt er bedrohlich grinsend verlauten.
Am liebsten würde ich Gift spucken. Stattdessen begnüge ich mich damit, ihm sein Glas zurück in die Hand zu drücken und mich abzuwenden. Kurz vor der Tür halte ich jedoch noch einmal inne. Ich mache auf dem Absatz kehrt und stapfe zurück, dabei blicke ich in das überraschte Gesicht dieses eingebildeten Mistkerls.
Mit flinken Fingern schnappe ich ihm das Glas doch noch einmal aus der Hand. Dem Geruch nach zu urteilen, ist es ein Bourbon – und keine billige Marke! Ich leere es in einem Zug, während er mich fragend mustert. Erst, als ich es ihm wieder zurückreiche und so schnell verschwinde, wie ich mich zuvor herumgedreht hatte, mache ich mich wirklich vom Acker.
So hatte das Ganze zumindest irgendeinen Nutzen.
Nach einem Besuch auf der Toilette, um zu sehen, dass die Augen trocken wirken und das Make-Up mich nicht wie ein Gespenst aussehen lässt, wage ich mich aus dem Gebäude. Denn dank des Bourbons, habe ich keine Ahnung von meinem Blutalkoholspiegel und wenn ich jetzt in eine Kontrolle gerate, könnte ich den Führerschein auch noch verlieren. Nur über meine Leiche!
Jetzt darf ich mich den ganzen Weg durch die öffentlichen Verkehrsmittel quetschen. Toll. Hätte ich vielleicht früher drüber nachdenken sollen. Genervt klackern meine Absätze über den Asphalt, auf der Suche nach der nächsten Haltestelle, die mich laut dem Internet weiterbringen soll.
»Lydia Valentine?«, höre ich meinen Namen und sehe mich erschrocken um.
In dem Moment spüre ich ein Tippen an meiner Schulter. Als ich mich umdrehe, steht dort ein wenig gepflegter Mann mittleren Alters und sieht mich fragend an. Keine Ahnung, was ich erwidern soll. Sollte ich schreien? Erstmal abwarten.
»Ma’am, sind Sie Lydia Valentine? Ich hab nich‘ den ganzen Tag Zeit, okay?«
»Wer will das wissen?«
»Ich«, meint er kryptisch, dann zeigt er auf einen charakteristisch gelben Wagen an der Seite, mit dem dicken Aufdruck ›Radio Cab‹. »Sind Sie nun meine Kundin, oder nich‘?«
»Ich hab doch gar kein Taxi bestellt, das muss ein Irrtum sein.« Viel zu teuer!
»Der Auftrag kam von ner großen Firma. Bezahlt dann auch die Rechnung.«
»Eine Firma?«, gebe ich zurück. So langsam zeichnet sich ein Bild ab.
Er zeigt erwartungsgemäß schräg nach oben und zuckt die Achseln. »Kam von Simon Wake.« Aha. Direkt aus dem Elfenbeinturm also. »Sollte mich beeilen, hieß es – hab den Auftrag erst vor zehn Minuten oder so bekommen«, erzählt er weiter und ich ziehe die Augenbraue hoch.
Das Taxi muss gerufen worden sein, direkt als ich draußen war. Wie umsichtig von seiner Lordschaft.
»Also, hab ich jetzt nen Fahrgast, oder nich? Ich muss auch mein Geld verdienen!«
Sichtlich genervt starrt er mich an, erst dann wird mir klar, dass ich da einem armen Mann die Zeit stehle, der vermutlich nicht viel von dem abbekommt, was die Leute teuer für eine Fahrt bezahlen müssen.
Doch ich grinse. »Das bin ich, keine Sorge. Läuft das Taxameter denn schon?«
»Ja …«, meint er verwirrt.
Nicht der Hellste, hm? »Simon Wake wird doch dafür bezahlen, oder nicht?«
»Schätze schon«, erwidert er dann, nach einigen Sekunden des Überlegens.
»Na dann«, meine ich wiederum, setze mich dann endlich in Bewegung, auf das Taxi zu.
Ich lasse mich in den Sitz fallen und er schließt sogar die Tür hinter mir.
»Greenpoint, bitte«, sage ich gerade noch und will ihm dann die genaue Adresse verraten, als es wirkt, als säße er und könne mir aufmerksam zuhören, doch da winkt er bereits ab.
»Wurde mir schon gesagt.« Aber natürlich wurde es das.
Etwas trauernd darüber, dass das hier bedeutet, dass ich meinen Wagen stehen lassen muss, auch wenn ich heute vielleicht komfortabel nach Hause kommen mag, seufze ich, als der Fahrer langsam Gas gibt.
»Und fahren Sie bitte ein paar Runden um den Block, wenn Sie schon mal dabei sind«, werfe ich von hinten ein und sehe ihn verdutzt im Spiegel nicken.
Dabei lächle ich in mich hinein. Der Typ wird mich noch kennenlernen, wenn er denkt, er könne mit mir machen, was auch immer er will. Es wird mir schon etwas einfallen, die Besitzrechte wieder sicher da zu wissen, wo sie hingehören.
Und viel Freude mit Ihrer Rechnung, Mr. Danton.
Texte: T.K. Alice / t.k.alice@web.de
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2017
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