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Prologue

Huntsville, Florida, USA

6. September 2006

 

 

 

Regen.

Es regnet bereits seit Tagen. Ungebremst fallen die kalten Tropfen auf mich herab. So als würde mich der Himmel verspotten wollen., ohne mir auch nur eine kleine Verschnaufpause zu gönnen.

Ich weiß nicht, wie ich überhaupt noch hier sein kann. Die Kälte durchdringt meine Haut wie eine scharfe Klinge; sie betäubt das Fleisch und schält es langsam von meinen Knochen. Es fühlt sich zumindest so an.

Der Schmerz in meinen Gliedern ist zeitweise unerträglich. Ich sehe blaue Linien an der Oberfläche. Kein gutes Zeichen?

All das, während ich keine Ahnung habe, wo ich mich befinde.

An einem einsamen Ort. In einer kahlen Gasse.

Ein plötzliches Scheppern durchschneidet das beständige Prasseln und bringt mich dazu, die Hände schützend an den Kopf zu halten. Schwarze Vögel steigen zu meiner Linken in den Himmel empor. Die Dunkelheit umgibt sie, als sie verschwinden.

Erschrocken beginne ich zu rennen, geradeaus auf einige Lichter zu. Lichter, die aus dem Dunkeln zu mir scheinen.

Ich friere so sehr.

Und dann sehe ich sie wieder; die Massen.

Ich bin so winzig und die so groß. Kein Wunder, dass sie mich immerzu zu übersehen scheinen.

Allein ihre Anwesenheit lässt meine Knie vor Angst schlottern.

Mit kleinen, unsicheren Schritten, stapfe ich hinaus auf die Straße. So viele Geräusche, Gerüche und Lichter. Dinge, die mir Angst machen.

Meinen eigenen Oberkörper mit den Armen umschlingend, sehe ich mich um. Jemand rempelt mich an und ich taumle einen Meter zurück.

Kaum stehe ich sicher, werde ich erneut gestoßen.

Das weiße Kleid das ich trage ist mittlerweile von Schmutz übersät, nass vom Regen und zerrissen von den Mauern und dem Müll an diesem unheimlichen Ort.

Und dann … ist es plötzlich still. Die Tropfen bleiben einfach aus.

Verwundert sehe auf; schaue hoch in den Himmel, erwarte die Sterne zu sehen, doch dem ist nicht so.

Stattdessen wurde über mir eine dunkle Blockade errichtet. Und da ist einer von ihnen.

Eine Frau. Sie bleibt einfach vor mir stehen.

So fremdartig für mich; so wie all die anderen auch.

Ist sie wie ich? Oder bin ich wie sie? Sind wir gleich?

Ich erkenne das Objekt über mir, das das Wasser vom Himmel abhält, nicht wirklich wieder. Ist es eine Art Schutzschild, den sie über uns beiden ausbreitet? Magie?

Dann geht sie vor mir in die Knie, beschmutzt den hellen Mantel mit dem feuchten Dreck am Boden, um mich genauer ansehen zu können. Doch diese Nähe erschreckt mich.

»Was ist denn los mit dir, Kleine? Wo ist deine Mutter?«

Für mich könnte die Dame genauso gut ein Monster sein. Eine zähnefletschende Bestie, die mich jeden Moment zu verschlingen droht. Innerlich sehe ich bereits vor mir, wie das nett anmutende Lächeln zu einer verzerrten Fratze der Bosheit verkommt.

Doch ich laufe nicht davon … denn sie wirkt wie ich; irgendwie verloren. Ziemlich einsam. Ob sie sich wohl auch verirrt hat? Nicht mehr weiß, wo sie hingehört?

Ich schüttle den Kopf und weiche doch ein paar Schritte zurück.

»Sie ist nicht hier«, flüstere ich mit hörbarem Unmut, »nicht hier …«, so lange, bis ich es selbst erkenne.

›Nicht hier‹, doch …

 

Wo ist ›hier‹ überhaupt?

Chapter 1: And the Sky is Distant

 Huntsville, Florida, USA

23.Oktober 2014

 

 

Finsternis.

Finsternis und Schatten um mich herum.

Ja, obwohl der Schatten selbst doch auch Finsternis ist, oder nicht? Es fühlt sich an, als wäre es hier anders. An diesem geheimnisvollen Ort.

Als gäbe es nur hier einen feinen Unterschied; einen, den ich weder zuordnen, noch auf irgendeine Art benennen kann.

Ich kann ihn aber doch ganz klar spüren. Ist das nicht seltsam?

»…«

War dort ein Geräusch?

Ich kann nichts verstehen, würde am liebsten einfach weiterhin gar nichts hören; gar nichts sehen. Man könnte sagen, es sei fast unheimlich, wie geborgen ich mich hier fühle.

Es wäre zumindest mit Sicherheit unheimlich für mich, wenn ich den Nerv hätte, mich darum zu scheren.

»Wa … au …«, vernehme ich es erneut, diesmal deutlicher.

Spricht da etwa jemand? Ich kann nicht entziffern, ob es eine Frau oder ein Mann ist. Nicht einmal, ob es eine junge Person ist, oder eine Alte. Die Laute wirken überlagert und schrill.

»Wach auf …!«

Die letzte Aufforderung durchzuckt mich wie ein stummer Schrei, während die  seltsame Stimme in Wahrheit nur gedämpft, wie durch dicke Watte oder tief unter Wasser, an meine Ohren dringt. Endlich öffne ich langsam die Augen.

»Wer ist da?« Desorientiert versuche ich zu antworten.

Doch als ich den Mund öffne, klingen die Worte seltsam dumpf.

Wie, als würde man einen Radiosender hören, der nahezu keinen Empfang hat. Mein nächster Impuls ist, die Augen aufzureißen und zu schreien.

Aber diese Augen sind bereits geöffnet, sie sehen bloß nichts.

Meine Ohren hören – vernehmen nichts.

Ich spreche … doch ich sage nichts.

So schreie ich lauter, bis meine Kehle vor Anstrengung schmerzt.

Kein Ton will mehr meine Lippen verlassen, obwohl ich fühlen kann, wie die Stimmbänder in meinem Hals vibrieren. Alles ist so taub, während das Flüstern um mich herum immer lauter wird; das wirre Summen sich in meinen Verstand bohrt. Das Gefühl der Geborgenheit ist wie weggeblasen; als hätte es nie existiert.

Stattdessen trifft mich eine Welle aus Gefühlen, die nicht Meine sind. Sie durchströmen mich auf eine Weise, die mir gänzlich unbekannt ist; drohen mich zu ersticken.

Gefühle, geprägt von Einsamkeit. Von Dunkelheit. Von Kälte. Angst. Trauer. Wut.

Von Schmerz.

Ohne Vorwarnung ruckelt es plötzlich unter mir; alles, was mich hält, ist auf einen Schlag fort.

Und wie mein Klagen unaufhörlich von der tiefen Dunkelheit in diesem bodenlosen Abgrund verschlungen zu werden scheint, 
beginne ich zu fallen.

 

Erschrocken spüre ich einen plötzlichen, dumpfen Aufprall, dessen Resonanz durch meinen gesamten Körper vibriert.

Hämmernder Schmerz breitet sich binnen Millisekunden in Schulter, Hüfte und Hinterkopf aus. Letzteres bringt mich dazu, gar nicht erst die Umgebung und Situation erfassen zu wollen, sondern mich einfach wie ein kleines Kind in Embryonalstellung zusammenzurollen, um Linderung abzuwarten.

Es dauert entsprechend eine ganze Weile, bis ich mich betont langsam aufraffe. Die an meinen kurzen, rosa Haarschopf gepressten Hände nutze ich, um mich auf dem Boden unter meinem Schreibtisch, wie ich verwirrt feststelle, hochzustemmen und ächzend wieder auf meinen Stuhl zu hieven.

Nur knapp lande ich darauf, ehe er ein Stück zur Seite rollt. »Verdammte Scheiße«, murmle ich zerknirscht.

Offenbar bin schon wieder am Tisch eingepennt.

Der nächste Gedanke, der mir verworren durchs Gehirn zischt, lässt mich für einen Moment wie gelähmt zurück. Meine nächste Amtshandlung ist ein schneller Blick zu meinem Wecker.

»Oh, verdammte Scheiße!«

Ich stürme los, reiße dabei noch fast die Staffelei neben mir zu Boden und sprinte auf die weiße Tür meines Zimmers zu. Wäre ich besonders sportlich, würde das bestimmt weniger dämlich aussehen.

So oder so ist das Ergebnis aber dasselbe, weshalb ich kurz darauf im Badezimmer lande. Ich lasse den Pyjama in hellem Rosé einfach auf den Boden segeln und springe unter den Strahl der Dusche, welcher bereits voll aufgedreht ist, noch bevor ich die Kabine hinter mir schließe. Der Schlafanzug ist mein Liebling, jedoch muss ich gerade daran denken, nicht zu viele Gedanken daran zu verschwenden, dass ich auf dem weiten

Oberteil einige rote Farbklekse verteilt habe. Und eigentlich verschwende ich die Gedanken damit ja bereits … zählt das?

Egal. Ich hoffe einfach, man bekommt das wieder raus.

Es dauert glücklicherweise keine zehn Minuten, bis ich blitzsauber vor dem Spiegel stehe und seufze. Oder besser gesagt: Ich bin so sauber, wie man sich in zehn Minuten eben schrubben kann.

Alles klar … unerheblich. Nach der Zahnbürste in meinem auffällig violetten Becher greifen wollend, sehe ich mich kurz um. Irgendetwas irritiert mich.

Die Uhr auf der Ablage neben dem Waschbecken, die dort immer nur für mich zu stehen scheint, zeigt mir eine etwas schockierende Wahrheit; ein Horrorszenario am Morgen, sondergleichen.

Ich nehme die Uhr zur Hand, schüttle sie durch und durchbohre sie mit mordlüsternen Blicken. »Ist das dein verdammter Ernst?!«

Schnell lege ich das Teil zurück und stapfe genervt in den Flur, in dem sich eine weitere Uhr befindet. Und Überraschung, sie bestätigt es.

Um ehrlich zu sein kam ich mir schon lange nicht mehr so früh am Morgen schon so dämlich vor.

Wieder zurück im Zimmer, ein letzter Check. Jep, eine andere Zeit. Malerisch.

»Ein Fehlalarm, hm? Mistkreatur. Ich werde dich töten, verbrennen und vergraben, das hast du nun davon«, drohe ich ihm, doch dummerweise scheint ihn das gar nicht zu kümmern.

Schlimmer noch: es ändert auch rein gar nichts an meiner Situation.

Mein Vater liebt Uhren, ich dagegen … eher weniger. Aus ganz offensichtlichen Gründen, möchte ich meinen.

»Also manchmal … hasse ich mein Leben wirklich.«

Scheint, als hätte ich noch ein wenig mehr Zeit als angenommen. Wenigstens ein kleiner Trost für die sarkastische Stimme in meinem Kopf, die sich lauthals über mich kaputt lacht.

Immerhin werde ich so ausnahmsweise mal nicht zu spät kommen …

Naja, oder zumindest denke ich das.

 

Die Vögel zwitschern vor den offenen Fenstern; ich höre sie bis zu mir auf den Flur.

Müde und von leichter Schwermut erschlagen, schlurfe ich mit meinem misshandelten Schlafanzug unter dem Arm und einem großen Handtuch um den Körper geschlungen zurück, wo ich schließlich vor dem Kleiderschrank zum Stehen komme.

Alles klar soweit.

»Wenn ich jetzt wüsste, was ich nehme, dann wär ich wohl nicht ich, schätz ich mal …«, mutmaße ich und beiße mir auf Lippen, als ich das massive Zedernmonster vor mir betrachte.

Sollte ich ausziehen, erinnert mich daran das Ding nicht selbst vom Fleck bewegen zu wollen.

Seufzend öffne ich eine der Türen und krame dann wahllos eine Hose und ein Shirt daraus hervor, denn nur ein Blick aus dem Fenster verrät, dass das Wetter sich gebessert hat.

Selbst wenn es nachher wieder regnen sollte, wieso das Risiko eingehen? Es ist schon Oktober, aber immer noch warm, dank des Klimawandels vermute ich, aber was ist, das ist eben. Und einem geschenkten Gaul guckt man bekanntlich nicht ins Maul.

Selbst wenn der Gaul dir vom Teufel persönlich überreicht wird … Okay, dann vielleicht schon, aber ihr müsst zugeben, der Vergleich hinkt auch gewaltig.

Den Kopf über meinen eigenen Unsinn schüttelnd, besehe ich mir die vermutlich fragwürdig ausgefallene Wahl. Zu einer Art lachsfarbenem Oberteil gesellen sich eine sehr kurz und unsauber abgeschnittene Latzhose aus verwaschenem Jeansstoff und eine Strumpfhose, die in Rot, Orange und Braun von oben bis unten quer gestreift ist.

Wieso ich überhaupt so etwas besitze? Keinen Schimmer. Es gefällt mir irgendwie.

In gewisser Weise sind die Farben ein Zeichen von Freude. Und bereits als ich noch jünger war, hatte ich realisiert, dass andere Menschen fröhliche Mitbürger einfach viel seltener schief ansehen.

Also zumindest dann, wenn nicht gerade irgendwo ein Turm in die Luft gesprengt wird oder bei dreißig Grad im Schatten überall in der Stadt der Strom ausfällt. Letzteres hatten wir hier jedenfalls schon.

In so einem Fall sollte man besser überhaupt gar keinem mehr begegnen, egal mit welcher Laune.

Mit einem Lächeln auf den Lippen und neuerlichem Kopfschütteln, diesmal wegen der Erinnerung an diesen heißen Tag im Juni letzten Jahres, schlüpfe ich in frische Unterwäsche und ziehe mein zusammengewürfeltes Outfit darüber, woraufhin ich ein weiteres Mal im Familienbad lande.

Mein nicht einmal ganz schulterlanges Haar ist noch immer klatschnass; tropft dunkle Flecken auf den Stoff der meine Schultern bedeckt. Als ich es spielerisch nach vorn und wieder zurückwerfe, in dem ich den Kopf schüttle, spritzt das Wasser nur so gegen die, ohnehin noch von der vorigen Dusche beschlagene, Scheibe.

Mit einem Handtuch wische ich also über den Spiegel, da ich mich ja so und so gegen das Trocknen meiner Haare entscheide; ich mag sie unordentlich.  Der Film weicht langsam den dünnen Striemen von Wasser, die ich immer nur weiter zu verteilen scheine, anstatt sie abzutragen. Und auf einmal halte ich inne.

Ich halte den Atem an und wische nur noch ganz langsam. Es wirkt, als wäre ich tief in Gedanken, doch mein Puls rast.

Aus den Augenwinkeln nehme ich etwas wahr; eine Bewegung. Im Spiegel erkenne ich den Schatten. Nicht meiner. Die Dusche hinter mir ist halb verdeckt durch den Vorhang, das Licht der Lampe neben mir an der Wand beleuchtet ihn schräg.

Schluckend jagt ein Gedanke den Nächsten; Gedanken, die unangenehme Schauer über meinen Rücken huschen lassen.

Plötzlich zucke ich zusammen, als der Schatten sich hastig bewegt, und drehe mich blitzschnell herum. Ich reagiere auf ein flinkes Etwas hinter mir an der Badezimmerwand, um dort … bloß meinen Schatten zu sehen?

Einen Moment starre ich stur zur Wand. Ich blinzle und sehe über meine Schulter zurück in den Spiegel. Nichts.

Was?

Verwirrt gucke ich mich mehrfach in dem kleinen Raum um, ehe ich ratlos zurück in reflektierende Glas sehe.

»Eindeutig zu wenig Zucker im Blut …«, schlussfolgere ich nüchtern und kann nicht glauben, was hier gerade geschehen ist.

Oder war es einfach zu wenig Schlaf?

So muss es sein, entscheide ich, während ich die Achseln zucke und erleichtert den Atem entweichen lasse, den ich zuvor ungewollt zurückgehalten habe. Das Handtuch, das ich immer noch fest umklammere, werfe ich derweil über den Haken.

Im Sinne der zurückgekehrten Normalität, bestaune ich meine kleine, zerzauste Haarpracht. Und das ohne Hilfsmittel, immerhin!

Es mag kein Kunststück sein, aber bei kurzen Haaren ist sowas wirklich schwerer, als es in all den Magazinen aussieht, das könnt ihr mir glauben.

Eigentlich war ich immer der Meinung, Dinge wie diese seien nicht besonders anspruchsvoll, doch so gesehen … Mann, wenn Liv das gerade hören könnte, dürfte ich mir ihre Sticheleien deswegen vermutlich noch anhören, bis die Hölle zufriert.

Tja, ich hasse es jedenfalls, wenn sie glatt herunterhängen. Denn dann sieht es irgendwie so aus, als seien sie tot.

Vielleicht ist es ein innerer Antrieb. Auffällig, könnte man meinen, obwohl ich paradoxerweise eigentlich nur ungern auffalle.

›Rebellion‹ wurde es zudem bereits genannt, doch das ist ebenfalls lächerlich.

Eine Rebellion ist etwas anderes. Wenn man wirklich rebelliert, dann fließt für gewöhnlich Blut.

Und eine Menge Tränen.

Das was ich tue, ist keine Rebellion, sondern einfach mein eigenes Zeichen. Es ist mein Zeichen an die Welt, dass ich noch lebe; dass ich nicht tot bin.

Und das ist alles, was ich möchte.

Noch ein letzter Blick in mein eigenes Gesicht, dann zucke ich ein weiteres Mal gleichgültig die Achseln und wende mich ab.

Mit einer leisen Melodie auf den Lippen, springe ich, mit der Schultasche aus meinem Zimmer, buchstäblich die Stufen hinunter ins Erdgeschoss.

Mal sehen, wer noch da ist.

 

»Mom? Dad? Ist jemand zu Hause?«

Ich rufe es zwar aus, so allein im Gang stehend, doch kann mir im Prinzip schon denken, was ich zur Antwort erhalten werde.

Stille.

Irgendwie habe ich ein komisches Gefühl und will dem gerade Nachgehen, als mich ein kleiner Zettel am Kühlschrank anlächelt.

Wie immer am selben Platz.

Auf dem Weg dorthin komme ich an einem Glas auf der Anrichte vorbei, aus dem etliche kleine, weiße Stiele in die Luft ragen. Ich greife mir ein paar davon, reiße von einem die Schutzfolie ab und lasse die restlichen dann in den Känguru-Beutel an meiner Hose gleiten.

Gleichzeitig danke ich meiner Mutter im Geiste, dass sie immer an all das denkt, was ich selbst vergesse. Wie zum Beispiel daran, die Lutscher im Haus nachzufüllen.

»Das Essen für heute Abend steht im Backofen; das für die Schule auf der Anrichte. Wir kommen heute beide spät, wegen einer Konferenz, aber morgen sind wir zum Frühstück wieder anwesend, versprochen.

Wir lieben dich«

Sogar mit einem kleinen Herzchen verziert. Ganz klar von meiner Mutter. Und das, obwohl ich bald siebzehn werde, also im Prinzip offiziell schon fast eine junge Frau sein sollte. Erwachsen … zumindest auf dem Papier.

Obwohl ich mich selbst oft noch als Kind betrachte, was in dieser Gesellschaft nicht besonders gern gesehen wird.

Ob es mir also etwas ausmacht, das meine Eltern so drauf sind? Nein, eher nicht.

Es erfüllt mich mehr mit einer gewissen Wärme, zu sehen, dass ich noch immer ihr kleines Mädchen sein darf und bin. Obwohl sie davon ja eigentlich nie allzu lange etwas hatten, zumindest nicht so lange wie die meisten Eltern von ihren Kindern.

Gleichzeitig muss ich gestehen, dass es mir manchmal doch ein wenig peinlich ist. Nicht unbedingt, weil mich die Meinung anderer interessiert; vielleicht würde ich es nicht einmal wirklich als ›peinlich‹ bezeichnen.

Nein, eher als … unangenehm. Weil ich nicht als die Erwachsene angesehen werde, die ich sein sollte. Und man mir so den Freiraum lässt, das Kind zu sein, das ich gerne noch wäre.

Es ist eben schwer, der Versuchung zu widerstehen. Besonders, da mir so viele Jahre meiner Kindheit fehlen, dass ich manchmal das Gefühl habe, diese Extrajahre stünden mir zu, was aber natürlich Quatsch ist.

Jeder muss irgendwann erwachsen werden – das sollte, bei Gelegenheit, vielleicht auch mal jemand meinen Eltern mitteilen.

Wenn ich mal zu lange weg bin, rufen sie mich noch immer sofort an und machen sich Sorgen, sobald etwas außerplanmäßig aufkommt und ich mich nicht im selben Moment bei ihnen melde. Außerdem … Oh.

Mit der flachen Hand gegen meine Stirn schlagend, wird mir bei dem Gedanken auch klar, dass ich noch einmal nach oben muss.

Mit eiligen Schritten nehme ich die Stufen nach oben, bis ich in meinem Zimmer stehe. Dort schnappe ich das Handy von seinem Platz, um es zusammen mit den Kopfhörern einzustecken. Ich wusste, etwas war komisch.

Auf dem Weg sehe ich nochmal zu dem unordentlichen Schreibtisch in der Ecke. Ich habe immer noch ein seltsames Gefühl. Hab ich noch mehr vergessen, oder was?

Doch ich kann nichts dergleichen entdecken, egal wie konzentriert ich mich umsehe. So groß ist der Raum ja nun auch nicht und die Stellen, an denen ich wichtige Dinge bunkern könnte, sind stark begrenzt.

Am Ende zucke ich nur resignierend die Schultern und packe meinen Kram an. Was soll‘s.

»Es wird schon alles in der Tasche sein«, entscheide ich nach einem Blick auf das Display meines Mobiltelefons.

Denn so langsam wird die Zeit wirklich knapp, wie ich erkenne, und so mache ich mich ein weiteres Mal auf den Weg nach unten, schnappe meinen kleinen Rucksack, mit den vielen Buttons an der großen Lasche, und verlasse damit schließlich das Haus.

Nur noch die Stöpsel in die Ohren und die Playlist auf meinen aktuellen Lieblingssong von The Ready Set stellen.

Mein violettes Fahrrad steht wie immer neben der Einfahrt zur Garage, auf der Wiese unseres Vorgartens, als ich es mir schnappe und mich direkt auf den Sattel schwinge. Ich lasse mich auf die Straße rollen, um mich in den langsamen Tagesablauf meiner kleinen Stadt einzugliedern und ein Teil davon zu werden.

Im Hintergrund höre ich dabei einer euphorischen Männerstimme dabei zu, wie sie über den ›besten Song aller Zeiten‹ und natürlich irgendein schönes Mädchen sinniert. Wie sollte es auch anders sein?

Zwar lächle ich bei dem Gedanken in mich hinein, doch lasse meinen ausdruckslosen Blick schweifen. Diese Sorge von heute Morgen will mich irgendwie nicht recht loslassen. Wenn es nicht das Handy war, was dann? Geht es überhaupt um einen vergessenen Gegenstand?

Habe ich denn abgeschlossen, als ich das Haus verlassen hab? Ja, ich denke schon, außerdem hatte ich das Gefühl ja bereits bevor ich gegangen bin. Was könnte es sonst sein?

Und warum stört mich das überhaupt so sehr? Es ist zum Haare raufen, denn normalerweise hätte ich es längst abgehakt.

Es ist als ob ich gar nicht anders könnte, als-

Mit einem Mal schlage ich den Rücktritt ein, als ein ohrenbetäubendes Hupen mich geschockt zusammenfahren lässt.  Zeitgleich ziehe ich die Handbremsen an, da ich automatisch die Finger verkrampfe; wodurch das Fahrrad mit all seinem Schwung auch noch um Haaresbreite vorn über kippt.

Meine Augen sind weit aufgerissen und ich atme rasant vor Schreck, mein Lutscher fällt mir dabei mit einem stummen Ploppen aus dem Mund, was mir jedoch nur am Rande auffällt. Das Herz schlägt mir von einer Sekunde zur Nächsten bis zum Hals.

Ich kann nicht anders als zu zittern und mit leicht schwitzigen Händen hastig die Kopfhörer aus meinen Ohren zu reißen, um mich, noch immer orientierungslos, umzusehen.

Es kam so plötzlich, dass ich mich völlig aus der Bahn geworfen fühle; gleichzeitig fühle ich mich aber auch total dämlich. Wie ein schreckhaftes Huhn, das bloß dumm herumsteht. Mitten auf der Straße.

Eine Gänsehaut überkommt mich. Ich drehe mich nervös in alle Richtungen herum – bei dem Versuch, den Ursprung des Lauts zu ermitteln – und schlucke. Mein Mund ist wie ausgetrocknet.

Ein roter Wagen, der just in diesem Moment hinter mir zum Stehen kommt, müsste der sein, der auch gehupt hat.

Doch weshalb?! Ein anderes Fahrzeug kann ich bei aller Liebe nirgends erkennen. Aber er muss es gewesen sein.

Dort ist ansonsten bloß ein weiterer Mensch, am Rande des Feldes zu meiner Rechten. Ich denke mal nicht, dass diese Person mit den Arschbacken hupen kann.

Scheinbar verändert der abwegige Gedanke gerade meinen Gesichtsausdruck. Besagter Passant jedenfalls, starrt mich nun seinerseits äußerst verwirrt an. Großartig, wird ja immer besser.

Gleichzeitig wirkt alles um mich herum so normal, egal wie ich es betrachte.

So, als wäre ich die Einzige, die diesen Lärm vernommen hat. Die einzige, die erschrocken ist. Wie zum Teufel soll das möglich sein?

Als ich wie angewurzelt dastehe, offensichtlich im Weg, hupt der Rote erneut. Mein erster Instinkt ist, herumzufahren und ihn aggressiv anzufauchen, was ihm denn einfiele, hier so sinnlos Welle zu machen.

Doch ich tue nichts dergleichen, denn im selben Augenblick wird mir wird etwas klar, das mir alle Haare zu Berge stehen lässt.

Der Fahrer tuckert seinerseits nur langsam an mir vorbei, während er mir den Mittelfinger zeigt und sich meine Chance zur Rache mit ihm verabschiedet. Ich reagiere nicht einmal darauf. Es ist mir ehrlich gesagt völlig gleichgültig.

Denn dieses Hupen eben war vollkommen anders. Und diese Erkenntnis lässt nicht viele Schlüsse zu. Keine, wenn sie einen Sinn ergeben sollen.

Ich verstehe ja nicht wirklich viel von Autos, das gebe ich offen zu, doch das Gefühl und der Klang …

Nein, rückblickend schien es, als käme es von einem viel größeren Fahrzeug, nicht von einem solchen Flitzer. Außerdem derart laut, dass es durch die Musik noch mehr als deutlich hörbar war. Nicht nur einfach hörbar, so wie sonst, sondern eben vollkommen klar.

Dröhnend und deutlich, als hätte ich in dem Moment gar nichts anderes gehört – oder als käme es direkt aus meinen Kopfhörern! Der Lärm ging mir ja nicht umsonst durch Mark und Bein.

Unsicher greife ich nach dem kleinen Gerät in meiner Tasche und den Kopfhörern. Ich spule unsicher durch den Song. Schluckend.

Nein, was erwarte ich hier zu finden? Die Musik in kleinen Abschnitten spielend, zappe ich die Minutenzeile hindurch. Nichts.

Ich würde erleichtert aufatmen, doch das würde voraussetzen, dass ich irgendetwas erwartet habe. Habe ich das? Nein, nicht wirklich. Doch es schadet auch nichts, Dinge zu überprüfen, wenn sie einem seltsam erscheinen, nicht wahr?

Das Hupen muss einfach von Außerhalb gekommen sein. Aber woher? Es ist kein ansatzweise passender Wagen in der Nähe.

Mein gesamter Rücken kribbelt und das Gefühl lässt mich erneut erzittern.

Wie kann ich einen Wagen hupen hören, der überhaupt nicht existiert?

»Alles klar, Annie … Du siehst Gespenster«, will ich mich im Stillen selbst beruhigen.

Ich atme etwas ungleichmäßig ein und schließe dabei die Augen. Vielleicht ein besonderer Tinnitus? Gott, das ist so dumm.

Noch einmal versuche ich das mit dem Durchatmen, als ich mich etwas entspannter zurück in den Sattel setze. Gleichzeitig hole ich ein Bonbon aus meiner Tasche hervor.

Seufzend, jedoch langsam wieder ruhiger, sehe ich einen weiteren Autofahrer langsam an mir vorbeifahren. Er sieht mich an, doch scheint nichts zu entdecken das ihn interessiert. Ich stehe nur so da, auf meinem Fahrrad. Kein Unfall oder Ähnliches. Er fährt einfach weiter. Offensichtlich errege ich hier etwas mehr Aufsehen, als mir lieb ist. Ich sollte weiterfahren, es bringt doch nichts, hier zu stehen und mich verrückt zu machen.

Die Kreuzung vor mir liegt ansonsten absolut ruhig da. So wie jeden anderen Morgen auch.

Tief einatmen und wieder ausatmen. Alles ist gut.

Die Kopfhörer platziere ich jetzt ordentlich dort, wo sie meiner Meinung nach hingehören.

Ich sollte endlich früher ins Bett gehen. Wahrscheinlich bin ich auf dem Rad kurz eingenickt. Anders kann ich es mir nicht erklären. So oder so darf sich das auf keinen Fall wiederholen.

Ich hätte eben vielleicht fast einen Unfall verursacht, wer weiß? Der Schrecken den diese Einsicht allein in mir auslöst, ist weitaus schlimmer als das Hupen. Ich meine, einschlafen auf dem Fahrrad … Das ist echt ein neues Level.

 

Doch trotz der zittrigen Hände und wackeligen Knie, setze ich mich langsam in Bewegung, nachdem ich sicher bin, dass kein Fahrzeug meinen Weg kreuzen wird.

Wenn ich doch nur nicht so ein mieses Gefühl dabei hätte.

Ich möchte eigentlich nur noch an der Schule ankommen; mich in die Klasse setzen und meine Gedanken auf den Schulstoff konzentrieren.

Und Gott weiß, das will wirklich etwas heißen.

 

Eine leichte Brise pfeift mir um die kurzen Haare, als ich nach oben sehe. Das Fahrrad rüttelt mich einmal kräftig durch, während ich auf dem Gehweg auffahre, der sich direkt vor meiner Schule erstreckt.

Erst an den Ständern steige ich schwungvoll von meinem alten Drahtesel herunter. Gerade noch rechtzeitig, wie mir ein Blick auf die große Turmuhr in der Nähe verrät.

Doch der Gedanke an eine Verzögerung lässt mich wieder abschweifen. Das vorhin war wirklich verdammt merkwürdig. Aber ich sollte es einfach vergessen und dafür sorgen, dass es nicht noch einmal geschieht.

Mit einem erneuten Seufzen schiebe ich meinen violetten Freund bis zur Mauer, an der sich die Haltestangen zum Festketten der Räder befinden. Ich schenke der Handlung meine gesamte Aufmerksamkeit, bis mich eine Hand auf der Schulter dazu bringt, überrascht herumzufahren.

»Was«, beginne ich zu fragen, da ich mir nicht sicher bin, wer mich hier ansprechen würde, doch staune nicht schlecht, als ich mich umsehe.

Prima.

Das leere Nichts um mich herum scheint mich geradewegs zu verspotten. Wieder einmal friemle ich die Hörer aus meinen Ohrmuscheln. So langsam fühle ich mich verarscht. Doch wer wäre in der Lage, mich auf diese Weise hereinzulegen? Abgesehen von meinem eigenen Verstand.

»Was soll das, verdammt?!«, fluche ich lauthals.

Völlig verwirrt sehe ich mich ein ums andere Mal um, doch es scheint nicht einmal jemand in meiner Nähe zu sein. Gut, es könnte vielleicht Einbildung gewesen sein. Nur mein Oberteil, das sich bewegt hat. Aber die Zufälle heute … Erst das Bad, dann die Sache auf der Fahrt und nun das? Wenn es denn nur heute wäre. Alles was heute geschieht, scheint mir sagen zu wollen, dass ich heute Morgen am besten im Bett hätte bleiben sollen.

Musik dringt noch immer aus den kleinen Lautsprechern in meinen Händen, als erneut ein eigentlich angenehmer Wind aufkommt. Ich nutze die Gunst der Stunde, um meine Gedanken zu ordnen, während die Brise in meinem Haar spielt und einige Strähnen davon über meine Wangen bläst.

Ich bestaune, wie so oft, die alten Eichen um mich herum. So ruhig und doch so unheilvoll, wenn ich sie so betrachte. Als würden auch sie mir sagen wollen, dass ich für heute lieber nach Hause gehen sollte.

Aber erklär das mal einem Lehrer. Ich bezweifle, dass sie das als Entschuldigung akzeptieren.

Die Zweige der Bäume, die noch immer einige grüne Blätter tragen, scheinen mir etwas zuflüstern zu wollen.

Flüstern …

Ein Gedanke, der mich an die Träume erinnert, die ich in letzter Zeit so oft habe. Doch kann ich auch hier kein Wort verstehen. Erkenne nur die Krähen, die dort sitzen.

Auch auf der Mauer hinter mir; auf der großen, steinernen Mauer, die meine Schule umgibt.

Die Luft um mich herum scheint zu knistern und die Hände, nahe an meinem Kopf, in denen ich noch immer meine Ohrstöpsel halte, sind wie versteinert. Ich bin praktisch gelähmt, als ich so dort stehe und sich immer mehr der verheißungsvoll schwarzen Vögel um mich auf herum auch in den Baumkronen versammeln.

Eine ist ganz nah. Wie hypnotisiert schaue ich in die kleinen, pechschwarzen Perlen, die ihre Augen darstellen. »Hallo«, sage ich, doch es klingt wie das Wispern des Windes, als der Laut in der Atmosphäre verschwindet.

Unverständlich. Wie in einer längst vergessenen Sprache.

Es ist, als gäbe es in diesem Moment nur mich und sie.

Woher ich weiß, dass es kein ›Er‹ ist? Bloß so ein Gedanke.

Ich strecke die Hand nach ihr aus, doch plötzlich scheint der Abstand immer größer zu werden. Komm, nur noch dieses kleine Stück …

»Hey!«

Erschrocken mache ich beinahe einen Satz. Und wenn nicht äußerlich, dann auf jeden Fall innerlich. Mein Kinnlade klappt unwillkürlich ein Stockwerk tiefer und die Hand schnappt automatisch zu.

Mein Herz hat derweil einen solch hastigen Sprung gemacht, dass ich es gerade sogar in meinem Hals pochen spüre.

Noch einmal sehe ich zu der Krähe auf, die eben noch so nah schien, doch ich realisiere jetzt, wie fern sie doch in Wahrheit ist. Weit oben sitzt sie auf der Mauer, sieht zu mir herab.

In diesem Augenblick empfängt uns ein erschlagendes Konzert aus Kreischlauten, zusammen mit Flattergeräuschen und dem leichten Aufwind etlicher, schlagender Flügel. Ich nehme schützend die Hände vor mein Gesicht, doch als ich aufsehe, bietet sich mir ein majestätischer Anblick.

In einem kleinen Wirbel aus Federn und Flattergeräuschen heben diese erhaben anmutenden Wesen wie auf Kommando ab und verschwinden in einer schwarzen Wolke gen Himmel.

Einen Moment sehe ich ihnen noch nach, dann wird mir klar weshalb ich eigentlich hier bin.

Unverwandt schüttle ich den Kopf und versuche mich endlich wieder zurück in die Realität zu ziehen. Mit diesem Gedanken wende ich mich blinzelnd an den Störenfried, der diesen besonderen Augenblick gerade so glorreich ruiniert hat.

»Ja …?«

Diesmal steht sogar tatsächlich jemand vor mir, als ich das tue, allerdings nicht einfach irgendwer. Und in dieser Sekunde wünschte ich, es wäre wieder nur der Heilige Geist gewesen. Ehrlich.

»Oh, Mr. O’Farrell, Sie … Was tun Sie hier?«

Ich fühle mich plötzlich erleuchtet und dumm wie ein Huhn, dafür dass ich so eingenommen war, dass ich nicht einmal seine Stimme erkannt habe.

Ich könnte mich ohrfeigen und würde am liebsten im Boden versinken.

»Das fragen Sie mich? Ich habe Sie hier stehen sehen, während alle anderen bereits im Gebäude sind. Warten Sie zuerst auf schöneres Wetter oder wollten Sie die erste Stunde etwa schwänzen, Ms. Dowell?« Er wirkt belustigt.

Doch ich sehe mich erst einmal verwirrt um. Eben hatte ich schließlich noch genug Zeit, also kann ich doch jetzt nicht schon zu spät dran sein, oder? Das glaube ich einfach nicht.

Als ich allerdings erneut auf die große Uhr sehe, welche nur einige Meter zu meiner Linken in den Himmel aufragt, bekomme ich fast einen Infarkt, nach all dem was heute bereits war.

»Oh, verdammt! Wann ist es denn so spät geworden?!«

»Nun, ich denke, das ist schleichend passiert. Vermutlich hat es vor einigen Millionen von Jahren begonnen. Doch die Zeit fliegt nun mal, wie sie eben fliegt. Und ich rate Ihnen, sich ein wenig zu beeilen, sonst fliegt dem lieben Professor noch vor Wut das Toupet davon. Und das wollen Sie doch nicht, oder?«

»Nein«, entgegne ich mit leichter Verzögerung und ein wenig langgezogen, »also bis später, Mr. O’Farrell.«

Woher weiß er eigentlich, welche Stunde ich jetzt habe? Zugegeben, er ist auch ein Lehrer, er wird es vermutlich irgendwo gesehen haben. Viel wichtiger ist doch wohl, dass diesem verschrobenen alten Zausel nicht tatsächlich noch das Haarteil explodiert.

Ich will heute echt noch nicht sterben.

 

»Wirklich nett, dass Sie uns auch noch mit Ihrer Anwesenheit beehren, Ms. Dowell«, wird eine kratzige Stimme in der Umgebung laut, als ich gerade versuche, mich unbemerkt in den Klassenraum zu schleichen.

Ich lokalisiere den Ausgangspunkt sofort und blicke in eine wutverzerrte Miene.

Mist! Hätte ja klappen können …

»Tut mir leid, Professor Dura. Wird nicht wieder vorkommen.«

»Oh, meinen Sie? Gehen wir jetzt unter die Hellseher? Ich hoffe doch sehr für Sie, das Sie diesmal richtig liegen. Anders als das letzte Mal etwa. Oder das davor«, meint er, »Geschichte wiederholt sich nämlich meist nur auf negative Weise. Denken Sie an meine Worte, wenn Sie diesen Kurs im nächsten Jahr noch einmal besuchen müssen, weil Sie von nichts eine Ahnung hatten.«

Darf ich vorstellen? Professor Kegan Jo Dura. Der schlimmste und langweiligste Lehrer der Schule, möchte ich wetten. Auf jeden Fall der mit dem schlimmsten Namen.

Und er unterrichtet Geschichte, das sagt wohl alles.

Wortlos lasse ich mich auf meinen Stuhl fallen und seufze; dabei setze ich die Tasche zu meinen Füßen ab zücke daraus und einen Stift plus Papier.

Das Thema ist der kalte Krieg. Und wenn man bedenkt wie oft ich dieses Thema bereits durchgekaut habe, könnte man meinen, dass die Geschichte der Welt doch nicht so lang ist wie alle immer meinen. Denen scheint hier jedenfalls gewaltig der Stoff auszugehen. Also, entweder das oder die Geschichtssäle sämtlicher Lehranstalten der Welt stecken kollektiv in einer nie endenden Zeitschleife fest.

Wie das Schicksal es so will, zwingen sie einem schließlich jedes Jahr aufs Neue auf, sich denselben Kram wieder und wieder anzuhören, bis man ihn schon schnarchen kann.

Vielleicht heißt der Mist ja deshalb ›kalter‹ Krieg – wie in ›kalter Kaffee‹. ›Abgestanden‹ würde vermutlich genauso passen.

Ich schwöre, noch ein einziges Mal, und ich zettle höchst persönlich einen neuen Krieg an, nur damit sie endlich mal was anderes zu Berichten haben.

Genervt wende ich mich ab, ohne weiter darauf zu achten, was vor sich geht. Meine Augen beginnen zu wandern; gedankenverloren. Bis sie letztlich am Fenster zu meiner Linken kleben bleiben. Der blaue Himmel scheint so weit und friedlich.

Wie schön meine Welt doch wäre, wäre ich ein Vogel.

Apropos … Ich verstehe noch immer nicht wirklich, was da vorhin geschehen ist.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen, führe ich den Kugelschreiber in der Hand an meine Lippen.

Seltsam war es auf jeden Fall. Aber diese Krähen … Sie waren so schön.

Ihre tiefschwarzen Flügel schienen das Licht der Sonne geradezu zu verschlucken und die Augen waren wie kleine, endlos tiefe Ozeane.

Was sie wohl für einen Grund hatten, sich alle an der Schule zu versammeln? Braucht es für so etwas überhaupt einen Grund?

Ich merke gerade, dass ich absolut nichts über diese Kreaturen weiß. Vielleicht sollte ich bei Gelegenheit mal ein wenig Recherche betreiben.

Zu schade, dass mir deshalb jedoch nicht ebenfalls Flügel wachsen werden. Egal was passiert, ich bleibe hier unten.

Ich werde sie also wohl nie wirklich verstehen können. Die Freiheit dieser Tiere.

Mein Blick fällt aus den Wolken herab, zurück auf den Boden; in den Garten vor der Schule, genau genommen. Den begrenzten Raum, der mir zur Verfügung steht. Ich, die nicht fliegen kann.

Am Ende bleibe ich so doch noch an dem Ort hängen, an dem ich sonst immer hängen bleibe, wenn ich hier sitze.

Der große Hof innerhalb der Schulmauern. Direkt vor dem Gebäude.

Die Wolfen Crest Academy steht ganz im Zeichen ihrer Namensgeber, und das sieht man auch.

Atemberaubend schöne Wolfsstatuen zieren den Vorhof. In der Mitte ein Brunnen, dessen Zentrum ebenfalls Wölfe darstellen.

Das Wappentier der Gründerfamilie unserer Schule.

Schon bei der Ankunft auf dem Grundstück grüßen einen zwei mit der Schnauze zum Heulen in den Himmel gereckte Wölfe, wenn man durch das hoheitsvolle Tor in den Hof schreitet. Die beiden steinernen Statuen sitzen direkt auf den Säulen, die die großen Torflügel halten.

Es ist, als würde man sich auf heiligem Grund befinden, wenn man einen Fuß auf das Gelände setzt. Das alte Gemäuer scheint einem dabei die Geheimnisse der vergangenen Jahrhunderte zustecken zu wollen.

Ich habe diese Tiere schon gefühlte hunderte von Malen gezeichnet, seit ich diese Schule das erste Mal von außen bestaunen durfte.

Doch noch nie hatte ich das Gefühl sie so eingefangen zu haben, wie es sein sollte. Es ist zum verrückt werden.

Aber irgendwann …

Irgendwann werde ich es schaffen.

 

Es tönen die Pinsel, die sanft über die Malgründe gleiten. Seufzer von jenen, die nicht weiterwissen. Wispern überall um mich herum und der Geruch von Farbe hängt in der Luft, wie ich ihn am liebsten mag, auch wenn ich dabei lieber allein wäre.

Ich selbst sitze wie gelangweilt an meinem Platz vor der ausgewählten Leinwand. Dabei langweile ich mich aber gar nicht.

Die Kunst ist das Einzige, für das ich aktuell wirklich lebe. Ich würde mich mit ihr nie langweilen.

Sobald sich Mr. O’Farrell jedoch an die Klasse wendet, kann ich nicht anders, als von meinem unfertigen Werk aufzusehen, wie die meisten anderen Anwesenden auch.

Er läuft zwischen den Staffeleien hindurch, um die Arbeiten von uns, seinen Schülern, mit klarem Blick zu erfassen.

»Ms. Hinkle, bitte achten Sie darauf, dass das Helligkeitsverhältnis stimmt. Sie ist eine Tänzerin, nicht wahr? Dann schenken Sie ihr doch ein wenig Rampenlicht!« Er gestikuliert dabei wild mit den Armen. »Bei Ihnen ebenso, Mr. Foley!«

Freie Kunst. Wir malen, was auch immer uns Freude bereitet.  Das grobe Thema lautet: ›Träume‹.

Man hört das Getuschel deutlich. »Eine Tänzerin? Wie alt ist diese Stacey eigentlich? Sechs?«

Einige lachen daraufhin, was jedoch schnell verstummt, als sie dafür einen mahnenden Blick von O’Farrell ernten.

Ich für meinen Teil finde es niederträchtig. Träume sind das, was  jedem von uns selbst gehört. Sie sind unser Schatz. Wir müssen ihn nicht teilen. Und wenn wir es tun, dann sicher nicht um ihn zerstört zu sehen.

Natürlich hat jeder das Recht darauf, zu träumen, von was auch immer er möchte. Die Gedanken sind schließlich frei.

Ohne diesen Gänsen weiter Beachtung zu schenken, male ich weiter. Das hier wird schön. Es wird … etwas. Auch wenn ich noch nicht sicher weiß was.

Ich male konzentriert, bis mich ein weiterer Ausruf meines Lehrers zusammenfahren lässt, beinahe hätte ich auch noch das Bild verhunzt.

»Auch Sie …!«

Ich erschrecke, während ich gespannt seiner Stimme lausche, als diese plötzlich laut neben mir zu hören ist und dann in einer merkwürdigen Pause abbricht.

Unsicher kaue ich auf einem Bonbon herum, das ich seit geraumer Zeit von einer Wange in die andere schiebe. Zum Glück ist mir der Mund nicht wieder aufgeklappt.

Für heute habe ich aber auch echt genug. Mein Herz macht das so nicht mehr lange mit.

»Ja, Mr. O’Farrell?«

Ich frage nur leise, als ich realisiere dass es mein Bild ist, auf das er so fixiert ist.

Auch das noch.

»Nun, ich würde Sie ja fragen, ob Sie nicht ein wenig Licht in die Sache bringen wollen, doch mir scheint, mehr Licht wird es in dieser Szene wohl nicht geben.« Er legt eine Hand an sein Kinn und vermisst mein bisheriges Ergebnis, als würde er es in einem Museum sehen und seinen Wert einschätzen wollen.

Mir rutscht derweil vor Angst das Herz in die Hose, was mich verzweifelt schlucken lässt, wobei ich mich auch noch beinahe an meinem Kirsch-Bonbon verschlucke.

»Was sagen Sie dazu?« Ich hüstele ein wenig beim Sprechen.

Eine kleine Weile vergeht in der er nichts sagt, ehe er monoton das Wort an mich richtet, doch ohne mich dabei direkt anzusehen. Er antwortet dabei mit einer Gegenfrage, welche mich dazu bringt, vor Scham im Erdboden versinken zu wollen.

»Was genau soll das darstellen, Ms. Dowell?«

»Äh …« Die richtigen Gedanken wollen einfach nicht kommen, als ich nach ihnen fische. »Flügel, Mr. O’Farrell.«

Über diesen dürftigen Hinweis muss ich ehrlich selbst die Stirn runzeln.

»Das stimmt auffallend. Doch wo ist ihr Himmel?«

Die Frage trifft mich zugegeben unerwartet.

»Bitte?« Verwirrt sehe ich ihn mit glühenden Wangen an.

Peinlich. Nicht einmal seine eigenen Werke erklären zu können … Es ist leider nicht das erste Mal.

Ein leises Kichern hinter uns ist zu hören. Es würde mich nicht einmal stören, wüsste ich nicht, dass auch er mich nun für eine Idiotin halten muss.

»Der Himmel«, stellt er fest. »Flügel brauchen doch Freiheit und Wind, wo ist also der Himmel, in dem diese großen Flügel sich ausbreiten können?«

»Es- Es gibt keinen … Himmel in diesem Bild, Mr. O’Farrell«, stammle ich meinen Salat zusammen.

Einen Moment herrscht Stille.

»Mhm«, ist danach alles was ich von ihm vernehme. Wieder starrt er das Gemälde an.

Die Dunkelheit, aus der zwei Flügel wachsen.

Diese wunderschönen, schwarzen Flügel … wie die der Krähen; wie heute Morgen.

Flügel, die aus der Finsternis entstehen. Ein Gedanke, der mich nicht mehr loslassen will.

Einen Himmel gibt es auf der Erde nicht. Die Flügel die hier unten wachsen, wachsen nicht in den Himmel. Sie müssen ihn erst mit Mühe erreichen.

»Ist das deine Antwort?« Er scheint nicht überzeugt.

Doch diesmal schlucke ich nicht aus Nervosität, sondern um die Nervosität komplett zu verjagen. Ich bleibe so selbstbewusst, wie ich kann, als ich ihm in die Augen sehe.

»Ja. Diese Flügel haben keinen Himmel. Sie müssen ihn sich erst erkämpfen. Sie gehören zu keinem Vogel.« Eine Antwort die mich selbst überrascht.

Wenn es nicht um einen Vogel geht, um was geht es dann? Ein fixer Gedanke, so schnell verschwunden, wie er gekommen ist.

Daraufhin sieht er mich recht skeptisch und mit hochgezogener Augenbraue an; das Getuschel im Raum wird mir langsam doch zuwider.

»Ein Vogel? Was haben denn plötzlich Vögel damit zu tun?«

»Naja … nichts, offensichtlich.« Gott, was plappere ich hier eigentlich schon wieder für einen Mist?

Einen Rückzieher kann ich jedoch auch nicht mehr machen. Meine Stimme bebt mit leichter Verunsicherung, doch ich versuche sie im Zaum zu halten.

»Den Vögeln gehört der Himmel, schon von klein auf können sie zu den Wolken fliegen. Meine Flügel gehören keinem Vogel. Sie müssen erst wachsen und sich ihren Himmel verdienen. Ihnen gehört nur die Dunkelheit.«

So wie jedem von uns von Geburt an. Alles andere müssen wir uns erst erkämpfen.

Zu meiner grenzenlosen Verwunderung nickt er. Ich denke, ich war selten so erleichtert.

»Ja, genau so will ich das hören! Glaubt an euer Bild und eure Wünsche, egal was es ist oder was man euch erzählt.« Er kommt meinem Ohr näher, um leise Worte hinzuzufügen.

Worte, nur für mich bestimmt.

»In gewisser Weise sind wir doch alle wie diese Flügel. Geboren in der Dunkelheit; alles andere müssen wir uns erst erkämpfen … Nicht wahr?«

Sekunde … Wie bitte?

Mit einem Zwinkern, auf das ich nie und nimmer schnell genug reagieren könnte, tritt er zurück vor die Klasse.

»Erinnert euch an das, was ich euch immer zu sagen pflege«, beginnt er laut. »Eure Träume sind wichtig. Ihr seid Künstler. Und Kunst ist nichts anderes, als Träume wahr werden zu lassen; euer Bild kann nur so gut sein, wie ihr glaubt, dass es ist. Also glaubt auch daran, dann kann gar nichts schief gehen. Merkt euch das: Träume sind immer das, was unerreichbar scheint und genau das soll euer Ziel sein.«

»Also sollen wir uns Dinge wünschen, von denen wir wissen, dass wir sie so und so nie erreichen werden? Ist das nicht deprimierend?«

Die Schülerin, die diese verwirrte Frage in den Raum wirft, heißt glaube ich Mandy.

»Guter Einwand, doch ihr sollt ja auch gar nicht denken, dass ihr es nie erreichen werdet. Im Gegenteil. Ihr sollt euch eure Ziele so hoch stecken, dass ihr sie nur mit viel Arbeit erreichen könnt. Denn das ist es, was einen Traum zu einem Traum macht. Und nur so ein wahrer Traum kann auch wahre Freude bringen, wenn er endlich erfüllt ist«, verkündet er. »Denkt immer daran: Die reine Vorstellung von dem, was ihr vielleicht tun könntet, ist noch immer nicht das Limit von dem, was ihr wirklich tun könnt. Also seid bereit, über die von eurem Verstand und der Gesellschaft gesetzten Grenzen hinaus zu gehen; findet dort den Traum, für dessen Erfüllung ihr alles geben würdet, sogar euer ganzes Leben. Noch seid ihr jung, ihr habt die Zeit, also findet es heraus…«

Und da schlägt auch schon der Gong, der das Ende dieser Stunde mehr als deutlich einläutet.

Sein Vortrag ist damit für so ziemlich jeden Schüler im Raum beendet, was ihn etwas entmutigt.

»Also gut, das war’s für heute. Vergesst hier nichts. Und vergesst bitte niemals das Gesetz von Licht und Schatten, okay? Ohne Licht und Schatten funktioniert einfach nichts. Nicht nur Bilder, sondern alles auf der Welt folgt dieser Regel. Kein Licht ohne Schatten und ohne Schatten auch kein Licht, alles klar?«

Leider hört ihm tatsächlich bereits keiner mehr zu, als er noch weiter spricht. Es ist zu schade, da ich so gut wie alles was er sagt, für wichtig halte.

Selbst wenn es das einmal wirklich nicht sein sollte.

Dennoch beeile ich mich ebenfalls, all meine Sachen zusammen zu raffen, ehe ich meine Staffelei abräume und durch das Zimmer husche, auf dem Weg zur Tür.

»Warten Sie bitte noch einen Augenblick, Ms. Dowell«, werde ich dabei jedoch von meinem Lieblingslehrer unterbrochen, was mich zu einem jähen Halt bewegt.

 

»Wir müssen etwas Wichtiges besprechen.«

 

Chapter 2: As I Watch You Burn

 

Etwas nervös sehe ich ihn an. Dann entscheide ich, dass der Boden unter meinen Füßen doch interessanter ist und senke beschämt den Blick.

Was könnte er wollen? Hab ich irgendwas verbockt?

Als sein ohnehin schon ernster Gesichtsausdruck sich noch verstärkt, bin ich bereits dabei all meine Verfehlungen der letzten Wochen vor meinem geistigen Auge zu sehen. Ach du je …

Bedächtig setzt er die schmale Brille ab, die seine Nase ziert, womit er meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ich komme nicht umhin, seine Mimik zu verfolgen und ihn dabei zu bewundern. Er ist gutaussehend, das ist nicht zu leugnen.

»Ich wollte nur nachfragen, ob Sie denn bereits angefangen haben. Es wäre jedenfalls besser so.«

Ein wenig irritiert von seiner Aussage wandert eine meiner Augenbrauen wie von ganz allein nach oben, gefühlt bis in den Haaransatz. Mir bleibt kaum etwas anderes, während ich einen Moment darauf warte, dass er noch etwas sagt. Eine Pointe beispielsweise oder wenigstens irgendetwas, das mir klar macht, was er gerade meinen könnte.

Doch leider warten bleibt vergebens.

»Was … äh, was genau meinen Sie? Mit was soll ich angefangen haben? Hab ich was nicht mitgekriegt?«

Nun ist er es, der irritiert wirkt. Er sieht mich geradewegs an, als wäre ich irgendwie begriffsstutzig.

»Na, die Bilder«, meint er gleich darauf, als müsse ich doch genau wissen, worauf er damit hinaus will.

Klar gesagt: dem ist nicht so. Aber wie mache ich ihm das am besten deutlich, ohne dumm dazustehen? Offensichtlich sollte ich ja wissen, worum es geht.

Die Nervosität steht mir sichtlich ins Gesicht geschrieben. Eine Hausarbeit vielleicht? Doch dann liefert er mir schließlich die Erlösung.

»Für die Ausstellung auf der großen Halloweenparty«, stellt er monoton fest.

Statt erleichtert aufzuatmen, verschlucke ich mich auf diese Anmerkung jedoch am Rest meines Bonbons, was mich für einige Sekunden in einen so extremen Anfall von Husten verwickelt, dass mir die Tränen kommen.

Es dauert einen Augenblick, dann erkenne ich, wie mich Mr. O’Farrell ein wenig besorgt mustert.

»Geht es Ihnen gut?«

Ich schlucke und wische hastig über mein Gesicht; versuche mich wieder zu fangen.

»Ja, alles in Ordnung. Ich lebe noch«, krächze ich, ehe ich mich räuspere und zum Thema zurückkehre.

Es gibt Wichtigeres zu bereden, als meine Überlebenskünste.

»Mr. O’Farrell, was haben Sie damit eben gemeint?«

»Na, die Ausstellung«, wirft er ein, wirkt jedoch weiterhin in Sorge, »Geht es Ihnen tatsächlich gut?«

Letzteres stellt er dabei ganz sachlich infrage und beobachtet mich dabei kritisch.

Bei jedem anderen würde mich das sicher ankotzen. Hier schüttle ich jedoch nur den Kopf.

»Aber ich dachte, das wäre bloß ein Scherz gewesen!« Es kann nur ein Scherz gewesen sein.

Ich starre ihn mit unverhohlenem Schock an.

Er nickt erst, schüttelt dann aber den Kopf, als könne er sich nicht entscheiden.

»Oh nein, das war keineswegs ein Scherz«, versichert er, weiter recht tonlos – sodass es beinahe witzig erscheint – und erwidert meinen Blick dabei stoisch, wie gewohnt. »Ich würde Ihre Bilder sehr gerne auf dem Hauptgang im ersten Quadranten aushängen sehen. Direkt bei der großen Tür.«

Junge … Zerknirscht muss ich mir eine Antwort überlegen, die nicht allzu dumm klingt.

»Aber«, beginne ich, zupfe dabei abwesend am Stoff meiner Jeans, »ich bin nur eine von Vielen. Meine Bilder sind für sowas nicht bestimmt, glauben Sie mir.«

Mein Gegenüber seufzt zur Antwort und legt mir eine Hand auf die Schulter. Ich widerstehe dabei dem Drang, bei der Berührung zusammenzuzucken oder aus Nervosität zurückzuweichen.

»Ms. Dowell, Sie sind nicht hier in meinem Kurs, weil ich denke, dass Sie gut sind«, beginnt er und seine Worte versetzen mir einen leisen, aber schmerzhaften Stich, noch bevor sie ganz ausgesprochen sind.

Eine kleine Pause entsteht, ehe er weiterspricht.

»Ich habe für Ihr Stipendium meine Stimme gegeben und Sie mit offenen Armen willkommen geheißen, weil Sie selbst daran glaubten, dass Sie gut genug dafür sind. Und weil Sie der Kunst den Respekt entgegen bringen, der ihr gebührt. Wo ist diese Person gerade? Sie ist doch hier, oder nicht? Ihr Talent steckt nicht nur in Pinsel und Farbe, es steckt viel tiefer. Sie müssen es der Welt nur zeigen! Und wo beginnen, wenn nicht direkt hier, auf der großen Halloween-Ausstellung? Von der ich übrigens, unter uns gesagt, keinen wüsste, der passenderes Material bereitstellen könnte, wenn ich mir Ihren Stil ansehe.«

Ich mache große Augen und lasse erneut einige Sekunden ins Land ziehen. Es scheint eine Ewigkeit zu vergehen, bevor ich wieder in der Lage bin, zu antworten. Mein Mund und Rachen sind wie ausgetrocknet, darum räuspere ich mich vorsichtig.

Die Hand, die noch immer auf meiner Schulter ruht, strahlt dabei eine Wärme ab, der ich mir von Sekunde zu Sekunde bewusster werde.

So ein großes Lob war das doch gar nicht, also komm mal klar, Annie.

»Okay«, versetze ich schnell, während ich Angst habe, dass meine Stimme brechen könnte. Ich trete einen Schritt zurück, wobei seine Hand automatisch von meiner Schulter rutscht.

Schnell zieht er sie weg.

Kommt es mir bloß so vor oder ist er für einen Wimpernschlag wirklich ein wenig verlegen gewesen? Sicher bloß Einbildung.

»Ich werde darüber nachdenken. Zwar weiß ich nicht, ob meine Bilder wirklich dem Anlass gerecht werden können, aber ich denke darüber nach und gebe Ihnen dann Bescheid. Ist das in Ordnung?«

Der Schwarzhaarige nickt großmütig und räuspert sich dann seinerseits.

»Das klingt fair. Ich gebe Ihnen noch Zeit bis in einer Woche, wenn Sie sich denn dafür entscheiden. Die Entscheidung sollte allerdings schnell fallen, immerhin ist heute bereits der Vierundzwanzigste und sollten Sie doch absagen, müssen wir Ersatz auftreiben.« Lächelnd sieht er auf seine Uhr, als könne sie ihm beim Datum behilflich sein, dabei ist es eine einfache Quarz-Uhr. »Und Sie sollten in drei Tagen besser bereits angefangen haben, immerhin brauche ich mindestens zehn Bilder, wenn nicht mehr, um ein bisschen Auswahl zu haben.«

Ich beiße mir auf die Unterlippe, während ich hin und her überlege, ob ich das Folgende sagen soll, doch es ist schon raus, ehe ich es verhindern kann.

»Glauben Sie wirklich, dass ich dafür ausreiche?«

Er seufzt und sieht sich dann um, zu den Bildern an der Wand hinter sich. Besonders dieses eine, das einen Gang aus einem der schönsten Museen der Welt zeigt: der Eremitage.

»Weißt du, auch Pablo war einst nur ›einer von Vielen‹«, merkt er wie nebensächlich an, sieht dann jedoch mit einem vielsagenden Blick in meine Richtung.

Es dauert eine Sekunde, ehe ich kapiere wen er damit meint.

»War er nicht seiner Zeit voraus?«

»Ja, doch er war dennoch nur ein Mensch mit Talent, wie viele andere auch. So lange, bis jemand erkannt hat, dass etwas an ihm herausragend war und er letztlich zu Picasso wurde.«

Er macht eine kurze Pause, als würde er überlegen was er als nächstes sagen soll.

»Annie … fast jeder Mensch hat irgendetwas Besonderes. Man muss es nur erkennen und fördern, damit es nicht verwittert und verloren geht. In der Vergangenheit wurden diese Besonderheiten meist erst dann für andere sichtbar, als der Künstler längt gestorben war. Doch das muss nicht sein.«

Schweigend bleibe ich vor ihm stehen und denke über die Aussage nach, die seinen Worten folgt.

Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Aber ich denke …

»Müssen die Bilder denn sehr neu sein?«

Für einen Augenblick überlegt er und lächelt mit einem leichten Glanz von Selbstzufriedenheit und, wenn ich mich nicht irre, sogar ein bisschen Stolz. Er lehnt sich dabei an den Rand seines Pults und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Es sollte noch nicht jeder kennen, mehr erwarte ich gar nicht.«

Schnell schenke ich ihm ein Lächeln und umgreife den Gurt meiner geschulterten Tasche etwas enger.

»Okay … vielen Dank.«

»Schlafen Sie drüber, dann sehen wir uns morgen wieder«, gesteht er mir zu, wendet sich jedoch bereits ab. »Haben Sie noch einen schönen Tag und überlegen Sie gut, was Sie tun wollen. Es würde sogar eine Note für alle Ausgestellten herausspringen. Die vor ein paar Tagen angesprochene Projektnote, die für jeden im Laufe des Halbjahres fällig wird.«

Ich nicke und drehe mich um. »Ich werde darüber nachdenken, vielen Dank. Ihnen auch noch einen schönen Tag .«

Nur einen Atemzug lang verharre ich in der Bewegung, ehe ich mich doch noch einmal zu ihm herumdrehe. »Und nochmal vielen Dank für … Für diese Chance.«

Erst in diesem Moment realisiere ich endlich, dass er mich vorhin bei meinem Vornamen genannt hat. Und diese Erkenntnis treibt mir eine spürbare Röte ins Gesicht.

Ungewollt wie ein Frosch lächelnd, verlasse ich daraufhin fluchtartig den Kunstraum, da mir dieses Verhalten bereits nach drei Atemzügen lebensbedrohlich peinlich ist. Verhalten, das ich von mir eigentlich gar nicht kenne, doch mein Herz schlägt schneller als es sollte. Vielleicht ist es das Adrenalin, doch meine Schritte werden automatisch noch schneller, ohne dass ich es zunächst bemerke.

Erst draußen, bei den Fahrradständern, komme ich wieder zum Stehen.

Und muss dort erst einmal eine Runde nach Luft japsen. Verdammt …

Schande über mein Haupt.

 

Meine Nervosität und die Aufregung von vorhin, für die ich mich jetzt schon wieder ohrfeigen könnte, haben mittlerweile nachgelassen. Die Fahrt ist ruhig und angenehm, auf der gähnend leeren Straße zwischen den Maisfeldern.

Doch meine Gedanken sind verwirrt, von allem was heute war und ich will nichts, als einfach nur zu Hause ankommen. Meinen Frieden finden und dann so schnell ich kann ins Bett gehen.

Okay, Letzteres vielleicht nicht zu früh, immerhin muss ich noch über das Angebot von Mr. O’Farrell nachdenken. Besonders weil ich ihn ja nicht enttäuschen will.

Von all dem Stress heute kribbeln sogar meine Handflächen wie verrückt. Zumindest glaube ich, dass das der Grund ist.

Unwillkürlich umfasse ich die Griffe meines Rades enger, um das Gefühl zu betäuben und seufze. Ich höre das Rauschen des Windes, der sanft an mir vorbeizieht. Ziemlich ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass ich in solch einem Moment normalerweise Musik hören würde. Doch nicht heute.

Ich konnte es einfach nicht. Plötzlich war da diese Angst … als würde etwas Schlimmes geschehen, wenn ich auch nur ein wenig unaufmerksam bin.

Durch die Erfahrung heute Morgen muss ich unterschwellig ein bisschen traumatisiert sein. Dieser Gedanke über das berühmte ›was wäre wenn‹ lässt mich einfach nicht mehr los, besonders jetzt, da ich wieder in derselben Lage bin wie zuvor.

Außerdem habe ich Hunger und wünschte, ich hätte wenigstens noch einen Lutscher in der Tasche.

Im einen Augenblick atme ich noch tief ein, im Nächsten bleibt mir alle Luft weg, als ein lautes, markerschütterndes Hupen mein Trommelfell attackiert.

Mit einem heftigen Donner rast mein Puls erneut; ein Déjà-vu. Daraufhin erfasst mich unwillkürlich eine Angst, die mir den Hals zuschnürt. Sie erschüttert mich in den Grundfesten und zwingt mich, anzuhalten.

Es geht dabei alles so schnell, dass ich kaum realisiere was ich tue, geschweige denn, was gerade überhaupt geschieht.

Alles was ich weiß, ist, dass ich stillschweigend dastehe, so wie heute Morgen, während mein Blick automatisch nach vorn fällt, um das Grauen zu bezeugen.

Die Kreuzung liegt erneut vor mir, nur diesmal von der anderen Seite aus.

Mit lähmender Panik in den Gliedern beobachte ich, wie ein großer, schwerer Lastwagen zum Bremsen gezwungen wird, es jedoch nicht rechtzeitig schafft. Eine kleine schwarze Limousine wird damit über mindestens fünf Meter auf der Straße vor dem großen Ungetüm her geschoben, nachdem dieser in dessen Seite hineingeprescht ist.

Stahl ächzt; Glas zerbricht. Die metallene Karosserie schlittert kreischend über den Asphalt, als wäre sie nicht mehr als ein Spielzeug.

Wie ein Pulsschlag in der Atmosphäre fegt die leichte Druckwelle des Aufpralls über mich hinweg und nimmt mir mit einem Mal erneut den Atem. Das Nächste was ich hören kann, ist das schrille Pfeifen einer angesprungenen Alarmanlage. Ein bisschen zu spät, wie ich feststelle. Es ist so surreal, dass ich fast das Gefühl habe, lachen zu wollen.

Die Sirene bringt nun auch nicht mehr viel, schätze ich.

Doch meine Ohren klingeln so sehr, dass ich sie mit zittrigen Händen zu verschließen versuche, nur ganz kurz, gerade lange genug, um das Rauschen meines eigenen Blutes zu hören.

Ist das gerade wirklich geschehen?

Binnen eines Wimpernschlags züngeln erste, kleine Flammen im Heck des zerdrückten PKW und ich zucke erneut zusammen. Ein Anblick wie aus einem Alptraum, den ich nie erleben wollte.

Ich schlucke trocken, während ich äußerlich zu schwitzen beginne.

Der Fahrer ist nicht zu sehen. Die Beifahrerseite wurde völlig zerquetscht. Es lässt das Auto in einer unförmigen, schon fast bananenartigen Gestalt an der Schnauze des Trucks zurück und nur der dicke Rauch vermag dieses groteske Bild ein wenig zu verschleiern.

Im Lastwagen scheint der Mann ebenfalls bewusstlos. Leider sehe ich ihn kaum und hören kann ich auch nichts, abgesehen von dem Zischen der heißen Materialien und anderen, nervenaufreibenden Nebengeräuschen.

Wie ferngesteuert schwinge ich mich von meinem Zweirad, auf dem ich lächerlicherweise noch immer sitze, werfe es in das Feld neben mir und renne so schnell ich kann. Das Mobiltelefon reiße ich indes von meinen Kopfhörern los und wähle dort die Nummer des Notrufs.

Polizei? Krankenwagen? Feuerwehr? Ich weiß es nicht. Die Nummern wollen mir nicht einfallen.

Keine Ahnung was ich mache oder was ich tun soll. Alles ist irgendwie schwarz. Alles ist plötzlich so leer.

Ich weiß nur, dass ich dort hin muss. Dass ich wenigstens versuchen muss … was zu tun? Selbst das weiß ich nicht. Helfen vielleicht. Was könnte ich schon zu geben haben?

Darüber denke ich nicht einmal eine Sekunde nach.

Das Auto qualmt noch immer stark, als ich es endlich erreiche und das Telefon in meiner Hand gibt ein Freizeichen; tutet quälend lange vor sich hin, ehe sich endlich eine Frauenstimme zu Wort meldet.

»Notdienst. Was ist Ihr Problem?«

»Ich brauche Hilfe«, rufe ich ihr entgegen, als wäre das nicht bereits von vornherein klar gewesen. »Hier sind ein Lastwagen und ein Auto zusammenkracht. Aus dem Auto tropft irgendwas und ein kleines Feuer ist ausgebrochen. Ich weiß nicht was mit den Fahrern ist. Ich weiß nicht was ich tun soll …!« Den Tränen bitter nah, warte ich eine Meldung ab.

»Okay, beruhigen Sie sich erst einmal. Wo genau sind Sie gerade?«

»Ich bin in Huntsville, an … an einer Kreuzung.« Scheiße, ich hab nie darüber nachdenken müssen, ob es hier eine bestimmte Adresse gibt. Ich bin einfach hier lang gefahren und hab mir über solche Trivialitäten keine Gedanken gemacht.

»An- An der Hauptstraße aus dem Zentrum führt eine asphaltierte Landstraße, über die man zur Akademie kommt. Da ist normalerweise nie viel los. Es gibt bloß eine Kreuzung …« Nervös stammle ich vor mich hin, in der Hoffnung, dass ich ihr irgendetwas Nützliches vermitteln kann.

»Ganz ruhig, Miss. Keine Sorge, ich weiß wo das ist und ich schicke sofort Hilfe. Wichtig ist, dass Sie jetzt Ruhe bewahren, abwarten und sich nicht in Gefahr begeben«, bestätigt sie, vielleicht versucht sie mich aber auch nur zu beruhigen.

Ich will gerade etwas erwidern, da höre ich ein lautes Geräusch. Ich kann nicht zuordnen ob es ein Knacken war oder eher ein Schlag, doch er lässt instinktiv das Blut in meinen Adern gefrieren.

Nach einem Moment, der sich wie ein Jahrtausend anfühlt, höre ich sie erneut sprechen.

»Sie werden bald Hilfe bekommen. Bleiben Sie so lange da wo Sie sind. Wie ist Ihr Name?«

»A- Annie«, antworte ich mit einknickender Stimme. »Annie Dowell.«

»Okay, Annie…«

Sie sagt noch irgendetwas, doch meine Aufmerksamkeit wird abgelenkt, was mich dazu bringt, das Handy in die Tasche zu schieben und näher an den Wagen heranzutreten. Vielleicht ist das kein guter Zug gewesen, doch es ist schon beendet, als mir klar wird, dass ich damit aufgelegt habe.

Was soll ich jetzt nur tun? Noch einmal anrufen? Nein, das wird ohnehin nicht viel bringen.

Gestresst und mit Tränen im Gesicht fahre ich mit beiden Händen durch mein Haar; würde sie mir dabei am liebsten ausreißen.

»Gott, was mach ich hier nur …«

Gerade würde ich sehr gerne beten, wenn ich denn wüsste wie es richtig geht. Dabei glaube ich nicht einmal an Gott.

Aber ich meine, soll ich wirklich einfach abwarten?

Wer weiß wie lange das dauern wird. Die Notfallstationen liegen allesamt am anderen Ende der Stadt, von hier aus gesehen. Huntsville ist zwar eine Kleinstadt, aber doch nicht so klein.

Genau in dieser Sekunde trete ich, entgegen dem Ratschlag der freundlichen Dame, näher an den kleineren Wagen heran und sehe, wie sich etwas darin bewegt.

Unbedacht greife ich nach vorn, nach der Tür, doch schrecke im letzten Augenblick zurück. Überrascht von etwas, das mit leisem Aufschlag auf dem schwarzen, verbeulten Dach vor mir auftrifft.

Ich kann nicht anders, als sie erschüttert anzuglotzen. Die Krähe. Sie ist es.

Nein, das stimmt nicht. Das ist nicht real.

Wie könnte sie auch einfach so dort sitzen? Bei all dem was hier los ist?

Dann fällt mein Blick wieder nach unten, wo mir klar wird, was ich fast getan hätte.

Fader Qualm steigt von dem schwarzen Blech in den Himmel auf. Die Wolke mag nicht mehr so dicht wie vor wenigen Minuten sein, doch sie ist noch lange nicht verschwunden.

Eine extreme Hitze strahlt in meine Richtung aus.

Mein Kopf schwirrt bei dem Gedanken, dass sie mich gerade vielleicht gerettet hat. Ich hätte es sicher einfach so angefasst.

Nichtsdestotrotz ist das hier ganz klar eine Fata Morgana.

Unmöglich, dass dieser Vogel einfach so dort sitzen kann. Sie kann nicht echt sein.

Mir wird schlecht.

Auch diesmal ist es, als würde sie mich anstarren. Mich kennen. Als wäre es dieselbe wie zuvor, dabei ist das doch eigentlich dumm oder nicht? Ich meine, wie sollte das erkennbar sein. Sie ist … eine Krähe. Eine von Vielen und alle sehen gleich aus, nicht wahr? Ich halluziniere.

Leider fühle ich mich eher, als müsse ich mich selbst davon überzeugen, was kein so gutes Zeichen ist.

Und dieser Blick, der mich zu durchdringen scheint und von innen beruhigt … fast wie eine Hypnose. Wie ein klärender Bach. Als wüsste sie, dass alles gut wird. Viel mehr als ich.

Nein, besser als ich.

Und dabei vollkommen gelassen.

»Du«, beginne ich, doch meine Stimme bricht ab.

Stattdessen öffne ich wie ferngesteuert die Schnallen meiner Latzhose und greife in meine Schultasche, um dort eine Wasserflasche zu bergen, die ich fast komplett über den Jeansstoff leere.

Durch den getränkten Stoff erst, fasse ich jetzt endlich an den Griff, um daran zu rütteln. Die sengende Hitze zieht sofort durch alle Fasern; heißer Dampf steigt mir ins Gesicht. Die Haltung die ich dazu einnehme, schmerzt auf Dauer im Rücken.

Ich beiße die Zähne zusammen, um weitermachen zu können, während sich in meinen Augenwinkeln Flüssigkeit sammelt.

Meine Hände brennen wie blankes Feuer. Es fühlt sich an, als würde Haut am Stoff kleben bleiben, als ich daran verrutsche und allein der Gedanke treibt mir die Übelkeit in die Kehle.

Nach einer Weile sehe ich nach oben und bemerke, wie mich die Krähe noch immer mustert, so als würde sie meine Bemühungen bloß belächeln; mich beurteilen.

»Komm schon«, richte ich das jammernde Wort an die Tür und schüttle dabei langsam und widerwillig den Kopf. »Das kann doch nicht dein Ernst sein.«

Das Material beginnt zwar langsam unter dem Aufwand zu Knirschen, doch es dauert viel zu lange. Kostet viel zu viel Kraft.

Auf einmal gibt es eine weitere Druckwelle. Es scheint meinen Herzschlag aus dem Rhythmus zu stoßen, so sehr geht es mir unter die Haut. Ich kann nicht anders, als einen Moment inne zu halten.

Bis ich mir plötzlich einbilde, die Flammen seien gar nicht mehr so heiß.

Als wären sie auf einmal … geringer.

Die Tür scheint mich kaum noch zu verletzen, obwohl die Hitze sich bereits durch den Schutz gefressen hat. Ich zerre weiter und weiter an dem verbeulten Wrack.

Bis sie mit einem Mal nachgibt und ich, zusammen mit der Tür, taumelnd zurückfalle; ungläubig und verklärt, wie ganz weit entfernt.

Zwar kann ich nicht klar denken, doch schließe fahrig eine der Schnallen, um meine Hose nicht gänzlich zu verlieren. Unterdessen kämpfe ich mich verzweifelt zurück auf die Füße und stolpere hinüber zu dieser brennenden Karre.

Es ist so heiß, doch ich schwitze kaum noch. Bilde ich mir das wirklich bloß ein? Bin ich kurz davor, zusammenzubrechen?

Ich sehe klarer als ich denke und das trotz des beißenden, heißen Rauches um mich herum. Sogar besser als ich glaube zu sehen und dabei verstehe ich selbst nicht genau, was ich damit meine.

Ich weiß jedoch noch, dass dieser Mann dort Hilfe braucht. Und das nicht erst in zehn Minuten. Oder Fünf … wie lange wird die Ambulanz wohl noch brauchen?

Sein Gurt ist noch immer da. Ich sehe keinen Sinn darin, Zeit zu verschwenden, stattdessen greife ich nach einer Schere aus der Tasche, die verwaist auf dem Boden liegen geblieben ist, und schneide das graue, breite Sicherheitsband einfach durch. Gegen den Rauch hustend, versuche ich dabei noch zu atmen.

Er sollte eigentlich viel schlimmer sein, jetzt, da der Wagen endlich offen ist. Doch er ist erträglicher als erwartet.

Unsicher, ob ich den Mann herausziehen sollte, einfach so, mit meinem gerade mal vorhandenen Halbwissen in erster Hilfe, tätschle ich ihm etwas panisch die Wange. Meine Hände spüre ich kaum noch; zu dem Dreck auf seinem Gesicht, gesellt sich mein frisches Blut. »Wachen Sie auf, bitte!«

Mit kratzender Kehle flehe ich und schlucke desorientiert, während ich mich immer wieder nach dem Rettungswagen umdrehe.

»Bitte … nicht aufgeben!«

Soweit es mir möglich ist, packe ich den mittelalten Mann unter den Achseln seines Jacketts und ziehe so fest ich kann. Die Wunden an den Handflächen schmerzen unter dem Kraftaufwand; so sehr, dass es mir noch mehr Tränen in die Augen treibt.

Ich würde am liebsten weinend auf dem Boden liegen.

Einfach zusammensacken und heulen, wie ein kleines Kind, damit meine Mutter kommt und mich in den Arm nimmt; mir sagt, dass alles in Ordnung ist.

Doch sie wird nicht kommen und die Erkenntnis schmerzt beinahe schlimmer als meine Hände. Mit diesem Gedanken nehme ich meine letzte Energie zusammen, als ich eine Überraschung erlebe.

Der Mann rührt sich beinahe unmerklich durch meine Anstrengungen, doch ich merke es gerade so. Millimeter um Millimeter, schaffe ich es endlich ihn über eine Schwelle zu ziehen.

Und dann geht es plötzlich ganz schnell. Er rutscht mir quasi entgegen, als sein Hintern endlich vom Sitz gehoben ist und die Beine etwas Freiheit haben.

Leider bringt es nichts. Ich weiß nicht, was dort tropft, doch wenn man sich die Beifahrerseite und den Motor des Wagens ansieht, könnte es so ziemlich alles sein. Mich wundert, dass er noch nicht explodiert ist.

Um ein Haar breche ich in panisches Gelächter aus, als ich diesen Gedanken noch einmal in meinem Kopf wiederhole.

Ich könnte hier in die Luft fliegen. Dann ist es aus mit mir.

Egal wie schnell ich ihn auch schleppe, ich werde ihn nie weit genug weg bekommen, wenn es so weit kommt. Es ist hoffnungslos.

Schluchzend rutscht mir der leblose Körper letztendlich aus meinen völlig verbrannten Händen. Großer Gott, wieso …?

Erst das jaulende Geräusch von unüberhörbaren Sirenen, welche über die noch immer im Hintergrund schrillende Alarmanlage hinweg tönen, lässt mich mit großen Augen herumfahren. Auf die Beine strampelnd, hebe ich die Hände.

»Hier sind wir!« Meine Schreie verhallen im Lärm.

Als wäre dieser Trümmerhaufen nicht ohnehin unübersehbar.

Ich schreie dennoch. »Wir brauchen Hilfe!«

Auch das ist vermutlich nichts Neues.

Doch in dieser Situation fühlt es sich an, als wäre das alles was ich noch tun kann.

Es dauert noch einen Moment, ehe eine ganze Schaar an Männern in Uniformen die Kreuzung stürmt. Von einem werde ich unsanft zur Seite gestoßen, ein anderer beugt sich nach unten, zu dem Mann im Anzug, den ich noch vor wenigen Augenblicken aus dem brennenden Wrack gezerrt habe.

Oh mein Gott, ich habe es geschafft.

Die Erkenntnis lässt mich erzittern und einige Schritte zurückweichen. Ein eiskalter Schauer jagt über meinen Rücken und die Fingerspitzen kribbeln selbst unter den stechenden Brandwunden.

Wie aus Reflex, als wäre es irgendein neu entdeckter Instinkt, schnappe ich meine Tasche. Dabei ignoriere ich sogar den dadurch entstehenden, gleißenden Schmerz, als der Stoff in die Wunden eindringt.

Die Krähe ist längst verschwunden. Wahrscheinlich weil sie nie existiert hat.

Zumindest sagt mir das mein nun klarer sehender Verstand. Alles andere versuche ich auszublenden, während ich mich vom Ort des Geschehens entfernen will.

Meine Bewegungen sind seltsam langsam, wie im Zeitraffer. Die Beine schlottern unter meinem Gewicht; alle Muskeln und Sehnen scheinen wie Drähte; zum Zerreißen gespannt und quietschend.

Jeder stockende Schritt ist ein Kraftakt.

Das Herz in meiner Brust hört endlich auf zu pumpen, dafür weicht das rasante Schlagen mit einem Mal einer betäubten Stille. Als wäre ich plötzlich ausgegangen.

Abgeschaltet.

Defekt wie ein Roboter dem der Sprit ausgegangen ist und ich fühle mich auch so; nutzlos.

Gelähmt in meinen Reaktionen, sehe ich noch einmal zurück. Sehe zu, wie die gerufenen Männer auch den Fahrer aus dem Lastwagen befreien, der seinerseits ebenfalls nicht bei Bewusstsein ist, während ich einen Träger meiner Tasche mit blutigen und wundnässenden Fingern umklammere, als würde mein Leben davon abhängen.

Es braucht eine Weile, bis beide auf dem Weg zum Krankenhaus sind, das kleinere Auto gelöscht ist und die ersten Helfer bereits aufatmen.

Ich sehe das alles jedoch bloß aus der Entfernung. Am Rande nehme ich wahr, wie ein Mensch sich mir nähert. Ein Polizist.

Er redet bestimmt zehn Minuten lang auf mich ein, doch ich bin nicht in der Lage ihm zu Antworten.

Stattdessen beobachte ich weiter stumm das Treiben. Vermutlich hält er mich nun für so etwas wie traumatisiert oder schlichtweg nicht ganz dicht.

Schließlich packt er mich an meinem Oberarm und zieht mich einfach mit sich, außer Reichweite des regen Geschehens. Nicht einmal der Gestank nach verschmortem Gummi, der sich langsam in meinen Geruchssinn einprägt, folgt uns bis hier her. Das liegt jedoch eher an dem leichten Wind, den ich erst jetzt spüren kann.

Selbst der vorher so penetrante Qualm verflüchtigt sich bereits.

Doch man sagt, nur weil ein Feuer erloschen ist, verschwindet der Rauch nicht sofort. In diesem Fall ist dies so wahr wie nie zuvor. Das Grauen lauert noch immer an diesem Ort.

Bis ein Abschleppdienst gerufen werden kann, muss noch geprüft werden, dass auch wirklich alles gesichert ist. Sonst fliegt denen das hier wirklich noch völlig um die Ohren.

Auch sie sagen, es sei ein Wunder, das noch nichts explodiert ist. Es war Benzin; Diesel, genau genommen. Diesel und Kühlerwasser, die aus der Karosserie geflossen sind, nachdem das halbe Fahrzeug zu moderner Kunst verarbeitet wurde. Autos, die ich jetzt erst sehe, stehen zu allen vier Seiten der Kreuzung bereit. Keine Ersthelfer oder Notfalldienste. Nur ganz normale Zivilisten.

Vereinzelt sind die Menschen bereits ausgestiegen und glotzen hier her. Schaulustige.

In dieser Sekunde wird mir bewusst, wie sich ein Tier im Zoo fühlen muss.

Ich wünschte, ich könnte einfach so ins Nichts verschwinden; würde am liebsten mein Gesicht verstecken, als hätte ich etwas zu verbergen. Stattdessen stelle ich mich nur kerzengerade auf und marschiere weiter, das ist meine einzige Option.

Zumal sie noch nicht einmal hier sind, um mich zu beobachten, sondern eher den Trubel um mich herum. Weil sie wahrscheinlich bloß vorbei wollten, es jedoch nicht konnten. Es war so ein normaler Tag gewesen und jetzt das. Etwas, auf das keiner hätte vorbereitet sein können.

Keiner? War wirklich keiner darauf vorbereitet?

Nein. Ich schüttle so hastig den Kopf, um den Gedanken zu verdrängen, als wäre es möglich ihn physisch abzuschütteln. Ein Fehler, denn nun melden sich meine schmerzenden Ohren und ein stechender Schmerz in meinen Schläfen zu Wort, was mich zusammenfahren und gequält durch die geschlossenen Zähne zischen lässt.

Zur selben Zeit höre ich einen Mann von der Seite sprechen.

Er klingt besorgt. »Junge Dame?«

Es dauert eine kleine Weile, bis ich realisiere, dass ich gemeint bin und wie ich gerade wirken muss.

»Ja …?« Meine Stimme klingt belegt und gebrochen.

Der Mann mustert mich sorgfältig von oben bis unten, während ich ihm meinerseits mit einem leeren Blick begegne.

»Sind Sie die Passantin, die den Unfall beobachtet hat? Die, die den Notdienst gerufen hat?«

»Ja«, bestätige ich tonlos.

Zuerst wartet er, doch als er sich offenbar sicher ist, dass ich nichts weiter sagen werde, nickt er verstehend. »Okay, vielen Dank.«

Kurz sieht er über seine eigene Schulter hinweg, zu den anderen Menschen auf dem Platz, dann wieder zurück zu mir. Er legt eine Hand vorsichtig an meinen Oberarm.

»Wären Sie dazu bereit, mir einige Fragen zu beantworten, während einer der Notfallärzte Sie untersucht?«

Für einen verwirrten Augenblick, muss ich überlegen, was er damit wohl meinen könnte.

Ein Arzt? Einer der Krankenwagen? Weshalb ich?

»Was meinen Sie?« Die Worte klingen leicht gefaselt.

Mein Mund ist staubtrocken. Wenn ich doch nur wüsste, wo meine Flasche hin ist …

Für den Notfall hab ich noch ein bisschen was von dem Wasser aufgespart, doch jetzt weiß ich nicht mehr, was ich mit ihr gemacht habe, nachdem ich meine Hose damit benetzt hatte.

Ich schlucke erneut, während er mich weiter mit seinen Blicken taxiert.

»Sind Sie in Ordnung? Ihre Hände sehen nicht gut aus. Haben Sie das Wrack angefasst?« Er sagt diese Worte betont langsam.

Das heißt, er spricht deutlich. Zu deutlich. Als würde er mit einer Minderbemittelten reden, doch vermutlich denkt er auch, dass er genau das gerade tut.

So räuspere ich mich und versuche meinen vernebelten Verstand wieder ein wenig gerade zu rücken. Wenigstens für den Moment.

»Ja, aber … aber nur durch den Stoff. Ich musste ihn öffnen … es. Das Wrack … meine ich«, stammle ich doch mehr als gewollt.

Er nickt langsam, leider noch immer so, als wäre ich nicht bei Sinnen. Tja, das bin ich wohl auch nicht.

Aber zu meiner Verteidigung: Ich hatte in meinem Leben noch nie wirklich gute Ideen, weshalb hätte ich ausgerechnet heute damit anfangen sollen? Würde gar nicht zu mir passen.

Immerhin ist mir mein Sarkasmus geblieben.

»Also gut«, wirft er ein und lenkt damit meine Aufmerksamkeit wieder auf sich, »Sie haben das wirklich toll gemacht, Sie waren mutig, okay?«

Er versichert mir dies mit Nachdruck und unterstreicht die Aussage noch mit seiner Gestik, als hätte ich das nun unbedingt hören müssen.

Dabei glaubt er doch selbst nicht daran, dass ich wirklich richtig gehandelt habe; ich sehe ihm an, dass er mich eigentlich am liebsten dafür rund machen würde. Himmel, ich weiß ja selbst nicht, wieso ich das getan habe, aber sicher nicht aus reiner Nächstenliebe.

»Bitte lassen Sie sich jetzt in einem der Krankenwagen untersuchen.«

Mein Einverständnis zeigt sich lediglich durch ein Nicken.

Alles was ich will, ist von hier zu verschwinden, doch weit komme ich nicht, ehe mich bereits ein anderer Mann mit Uniform in Empfang nimmt.

»Hier entlang, bitte.«

Aha, einer der Notfallärzte. Meine Gedanken kreisen; um alles und doch nichts.

Eigentlich war das vorher gelogen. Ich weiß sehr wohl, weshalb ich es getan habe.

Klar, der Mann tat mir leid. Und sicher, ich wollte ihm wirklich helfen … ich meine, ich war schockiert über das was ich gesehen habe; bin es auch jetzt noch irgendwie.

Der wahre Grund für mich, so weit zu gehen war jedoch, dass die Flammen mir Angst gemacht haben. Mehr als alles, was ich bisher je gefühlt habe. Mehr noch, als dieser Unfall.

Weil ich eine Schuld verspüre, die tief in mir verborgen liegen.

Vorhin fiel es mir überhaupt nicht auf. Obwohl es die ganze Zeit da war. Dieses Streben nach … Vergebung?

Vergebung von wem? Und für was?

Ich könnte mir aus Frust die Haare raufen, doch meine Hände sind mittlerweile fast steif; mit Sicherheit entzündet und außerdem geschwollen.

Es ging mir die ganze Zeit nur um den Mann im Feuer. Doch weshalb? Ich kenne ihn nicht. Wieso ging es mir ausschließlich um diesen Mann im Feuer?

Ich weiß nicht wieso oder woher diese Schuldgefühle kommen; kann mich nicht erinnern.

Es wirkte nur so vertraut. Vertraut und schrecklich. Als hätte ich das Ganze schon einmal erlebt … und nicht gehandelt. Als hätte ich bereits eine ewigwährende Last auf mich geladen.

Als hätte ich … bei etwas versagt. Ohne zweite Chance. Ein seltsam endgültiges Gefühl.

So schwer, als würde es mich innerlich zerquetschen.

Und dieser Schmerz, ob real oder nicht, war und ist für mich nicht zu ertragen.

Nicht nochmal.

Genau dieses Gefühl ist der Grund, aus dem ich weiß, dass das hier kein Mut oder das reine Pflichtbewusstsein eines guten Bürgers war.

Keine innere Möchtegern-Heldin und auch keine einfache Schnapsidee im Eifer des Gefechts.

 

Es war purer Egoismus.

Chapter 3: With What Binds Us to the Past

 

Der Wind pfeift immer unsanfter über uns hinweg. Ein Unwetter wird kommen. Vielleicht nicht heute, doch in ein paar Tagen bestimmt.

Und es wird schrecklich werden.

Ich war schon immer gut darin, solche Dinge vorherzusagen. Es brachte mir eine Weile lang den Spitznamen ›Wetterfrosch‹ ein, doch irgendwann habe ich einfach den Mund gehalten und der Name geriet in Vergessenheit. Dennoch weiß ich es immer noch.

Naja, aber vielleicht ist das Gefühl, das ich jetzt habe, auch einfach ein ganz anderes; eines, das gar nichts damit zu tun hat.

»Wir gehen das Ganze noch einmal durch, um zu überprüfen das alles stimmt. Okay?«, spricht der Polizist langsam und deutlich aus. »Der Lastwagen ist also einfach in die Limousine hineingeschlittert?«

Ich nicke abwesend.

»Einer von den beiden konnte also nicht mehr bremsen. Welcher es war, werden wir erst wissen, wenn die beiden wieder aufwachen, was hoffentlich bald der Fall sein wird. Spätestens wenn wir die Karosserien untersuchen. Können Sie diesen Hergang bestätigen?«

»Ja.«

»Mhm«, murmelt er. »Und dann sind Sie zur Unfallstelle gerannt, haben den Notruf abgesetzt und versucht den Wagen zu öffnen?«

»Ja«, wiederhole ich und höre ihn daraufhin seufzen.

»Also gut. Dann lassen Sie sich jetzt weiter verarzten. Sollten noch Fragen aufkommen, melden wir uns. Ich wünsche Ihnen noch eine gute Genesung.«

»Ja.« Danke?

Er will sich bereits abwenden, doch hält im letzten Moment noch einmal inne.

»Ach, und eins noch«, meint er, so sehe ich ihn wie aufs Stichwort erwartungsvoll, doch wortlos an. »Ich bin mir sicher, der Mann aus dem Wagen, den Sie befreit haben, wird Ihnen auf ewig dafür dankbar sein. Es war wirklich mutig, was Sie heute getan haben, aber ebenso gefährlich. Sie hatten bereits den Notruf abgesetzt, also hätten Sie nichts weiter tun müssen. Niemand hätte Sie in dieser brenzligen Situation verurteilt, denn ein Ersthelfer soll schließlich nicht zum Kollateralschaden werden, nur um unbedingt geholfen zu haben. Bitte überlassen Sie die Rettungsaktion beim nächsten Mal den Profis, wenn die Sachlage so aussieht wie es heute der Fall war.«

Ich nicke, als er mir erneut einen guten Tag wünscht und eine Geste des Abschieds zeigt. Dabei weiß ich selbst, dass das Ganze eine Dummheit war.

Ich wünschte … ich hätte jetzt etwas Süßes bei mir.

Schweigend und regungslos sitze ich stattdessen aber auf der Ladefläche des Krankenwagens, während ein junger Mann vor mir steht und ebenfalls wortlos meine Wunden versorgt.

Ein paar Schnitte an den Armen und im Gesicht, die aber halb so wild sind. Ich habe sie nicht einmal bemerkt, bis sie gereinigt wurden und zu schmerzen anfingen.

Rückstände des Rauchs und des Drecks, die noch überall an meiner Haut kleben, brennen in den offenen Stellen. Die Hände sind jedoch am schlimmsten dran, obwohl es noch viel schlimmer hätte sein können.

»Das wird schon wieder«, vernehme ich eine Stimme.

Es dauert kurz, ehe ich verstehe von wem sie stammt.

»Die Hände, meine ich«, sagt der junge Arzt, der zu meinen Füßen in einem übergroßen Verbandskasten kramt und mir dabei hin und wieder ein Lächeln zuwirft.

»Ach so …«, murmle ich halb.

»Ja«, bestätigt er überschwänglich begeistert in Anbetracht der Situation, »ich habe echt noch nie erlebt, dass ein Wagen der so schlimm aussah, noch so lange vor sich hin gequalmt hat, ehe der Tank Feuer gefangen hat und einem alles um die Ohren geflogen ist.«

Auf seinem Namensschild steht ›O. Pierce‹. Das ist interessant, denn ich kenne eine Person, die fast denselben Namen trägt.

Ich wünschte, sie wäre jetzt hier.

»Dann hatten wir wohl alle nochmal Glück«, antworte ich ungewollt monoton.

Ehrlich, ich will sein Lächeln erwidern. Es ist so nett und warmherzig. Aber ich kriege es nicht hin.

Er dagegen lacht herzlich und grinst noch, als er mich ansieht.

»Ja, das können Sie aber laut sagen.« Ein letztes Mal prüft er den Verband an meiner Linken und richtet sich dann auf. »Auch diese beiden Hände sind ein kleines Wunder. Sie mögen einiges abbekommen haben und in der Schule können Sie damit sicher ein paar Tage keine Abhandlungen mehr schreiben … Sie sollten auch besser keine Leichtathletik damit ausüben, aber ansonsten …«, schweift er sichtlich vom Thema ab.

Seine Art bringt mich tatsächlich beinahe zum Grinsen, doch dann spricht er weiter und mein Gesicht gefriert in der Bewegung.

»Nichtsdestotrotz hätte das Auto viel heißer sein müssen. Ein bisschen feuchter Jeansstoff hätte da nicht so viel ausgerichtet. So glimpflich kam bisher, glaube ich, noch niemand davon. Sie müssen etliche Schutzengel mit Überstunden auf sich sitzen haben, darauf wette ich.«

Seufzend nicke ich ab und senke den Blick zu Boden, während ich mir nervös über die Lippen lecke. Noch so eine Sache, die ich gerne vergessen würde. Ist das alles real gewesen?

Es scheint so absurd. Besonders jetzt.

Dennoch versuche ich erneut ein Lächeln zusammen zu kriegen. Als würde es mich ebenso freuen, wie es ihn offenbar freut. Einfach dafür, dass er mich ganz klar aufzumuntern versucht, obwohl ich ihm doch fremd bin.

Und ich weiß, dass er Recht hat. Genau das ist es, was mir irgendwie Angst macht. Ich war jedenfalls sicher nicht dafür verantwortlich, dass der Fahrer noch lebend aus dem Wrack gekommen ist.

»Dabei hoffe ich nur, dieser Mann hatte wenigstens halb so viel Glück wie ich …«, weiche ich dem Thema stattdessen mit etwas belegter Stimme aus.

Er wirft mir einen Blick zu, von dem Ort aus, an dem er gerade seine Sachen zusammenpackt. Die Unfallopfer sind bereits weg; bestimmt schon im Krankenhaus.

»Er hatte auf jeden Fall Glück, dass Sie da waren. Das war wirklich mutig«, meint er bewundernd und es versetzt mir einen feinen Stich, direkt in die Wunde meines schlechten Gewissens.

Anerkennung, die ich nicht verdient habe.

»So toll war das auch nicht. Viel hab ich nicht geleistet.« Und das stimmt, wie man es dreht und wendet.

Seine Mimik verrät jedoch Unverständnis. Als wüsste er nicht, was mein Problem ist, aber nicht im negativen Sinne. Er versteht mich nur offensichtlich nicht. Fragt sich in diesem Augenblick vermutlich, was mir auf der Seele liegt. Doch das könnte ich ihm nicht sagen.

Niemandem könnte ich es sagen.

Wie auch? Ich kann es mir ja selbst nicht erklären. Für jeden anderen wäre diese Geschichte vermutlich noch viel lächerlicher.

Wenn sie mich nicht sogar einweisen lassen.

Nein, das kannst du niemandem sagen, Annie. Vergiss es.

Der Gedanke schnürt mir die Brust zu, doch mein lieber Sanitäter spricht bereits weiter.

»Mehr als viele anderen, falls Sie das meinen«, entgegnet er schlicht. »Ich glaube nicht, dass Sie die ganze Zeit allein waren. Einige der Schaulustigen standen schon da, als wir mit dem Trupp angerollt kamen. Aber Sie waren ganz allein auf dem Schlachtfeld. Sie waren vielleicht nicht die Einzige, die uns über einen Unfall an dieser Kreuzung benachrichtigt hat, aber Sie waren völlig allein am Ort des Geschehens und haben nicht nur aus sicherer Entfernung zugesehen, weil sie ohnehin nicht vorbei konnten, um zu verschwinden. Also stellen Sie Ihr Licht nicht so unter den Scheffel; ›Ehre dem, dem Ehre gebührt‹, heißt es nicht so?«

Noch ein wenig mehr lachend, trotz dieser unwirklichen Ereignisse, klopft er mir in anerkennender Geste auf die Schulter. Vermutlich ist das alles gar nicht so außergewöhnlich für ihn, wie für mich. Nicht normal, aber auch nichts, das er noch nie gesehen hätte.

Und er kennt meinen Teil der Geschichte schließlich noch nicht … doch das muss er ja auch niemals erfahren.

Tatsächlich entlockt es mir diesmal ebenfalls so etwas Ähnliches wie ein Lächeln, ein halbwegs ehrliches, sodass ich geschlagen nicke.

»Okay. Vielen Dank, Mr. Pierce.«

»Sag ich doch. Und nennen Sie mich doch Owen.«

Er scheint zufrieden mit sich, ehe er ein paar Schritte geht, um sich noch einmal bei den Polizisten umzuhören. Daraufhin weist er seine Kollegen am Krankenwagen an, einzusteigen.

Ich steige derweil von der Ladefläche. »Na dann noch einmal vielen Dank, Owen; für die Versorgung und alles«, sage ich und schenke ihm dazu noch ein schiefes Zucken mit dem Mundwinkel.

Im selben Moment, greife ich auch wieder nach meinem kleinen Rucksack, wenn auch diesmal vorsichtiger.

»Wie kommen Sie denn nun nach Hause?«

Ich werfe ihm einen überraschten Blick zu.

»Naja, mein Fahrrad liegt noch irgendwo auf der anderen Seite der Kreuzung. Ich sollte aber ohnehin besser laufen …«

Der letzte Teil kommt mir in den Sinn, als mein Blick sinkt und auf die dick bandagierten Klötze zu meinen Seiten fällt. Es ist jedoch eher gemurmelt und mehr an mich selbst gerichtet, als an irgendjemanden sonst.

Dennoch hat er es offenbar gehört. Und eine Meinung dazu hat er ebenfalls parat.

»Das sollten Sie besser nicht tun. Sie sollten sich ausruhen, ehe Sie wieder voll loslegen.«

»Nein, es geht schon, keine Sorge«, will ich einwenden, »so weit ist es ja auch gar nicht.« Denke ich zumindest.

In diesem Augenblick wird mir klar, wie wacklig ich eigentlich auf den Beinen bin. Weswegen ich unsicher von einem Fuß auf den anderen trete, um nicht so sehr aufzufallen.

Meine Knie sind ein wenig wie der Pudding meiner Mutter, bloß nicht ganz so standhaft.

»Denken Sie das wirklich?«

Bei seiner unverhohlenen Skepsis, fällt mein Augenmerk leicht verlegen gen Erde

»Würden Sie mich dann … tja, vielleicht ein Stück mitnehmen?«

Er sieht hinüber zu den Polizisten, dann zu mir, die ich da stehe, mit meiner Tasche, die ich nun wieder mit mir herumschleppe, und das alles getragen auf zwei zittrigen Knien.

Ich muss ein recht fragwürdiges Bild abgeben.

»Wenn Sie an einer Hauptstraße wohnen und wir nicht sofort zu einem anderen Vorfall gerufen werden, können wir Sie sogar direkt vor ihrer Tür absetzen. Ansonsten müssten Sie einen der Polizisten fragen, die noch hier sind«, antwortet er ernst und lehnt sich dann etwas zu mir, »aber unter uns: ich würde Sie jederzeit mitnehmen.«

Alles klar …

»Sicher«, entgegne ich rasch und überlege ob ich etwas zu seiner Ergänzung sagen soll, doch lasse es lieber.

Es sind tatsächlich noch ein paar Polizisten vor Ort, die aber scheinbar gerade noch den weiteren Verlauf koordinieren; was mit den Wrackteilen passiert und wann man endlich wieder sicher die Straße überqueren kann, zum Beispiel. Die kann ich vergessen, glaube ich.

Verzweifelte Zeiten, erfordern verzweifelte Maßnahmen.

»210 Riverpark Way. Direkt an der Straße und ich würde Stopp sagen! Ginge das?«

Kurz überlegt er, nickt dann jedoch eifrig.

»Alles klar, das sind ja nur ein paar Minuten.«

»Wirklich? Und das ist wirklich in Ordnung?«

»Keine Sorge, da können wir auf dem Weg zum Krankenhaus vorbeifahren; der Wagen ist ja sowieso leer, also hat es auf die Art wenigstens einen Sinn. Steigen Sie ein.«

Ich tue wie mir geheißen und schon kurz darauf startet der Motor. Es fühlt sich seltsam an, wenn man bedenkt was gerade vor meinen Augen mit einem Fahrzeug passiert ist. Doch ich habe Vertrauen, dass diesmal nichts geschehen wird.

Das erste Mal am heutigen Tag, habe ich kein schlechtes Gefühl bei einer Sache.

Es fühlt sich wirklich so an, als wäre es endlich vorbei.

 

Müde mustere ich die trostlose, weiße Zimmerdecke über mir. Alles ist so still in diesem Raum. Der Wecker wird bald klingeln, doch ich bin weder richtig müde, noch hellwach.

Wie eine Art Trancezustand, irgendwo dazwischen. So müde, aber doch nicht fähig die Augen zu schließen. Weil ich mich vor dem fürchte, was ich dort sehen könnte.

Wie ein Kind, das am Vorabend heimlich einen Horrorfilm gesehen hat. Und genau so kommt es mir vor.

Als wäre das alles nie wirklich passiert. Als wäre es nur ein Traum gewesen; wie ein Film.

Doch dann fällt der Blick auf meine Hände und es wird wieder zur Übelkeit erregenden Realität.

Und dabei habe ich die ganze Nacht wachgelegen und den Gedanken vorgezogen, von dem ich ursprünglich angenommen hatte, er würde mir den Schlaf rauben … die Sache mit der Ausstellung. Jetzt brauche ich das schon, um mich von noch unangenehmeren Erinnerungen abzulenken. Welch Ironie.

Das war eben bevor der Tag gestern noch viel schlimmer geworden ist.

Immerhin kann ich so zumindest sagen, dass ich eine Entscheidung getroffen habe, was diese andere Sache anbelangt, da ich schließlich lange genug darüber nachdenken konnte.

Abwesend hebe ich eine Hand in die Luft und betrachte sie mir einmal genauer. Als könne ich durch den Verband irgendetwas erkennen; als würde mir die Hand irgendwie bei meinen Problemen helfen können.

Sie tun zumindest nicht mehr so sehr weh, zumindest, wenn ich keinen Druck auf sie ausübe.

Seufzend erhebe ich mich von der Matratze und betätige mit einem meiner Fingerknöchel den Knopf am Deckel des Weckers.

Wenn ich schon wach bin, dann kann ich auch gleich nach unten gehen. Anziehen kann ich mich später immer noch, denke ich. Ich habe keinen Elan mich zu bewegen, ehrlich gesagt.

Aber ich will nach unten gehen; endlich meine Eltern sehen. Ich weiß, dass sie ihr Wort gehalten haben, nach Hause zu kommen, da ich sie gestern Abend spät habe zur Tür hereinkommen hören. Ein Vorteil davon, die ganze Zeit wach zu liegen.

Der Zettel am Kühlschrank wirkt jetzt so weit entfernt. Wie der gesamte gestrige Morgen. Als wäre seitdem ein Millennium ins Land gezogen.

Dennoch hatte ich gestern noch nicht zu ihnen gehen können. Ich war noch nicht bereit dazu gewesen.

Bereit für die Fragen, die Vorträge … das Schweigen. Wie werden sie wohl reagieren?

Mit einem Ächzen hieve ich bleischwere Beine über meine Bettkante. Der Schrecken von gestern steckt mir noch immer in den Gliedern und die schlappe Müdigkeit tut ihr Übriges.

Ohne mir die Mühe zu machen, in meine Hausschuhe zu schlüpfen, tapse ich barfuß durch den Raum und nehme im Flur die Treppe nach unten.

Vielleicht kann ich ja etwas essen, denn gestern war das nicht mehr möglich. Wenn ich jetzt wieder nichts esse, werde ich den Schultag nicht überstehen, darauf wette ich.

Schon auf dem Weg kann ich das Klappern des Geschirrs vernehmen, das von den Wänden zu mir getragen wird, sowie die Gerüche von frisch gemachtem Frühstück, Pancakes und anderen Leckereien, die in meine Nase dringen.

Ich bin vermutlich an noch kaum einem Tag so froh gewesen, wie heute, dass meine Mutter morgens zu Hause gewesen ist. Und gleichzeitig ist da diese Angst, die sich immer deutlicher bemerkbar macht, je näher ich der Küche komme.

Ihre Stimmen erreichen mich bereits inmitten des Treppenabsatzes, doch die Worte die gesprochen werden, vermag ich von hier aus nicht zu verstehen.

Als ich am unteren Absatz ankomme und den kurzen Gang durchquere, treffen mich unmittelbar zwei Paar Augen und taxieren mich, wie ein kleines Insekt unter einem Mikroskop.

Ich kann nicht anders, als wie angewurzelt stehen zu bleiben und zurück zu starren.

»Äh … Guten Morgen«, sage ich gedehnt und meine Augen zucken dabei von einem Elternteil zum Anderen. »Ist was?«

Also, abgesehen vom Offensichtlichen,  meine ich.

Einen Moment länger mustern sie mich noch, dann kommt plötzlich meine Mutter auf mich zu und schließt mich in die Arme. Es kommt so überraschend, dass ich mich unwillkürlich versteife und überrumpelt stehen bleibe.

»Wir sind ja so stolz auf dich, meine Kleine!«

Toll? Ich kann ihre Euphorie nicht ganz nachvollziehen.

»Unsere«, verbessert mein Vater, als wäre das unbedingt nötig.

Aber das ist immer noch das Harmloseste an dieser Situation.

Irritiert sehe ich mich um. »Was ist hier los?«

Bin ich vielleicht im falschen Haus aufgewacht? Oder wurden die Menschen der Erde über Nacht durch Alien-Klone ausgetauscht?

Wie lange habe ich nicht geschlafen?

»Na, deine Heldentat von gestern, Dummerchen. Wieso hast du uns nicht angerufen, wenn etwas so Außergewöhnliches passiert? Mal ganz davon abgesehen, dass du verletzt wurdest!«

»Immerhin hast du eine Nummer für den Notfall und wenn das bitte kein Notfall war, dann weiß ich auch nicht was als einer definiert werden könnte«, ergänzt der Mann im Haus wieder und das ausnahmsweise recht streng.

Seltsam, da Mom in dieser Beziehung die Hosen anhat, versteht sich. Buchstäblich.

»Aber wieso denn? Ich hatte den Unfall ja nicht. Und es kam mir eigentlich so vor als hätten die Sanitäter, die Feuerwehr, sowie die Polizei und der Abschleppdienst auch so alles im Griff, da kam ich nicht darauf, euch auch noch dazu zu rufen«, versuche ich mich mit etwas ironischem Tonfall herauszureden, »oder wolltet ihr ihnen vielleicht eine Werbetafel aufstellen?«

Meine Mutter verdreht dazu nur die Augen, während mein Vater tatsächlich schmunzelt.

»Wir verstehen dich ja, aber wir hätten es einfach gerne gewusst. Ist das nicht nachvollziehbar? Wir machen uns immerhin Sorgen um dich.«

»Ja, ich weiß. Tut mir auch leid, ich wollte euch wirklich anrufen, aber dann war ich so müde …«, lüge ich.

Ehrlich gesagt habe ich nicht einmal an sie gedacht. Und als ich endlich zu Hause war, wollte ich mich einfach nur waschen und ins Bett gehen. Ob schlafend oder nicht.

Ich wollte mich auf der Matratze einrollen und die Welt aussperren, was auch geklappt hat, wie man sieht.

Die Frau, die sich seit Jahren schon um mich kümmert und mich abends zu Bett gebracht hat, bedenkt mich mit einem Ausdruck, den ich nur allzu gut kenne und der so viel bedeutet, wie, dass sie dennoch nicht versteht, weshalb ich sie nicht sofort angerufen habe. Ein leichter Vorwurf schwingt darin mit.

Es scheint ihr wohl einfach unerklärlich.

Mein Vater schnaubt dagegen bloß und stimmt sich damit wohl erstmal versöhnlich.

»Naja, Schatz, immerhin ist ihr nichts passiert, nicht wahr?«

Ich lehne mich ein wenig zu Seite, um ihm mit den Lippen eine Botschaft zu senden.

»Danke«, für die Unterstützung.

Lächelnd nickt er und sieht dann nach unten, in die Zeitung vor ihm.

»Das sagst du auch nur, weil nichts passiert ist, außerdem ist ja sehr wohl etwas passiert. Du hast es doch selbst schon gesagt!«, meckert sie. »Sieh dir ihre Hände an!«

»Mom, Dad, das ist nicht so schlimm. Ich hab mich nur ein bisschen verbrannt. Das ist schon bald wieder gut, hätte viel Schlimmer kommen können.«

»Ich weiß«, seufzt sie. »Aber ich mach mir nun mal Sorgen um dich, gerade weil es auch hätte schlimmer kommen können.«

»Wir beide tun das.«

»Das weiß ich doch«, entgegne ich beruhigend und steure nun endlich den Tisch an. »Was mich aber viel eher interessiert, wäre, wie ihr überhaupt von dem Ganzen erfahren habt.«

Ich werfe es wie beiläufig ein, während ich mich auf einen Stuhl sinken lasse, doch je länger ich mit dem Gedanken spiele, desto interessierter werde ich, was die Antwort betrifft.

Für einen Augenblick sehen sie mich verdutzt an, bevor sie sich gegenseitig ansehen und der Brillenträger der Familie dann sein Tagesblatt an mich weiterreicht.

»Du bist in aller Munde, Kleines.« Er verweist dabei auf den riesigen Artikel ganz vorn auf der Titelseite.

»Sie haben zwar nicht deinen ganzen Namen abgedruckt und auch kein Bild, ich vermute, weil sie keine Erlaubnis von dir hatten und du noch Minderjährig bist, aber deine Hände waren für mich Zeichen genug.«

»Für uns«, ist es diesmal meine Mutter die ihn ergänzt, »und für die hiesigen Lokalnachrichten ist das nun mal etwas anderes als jeden Tag. Der Mann ist wieder aufgewacht; der, den du rausgezogen hast, meine ich. Er hat von einem Schutzengel gesprochen und bei all dem Glück, das ihr gestern hattet, findet man das Wort circa zwanzig Mal auf der ganzen Seite.«

Der schwarzhaarige Mann lacht zu meiner Rechten.

»Ja, als hätten die Journalisten der Hunting Post über Nacht zu Gott gefunden. Besonders im Vergleich zu dem, über was sie sonst so berichten. Oder wie sie es tun.«

Ich überfliege den Artikel der besagten Schlagzeile mit Schrecken, nur um festzustellen, dass meine Eltern leider nicht übertreiben. So viele Leute mit dem Namen Annie D. in meinem Alter, die auf die Wolfen Crest gehen, gibt es hier einfach nicht.

Schon gar keine mit Verbänden an beiden Händen, will ich mal vermuten.

Und tatsächlich steht hier in jedem zweiten Satz spätestens das Wort ›Schutzengel‹ oder wenigstens die Floskel der ›göttlichen Fügung‹.

Jedes Mal, wenn ich eines dieser Worte lese, erscheint vor meinem geistigen Auge eine schwarze Feder. Unaufhörlich, eine nach der anderen. Nervös versuche ich meine Arme zu kratzen, doch der Verband erschwert das Unterfangen erheblich.

Hiernach wäre der Mann entweder verbrannt, in die Luft geflogen und verbrannt oder am Rauch erstickt und dann verbrannt … und vermutlich am Ende trotzdem in die Luft geflogen.

Er selbst wurde wie durch ein Wunder nicht gar so sehr verletzt, nur der Beifahrer, der glücklicherweise nicht existiert hat, wäre mit Sicherheit zu Brei verarbeitet worden.

Denn im Gegensatz zu der schwarzen Limousine war der Truck noch in der Lage gewesen, zu bremsen, auch wenn sein hohes Ladegewicht ihn aus voller Fahrt nicht hat auf den Punkt stoppen lassen. Sonst wäre von dem Wagen sicher schon bald nichts mehr übrig geblieben.

Doch zu all dem Glück kam auch ein definitiv echtes Wunder. Die Flammen im Fahrzeug hatten kaum Schaden angerichtet. Der Mann war zwischendurch nur halb bewusstlos gewesen und hatte seine ›Retterin‹ dann auch noch als Engel mit rosa Haar beschrieben.

Und schon war die Schlagzeile perfekt: ›Überirdisches Glück rettet Unfallfahrer‹

Aber ehrlich, bei all dem hätten sie nicht nur meinen Namen, sondern am besten gleich ein Foto abdrucken können. Sind sie da nicht etwas sehr sorglos mit meinen Daten umgegangen?

Für mich ist dieses ›D.‹ kein wirklicher Trost, offensichtlich erkennt man mich dennoch ziemlich leicht und das ›Wieso?‹ ist ja wohl auch keine Frage mehr, wenn ich das so sehe.

Muss denn unbedingt jeder davon wissen? Gott, ich hab keine Lust, am Ende von irgendeinem Fremden darauf angesprochen zu werden; ansonsten kann ich nur hoffen, dass das wohl natürliche Desinteresse von Huntsvilles Ureinwohnern, gegenüber seltsamen und neuen Dingen, stark genug ist, mich einfach zu ignorieren. Allerdings bezweifle ich das fast, zumindest in der Schule.

Ich würde mich sicher aufregen, wenn ich noch den Nerv dazu hätte, doch neben dem Lesen, nehme ich mir erst einmal die Zeit mir einen Berg Pancakes auf den Teller zu stapeln, den ich anschließend mit einer schier unnatürlichen Menge an Schokoladensoße abrunde.

Überraschenderweise sagt meine Mutter nichts dazu. Ich sehe sie an, doch sie lächelt nur ganz stolz. Auch von meinem Vater ist kein Wort des Protests hörbar.

Dabei wurde damals, wenn ich denn mal einen Babysitter brauchte, sogar diesem eingeschärft, dass ich nicht zu viel Süßes essen dürfe.

»Es macht ja doch irgendwann dick, krank und zerstört die Zähne«, hat Mom dann immer gesagt.

Leider ist Zucker eines meiner Grundnahrungsmittel und das hat sie noch nie gerne gesehen. Das Paradoxe ist, dass sie dennoch immer dafür sorgt, dass zumindest genügend Bonbons, Lutscher und Gummistangen im Haus vorhanden sind.

Eine gewisse Menge war immer okay, aber ein ganzer Pool an Schokolade gleich zum Frühstück, noch bevor ich meinen morgendlichen Zuckerbedarf noch anders abdecke, übersteigt für gewöhnlich ihre Grenzen der Kulanz.

Dezent verwirrt, aber dennoch positiv überrascht, lege ich das Schundblatt zur Seite und beginne mit dem Essen. Kaum habe ich einen Bissen im Mund, steigert sich mein Appetit ungefähr um das Zehnfache.

Die Gabel sticht zwar ein wenig in den Händen, doch es ist überraschend annehmbar, wenn ich sie so halte, dass ich nur ein bisschen motorisch behindert wirke, den Druck auf die Handflächen so jedoch zumindest reduziere.

Hier ist schließlich keine Präzisionsarbeit gefragt.

Wie ein hungriger Bär schlinge ich meine Portion in kürzester Zeit zur Hälfte herunter, unter dem wachsamen Auge meiner beiden Aufpasser.

Irgendwie ist es interessant, aber hauptsächlich bedrückend, als mit einem Schlag die Erinnerungen daran wiederkommen, weshalb ich das Wort ›Heldin‹ nicht besonders gerne höre.

In meiner Handlung stockend, was bestimmt ein sehr fragwürdiges Bild abgibt, halte ich inne. Das plötzliche Gefühl des Unwohlseins, das sich sehr schnell in eine ausgeprägte Übelkeit wandelt, unterbricht mich kurz darauf endgültig.

Entschieden schlucke ich ein wenig verlegen und schiebe dann den mittlerweile fast leeren Teller von mir.

»Ich geh mich dann mal fertig machen.«

Die Frau mit dem braunen Haar, die neben mir sitzt und gerade eine Hand auf meine legt, sieht mich dabei überrascht an.

»Aber wieso denn? Es ist noch immer früh. Du bist vorzeitig aufgestanden.«

»Was an sich ja schon ein Wunder ist«, hängt mein Vater kleinlaut an, wofür er sich einen strafenden Blick seiner Frau einfängt und verstohlen hinter seiner Zeitung in Deckung geht.

»Ich … will heute einfach ein wenig früher in der Schule sein«, lüge ich wieder und fühle mich dabei ein bisschen schlecht.

Besonders jetzt, da ich wieder Zeit zum Denken und neue Energie habe, weckt es auch andere Gedanken, die ich so schnell ich kann wieder verdränge.

Sie sehen mich so stolz an, doch die Gründe für mein Handeln waren nicht so rein wie sie glauben. Als würden sie mich für das Handeln eines anderen Loben.

Eine ganz andere Form der Schuld, wie ich feststelle.

Und ich hasse dieses Gefühl einfach.

 

Die Wolken am Himmel ziehen schon seit Stunden gen Osten. Sie hinterlassen ein klares Blau für uns, soweit das Auge reicht, trotz der Jahreszeit.

Es ist ein wenig frisch. Die Hose die ich trage ist zwar nicht die von gestern, doch sie sieht fast genauso aus. Mein Oberteil dagegen hat lange Ärmel, anders als gestern.

Der linke Träger meiner Hose hängt schlaff herunter. Die Schnalle ist offenbar kaputt, was ich aber erst gemerkt habe, als ich sie schon an hatte … und ehrlich, dann hatte ich einfach keinen Nerv mehr, mir eine andere anzuziehen.

Man könnte wohl eigentlich meinen, ich sollte meinen ganzen Bestand an Latzhosen sowieso vergraben und nie wieder ansehen wollen. Und ehrlich, so fühle ich mich auch, nach alldem, an das sie mich erinnern, doch ich tue es nicht.

Allein der Gedanke an den gestrigen Vorfall lässt mich erschaudern.

Ich weiß noch immer nicht, an was ich mich da gestern erinnert habe. Das Gefühl dieser unerträglichen Hitze; die Intensität der Flammen. Es hat etwas in mir ausgelöst, das ich nicht erklären kann.

Und nun will ich es nicht mehr vergessen, denn ich weiß … ja, ich weiß, dass es mich irgendwann einholen wird. Was auch immer damals war. Und ehe es mich einholt, will ich es selbst einholen. Erkennen, was es ist.

Mag ja sein, dass es am Ende vielleicht nichts ist; dass da nie etwas war.

Aber dann will ich es wenigstens sicher wissen.

 

Abwesend starre ich von meinen Bandagen auf, aus dem Wagenfenster nach draußen, und hebe langsam eine meiner Hände.

»Hier irgendwo liegt es im Feld«, lasse ich verlauten.

»Alles klar.« Meine Mutter schenkt mir nur einen flüchtigen Blick, da sie gerade am Steuer sitzt, lächelt jedoch. »Ich werde dein Fahrrad auf dem Rückweg einsammeln. Du wirst mit den Händen sowieso erstmal entweder mit dem Bus fahren oder mit einem von uns beiden im Auto sitzen.«

»Klar«, erwidere ich tonlos, während meine Augen wieder an meinen Händen kleben.

Immer wieder fällt die Aufmerksamkeit auf diese beiden halbwegs unbeweglichen Klötze.

Wenn ich es wirklich wissen will, werde ich nicht daran vorbei kommen, die erste Hürde zu überwinden; die offensichtlichste Frage zu stellen. Und zwar der Person, die sie mir auch am ehesten beantworten können wird. Doch leicht ist es nicht.

Ich nehme all meinen Mut zusammen, ehe ich das Wort erneut an meine Mutter richte.

»Mom, ich muss dich was Wichtiges fragen.«

Interessiert sieht sie für einen kleinen Augenblick zu mir. Ich muss verdammt gestresst klingen.

»Ja, natürlich. Wenn ich dir denn helfen kann.«

Ich falle ihr so schnell ins Wort, dass ich mich beinahe selbst überschlage. »Wie war ich damals? Als ich herkam, meine ich«, platze ich heraus und ernte dafür einen verwirrten Seitenblick.

Verwirrt und überrumpelt.

Da ich auf offensichtliches Unverständnis stoße, versuche ich es noch einmal von vorn.

»Du weißt ja, die ersten Jahre hier waren recht schwierig. An viele Dinge kann ich mich nicht erinnern. Lücken, die ich mir nicht erklären kann.«

»Ja«, gibt sie schlicht zurück. »Aber das ist lange her. Was ist denn plötzlich so wichtig?«

»Nichts! Ich bin nur … Ich würde gerne wissen, ob ich damals vielleicht … irgendetwas gesagt habe.«

Unsicher umschiffe ich das Thema so vorsichtig, als sei es ein komplexer Sprengsatz, der bei der ersten falschen Bewegung in die Luft fliegen könnte und uns alle mit in den Abgrund reißt.

»Habe ich zum Beispiel … vielleicht irgendwann von einem schlimmen Ereignis gesprochen? Oder von jemandem, der verletzt wurde? Eine Art Unfall oder sowas?«

›Sowas wie ein Feuer?‹

Doch diese letzten Worte kann ich nicht laut aussprechen. Das würde es zu real werden lassen. Und ich weiß nicht, ob ich das bereits ertragen kann.

Noch kann ich umkehren.

Meine Mutter scheint ihrerseits jetzt erst wirklich perplex.

»Nein, was-«, beginnt sie, unterbricht sich dabei jedoch selbst.

Es dauert eine kleine Weile, in der nichts gesagt wird, bevor ich langsam misstrauisch werde und sie durch den Rückspiegel mustere, der mir ihr Gesicht zeigt.

Die mittelalte Frau, die ich nun schon mehr als mein halbes Leben lang kenne, sitzt weiter am Steuer und fährt, doch der Ausdruck den ich dabei in ihren Augen erkenne, ist mir vollkommen fremd.

Eine Art Glanz, als wäre sie an einem ganz anderen Ort. Weit entfernt von mir und ganz sicher nicht in diesem Wagen.

Vorsichtig hake ich nach. »Mom …?«

Doch sie reagiert nicht.

Erst einen Moment später, als plötzlich die Mauern der Schule in Sichtweite rücken, schüttelt sie den Kopf und holt sich damit offensichtlich selbst zurück ins Hier und Jetzt.

»Nein, keine Ahnung «, versetzt sie dann schlicht, ohne jede Vorwarnung.

Eine Aussage, so glaubwürdig, als würde sie sagen sie wisse nichts von einem Hasen, während sie ihn gerade für das Abendbrot schlachtet.

»Aber…« Ihre seltsame Reaktion wirft Fragen auf, welche ich nicht mehr stellen kann, da wir schon da sind und der Wagen zum Stehen kommt.

»Reden wir einfach später nochmal darüber, okay Süße? Zusammen mit deinem Dad.«

Ich nicke etwas irritiert. Meine Mutter hat mich noch nie belogen … zumindest nicht so, dass ich es bemerkt hätte. Doch da war etwas. Sie hat sich an etwas erinnert, und sie hat es verschwiegen. Nein, nicht bloß verschwiegen.

Sie hat gelogen, zwar wirklich unfassbar schlecht, aber sie hat definitiv gelogen.

Und das schlechte Gefühl das ich bei dieser ganzen Sache bereits hatte, wird gerade mit einem Schlag noch viel, viel schlimmer. Ich bin zu geschockt um zu reagieren.

Dennoch schnappe ich mir wie ferngesteuert den kleinen Rucksack vom Platz neben mir auf der Rückbank und lehne mich nach vorn, um einen Kuss auf die Wange zu drücken.

»Okay, bis nachher dann …«, murmle ich.

Ich höre noch, wie sie mir ebenfalls ein Wort des Abschieds nachruft, als ich die Tür hinter mir sanft zuschlage.

Noch während sie anfährt, marschiere ich in Richtung Innenhof, mit dem inneren Antrieb, nicht stehen zu bleiben. Angefeuert durch dieses beunruhigende Gefühl, herausfinden zu wollen, was ich in Wahrheit doch gar nicht wirklich wissen will.

Die Tore auf meinem Weg sind bereits geöffnet, aber viele Schüler sind noch nicht hier. Meine Schritte führen mich wie von selbst zum Zentrum des Geländes vor dem Schulgebäude. Dem großen Brunnen mit diesen unsagbar schönen Wölfen. Ein Ort für freie Gedanken; einer der wenigen Plätze auf dieser Welt, an denen ich wirklich klar denken kann.

Zu diesem Zweck und zur Beruhigung, öffne ich die Lasche meines Rucksacks und krame darin nach meinem lebensrettenden Anker; einem Lutscher mit Kirschgeschmack.

Eine Weile schaue ich mir die Statuen über mir nur an, während ich unruhig mit den Zähnen auf den gehärteten Zucker schlage, dann will ich sie am liebsten Zeichnen. Doch noch ehe ich den Block und meinen Bleistift zücken kann, macht mir bereits das Brennen beim festeren Zupacken der Tasche einen Strich durch die Rechnung. Ich zische durch die Zähne, soweit die Süßigkeit es zulässt.

Einen Pinsel werde ich vielleicht noch führen können, aber einen Stift sicher umfassen?

Ein schweres Seufzen kommt mir über die Lippen, sodass ich meine Schultasche sinken lasse und einen Moment die Augen schließe. Während der Lutscher über meine Zunge rollt, lasse ich meine Gedanken kreisen.

Ich kann nicht zeichnen.

Meine Mutter lügt mich an.

Und meine Vergangenheit ist soeben noch undurchsichtiger geworden, als sie es ohnehin schon war.

Das sind doch prima Aussichten. Ich weiß gar nicht, was ich für Probleme haben könnte.

Ich schüttle den Kopf und merke kaum, wie sich ein leichtes Gewicht auf meiner Schulter bemerkbar macht. Erst ein Klopfen auf dieselbe Stelle, lässt es mich erschrocken realisieren.

Schnell drehe ich mich um, mit der leisen Erwartung, wieder einmal niemanden vor mir zu sehen.

Doch dem ist nicht so. Anstatt in gähnende Leere, blicke ich nun geradewegs in ein grinsendes Gesicht, welches mich seinerseits schief mustert.

»Wie ich sehe, bist du dein kleines Laster immer noch nicht los geworden, was?«

Viel zu überrascht um irgendetwas darauf zu erwidern, kann ich sie lediglich wie ein Fisch anstarren, bis sie mich mit einem Schlag gegen die Schulter wieder aus meiner Trance holt. Ich blinzle ein paar Mal perplex.

»Was denn, du

Ihr Grinsen wird darauf noch ein wenig breiter. »Ja, ich

Fassungslos starre ich sie an.

»Aber …«

 

»Wie zum Teufel kommst du hier her?!«

Chapter 4: We Had to Encounter Madness

 

Ungläubig stehe ich dort auf dem Hof. Von allen Sachen, die mir just in diesem Moment durch den Kopf gehen, bringe ich es lediglich fertig, ausgerechnet diese eine zu sagen:

»Und das ist auch kein ›Laster‹. Ich brauche den Zucker einfach um zu überleben, das weißt du.«

Es ist schon über meine Lippen, noch bevor ich etwas dagegen tun kann.

»Jaja, schon klar. Das sagen Crackjunkies auch«, witzelt sie und schlägt mir dann spielerisch leicht gegen den Oberarm. »Und was gibt’s denn hier eigentlich so schwer zu seufzen, du Heldin

Ich verdrehe unbedacht die Augen, als ich das hören muss.

»Nenn mich nicht so, ich kann das nicht ausstehen.«

»Wow«, gibt sie erstaunt zurück. »Ist das etwa alles, was du mir nach zwei Jahren der Trennung zu sagen hast?«

Sie tut, als sei sie gekränkt, doch wenn man sie näher kennt, erkennt man locker das schlechte Schauspiel hinter dem Schmollmund.

»Willst du mich denn gar nicht in den Arm nehmen? Mich fragen wie es mir geht? Ehrlich, ich hatte einen herzlicheren Empfang erwartet.«

»Also daran bist du ja wohl selbst schuld«, gebe ich glatt zurück, lasse mich von ihrem Theater mitreißen.

Wie zurückgeworfen in alte Zeiten, komme ich ihrer Aufforderung dennoch ohne zu zögern nach und schließe sie fest in die Arme.

»Aber nein, im Ernst … Du hast mir ehrlich gefehlt, Liv.«

Ich höre sie lachen, als sie mich fester an sich drückt. »Du mir auch, Süße«, höre ich die vertraute Stimme.

Und entgegen der Tatsache, dass mir eben noch so unwohl zumute war, fühle ich mich nun erleichtert. Als wären all die Sorgen mit einem Mal ganz weit entfernt, so lange, bis mein Realitätssinn zuschlägt und ich mich von ihr löse, um sie mit gerunzelter Stirn anzublicken.

»Im Ernst jetzt«, fordere ich in nüchternem Ton. »Wie kommst du hier her?

»Na, mit dem Flugzeug, du Hirni, wie denn sonst?«

Sie sieht mir unbeeindruckt entgegen, während ihre perfekten hochgesteckten, mittelbraunen Locken in der leichten Brise zu tanzen scheinen.

»Komm schon, du weiß genau was ich meine! Wir dachten alle du wärst noch für eine ganze Weile länger in Europa. Was machst du plötzlich wieder hier in Florida?«

»Ich weiß nicht … Irgendwie hat es mich heimwärts gezogen. Also hab ich mich hier gemeldet und ich weiß echt nich‘ wieso, aber sie haben mir tatsächlich zugestanden das Jahr ein bisschen später zu beginnen, damit ich in Paris noch meine Arbeiten beenden kann. Und nun bin ich eben hier. Ich dachte, wenn ich es dir sage, ohne zu wissen ob es wirklich klappt, würde ich nur Hoffnungen wecken, also hab ich es verschwiegen. Und Überraschung«, sie streckt die Arme in die Luft und sieht mich auf eine zerknirscht unsichere Weise, erwartungsvoll an, »hier bin ich?«

Perplex sehe ich mich um. Diese Schule steckt doch voller Überraschungen. »Ist nicht dein Ernst, oder?«

»Tja …«

Mit einem Seitenblick, der mir sagt, dass sie darüber vermutlich selbst noch nicht so richtig nachgedacht hat, bleibe ich sprachlos zurück.

»Naja, sieh es doch mal positiv«, meint sie munter, »also, jetzt hast du immerhin was zu erzählen, wenn du nach Hause kommst, oder nicht?«

»Wow, das … das ist unglaublich, Olivia, unbeschreiblich«, entgegne ich mit unfassbar viel Elan und schüttle ungläubig und langsam mit dem Kopf.

Aber ein kleines Lachen kann ich mir auch nicht verkneifen, also sehe ich kurz zu Boden und wechsle dann unauffällig das Thema.

»Und, du Fluchtnudel, wirst du denn denselben Unterricht haben, wie ich?«

»Was zum Deckel ist denn bitte eine ›Fluchtnudel‹? Hältst du mir immer noch vor, dass ich dir damals nicht gesagt habe, dass ich nach Frankreich gehe? Und ich hab mich doch echt tausend Mal dafür entschuldigt!«

Aufgebracht halte ich dagegen. »Ja, am Telefon

Scheinbar gehen ihr dazu die Ideen aus, da sie erst den Mund öffnet und ihn dann wieder schließt. Ich für meinen Teil sage nichts dazu, schenke ihr jedoch einen vielsagenden Blick, auf welchen sie erstmal bloß die Augen verdreht und seufzt.

»Was auch immer. Vermute jedenfalls eher nicht, was das andere betrifft. Es sei denn, du interessierst dich plötzlich für Modedesign. Ein paar normale Kurse werden wir allerdings zusammen belegen, hoffe ich doch.«

Langsam setzen wir uns in Bewegen, Richtung Brunnen, wo ich mich auf dem steinernen Rand niederlasse und meine Tasche auf meinen Schoß lege, kaum dass wir da sind.

»Setz dich erstmal, wir müssen, glaube ich, reden, bevor wir rein gehen. Ich hab in der ersten Stunde … Französisch, denk ich. Da bin ich nicht besonders gut drin, wie du weißt. Die Lehrerin ist die Hölle.«

Sie lässt sich neben mir fallen und wirft mir einen Seitenblick zu.

»Super, das hab ich auch. Nur hab ich kein Problem mit Französisch.«

Ich ignoriere den leicht stichelnden Unterton, den sie immer drauf hat, wenn sie mich gerade ärgern will.

»Das ist ja wohl auch kein Kunststück. Du warst schließlich gerade zwei Jahre da drüben«, wehre ich mich, »bei mir war das ein bisschen anders.«

»Und dabei dachte ich immer, Sprachen würden dir gut liegen«, merkt sie an und kramt in ihrer eigenen Tasche, wo sie ein paar Sekunden später einen kleinen Lippenstift hervorholt.

»Sprichst du nicht auch irgendwie Russisch, ohne es gelernt zu haben?«

»Rumänisch.«

»Ist doch alles dasselbe.«

»Ist es nicht«, bemerke ich trocken. »Außerdem heißt es nicht, dass ich es nicht gelernt hätte, nur weil ich mich nicht daran erinnern kann, dass ich es gelernt hab. Vielleicht waren meine leiblichen Eltern Rumänen, schon mal daran gedacht? Das heißt aber noch lange nicht, dass ich mit Sprachen gut kann. Ich hab es außerdem wieder verlernt, das sagt doch schon alles.«

»Is‘ ja schon gut, wie du meinst«, stimmt sie recht lustlos zu, »aber wenn du Hilfe brauchst, musst du mich einfach nur fragen.«

Ich nicke, ehrlich erleichtert über das Angebot, und lege den Kopf in den Nacken, sehe dabei jedoch nicht in den Himmel, sondern schließe bloß die Augen. Ein Gedanke durchzuckt mich.

Wir sitzen hier und streiten uns kindisch, als wäre sie nie weggewesen.

Und ich kann so tun, als wäre immer noch alles wie vor zwei Jahren und wenn es auch nur für ein paar Minuten ist.

»Irgendwie fühlt sich das Ganze hier an wie ein Traum«, merke ich gedankenlos an.

Die letzten Wochen waren so seltsam und jetzt ist alles irgendwie so, wie es einmal gewesen ist.

»Ich wünschte dieser Moment würde ewig anhalten.« Meine gemurmelten Worte werden noch weiter durch die störende Süßigkeit in meinem Mund gedämpft, aber sie hört es problemlos.

Das hübsche Mädchen neben mir seufzt darauf nur theatralisch, was immer schon ein Zeichen dafür gewesen ist, dass sie etwas einzuwenden hat.

»Du solltest nicht so ehrlich mit deinen Wünschen sein, sonst gehen sie nicht in Erfüllung«, merkt sie in einem für sie merkwürdig ernsten Tonfall an und ich schiele zu ihr hinüber.

Wodurch ich ihr gerade noch dabei zusehe, wie sie den beigen Stift fertig nachzieht, dessen Farbe auf ihren Lippen ein wenig an Glanz verloren hat. Perfekt wie immer.

Aber so kenne ich meine beste Freundin, und anders würde ich sie auch nicht wollen, denn das ist eben einfach ihr Ding.

»Oder schlimmer«, hängt sie ein paar Sekunden darauf bedeutungsvoll an, während sie die Farbe verteilt.

»›Schlimmer‹?«

»Ja.«

Es weckt doch mein Interesse. »Inwiefern denn?«

Sie wirft mir einen Seitenblick zu, als sie den Schminkstift wieder zurückdreht und ihn zusammen mit einem kleinen Spiegel in ihrer Tasche verschwinden lässt.

»Sie könnten wirklich in Erfüllung gehen.«

Ich verdrehe die Augen und lache über diese platte Aussage.

Was für ein Klischee.

»Aber nochmal zu der Sache mit der Heldin. Ich hab davon gehört, weil hier nun mal alles schnell die Runde macht. Stimmt‘s denn nicht?«

Sie wirft das wie nebensächlich ein, während sie mit einem Finger über die schmalen Stellen an ihren Mundwinkeln streicht und die Lippen dann gegeneinander reibt, um die Farbe darauf zu verteilen.

Der Themenwechsel trifft mich zugegeben unerwartet, wodurch ich mich beinahe verschlucke und eine Augenbraue nach oben ziehe.

»Was?«

»Na, das mit dem Unfall.«

Kopfschüttelnd will ich das Gespräch eigentlich umlenken, aber wohin bloß?

»Doch, schon, aber-« Nicht das noch.

»Warum hast du deswegen dann vorhin gleich so übertrieben? War doch bloß ein kleiner Scherz«, bohrt sie weiter nach.

»Weil es eben dumm ist, was die Zeitung schreibt; was die Leute daraus machen. Einfach alles. Ich will nichts davon hören. Es nervt mich und mehr ist da nicht dabei. Können wir es nun wieder gut sein lassen?«

Daraufhin straft sie mich mit einem Blick, welchen ich noch allzu gut kenne. Ein Blick, der durch einen hindurch zu sehen scheint. Man traut sich einfach nicht, zu lügen.

Oder überhaupt etwas zu sagen …

»Eigentlich haben wir erst vor Kurzem telefoniert. Worüber sollen wir sonst reden? Es gibt sonst nichts mehr Neues. Abgesehen davon, dass die Schule neu ist. Aber wie ich dich kenne, bist du so antisozial gewesen, während ich nicht hier war, um auf dich aufzupassen, dass du mir ohnehin niemanden vorstellen kannst, oder?«

Sie erläutert das in dieser ihr eigenen, unumstößlichen Art, gegen die ich mich nicht recht zu behaupten weiß.

»Und nun höre ich etwas so Unglaubliches über dich und sehe dich da stehen, mit deinen zwei verbundenen Händen und etlichen Pflastern im … überall und du? Meckerst, als hätten sie dir einen Mord angehängt. Du musst mir nichts vormachen. Was ist wirklich los?«

Geschockt kann ich nur dasitzen und unruhig von links nach rechts sehen, während ich auf dem mittlerweile gebröckelten Stück Zucker zwischen meinen Zähnen herumkaue und den Stiel dann in einer Tüte innerhalb meiner Tasche verschwinden lasse.

Fluchtweg ausgeschlossen, hm?

»Ich denke bloß«, beginne ich, doch breche den Satz ab, um unsicher zu schlucken.

Da ich ohnehin nicht weiß, was ich sagen soll, sage ich einfach nichts mehr.

»Du denkst was

Ich seufze; sehe hinab zu meinen Schuhspitzen.

»Ich weiß auch nicht«, gestehe ich wahrheitsgemäß. »Es fühlt sich einfach so an, als hätte ich es nicht verdient. Meine Absichten, als ich den Mann retten wollte, waren einfach nicht wirklich ›heldenhaft‹. Also bin ich es nicht wert, dass man denkt ich sei ein Engel oder so ein Quatsch.«

»Na und?«

Sie lässt es einfach so fallen und der Ausdruck in ihren Augen bleibt weiter fragend, als hätte sie kein Wort von dem, was ich gerade gesagt habe, gehört oder verstanden.

»Trotzdem hast du dir für ihn den Arsch aufgerissen, und dir buchstäblich die Hände verbrannt. Macht dich das nicht trotzdem zur Heldin? Ganz egal was für zwielichtige Gründe du gehabt haben willst. Zumal ich mir das bei dir ohnehin nicht vorstellen kann, aber dein schlechtes Gewissen kommt sicher nicht von ungefähr, also werd‘ ich das so hinnehmen, bis du selbst darüber sprechen willst.«

Immerhin kommt sie mir entgegen.

»Aber wenn ich ihn nicht um seinetwillen rette, verdiene ich auch keinen Dank, oder?«

»Junge, ich fühl mich, als wär ich deine Therapeutin. Also gut, warte … wen interessiert denn bitte, für wen du es getan hast, wenn du keinem Dritten damit schadest? Den Mann? Sicher nicht. Der ist nur froh, dass ihm der Arsch nicht auf Grundeis gegangen ist … oder eher, dass er nicht gegrillt wurde«, für einen Moment hält sie inne, dann zuckt sie die Achseln, »wie man’s nimmt.«

Sie scheint das wirklich abzuwägen, schüttelt den Gedanken dann jedoch offenbar ab.

Mit einem ordentlichen Hieb gegen meine Schulter, erhebt sie sich von der Mauer. Um uns herum versammeln sich immer mehr Schüler, was ein deutliches Zeichen dafür ist, dass der Unterrichtsbeginn nicht mehr allzu fern ist.

»Und jetzt komm schon, du musst mir noch die Zimmer zeigen, nicht wahr?«

Zwinkernd richtet sie die Tasche über ihrer Schulter und zieht die leichte, grüne Bluse straff, die sie eigentlich nur mag, weil sie so gut zu ihren braunen Augen passt.

Ich lächle ihr zu und versuche mich auch zu erheben, wobei mir etwas einfällt.

»Hey, du kommst doch nachher sicher mal rüber, oder nicht?«

»Klar. Wenn du willst?«

»Meine Eltern würden sich bestimmt freuen. Außerdem musst du mir da bei was helfen.«

Um meine Hände etwas zu entlasten, schlüpfe ich in die Träger und ziehe meinen Rucksack dorthin, wo er normalerweise hingehört, während sie den Kopf schief legt.

»Das kommt drauf an, bei was ich dir helfen soll.«

»Ich muss aus den Bildern im Keller welche aussuchen. Mein Kunstlehrer will ein paar davon während der Halloweenparty hier in der Schule ausstellen, aber ich weiß nicht, wie viele ich neu malen kann, mit diesen Händen«, bemerke ich und halte die beiden Übeltäter kurz hoch, nur um das Gesagte noch einmal zu unterstreichen, » also musst du mir bei der Auswahl helfen. Ich wäre nach dem Unterricht zwar erst noch hier und versuche zu malen, einen Pinsel halten können sollte ich ja eigentlich schon, aber es wird wehtun. Also keine Ahnung ob es für zehn Arbeiten ausreicht. So oder so bin ich spätestens um fünf zu Hause. Da kannst du vorbei kommen und wenn du willst, kannst du mit uns essen. Meine Mutter hat sicher nichts dagegen, sie macht sowieso immer viel zu viel.«

»Ich weiß, ich kann mich noch gut erinnern.« Zusammen schlendern wir in Richtung Eingang. »Aber mich wundert ja ehrlich, dass du dich dazu bereiterklärt hast, deine Bilder ausstellen zu lassen. Früher hast du dich vor sowas doch immer gedrückt.«

»Keine Ahnung. Ich dachte, ich versuche einfach mal eine neue Taktik, jetzt, da ich hier auf der Schule bin. Außerdem wollte ich Mr. O’Farrell auch nicht enttäuschen …«

»Ah«, lässt sie mehrdeutig verlauten, als wäre ihr nun alles klar.

Wobei ich jedoch nicht so genau weiß, was dieses ›alles‹ genau sein mag.

»Und wie ist dieser ›O’Farrell‹ so?«

»Hä? Äh … sehr nett? Er ist ein guter Lehrer«, wende ich ein und spüre wie meine Wangen zu glühen beginnen.

Gesicht, hör auf damit, das ist peinlich.

Leider will es nicht auf mich hören. Und Liv übrigens auch nicht.

»Aha«, lässt diese in bedeutungsschwerem Unterton verlauten.

»Was denn?«

»Gar nichts.«

»Im Ernst, was ist?«

»Nichts, nichts …«

»Liv«, ermahne ich sie.

»Was? Ich hab mich nur gefragt, was für ein super Typ das sein muss, wenn er dich so schnell dazu bekommt hier eine Ausstellung zu sponsern. Das ist alles«, erzählt sie mit geheuchelter Unschuld und spielt weiter die Unwissende.

»Ich sagte doch, dass das einfach so war. Ist ja nichts Besonderes. Ich muss meine Kunst so und so irgendwann zeigen, wenn ich etwas erreichen will.«

»Hab ja auch nichts gesagt. Ich schweige wie ein Grab, siehst du?« Um die Aussage abzurunden macht sie noch eine Geste, die wohl zeigen soll, dass ihre Lippen versiegelt sind.

Ich schüttle darüber nur den Kopf.

»Ja, sicher …«, und ein seltsam vertrautes Gefühl der Genervtheit steigt in mir auf, gemischt mit etwas ebenso Vertrautem, das ich nicht benennen kann.

Es ist so lange und so viele rätselhafte Ereignisse her, dass ich es beinahe vergessen habe.

Und ich habe nicht einmal bemerkt …

Wie sehr ich das hier vermisst habe.

 

Seufzend starre ich in die Leere vor mir. Wie so oft am heutigen Tag. Der Unterricht war ein bisschen zäh, bloß zuhören; hin und wieder angesprochen werden.

Nicht viel los. Nur dieses schlechte Gefühl war immerzu an meiner Seite gewesen, seit ich heute Morgen an der Schule angekommen bin. Erst war es kaum auffällig, wegen des merkwürdigen Gesprächs mit meiner Mutter direkt davor. Über den Tag wurde es dann jedoch stärker.

Mein Magen dreht sich wie eine Waschmaschine. Das kann wohl kaum an meinem Frühstück liegen.

Es ist nicht diese gewöhnliche Übelkeit, sondern mehr ein Übelkeit erregendes Gefühl, das jedoch einen anderen Ursprung hat, als meinen Magen. Ein wirklich seltsamer Gedanke.

Ich atme einige Male tief ein und aus, um mich ein wenig zur Ruhe zu rufen. Vielleicht liegt es ja am Schlafmangel, obwohl ich seltsamerweise gar nicht mal so müde bin. Und das, wo ich es doch eigentlich sein sollte.

Verwirrt, aber doch noch immer am Malen interessiert, richte ich meine Werkzeuge.

Dieser Raum hier steht uns offen, wenn wir malen wollen, dafür müssen wir aber jedes Jahr Materialgeld an die Schule entrichten.

Den Rest erledigt das Stipendium, weswegen meine Eltern viel Geld sparen konnten und mir dafür ein wenig entgegengekommen sind, was andere Dinge anging. Sie waren stolz. Das volle Programm, sogar mit Freudentränen für mich und allem. Ich habe sie nicht enttäuscht und das werde ich auch jetzt nicht tun.

Es wäre doch gelacht; bloß ein paar Bilder für eine Ausstellung und dafür eine wichtige Note sichern. Ein super Geschäft.

Ich wollte unbedingt hier her. Diese Schule hat mich schon seit jeher wie magisch angezogen und es gibt so viele Bereiche. Die Kunst ist nur einer von ihnen.

Und dieser Raum, in dem heute niemand Unterricht hat, hat einen wundervollen, klaren Blick auf den Hof. Ich öffne eines der großen Fenster zu meiner Linken, ehe ich mich zentral im Zimmer platziere und den Pinsel zur Hand nehme.

Ich weiß gar nicht, was ich malen soll, doch normalerweise kommt mir die Idee, wenn ich schon begonnen habe, also lasse ich mich einfach treiben.

Langsam und vorsichtig drücke ich ein wenig schwarze Farbe auf die Mischpalette. Dann ein wenig von dem deckenden Weiß.

Ein kleines bisschen tunke ich den Pinsel erst in die helle Masse, dann in die Dunkle, nur so weit, dass ich einen kleinen vermischten Punkt habe. Grau. Meine Augen brennen ein bisschen. Muss eine Folge von gestern sein, irgendwie musste sich das ja auswirken.

Dumpfer Druck in meinem Schädel lässt meine Konzentration wanken. Ich bewege leicht den Kopf und halte ihn in der Schräge, das seichte Wimmern, das in einen tauben Schmerz umschlägt, scheint so ein wenig gedämpfter; so als könne ich es einfach so vertreiben.

Daher versuche ich es zu ignorieren, bis es sich von selbst verflüchtigt. Auch wenn es noch ein wenig stärker wird.

Ich reibe mit einem bandagierten Handrücken über meine Augen. Tränen verwischen auf den Lidern. Ignorieren.

Mit der grauen Farbe setze ich endlich an, doch die Linie verschwimmt vor meinen Augen.

Bin ich das? Nein, so habe ich es nicht gemalt, aber ansonsten ist das-

Alles wirkt plötzlich so breit; so schwammig auf dem Malgrund. Auf eigenartige Weise weich.

Kopfschüttelnd blinzle ich mehrere Male, doch es wird nicht besser. Im Gegenteil.

Meine Augen bleiben derweil immer länger geschlossen; werden immer schwerer.

Bis ich die Lider auf einmal nicht mehr öffnen kann.

Und meine Welt schwarz bleibt.

 

Die Vorsicht. So seltsam. Es ist kalt. Nass. Das schwarze Haar bläst mir um die Nase; so lang, dass es sich verheddert.

Und ich strecke meine Hand ins Nichts. Greife nach etwas, das schon lange fort ist.

Etwas, das mir entglitten ist, als ich einen Moment nicht aufgepasst habe.

Mein Herz schlägt wie ein Vorschlaghammer gegen meinen auf einmal viel zu engen Brustkorb. Verzweiflung kämpft gegen Angst.

Die Tränen vermischen sich mit der salzigen Brise in der kühlen Luft und die Dunkelheit heißt mich willkommen.

»Warte!«

Ich schreie blind in die Leere und genau in dem Moment trifft das Licht auf meine Pupillen, sodass ich die Lider erschrocken zusammenkneife. Einige Tränen lösen sich und kullern vergessen über meine Wangen.

Was? Was war das? »Wo bin ich?«

Atemlos frage ich alles und nichts, noch ehe ich denken kann. Mit wem zur Hölle spreche ich überhaupt?

Ich sehe mich um. Ein Klassenraum?

Nein, ein Kunstraum. In der Schule. Meiner Schule.

Aber ja, ich war in der Schule … denke ich. Meine Sohlen stehen zittrig auf dem Boden. Der Rücken zieht unangenehm von der nach vorn gebeugten Haltung.

Ein stechender Schmerz durchzuckt mich, als ich meine um den Pinsel verkrampften Hände zu lockern versuche.

Verdammt, bin ich etwa schon wieder eingeschlafen, während ich gemalt habe? So müde war ich doch nicht, dachte ich … Tja, ich habe mich wohl gewaltig getäuscht, wie es scheint.

Gott, was habe ich da überhaupt geträumt. Schwarzes Haar? Wasser?

Was für ein… »Au!«

Mein Schädel tut so dermaßen weh, dass ich am liebsten weinen möchte, doch immerhin unterbricht er meine Gedanken, die alles nur noch schlimmer machen würden.

Und zumindest lässt auch das Herzklopfen nach, jetzt, da ich wieder bei klarem Verstand bin.

Mein Atem reguliert sich dennoch nur langsam.

Weiterhin nicht richtig auf meine Umgebung achtend, will ich mich auf meine wackligen Beine erheben. Ich habe jedoch nicht die Kraft, also öffne ich stattdessen endlich richtig die Augen, um ordentlich zu sehen.

Und was ich sehe, verschlägt mir erneut den Atem.

»Du …«, flüstere ich ungläubig.

Ich sollte verängstigt sein; wütend sein. Immer wenn etwas Seltsames geschieht, ist sie da. Warum jetzt? Warum hier?

Und wieso fühlt es sich in diesem Moment so an, als würden wir uns näher stehen, als irgendjemand sonst? Als wüsste sie genau, was ich gerade denke, während ich sie so ansehe? So vertraut. So passend.

Doch ist es eigentlich eine Beziehung, die gar nicht existieren kann. Reine Einbildung; eine Täuschung. Und Zufall. Oder werde ich einfach nur langsam wahnsinnig?

Ist sie vielleicht eine Halluzination? Vielleicht eine Art … posttraumatisches Syndrom?

Nein, unmöglich. Wie denn? Ich habe sie doch bereits vor dem Unfall gesehen. Das passt nicht zusammen.

Die Krähe starrt mich unterdessen bloß unerbittlich an. Zuckt nicht einmal einen Millimeter.

Mein erster Impuls ist es, etwas zu suchen das ich nach dem Vieh werfen kann. Vielleicht den Pinsel in meinen Händen? Doch ich kann es nicht.

Mit einem leichten Wink ihres Schnabels, scheint sie auf etwas zu deuten. Ich fühle, dass sie mir etwas mitteilen will.

Ich weiß es einfach.

So folge ich ihr mit dem Blick nach rechts, gegen den Rat meines gesunden Menschenverstands.

»Das darf nicht wahr sein«, hauche ich in die Stille.

Diesmal erleide ich einen Schreck, von dem ich mich nicht so schnell erholen werde.

Werde ich also wirklich langsam verrückt? Oder will mir etwa jemand einen Streich spielen? Nein, das glaube ich nicht. Ich kann erkennen, dass es mein Werk ist. Dennoch lehne ich es ab.

Ich erinnere mich nicht daran, doch ich weiß es. Ich fühle, es ist meins. Aber ich habe es nicht gemalt.

Die Pinselstriche. Die Art der Formen. Die Atmosphäre. Ja, selbst das Motiv scheint mir bekannt, auch wenn ich es jetzt noch nicht zuordnen kann.

Gemalt habe ich es aber nicht. Jedenfalls nicht, dass ich davon wüsste. Und doch halte ich, wie mir siedend heiß bewusst wird, den farbbefleckten Beweis in meinen Händen. Der Pinsel und die Hand voller Farbe.

Die Schlucht auf dem Bild in denselben Nuancen.

Etwas panisch komme ich auf die Beine, um den Spiegel über dem Waschbecken im Raum aufzusuchen. Farbe klebt auf meiner Haut, in meinem Gesicht, ja, sogar in meinen Haaren. Wie, wenn ich hoch konzentriert male und dabei mit den verschmierten Händen ein paar Strähnen hinter die Ohren streiche, ohne an die Konsequenzen zu denken.

Ich habe aber nicht gemalt. Ich habe doch kaum mit dem Bild angefangen. Wann soll das entstanden sein?

»Was soll das …?«

Beinahe hysterisch drehe ich den Hahn auf, aber bleibe doch seltsam ruhig, zumindest für das, was ich gerade fühle.

Dabei starre ich unsicher in mein eigenes Antlitz.

Als wäre es nicht ich selbst, die mir da entgegenblickt.

Sehe daran vorbei zu der Krähe auf der Fensterbank; sehe sie hinter mir sitzen.

Wie sie mich von dort hinten anstarrt, als wäre sie in der Lage meine Gefühle zu verstehen, was aber selbst dann dumm wäre, wenn dem wirklich so sein könnte. Immerhin trägt sie mit Sicherheit mindestens eine Mitschuld an diesem ganzen Drama, das hier gerade abgeht.

Das Licht wird in ihren Augen reflektiert, als ich hineinsehe. Einen Moment bleiben die winzigen Perlen einfach nur schwarz, dann werfen sie einen kleinen Teil davon zurück.

In wunderschönem Violett.

Meine Lieblingsfarbe, wie ich völlig absurd feststelle.

Dieses beklemmende Gefühl in der Brust kehrt mit einem Mal zurück. Da ich nicht weiß was ich tun soll, kneife ich die Lider zusammen, halte mir mit den bandagierten Händen die Ohren zu, so fest ich kann, und lege die Stirn an das kalte Glas des Spiegels.

Es ist alles in Ordnung, Annie. Es ist alles in Ordnung.

Was soll schon sein? Alles in Ordnung.

Erst ein lautes Flattergeräusch, das ich trotz des Schutzes meiner Ohren vernehme, lässt mich heftig zusammenzucken und danach langsam, auf der Hut, zum Fenster sehen. Weg.

Abgehauen. Einfach so.

Ich zittere am ganzen Leib, schüttle ein ums andere Mal meinen hämmernden Kopf und versuche einen klaren Gedanken zu fassen, was mir jedoch nicht gelingen will.

Alles was ich tun kann, ist vor dem Waschbecken auf dem Boden zusammenzusinken und die eigenen Knie zu umschlingen, bis das Zittern endlich nachlässt.

Danach stehe ich wie ferngesteuert auf, wasche mir sorgfältig die Finger ab, ohne auf die Verbände zu achten.

Ich reinige so gut es geht auch mein Gesicht und räume meinen Platz auf, ehe ich das Bild mit einer weißen Plane abdecke und mit einem Schild markiere, damit es nicht verschwindet.

Für heute habe ich genug. Ich will hier weg. Weiß nicht recht, ob ich nach Hause will, aber es ist mir auch vollkommen egal. Hauptsache hier weg. Ich will nicht mehr darüber nachdenken, was gerade geschehen ist.

Sonst verliere ich endgültig meinen Verstand.

Über mir wird es langsam etwas schattiger. Der Abend bricht bald an, schließlich haben wir bereits Oktober.

Bei dem Gedanken wird mir bewusst, dass der Oktober eigentlich mein Lieblingsmonat sein sollte. Doch davon merke ich diesmal nichts.

Dieser Oktober hat wirklich nicht besonders erfreulich angefangen.

Schweren Herzens steige ich aus dem Bus, an der Haltestelle in der Nähe unseres Hauses. Es dauert nicht lange, selbst in meinem derzeitigen Tempo, bis ich die zwei Stufen zu unserer Haustür erklimme und aufschließe.

»Ich bin zu Hause«, rufe ich mit wenig Elan, da ja ohnehin niemand antworten wird, während ich auf die Uhr sehe.

Fast sechs.

Die ›Uhr‹ ist dabei mein Mobiltelefon, welches mir auch sagt, dass ich zwei unbeantwortete Anrufe gespeichert habe. Beide schon vor einer ganzen Weile eingegangen.

Ich habe keine Musik gehört, also habe ich nicht auf das Handy geachtet. Ein Anruf kam von meinen Eltern.

Der andere von Liv.

Mist. Schnell rufe ich das Feld für eine Nachricht auf, um meiner Mutter eine SMS zu tippen.

»Tut mir leid, dass ich nicht geantwortet hab. Ich hab das Handy nicht gehört, weil ich noch am Malen war.«

Als ich das habe, stecke ich das Telefon wieder weg und schließe für einen Moment die Augen.

Wenigstens sind meine Kopfschmerzen beinahe verschwunden.

Ich seufze, während ich noch richtig eintrete und meine Schuhe abstreife. In der Nachricht erwähne ich dabei ganz gewiss nichts von dieser ›interessanten‹ Erfahrung der letzten Stunde … besser, wenn ich das überhaupt nie jemandem berichte.

Meine Handflächen brennen wie die Hölle in Spe.

Es wäre besser, wenn ich den Verband vor dem Duschen abnehme und mir dann einen ganz Neuen anlegen lasse. Der hier ist ohnehin mittlerweile ruiniert.

Besonders von der Farbe dieses Bildes, wie mir klar wird. Mir wird schon wieder schlecht.

Dieser Abgrund will mir einfach nicht aus dem Kopf. Er jagt durch meine Gedanken, immer wenn ich versuche ihn zu verdrängen, taucht er umso deutlicher auf. Und er beschert mir eine unangenehme Gänsehaut.

Wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass er nur für mich allein etwas Unheimliches an sich hat, würde ich glatt behaupten, diese Schlucht sei perfekt für Halloween. Der Gedanke amüsiert mich auf verquere Weise und bringt mich zu einem absurden Lächeln, das sich wie ein Fremdkörper in meinem Gesicht anfühlt.

Doch meine Augen weiten sich erheblich und die Gedanken von eben rücken irgendwo in den Hintergrund, als ich sehe, wie meine Mutter plötzlich um die Ecke gestürmt kommt.

»Wo warst du denn?!«

Sie sieht in der Tat … etwas gestresst aus.

Leicht perplex starre ich ihr entgegen. »Mom? Was machst du denn hier? Solltest du nicht auf der Arbeit sein, oder so?«

Doch sie interessiert sich gar nicht für meinen Einwand.

»Ich weiß, wir hatten mal darüber gesprochen, dir nun, da du sechzehn bist, deine Freiheiten zu lassen. Und in ein paar Tagen wirst du ja auch bereits siebzehn. Dennoch kannst du nicht abstreiten, dass du gestern in eine sehr gefährliche Situation gestolpert bist, ich bitte dich also anzurufen, wenn du länger in der Schule bleiben willst. Du hast Glück, dass wir nicht zu den Eltern gehören, die bei solchen Dingen sofort durchdrehen!«

Ja, welch ein Glück dass sie nicht zu ›diesen‹ Eltern gehören, nicht wahr?

Das sage ich aber lieber nicht laut, stattdessen nicke ich hastig. Ich kann froh sein, dass sie nicht die Polizei gerufen hat, schätze ich mal.

»Ja, tut mir echt leid, kommt nicht wieder vor.«

Die wie zur Schlacht gestrafften Schultern lockern sich bereits ein wenig und sie atmet erleichtert auf, während sie mich von oben bis unten mustert.

»Okay, ich bin erst einmal froh, dass es wohl heute keine neuen Katastrophen in der Umgebung gab. Du siehst unversehrt aus, jedenfalls soweit das vorher schon der Fall war.«

Mit einer Hand an meinem Oberarm, führt sie mich in die Küche. So, als wäre ich dazu nicht selbst imstande, was durchaus ein wenig befremdlich ist.

»Dein Vater und ich haben heute Vormittag lange miteinander gesprochen und da wir immerhin unser eigenes Unternehmen führen, haben wir uns dazu entschlossen, heute ausnahmsweise etwas früher zu Hause zu sein. Wir wollten etwas Wichtiges mit dir bereden. Du bist jetzt immerhin alt genug.«

Neugierig, aber auch mit einem Mal ein wenig skeptisch, sehe ich die beiden an, die sich an den Tisch setzen und offensichtlich erwarten, dass ich es ihnen gleichtue.

Und genau das mache ich auch, schließlich will ich ja ebenfalls wissen, was sie zu sagen haben.

»Was ist denn los?«

Ein wenig nervös blicke ich zwischen meinen Eltern hin und her, die sich gegenseitig vielsagende Blicke zuwerfen.

»Nun, es ist eigentlich gar keine so große Sache, wie es jetzt vielleicht den Anschein haben mag, aber …«, beginnt mein Dad vorsichtig.

Als er ins Stottern gerät, übernimmt meine Mutter das Ruder.

»Du hast heute Morgen eine Frage gestellt, erinnerst du dich? Im Auto, als wir beide allein waren.«

»Sicher«, bestätige ich, weiß aber noch nicht genau, worauf das hier hinaus laufen soll.

Oder doch? Irgendwie will ich es gar nicht wahrhaben.

»Wir beide haben darüber gesprochen; deine Mutter und ich. Sie hat mir von eurer kurzen Unterhaltung erzählt und meinte, wir sollten dich einweihen, da du es selbst offensichtlich, zusammen mit anderen Dingen, verdrängt hast. Du hast das Recht es zu erfahren.«

Von meinem Vater wechselt das Wort zu meiner Mutter.

»Wir wussten eben nicht, ob es gut ist, die Vergangenheit aufzuwühlen, meine ich. Denn als du zu uns kamst, da warst du immerhin erst acht Jahre alt – das vermuteten zumindest die Ärzte damals. Schlimm genug, dass du das selbst nicht einmal sagen konntest. Und du konntest dich ja auch an sonst nichts erinnern«, erklärt sie mir was ich eigentlich bereits weiß. »Bilder, die du gemalt hast und dabei anderen in deinem Alter um Längen voraus warst; die Motive, an die du dich später nicht mehr erinnern konntest; es gab Dinge, die du gesagt hast, Träume und Erinnerungsfetzen, noch bis in dein spätes dreizehntes Lebensjahr. Es wurde zuerst über Jahre weniger, dann hörte es plötzlich ganz auf. Und du schienst alles davor zu vergessen.«

Bei allem was sie sagt, frisst sich nur ein Teil der Aussage in meinen Verstand. Das kann einfach nicht möglich sein.

»Bis ich dreizehn war? So lange?« Panisch denke ich nach.

Ich kann mich nicht daran erinnern. Doch wenn ich ehrlich bin, habe ich auch nie darüber nachgedacht. Die ersten Jahre hier waren immer verschwommen, das habe ich einfach so hingenommen. Wahrscheinlich wollte ich es in Wahrheit gar nicht wissen.

Beruhigend legt meine Mutter eine Hand auf meine Schulter, welche ich allerdings nur nebensächlich wahrnehme.

Ich wusste, dass ich in dieser Zeit Dinge getan habe, an die ich mich nicht erinnere, da ich mich eben an kaum etwas erinnere.

Aber ich wusste nicht, dass es solche Dinge waren, die ich gesagt und getan habe. Der Gedanke schockt mich.

Es ist, als hätte ich mich daran gewöhnt … zu vergessen. Mich selbst zu verlieren.

Dieser Gedanke stimmt mich traurig und ich bin entsetzt über meine eigene Situation.

Mehrere Minuten sitze ich nur da und starre ins Nichts, die beiden anderen sagen kein Wort.

Erst meine tonlose Stimme, bricht letztendlich das Schweigen.

»Was ist nun mit meiner Frage?«

Ich erwarte dabei die Antwort von meiner Mutter, die mich entschuldigend ansieht.

Dabei ist es ja nicht ihre Schuld. Warum sollte sie mir auch alles wieder vorkauen, wenn ich selbst es einfach so verworfen habe? Ist doch meine eigene Verantwortung, oder etwa nicht?

»Schatz, ich weiß nicht ob ich dir damit wirklich helfen kann, aber deine spezielle Frage hat mich tatsächlich an etwas erinnert. Es tut mir leid, dass ich dich heute Morgen belogen habe«, entgegnet sie und ich kann hören, dass sie diesmal vollkommen ehrlich zu mir ist.

So wie sonst auch.

»Aber in diesen ersten fünf Jahren bei uns, da hattest du, besonders am Anfang, sehr oft Alpträume. Du hast von einem Feuer geschrien, Annie. Und nach deiner Mutter. Bei Letzterer hast du sicher nicht mich gemeint.«

Mit ausdrucksloser Miene, starre ich weiter geradeaus. Lasse nur hin und wieder einen kurzen Seitenblick in Richtung meiner Mutter zu.

Feuer. Das einzige Wort, das mir gerade durch den Kopf geht.

Als ich nicht reagiere, fährt sie mit ihrer Geschichte fort.

»Du hast gesagt, dass du Hilfe bräuchtest und es hat jedes Mal eine halbe Ewigkeit gedauert, bis du wieder zur Ruhe gekommen bist. Du warst so lange traurig und verstört, ein Kind voller Sorgen und Kummer, deren Ursprung wir nicht kannten.«

Die Trauer in ihrer Stimme ist nicht zu überhören, so legt der Mann neben ihr eine Hand auf ihre und schenkt ihr dabei ein aufmunterndes Lächeln.

»Es schien, als ob du den Ursprung selbst nicht kanntest, ihn aber verzweifelt zu finden versucht hast. Es tat weh, dich so zu sehen. Der Gipfel war dann dieses Selbstporträt, das du damals von dir gemalt hast. Es steht noch immer bei den anderen Bildern im Keller, aber … ich habe es gehasst. Am liebsten hätte ich es entsorgt, in dem Moment, in dem ich es das erste Mal gesehen habe.«

Ich kann mich an kein solches Porträt erinnern.

»Du musst wissen, dass wir wirklich nicht wollten, dass du dich schlecht fühlst, weil du dich nicht an deine Vergangenheit erinnerst«, fügt mein Vater nach einigen verstrichenen Sekunden hinzu. »Doch ich war auch nicht traurig, als du plötzlich alles zu vergessen schienst und endlich der Sonnenschein wurdest, der du immer hättest sein sollen. Du warst endlich glücklich, ohne diese ganze Last. Wieso hättest du sie weiter mit dir herumschleppen sollen?«

Es war aber nicht eure Entscheidung.

Eine kleine, giftige und von Wut erfüllte Stimme in meinem Kopf, wirft ihnen genau das vor; hasst sie dafür. Will ausrasten und sie beide anschreien.

Doch das ist nicht wirklich das, was ich will. Und es macht so auch keinen Sinn.

Ja, sie haben eine Entscheidung gefällt, aber man kann ihnen dafür keinen Vorwurf machen; ich kann das nicht.

Sittsam nickend, lasse ich mir stattdessen ihre Geschichte durch den Kopf gehen. Das war eigentlich alles was ich wissen wollte. Wieso fühlt es sich dann nicht gut an?

Vielleicht sollte ich meinen Blickwinkel ändern. Nicht an das denken, was ich verloren habe. Nicht an das denken, was mich traurig macht.

Sondern an das, was mir diese Erkenntnisse sonst vermitteln. Zwischen den Zeilen lesen.

Okay, es gab nicht allzu viele Informationen.

Aber nun weiß ich, dass da etwas war. Ich weiß es. So, wie ich es wollte.

Auch wenn ich als Kind vielleicht lediglich Alpträume hatte. Ich glaube es nicht. Seit ich hier war, habe ich kontinuierlich alles vergessen, was geschah, bevor ich herkam. Und nachdem ich anfangs weiterhin Erinnerungsfetzen hatte, habe ich die Zeit mit diesen Erinnerungen ebenfalls wieder verloren.

Etwas Ausschlaggebendes musste geschehen sein, bevor ich hier gelandet bin und glücklich wurde.

Ehe ich meine Eltern und das Nachbarskind, Liv, kennen und lieben gelernt habe.

Ehe ich … ich wurde.

Es war nicht bloß Einbildung.

 

Und ich muss wissen, was es damit auf sich hat.

Chapter 5: And Got to Portray Sadness

 

Es hat sich nichts verändert. Ich bin immer noch dieselbe wie zuvor.

Nur weiß ich jetzt mehr, als ich noch vor zehn Minuten wusste, na und?

Meine Familie wird es nicht verändern. Meine Eltern, die mich offenkundig lieben und mit sanften Händen großgezogen haben, werden deshalb nicht verschwinden.

Also sollte ich ihnen nicht noch mehr Sorgen bereiten. Nicht, wenn ich es verhindern kann.

Daher werde ich das hier beenden. Allein auf das kommen, was noch fehlt. Sie nicht weiter behelligen. Ich schenke ihnen stattdessen ein neues, halb aufgesetztes Lächeln.

»Danke, dass ihr mir die Wahrheit gesagt habt. Ich liebe euch, das sag ich euch viel zu selten.«

Eine Hand streicht federleicht über mein Haar, zu meiner linken Wange hinab.

»Aber immer doch, mein Schatz.« Daraufhin erhebt meine Mutter sich von ihrem Platz.

Mutter. Ich schlucke das seltsame Gefühl bei diesem Gedanken und verdränge jegliche Zweifel an meinem Entschluss sobald sie aufkeimen. Ich lasse es gut sein.

Die Atmosphäre wirkt noch immer ein wenig schwer, doch sie versucht sie wohl ebenfalls zu lockern.

»So, ich geh jetzt mal nach dem Essen sehen, sonst gibt‘s heute Abend nämlich nur noch Kohlebriketts.«

»Im Vergleich zu manchen ihrer besonderen Kreationen, wäre das zumindest eine Verbesserung«, wirft mein Vater beiläufig von der Seite ein.

Ich lache noch, während meine Mutter vermutlich bereits die Messer wetzt und Mordpläne schmiedet, als mir bei diesem Thema siedend heiß klar wird, dass ich etwas vergessen habe.

»Verdammt!«

Aufgeschreckt sehe ich zu meiner Mutter auf, die verwirrt zurück in den Raum tappt. Doch für lange Erklärungen bleibt möglicherweise keine Zeit, hatte ich doch jemanden zum Abendessen eingeladen und vergessen, hier Bescheid zu geben!

Verdammt, das habe ich eigentlich längst mit einfließen lassen wollen …

Ich dachte aber auch, dass ich Zeit hätte. Liv wird bald kommen, wenn sie mich hat anmarschieren sehen und deshalb hat sie vorhin wohl auch angerufen, nehme ich an.

Scheiße, wie kann man nur so verschlafen sein?!

Und ausgerechnet heute waren meine Eltern schon vor mir da, das Essen ist somit bestimmt.

Meine beiden Erziehungsberechtigten wirken derweil dezent überfordert mit meinem Verhalten, weswegen ich mich zusammenreiße, um ihnen Rede und Antwort zu stehen.

»Du, Mom, ich hoffe du hast wieder ein bisschen zu viel gemacht …« Schuldbewusst setze ich eine zerknirschte Miene auf.

»Also … Vermutlich wird es schon ein wenig zu viel sein, aber warum interessiert dich das? Hast du so großen Hunger?«

Auch mein Vater betrachtet mich mit großem Interesse, was das angeht.

»Naja, ehrlich gesagt hab ich-«, beginne ich und unterbreche mich einen Moment, »ich hab jemanden eingeladen und möglicherweise auch gesagt, dass sie mit uns essen kann, weil du immer so viel machst?«

Ich schließe meine heruntergeratterte Beichte in fragendem Unterton und mit einem seltenen Hundeblick, den ich mir immer für Notfälle aufspare.

Notfälle wie diesen hier, um mal ein Beispiel zu nennen.

Angesprochene stemmt die Hände in die Hüften und sieht einen Moment aus, als würde sie wütend werden … doch stattdessen fängt sie an zu lachen?

»Tja, wenn du endlich mal wieder jemanden hierher einlädst, wollen wir ihn lieber nicht vertreiben, was? Aber beim nächsten Mal wäre ich dir sehr verbunden, wenn du mich vorher einweihen würdest, das hilft mir jedenfalls sehr.«

Damit verzieht sie sich ohne großes Trara um die Sache zu machen in die Küche hinter uns und ich kann ihr bloß ungläubig nachsehen; und natürlich erleichtert aufatmen.

»Wer ist es denn überhaupt?«

Durch die verspätet in den Essbereich gerufene Frage, schrecke ich zwar erneut auf, doch bei dem Gedanken an die Antwort, lächle ich in mich hinein.

»Das wirst du gleich sehen.«

Mit mehr oder weniger guter Laune berge ich das Mobiltelefon aus meiner Tasche und sehe die Kontakte durch, wo ich nach der sinnbildlichen Schwester meines Herzens suche, um dieser eine kurze SMS zu verfassen.

Da sie mit Sicherheit wieder zu Hause lebt, ist sie schließlich keine fünfzehn Meter von meinem jetzigen Standort entfernt, will ich meinen. Es ist schließlich bloß ein Haus weiter.

Damals war sie die einzige Person gewesen, die mit mir hatte sprechen wollen. Sie war zu der Zeit ebenfalls traurig, selbst wenn ich ungern zugebe, dass ich mich auch an sie nur wenig erinnere. Seltsamerweise aber besser, als an viele andere Dinge.

Auch an meine Eltern erinnere ich mich noch. Aber alles zwischen einzelnen Gesprächen oder Momentaufnahmen mit ihnen zusammen … ist einfach weg.

Wie gelöscht. Eine Art Festplattenvirus.

Weshalb ist mir das vorher nie bewusst gewesen? Ich muss in diesen Jahren doch irgendetwas getan haben. Wieso habe ich nicht gemerkt, dass ich viel zu wenige Erinnerungen habe?

Okay, ich habe es schon gemerkt, aber kaum. Die meiste Zeit habe ich es ignoriert.

Seufzend nehme ich meinen Rucksack auf. Ich eile damit nach oben in mein Zimmer, wo ich ihn achtlos auf das ungemachte Bett werfe. Gerade rechtzeitig. Denn kaum drehe ich mich wieder in Richtung Flur herum, läutet es bereits an der Haustür.

»Ich komme schon!«

Als ich den Fuß der Treppe erreiche und kurz darauf schließlich unseren erwarteten Gast hereinbitte, scheinen die anderen ebenso sprachlos wie ich es gewesen bin, als sie heute Morgen einfach hinter mir aufgetaucht war.

Mein Vater steht sogar auf, um meine jahrelange Freundin kurz zu drücken.

»Aber, aber«, wirft meine Mutter von hinten ein, »verscheuch sie nicht gleich wieder, sonst verschwindet sie beim nächsten Mal direkt bis nach China.«

Der Witz ist zwar tatsächlich dezent beunruhigend, sie lachen aber trotzdem darüber.

»Schön dich wiederzusehen, Lauren«, wird meine Mutter von meiner besten Freundin gegrüßt.

Sie hatte schon früher immer gesagt, sie würde mich um meine Mutter beneiden, da ihre Stiefmutter eher zu wünschen übrig ließ. Wer weiß ob sie das noch immer so sieht.

Auch meine Mutter schließt sie in die Arme.

»Wir haben dich alle vermisst. Seit wann bist du wieder im Lande?«

»Erst seit gestern Nacht. Ich wollte, dass es eine Überraschung wird.«

»Ja, und was für eine!«

»Tut mir ehrlich leid, ich dachte, es macht so einfach mehr Eindruck. So wie … ein paar Minuten zu spät auf einer Party zu erscheinen, um den glanzvollen Auftritt des Abends zu erhaschen.«

Sie reden noch eine kleine Weile so weiter, einfach über Gott und die Welt, weswegen ich sie eigentlich nur ungern unterbreche, als sie eine kurze Pause einlegen.

»Also … gehen wir dann?« Ich lege dabei eine Hand auf ihre Schulter.

Sie sieht zur mir herüber und nickt. »Klar, wieso nicht?«

Damit richte ich den Blick wieder auf meine Mutter. »Wir sind bis zum Essen oben, okay?«

»Sicher«, erwidert diese lächelnd. »Tut was ihr nicht lassen könnt. Ihr habt euch immerhin lange nicht gesehen.«

Oh ja, da hat sie Recht.

 

Der würzige Duft von Mutters berühmtem Nudelauflauf erfüllt mittlerweile bereits das gesamte Untergeschoss, als wir auf dem Treppenabsatz stehen. Das Haus ist recht klein und geschlossen, so kann alles bequem durchziehen.

Das Haus ist eben eher hoch, als breit, darum sind die Wohnräume alle hier im zweiten Stock oder im Stockwerk darüber.

Manche Leute fragen uns, warum wir ein Wohnzimmer so weit oben eingerichtet haben, neben dem Schlafzimmer meiner Eltern im dritten Obergeschoss. Doch das ist eigentlich ganz einfach zu beantworten.

Es ist, weil wir es so selten nutzen – zumindest als das, wozu es wohl gedacht wäre.

Wenn meine Eltern nicht da sind, bin ich schließlich in meinem eigenen Zimmer.

Wir essen im Essbereich und der ist unten. Ich selbst habe sehr selten Besuch. In den letzten beiden Jahren … Tja, eigentlich gar niemanden mehr.

Wir haben auch keine wirklichen Verwandten, die zu Besuch kommen könnten. Manche sagen, dass meine Eltern und ich uns ›gefunden‹ hätten, weil wir alle drei das sind, was man als allein auf der Welt bezeichnen könnte. Und es natürlich viel schöner ist, zusammen allein zu sein, als für immer einsam zu bleiben.

Doch das ist vermutlich eher Blödsinn. Wir hatten einfach nur Glück. Allein sind so viele Menschen auf dieser Welt, manche sogar dann, wenn sie eigentlich Familie haben.

Genau deshalb bin ich auch froh, Liv gefunden zu haben. Nicht, weil ich nicht zufrieden mit meiner gefundenen Familie wäre; nein, ganz im Gegenteil! Sondern deshalb, weil sie sonst ebenfalls niemanden hätte.

Jedenfalls nicht bei sich zu Hause. Ich will nicht eingebildet klingen, in dem ich andeute, sie hätte neben mir niemals Chancen, andere Freunde zu finden. Doch ihre Familie war immer ich. Darauf bin ich auch irgendwie stolz.

Und auch wenn das hier nicht ›ihr‹ zu Hause sein mag, so ist sie doch jederzeit willkommen.

»Ich weiß, ich hab es dir bisher vermutlich nur nebensächlich oder sogar gar nicht wirklich gesagt, aber du musst wissen, dass ich ehrlich froh bin, dich wieder hier zu haben«, meine ich mit einem Blick zur Seite, als ich mit ihr die Treppe ins obere Stockwerk erklimme.

»Ach was, ich bin doch auch froh, wieder hier zu sein, obwohl ich eigentlich fern bleiben wollte. Aber ihr werdet mich jetzt auch nicht mehr so schnell los. Zwei Jahre im Ausland, und mein Heimweh hätte mich fast umgebracht.«

Zwei Schritte vor meinem Zimmer, hält sie dann jedoch inne.

»Das erste Mal in über zwei Jahren, dass ich diese Höhle von innen sehe«, stellt sie dort an Ort und Stelle fest.

Wie angestochen sehe ich sie erneut von der Seite an.

»Es ist ein wenig unaufgeräumt, schätze ich«, gestehe ich jedoch und kratze mich verlegen am Kopf, was meine ohnehin nicht gemachte Frisur auch nicht weiter stört.

»Naja …«

Direkt nach mir tritt sie ein und die Unordnung, die ich normalerweise für mich ausblende, nein, in der ich mich sogar eigentlich sehr wohl fühle und die ich so mag, wie sie ist, wird mir mit einem Mal etwas peinlich.

»Wie gesagt: Nicht unbedingt aufgeräumt.«

»›Nicht unbedingt aufgeräumt‹ ist gut.«

Der leicht sarkastische Unterton ihrer Worte entgeht mir nicht.

»Aber immerhin weiß ich jetzt auch ganz sicher, dass du kein außerirdischer Klon aus dem Weltall bist, wenn ich das hier so sehe. Es sieht exakt genauso aus wie damals«, stellt sie fest. »Ist das eigentlich eine Kunstform die man an der Akademie vorzeigen kann? Mit so wenig Gegenständen wie möglich das maximale Chaos zu generieren, meine ich.«

Trotzig stapfe ich an ihr vorbei ins Zimmer, werfe meine Tasche demonstrativ an ihren angestammten Platz und lasse mich auf mein Bett fallen. Sie folgt mir auf dem Fuße und lacht dabei noch, während ich weiter schmolle.

»Mach bitte die Tür hinter dir zu.« Grummelnd rücke ich mich auf dem Bett zurecht.

Sie tut wie ihr geheißen und lässt sich dann bei mir nieder.

»Also, wie ist das mit dieser Halloweenparty, von der du gesprochen hast?«

Überrascht sehe ich sie von meinem Platz auf der Matratze aus an, von der ich rücklings meinen Kopf gen Boden baumeln lasse.

»Was meinst du genau?«

»Naja, wann ist sie? Wo genau findet sie statt? Solche Sachen eben.«

»Oh«, rutscht es mir heraus und ich sehe geradeaus.

Dorthin wo ich die Beine meines auf dem Kopf stehenden Schreibtischs sehen kann, an dem meine Schultasche jetzt lehnt.

»Guck mal da rein. Da müsste ein Flyer drin liegen.«

Ich zeige auf den erspähten Rucksack und sie kommt der Aufforderung nach.

Nach einigen Sekunden des Wühlens, lässt sie sich zurück auf das Bett fallen, direkt neben mir, und zieht einen kleinen Papierfetzen hervor.

»Der Fresszettel hier?« Sie sieht das Ding mit hochgezogener Augenbraue an.

»Ja, genau der«, bestätige ich und kämpfe mich dann auch endlich wieder in die Senkrechte zurück. »Wir haben wegen Allerheiligen den Freitag nur halb.«

»Keine Ferien?«

»Nö.«

»Das is‘ ja mies.« Sie betrachtet den bedruckten Zettel etwas genauer. »Aber die ganze Party findet in der Schule statt, oder wie?«

»Nicht ganz. Der Flyer ist zugegeben irgendwie ungenau, aber besser erklär ich dir das Ganze später.« Langsam drehe ich mich auf der Matratze herum. »Ich soll jedenfalls für den offenen Empfang eine Ausstellung bestücken und das kann ich vielleicht nicht, weil ich nicht weiß wie viel ich malen kann, in einer Woche.«

Eigentlich könnte ich es vielleicht. Aber allein der Gedanke an den letzten Versuch lässt meine Nackenhaare zu Berge stehen. Ich schüttle mich beinahe unmerklich und spreche weiter, als ich realisiere wie lange meine Pause bereits anhält.

Ich schüttle den Kopf und rutsche an die Bettkante, wo ich meine Füße wieder auf den Boden bringe.

»Also nehm‘ ich eben Bilder aus dem Kellerzimmer, das Mom mir damals ausgeräumt hat. Die hat auch noch kein Außenstehender zu Gesicht bekommen. Sollte glaube ich auch keiner, aber wen kümmert das heute noch?«

Verwirrt blickt sie mich an.

»Stimmt was nicht?« Sie guckt, als hätte ich einen Popel im Gesicht.

»Nein, ist schon alles klar, aber warum bist du jetzt wieder aufgestanden?«

»Hä?« Sie hat Recht, ich stehe.

Warum bin ich eigentlich aufgestanden?

Ich zucke zusammen, als ich einen Wimpernschlag später meine Mutter von unten rufen höre. »Kommt runter, das Essen ist fertig!«

»Wow, als könntest du in die Zukunft sehen«, witzelt Liv von der Seite.

Sie erhebt sich nun ebenfalls, was aus ihrer Position allerdings auch weitaus leichter ist, als aus meiner zuvor. Ich versuche derweil das Gefühl los zu werden, dass das eben ziemlich seltsam war.

Gleichzeitig tue ich es ab, da es auch eigentlich nichts Besonderes gewesen ist, im Vergleich zu allem anderen, was in letzter Zeit vor sich geht.

»Haha, ja …«, pflichte ich dennoch bei, als würde ich es ebenfalls als Witz empfinden.

Gemeinsam machen wir uns auf den kurzen Weg nach unten, wo meine Eltern am bereits gedeckten Tisch warten.

»Setzt euch, ich hol schon mal das Brot«, höre ich die Anweisung meiner Mom.

Liv stößt mir leicht den Ellenbogen in die Seite, als wir uns auf den Stühlen niederlassen.

»Und wie ist es nun eigentlich mit Leuten an der Schule? Irgendjemand den wir von früher kennen?«

»Warum zu Hölle flüsterst du? Du darfst hier frei reden, falls du das noch nicht bemerkt hast«, merke ich irritiert an und denke dann über das nach, was sie gesagt hat.

»Aber ja, einen dürftest du schon kennen. Fragt sich nur, ob dich das sonderlich glücklich machen wird, denn-«

Mit einem breiten Lächeln kehrt meine Mutter aus der Küche zurück, mit einer Schale Brot in der Hand, die sie neben der Auflaufform im Zentrum des Tisches platziert, ehe sie sich zu uns setzt.

»Nehmt euch ruhig was ihr wollt«, sagt sie dazu, womit sie mich erfolgreich unterbricht.

Ich nicke und sehe zu Liv hin. »Aber willst du denn überhaupt schon zu der Party gehen?«

»Eigentlich schon, ja. Ich meine, wo können wir unseren Einstand besser feiern, als zu deinem Geburtstag auf einer Halloweenparty? Du liebst doch Halloween.«

»Ja, schon, aber … Ist das nicht noch zu früh?«

Bei meinem eigenen Einwand kann ich spüren, wie meine Augenbrauen automatisch eine tiefe Furche in meinem Gesicht bilden.

Ich dachte eigentlich, ich freue mich auf diese Party, wenn ich ehrlich sein soll. Lag ich da falsch? Wie seltsam.

Ich will sie ihr schlecht reden, aber warum? Diese Situation ist irgendwie … paradox.

Und nach dem Blick, mit dem mich meine Freundin gerade bedenkt, zu urteilen, bin ich nicht die Einzige an diesem Tisch, der dieser Umstand auffällt.

»Was denn für eine Party, wenn ich fragen darf?«

Der Einwurf meiner Mutter kommt von der Seite, wo sie gerade überdeutlich auf das Essen vor uns weist, von dem wir uns auch endlich etwas auf die Teller häufen.

»Unsere Schule veranstaltet am Einunddreißigsten eine große Feier. Wir haben dafür kaum Unterricht und werden selbst den, den wir haben, vermutlich mit Vorbereitungen verbringen. Ich wollte euch eigentlich auch einladen, zumindest zum offenen Empfang.«

»Ein offener Empfang?« Mein Vater sieht mich interessiert an.

»So eine Art … Tag der offenen Tür. Alles ist geschmückt und auf den Gängen werden Schülerwerke präsentiert. Von mir wird auch was aushängen. Zumindest wenn ich genügend Bilder zusammenkratzen kann.«

»Aber das ist doch großartig! Warum wissen wir nichts davon?!«

Der Ausdruck meiner Mutter wirkt beinahe erschüttert, als sie mich ansieht und ich fühle mich, als würde ich in meinem Sitz schrumpfen.

»Naja, irgendwie war ich noch nicht sicher, ob ich mitmachen würde …«

»Ach komm, das wird toll! So kannst du deinen Siebzehnten wenigstens gebührend feiern. Bisher hat das ja nie recht funktioniert, weil du niemanden außer Liv hierhaben wolltest …«

Man kann an ihrem Gesicht ablesen, wie sie sich gerade an all die geplatzten Geburtstagspartys zurückerinnert, zu der sie meine Mitschüler eingeladen hatte. Wobei sie nicht wusste, dass ich sie in der Schule immer wieder ausgeladen habe, sobald ich darauf angesprochen wurde.

Am Ende kam jedenfalls nie jemand, abgesehen von Liv.

»An Halloween haben die Leute sowieso Besseres zu tun als einer Außenseiterin zum Geburtstag zu gratulieren, Mom«, wende ich ein.

Sie zieht eine Grimasse, was ich jedoch nur mit einem Schulterzucken abtue und dann nach der Gabel greife, die neben meinem Teller ruht.

»Jedenfalls stehen danach noch private Partys an. Die Schüler dürfen sogar im großen Stil Werbung machen, wenn sie wollen.«

»Also, ich weiß ja, sie wird erst siebzehn, aber dürfen wir trotzdem die Nacht über bleiben? Oder zumindest spät? Sonst macht es doch kaum Spaß.«

Diese Frage stellt Liv mit ihrem süßesten Lächeln, dennoch bleiben die beiden Erwachsenen erst einmal nur wenig mitteilungsfreudig.

Kopfschüttelnd schiebe ich mir ein bisschen von dem Essen in den Mund, während ich das Spektakel beobachte, das sich sicher bald anbahnen wird.

Meine Eltern lassen sich ja zu Vielem erweichen und sie lassen mir auch meinen Freiraum, aber so etwas? Wohl eher nicht. Der Gedanke allein ist fast schon lächerlich.

»Okay, aber nur wenn ihr spätestens um Mitternacht hier anruft und euch bei einem Notfall sofort bei uns oder den Piercens meldet.«

Geschockt verschlucke ich mich heftig an einer Nudel. Die drei Wackelköpfe um mich herum starren mich dafür jedoch nur fragend an. Als wäre ich die einzige, die sich gerade verarscht vorkommt.

»Was?!«

Ich krächze, als hätte ich Lungenkrebs im Endstadium und könnte jede Sekunde abkratzen, beachte sie jedoch nicht weiter, als mein Anfall zu einem Ende kommt.

Mal beiseite, dass ich mich schon wieder dabei ertappe, diese Aussicht auf ein wenig Spaß zu vereiteln, ohne so Recht zu wissen, was ich eigentlich wirklich will, bin ich viel überraschter darüber, dass sie das wirklich zulassen würden.

Nur Liv scheint das Ganze vollkommen kalt zu lassen. Sie fährt stattdessen einfach fort, als wäre die Erlaubnis überhaupt nicht unerwartet gekommen.

»Naja, meine Eltern interessiert das ohnehin recht wenig«, räumt die gute Olivia ein und erntet dafür den strengsten Blick meiner Mutter, den sie überhaupt zustande bekommt.

»Mag sein, aber mich interessiert es. Du interessierst mich auch. Immerhin hast du uns in den ersten Jahren mehr das Gefühl gegeben, ein Kind im Haus zu haben, als unser Eigenes.«

Mit einem Zwinkern in meine Richtung steht sie auf und geht noch einmal in die Küche, aus der sie kurz darauf mit einer Karaffe und ein paar ineinander gestapelten Gläsern zurückkehrt.

Noch immer zu perplex um etwas zu erwidern, lasse ich es einfach geschehen.

»Ich finde, wir sollten dir das erlauben. Immerhin könntest du so ein paar neue Freunde finden«, schaltet sich nun auch mein Vater in das Gespräch ein, der bisher stumm zugesehen hat.

Muss er das ausgerechnet heute tun? Ausgerechnet Dad? Okay, ich denke, er fällt mir hier nicht absichtlich in den Rücken. Er denkt glaube ich eher, dass er das Gegenteil tut …

Ich fühle mich irgendwie in die Ecke gedrängt. Was ist hier los?

»Nicht, dass wir mit Liv unzufrieden wären, aber wir haben gesehen, wie du dich ohne sie zurückziehst. Und das wäre eine super Gelegenheit. Als Geburtstagskind hättest du sogar einen prima Grund dich einzubringen«, schlägt er vor und zuckt vielsagend mit den Augenbrauen.

Verstörend.

Und meint er damit gerade ernsthaft, ich soll da auch noch die Geburtstagskarte ziehen …?

Die beiden müssen mich wirklich für sozial verarmt halten, wenn sie mit so billigen Tricks einverstanden sind, Aufmerksamkeit zu ergattern.

Das ist traurig. »Also schön, dann wär das ja geklärt«, versetze ich leicht gekränkt.

Mein Vater zuckt die Achseln und ich kann nur lachen. »Was denn? Ein Versuch wär es ja wert.«

»Danke, Papa, aber so sozial unfähig bin ich dann doch nicht«, verteidige ich meine versteckten Talente.

Nähe nicht suchen zu wollen und es überhaupt nicht können sind immerhin zwei verschiedene Paar Schuhe.

Ich bekomme dafür einen kleinen Klaps auf den Rücken von der sogenannten besten Freundin links neben mir.

»Keine Sorge, das wird toll. Ich weiß sogar schon, als was wir gehen werden.«

»Ach ja?«

An Dinge wie Kostüme habe ich bei diesem ganzen Thema noch nicht einmal einen einzigen Gedanken verschwendet, wenn ich ehrlich sein soll.

Ich habe die Verkleidungen und Dekorationen immer gerne angesehen, aber verkleidet habe ich mich selbst überraschenderweise nie.

Ich habe es bisher immer darauf geschoben, dass ich später zu alt dafür war. Dass ich es nicht so gerne mochte, das fünfte Rad am Wagen zu sein, als ich etwa dreizehn war und Liv mit Freunden, die ich nicht wirklich kannte, noch ›um die Häuser gezogen‹ ist.

Und als Kind war es einfach nicht mein Ding. Obwohl ich es bei anderen toll fand.

Aber vielleicht ist das alles am Ende doch nie das Problem gewesen. Vielleicht bin ich die ganze Zeit schon das Einzige, was mich davon abhält, Dinge wie diese zu tun.

Genervt von mir selbst drehe ich meinen Kopf zur Seite.

»Okay, ich bin dabei«, entscheide ich kurzerhand, als hätte ich da noch irgendwas zu sagen gehabt.

Dann hebe ich eine Augenbraue in Richtung Liv. »Und was schwebt dir so vor, wenn ich fragen darf?«

»Oh, natürlich darfst du!«

Ein verschlagenes Grinsen umspielt ihre Lippen und plötzlich frage ich mich doch, ob ich die richtige Wahl getroffen habe. Jedenfalls werte ich das hier als böses Omen an sich.

»Wir gehen als Hexen dahin.«

 

Das Brummen des Heizkessels hallt von den steinernen, kalten Wänden wieder, auf dem Pfad nach unten in den Keller. Das Essen liegt noch immer etwas schwer im Magen und ich kann Liv hören, wie sie sich nochmals bei meiner Mutter bedankt, dafür, dass sie so gut kochen kann, ehe sie mir endlich folgt.

»Weißt du, du solltest entweder bei uns einziehen oder meiner Mutter weniger Komplimente machen«, lasse ich trocken in den leeren Raum fallen. »Als du nicht da warst, hat sie die nämlich von mir erwartet, weil ihr deine gefehlt haben.«

Ich höre sie hinter mir gackern und drehe mich genervt herum.

»Ich mein das ernst. Hör auf zu lachen.«

»Aber genau deshalb ist es doch so witzig«, kontert sie, als wäre es selbstverständlich.

Überflüssig zu sagen, dass sie schon immer so war. So rolle ich einfach stumm mit den Augen und knipse das Licht an, als wir unten sind.

»Wow …«, vernehme ich die erstaunte Stimme der Braunhaarigen. »Ich war noch nie in eurem Keller, fällt mir jetzt erst auf. Der is‘ echt krass.«

»Es is‘n Keller, Liv. Wir sind hier im Prinzip so gut wie nie. Wie du siehst, steht er hauptsächlich leer.«

Einen Augenblick brauche ich, um den richtigen Weg auszumachen.

»Hier«, stelle ich fest und zeige in eine Richtung vor uns. »Ich bin eigentlich die einzige, die überhaupt noch hier runter kommt, wenn ich meine Bilder herbringe, die sich im Sommer meist auf dem Balkon stapeln … und in meinem Zimmer. Und im Wohnzimmer. In der Garage …«

»Okay, schon verstanden. Ich kenn deinen Sinn für Ordnung.«

»Hm« Nachdenklich kratze ich mich am Kinn und runzle die Stirn, dann zucke ich jedoch die Achseln. »Jedenfalls sind die wirklich Alten, die keiner kennt, glaube ich hinter der Tür links vorne.«

Zu ihrer anderen Anmerkung muss ich ihr allerdings Recht geben. Anders als das Haus selbst, ist der Keller überhaupt nicht schmal, sondern recht groß, er reicht sogar bis unter den Hof und die Garage. Dabei ist er nicht flächig, sondern in einzelne Räume unterteilt. Im Prinzip also wie eine eigene Wohnung.

Leider kann man hier nicht besonders komfortabel leben, obwohl mein Vater durchaus mal versucht hat, hier unten einen Hobbykeller einzurichten. Dann hat es angefangen zu tropfen.

Es passiert zwar immer nur, wenn es regnet, aber hier in Florida kommt es manchmal, wenn auch nicht oft, zu wirklich heftigen Regenfällen.

In einem der trockenen Räume stehen nun nur noch ein alter Fernseher, eine Kommode und eine Schlafcouch, neben irgendwelchem Altlast-Gerümpel. Die Couch ist traurigerweise wirklich bequem, aber zu klein für ein Wohnzimmer-Sofa und für alles andere wieder zu platzaufwendig, daher bleibt sie hier unten.

Leider weiß keiner wo genau das Leck ist, durch das das Wasser ins Fundament läuft. Ich meine, diese Räume sind ja nicht irgendein Witz. Wäre es nicht für die meisten so ungemütlich, aufgrund der selten anzutreffenden Fenster, hätte hier noch ein Stockwerk sein sollen, das wir weitervermietet hätten. Es war hier sogar schalldicht gebaut worden. Ich frage mich ehrlich, wieso es dann nicht auch wasserdicht ist.

Aber wenn ich ehrlich sein soll, bezweifle ich leider gar nicht, dass das Gemäuer erst undicht wurde, als Dad die Isolierung angebracht hat. Er schafft die unmöglichsten Dinge, wenn er gerade wieder glaubt, der geborene Handwerker zu sein.

Leider schafft er das nicht im positiven Sinne.

Seine Kunden können sich glücklich schätzen, dass er ein Unternehmen für Werbung führt.

Traurigerweise kann ich Liv nicht davon abhalten, sich neugierig umzusehen, auch in den anderen Räumen.

»Das ist so cool! Richtige Mini-Katakomben. Hier gibt’s sogar ein richtiges Badezimmer. Habt ihr hier auch irgendwo Leichen versteckt?«

Ich verdrehe bloß die Augen und ignoriere ihren letzten Kommentar.

Aber ja. Auch ein Klo gibt es hier, das sogar funktionstüchtig ist. Als das Obere mal eine Weile kaputt gewesen war, haben wir das hier genutzt, weil es im Prinzip besser ausgestattet ist, als das Gäste-WC im Erdgeschoss.

Zu unserem Leidwesen war es hier unten mit der Ventilation etwas dürftig gewesen und Dad hatte Magenprobleme gehabt … keine schöne Erinnerung.

Ich schüttle den Kopf, um es zu verdrängen »Hast du‘s dann bald?«

Sie scheint gerade dabei, die Hand nach genau dem Henkel des Hobbyraums zu strecken, den mein Vater verkorkst hat und der darum unbrauchbar ist.

Etwas verwirrt bin ich jedoch, als ich erkenne, dass die Tür bereits einen Spalt weit offen steht. Wieso …?

Vermutlich mein Vater. Egal.

Die Hände in die Hüften gestemmt, blicke ich ihr entgegen.

»Äh … Ja.«

Mit einem Mal schließt sie die Tür, anstatt hineinzusehen, und stellt sich kerzengerade vor mir auf.

Das alles in alter Pfadfindermanier, bei denen allerdings keine von uns jemals Mitglied war.

»Auf zu den Bildern!«

Ich schnaube und schüttle den Kopf, kann jedoch das verräterische Grinsen nicht unterdrücken, als ich dann die Tür zu dem Zimmer öffne, das ich zuvor noch ausgemacht habe.

Die muffige Luft aus dem Inneren schlägt mir entgegen und beißt sowohl in der Nase, als auch in den Augen, sodass ich den dringenden Impuls verspüre, mir eine Hand vor den Mund zu schlagen.

Staubkolonien und kleine Wölkchen in rauen Mengen grüßen uns liebevoll, als ich das Licht einschalte. Abgelagert auf weißen Plastikplanen, die all das abdecken sollen, was mir und auch meinen Eltern seit Jahren wichtig ist.

»Dann mal los«, sage ich an, noch während ich ein wenig Staub aus der Luft zu wedeln versuche, was es jedoch nicht wirklich besser macht.

Am Ende schnappen wir beide beinahe gleichzeitig nach jeweils einer Ecke der Plane.

Bis es plötzlich auf Livs Seite rumpelt.

»Igitt, Spinne!«

Das plötzliche Kreischen bringt mich dazu, mich, wie aus Reflex, wieder aufzustellen, um zu ihr hinüber zu sehen.

Als ich jedoch realisiere was sie da so aufregt, kann ich nicht anders, als erneut die Augen zu verdrehen. Mein Herz wäre eben beinahe stehen geblieben.

»Keine Sorge, die sind bestimmt nicht giftig«, lasse ich belustigt verlauten, als sie angewidert ein weiteres Stück zurückspringt.

Ich kann es mir aber nicht verkneifen, noch einen drauf zu setzen.

»Aber falls ich doch falsch liege, verspreche ich dir, dass ich dir diesen Satz in deinen Grabstein meißeln lasse.«

Etwas pikiert starrt sie mich von ihrer Seite aus an.

»Sehr witzig, Charlie Chaplin.«

»War der nicht Stummfilmstar?«

»Du weißt, was ich meine.«

»Nein. Nein, nicht wirklich.«

Scheinbar hat sie meine Entgegnung entweder nicht gehört oder aber sie geflissentlich ignoriert.

Kopfschüttelnd bücke ich mich letztendlich nach der Plane, um sie ein wenig anzuheben.

»Jetzt pack schon mit an.«

»Na gut …«

Die widerwillige Zustimmung kommt nur langsam, nachdem sie ein wenig an einem Ende ihrer Seite schüttelt, um das ihr unangenehme Tierchen zu vertreiben.

»Aber wenn ich wegen dir gebissen werde, gibt das ganz mieses Karma, nur dass du’s weißt«, jammert sie weiter. »Dann werde ich deine unsterbliche Seele verfluchen und dich heimsuchen, bis zu deinem Tod und darüber hinaus.«

»Jaja, ich werde es mit Würde tragen«, erwidere ich tonlos und verdrehe mal wieder die Augen. »Fertig?«

»Ja.«

Ich zähle auf Drei, worauf wir dann die Abdeckung mit einem Schwung zur Seite werfen und dabei den schon zuvor bemerkten Staub aufwirbeln. Dieser raubt uns für einen längeren Moment sowohl Sicht als auch Atem.

Hustend flüchten wir zurück in den steingrauen Gang.

»Oh mein Gott, was für eine Dunstwolke«, krächze ich nach etwa einer halben Minute.

»Vermutlich ein Fluch oder sowas«, scherzt sie dagegen … vermute ich.

»Es legt sich schon wieder. Wir brauchen ja nur ein paar Bilder.«

Langsam stapfe ich zurück, doch vorsichtig, wegen des anderen Ungetiers, das wir hiermit vielleicht aufgeschüttelt haben.

Eine Spinne geht ja noch, aber man muss auch nicht gleich von ihnen überrannt werden.

Noch immer mit den Händen etwas Staub beiseite wedelnd, rückt unser Ziel somit zumindest in Sichtweite.

»So, und welche von den gefühlt Einhundert willst du dir zur Auswahl mitnehmen?«

»Am besten alles, was irgendwie düster ist«, mutmaße ich. »Ihr habt immer gesagt, dass ich schon immer finster gemalt hätte. Es reicht, wenn wir von denen die mitnehmen, die etwas unheimlich wirken.«

»Alles klar. Du willst also alle«, sagt sie schlicht und ich nicke ab, ehe ich realisiere, was sie gesagt hat.

»Warte, was?«

»Gar nichts. Ich such hier und du suchst da, okay?« Sie sieht mich nur unschuldig an.

Ihre Rettung war zwar jetzt eher mittelprächtig, aber ich gehe dennoch nicht weiter darauf ein.

»Ich glaube, das hier wäre ganz gut«, teile ich ihr leicht zerknirscht mit, als bereits der erste Griff etwas hervorbringt, das zumindest in düsteren Farben gehalten ist.

Naja, wirklich unheimlich ist wohl eher keines davon, immerhin war ich ja auch nur ein Kind, aber die Farben allein sollten doch zu Halloween passen, oder nicht?

Ich meine, die Farben und die Atmosphäre sind doch auch mitunter das, was ich an diesem Fest am liebsten mag und was es für die meisten ausmacht.

»Ich glaub, ich hab hier auch einen Kandidaten«, vernehme ich von der anderen Seite des Raumes.

Zwar weiß ich nicht, was genau sie sich da ansieht, weil es mir leider mit der Rückseite zugewandt ist, doch kann ich das konzentrierte Gesicht sehen, mit dem Liv das Bild bedenkt.

Schnell schnappe ich mir zwei Körbe, die zur Lagerung in der Ecke bereitstehen.

»Stapel alles was du für interessant hältst, einfach hier rein.«

Dann sehe ich mich noch einmal um.

Wow, das wird Arbeit.

 

Es dauert gar nicht lange, bis wir mindestens das Doppelte von dem zusammen haben, was gebraucht wird.

Schwieriger als ich dachte wird dabei eher das Schleppen der Bilder, wobei uns jedoch mein Vater hilft, sobald wir oben sind, da die vollen Körbe in meinen Händen schmerzen.

Oben bleiben sie dann einfach auf dem freien Platz vor meinem Bett stehen.

»Vielen Dank«, richte ich an meinen Dad, der jedoch abwinkt.

»Ist doch kein Problem.«

Er wendet sich ab und will gerade die Tür hinter sich schließen, als er sich noch einmal zu uns dreht.

»Wenn ihr noch Hilfe braucht, sagt einfach Bescheid. Wir sind beide oben und bereiten eine Präsentation für nächste Woche vor.«

»Klar. Danke.«

Kaum ist er verschwunden, schnappt sich Liv die erste Leinwand. Diese liegt ziemlich weit unten, wenn nicht sogar ganz unten. Es muss das erste Bild sein, das sie vorhin noch so lange angestarrt hat.

Neugierig schiele ich an ihr vorbei, um zu sehen was sie denn da entdeckt hat.

»Eins muss man dir schon lassen … du bist echt krank«, lässt sie neutral fallen und verzieht die Mundwinkel in anerkennender Geste.

Das Bild zeigt ein kleines Mädchen. Vielleicht acht oder neun Jahre alt. Allein auf einem viel zu großen Thron, umgeben von Finsternis. Zumindest würde ich es als einen Thron bezeichnen. Keine Ahnung wieso.

Er ist nicht prunkvoll oder golden. Einfach dunkel. Schwarz. Groß. Aber doch … protzig.

Imposant auf seine eigene, eindrucksvolle Weise, ganz ohne zu glänzen.

In ihren Augen sieht man eine große, schwarze Leere und das schwarze, glatte Haar fällt über das schlichte, schwarze Kleid. Blasse Haut und dürre Glieder. Keine Mimik. Trostlos.

»Oh Mann …« Ich weiß was das ist.

Obwohl ich mich nicht daran erinnere. Es ist immerhin von mir, außerdem hat Mom es ja vorhin noch erwähnt.

»Mein ›Selbstporträt‹«, nehme ich schlichtweg an.

»Dein was

»Das ist ein Bild, das den Künstler selbst darstellt«, erkläre ich langsam und überdeutlich.

»Ich weiß, ich bin ja nicht bescheuert«, beteuert sie und ist nun selbst dabei, mit den Augen zu rollen. »Allerdings ist das hier echt … Ich meine, ja, ich erkenne dich. Sie hat dein Gesicht und so, aber …«

»Sie wirkt recht … depressiv«, mutmaße ich.

»Eher gruselig, wenn du mich fragst.«

Irgendwie verwirrt blickt sie dieses Alter Ego meines Selbst weiter an, als würde sich mehr daraus ergeben, wenn sie nur wartet.

»Schon wie die Alte einen anstarrt … echt unheimlich«, stellt sie sachlich fest.

Oder vielleicht veranstaltet sie auch einfach einen Anstarr-Wettbewerb.

»Hey, das bin immer noch ich!«

Ich versuche mich zu verteidigen, kämpfe aber offenbar auf verlorenem Posten.

Sie schüttelt nach dieser Aussage nur den Kopf und legt das Bild beiseite.

»Egal. Jedenfalls passt es perfekt in diese Ausstellung, würde ich sagen. Außerdem hat deine Mutter wirklich Recht. Was die Kunst anging, warst du anderen Kindern um Längen voraus, als du hier ankamst. So viel steht fest.«

»Wieso?«

Ich nehme ebenfalls eines der infrage kommenden Bilder und blicke es an, während ich nebenbei weiter mit ihr spreche.

»Erst neulich habe ich ein Kind in einer TV-Sendung auftreten sehen, das war glaube ich erst sechs Jahre alt und konnte verdammt realistisch malen. Total verrückt.«

»Ja, aber Kinder malen in meiner Welt noch keine ›Selbstporträts‹. Vielleicht ein Familienbild, á la ›Das bin ich, das daneben ist mein Daddy und das da an der Seite ist unser Hamster Stinkie‹ …«

Sie imitiert bei ihrer Vorstellung auf seltsame Weise ein Kind, wie sie sich ein Solches offenkundig vorstellt und wedelt dabei überdeutliche Anführungszeichen mit den Fingern.

»Aber die malen doch kein Depri-Abbild von ihrem mentalen und physischen Zustand, falls du verstehst was ich meine. Das ist deepaber auch gruselig.«

»Was weiß ich? Keine Ahnung … Für alles gibt es doch ein erstes Mal, schätze ich.« Die Achseln zuckend, wende ich den Blick ab. »Ich denke, ich wollte mir damals mit all den Bildern nur Luft machen. Das hat damals sogar eine Kindertherapeutin meinen Eltern erklärt, auch wenn ich mich selbst nicht an die Frau erinnern kann. Deshalb ist mir die Kunst doch auch so wichtig!«

»Ja sicher, ich weiß das, aber trotzdem …«

Seufzend sieht sie sich etwas anderes an. Dann das Bild, das gerade direkt neben mir liegt.

»Hey, gehören die da zusammen?« Ihre Frage kommt praktisch aus dem Blauen heraus.

»Also…« Ich folge verwirrt ihrem Blick.

Ich kann mich an keine ›Reihen‹ in diesem Sinne erinnern, doch dann fällt mir wieder ein, dass das ja nicht unbedingt viel zu sagen haben muss.

Dann wird mir allerdings klar, was sie meint. »Oh.«

»Was ›Oh‹?«

»Ich habe einige davon. Sie sehen alle anders aus, nur bei manchen sieht man, dass sie irgendwie zusammen gehören. Ich weiß nicht wieso, aber ich hab ihnen allen denselben Namen gegeben und sie alle aus demselben Impuls heraus gemalt. Das ist alles, was ich dir dazu sicher sagen kann.«

»Aha«, erwidert sie monoton, »und der wäre?«

Etwas betrübt sehe ich das Bild an, das sie insbesondere meint.

Es ist einer der Gründe, weshalb ich manchmal meine eigene Mutter nicht als solche bezeichnen kann. Der Grund, warum es mir oft komisch erscheint, sie so zu nennen.

Eine kleine Hand aus einer Ecke des Bildes und eine Größere aus der anderen. Es ist recht schlicht. Beide kommen aus der Dunkelheit und greifen nacheinander, doch erreichen sich nie.

 

»Diese Gemälde tragen alle den Namen ›Mutter‹.«

Chapter 6: As We Made Ourselves at Home

 

Im Raum herrscht bereits einige Minuten Stille. Liv hängt derweil ausschließlich über drei bestimmten Bildern.

Sie scheint sie so genau zu betrachten, dass ich absurderweise die Befürchtung hege, sie könne hinein fallen, wenn sie nicht aufpasst.

»Hast du’s bald?« Langsam werde ich unruhig. »Oder hast du da unten was verloren?«

»Nein, ich will mir das hier nur genauer ansehen.«

»Noch genauer und du wirst ein Teil davon, glaub’s mir«, werfe ich ein.

Aber sie sieht nur genervt zu mir auf und verdreht die Augen.

»Du hast doch immer gesagt, dass du dich an deine leibliche Mutter nicht erinnern kannst, prinzipiell an gar nichts. Aber nun erzählst du mir, dass du dich damals wohl doch an manches erinnert hast, auch wenn du keine Ahnung hattest, was es bedeutet.«

»Und was ändert das nun für dich?«

Da sollte man denken, das alles hätte eher Einfluss darauf, wie ich meine alten Taten und Bilder betrachte. Doch seltsamerweise ist alles, wie es vorher schon war. Als wäre es sinnlos.

Vielleicht wusste ich ja immer schon, dass mehr dahinter steckt. Vielleicht war das auch der wahre Grund, warum ich diese Bilder jahrelang habe versauern lassen, ohne auch nur einmal hineinzusehen.

»Nicht viel, jedenfalls nicht für mich persönlich, aber trotzdem«, meint sie und sucht scheinbar weiter nach weißen Mäusen.

Ich kann sie einfach nicht verstehen. Wieso interessiert es sie so viel mehr als mich? Ich kann mich nicht verstehen.

»Hier könnte doch theoretisch der Schlüssel zu deiner Vergangenheit verborgen liegen, oder nicht? Lässt dich das etwa kalt?!«

Ich seufze geschlagen. »Nein. Natürlich nicht.«

Doch ich glaube nicht, dass ich ihn heute entziffern könnte, wo ich doch schon nicht daraus schlau wurde, als sich die Erinnerungen dazu noch in meinem Kopf befunden haben.

»Also, hier sehen wir zwei Hände, die sich aber nicht treffen. Ich denke also, deine Mutter hat dich nicht freiwillig aufgegeben. Sie wollte dich bestimmt nicht gehen lassen, aber du wurdest ihr brutal entrissen«, stellt sie mit viel Dramatik und Gestikulation ihre erste Vermutung auf.

Jetzt geht’s wieder mit ihr durch …

»Das zweite Bild ist auch wieder in Dunkelheit gehüllt; man sieht eine Frau, denke ich. Also, entweder das, oder deine ›Mutter‹ war eigentlich dein Vater. Das würde aber auch einiges erklären …«

»Wie bitte?!«

»Ach, nichts, nur so ein Gedanke«, winkt sie geschwind ab, »ihr Gesicht ist jedenfalls kaum zu erkennen, also macht sich das wohl eher nicht so super als Phantombild, hm? Und sie lächelt auch ziemlich traurig … was ist das da eigentlich um ihren Hals?«

Ich sehe hin, nur um es ihr recht zu machen, und zucke dann gleichgültig die Achseln.

»Keine Ahnung. Irgend ein Kreuz mit einer Schlaufe oben dran, nehm ich an.«

»Es sieht komisch aus, aber ich könnte schwören, ich hab sowas schon mal irgendwo gesehen. In einem Film, bestimmt, oder an einem anderen Ort … Wieso trägt sie überhaupt ein so großes Kreuz als Kette um den Hals? Wenn mich die Farbe nicht täuscht, ist das bestimmt Silber«, stellt sie weiter ihre Vermutungen an. »So groß ist das bestimmt irgendwie wertvoll, meinst du nicht?«

Wieder ein Achselzucken meinerseits.

»Mann, dafür dass es hier um deine verlorene Erinnerung geht, fehlt es dir aber ganz schön an Elan«, schimpft sie plötzlich, weiter wild gestikulierend, als hätte ich heute ihre Katze angefahren, und bedenkt mich dabei mit vorwurfsvollem Blick.

Ich wende mich ab.

Irgendetwas regt sich in mir. Trotz. Aggression.

»Was erwartest du denn, du Westentaschen Sherlock Holmes?!«

Mit einem Mal steigt eine seltsame Wut in mir auf, die ich nicht recht fassen kann. Sie ist nicht wirklich gegen Liv gerichtet. Aber ich weiß auch nicht, gegen wen sonst.

»Wenn ich in neun Jahren keine Ahnung hatte, was in den acht Jahren vorher mit mir gewesen ist, wer ich bin oder wo ich überhaupt herkomme, ja sogar irgendwelche dahergelaufenen Ärzte mich besser kennen wollen, als ich mich selbst, dann können ein paar Bilder mir auch nicht viel bringen. Ich müsste die Geschichte kennen, damit die Bilder Sinn ergeben, aber die Bilder allein bringen mir rein gar nichts! Verstehst du das nicht?!«

Noch während ich rede, werde ich immer lauter; merke erst im Nachhinein, wie wenig Sauerstoff ich noch habe und hole erst einmal tief Luft. Demonstrativ verschränke ich dabei die Arme vor der Brust, als ich höre, wie sie sich hinter mir vom Boden erhebt und sich nähert.

»Komm schon, sei nicht gleich so sauer«, redet sie mir gut zu. »Ich will dir doch nur helfen!«

»Ich hab dich aber nicht darum gebeten!« Nun drehe ich mich doch zu ihr herum. »Hast du mal daran gedacht, dass ich das Leben hier vielleicht mag? Ich will nicht laufend darüber nachdenken müssen, was hätte sein können oder was vielleicht irgendwann mal gewesen ist!«

Zugegeben, nach dem letzten Gespräch mit meinen Eltern, das vermutlich nicht einmal ganz drei Stunden her ist, entspricht diese Aussage wohl nicht mehr ganz der Wahrheit.

Aber das hier ist einfach deprimierend.

»Okay, dann lasse ich es für heute gut sein«, kommt sie mir versöhnlich entgegen, »trotzdem finde ich es interessant, dass du solche Bilder gemalt und sie dann ›Mutter‹ genannt hast. Ich meine, dieses Dritte da, mit dem vermoderten Baum, zum Beispiel.«

Genervt überlege ich einen Moment ob ich sie ignorieren soll, lecke mir dann unschlüssig die Lippen, ehe ich die Neugierde gewinnen lasse.

»Was ist damit?«

»Naja, ein Baum ist bestimmt auf die ein oder andere Weise mit dem Wort zu verbinden, aber meine Mutter selbst, würde ich jetzt nicht gerade mit einem labbrigen alten Holzlager wie dem da vergleichen. Als Bild sieht es ja cool aus, aber so als Mutterfigur …«

Sie wirkt sichtlich irritiert und ich muss zugeben, der Vergleich hinkt gewaltig.

Meine Arme sinken wieder, doch ich sehe weiter nur zu meinen Bildern hin.

»Vermisst du deine Mutter auch manchmal?«

Es war zu schnell gesagt, als dass ich es hätte verhindern können.

Einen kurzen Augenblick hält sie inne. »Welche? Sylvia, oder …?«

Ich erhebe mich langsam vom Boden. »Deine Leibliche, meine ich.«

Und mit diesen Worten lasse ich mich rücklings auf das Bett fallen.

Liv folgt mir nur eine Sekunde später. »Aber sicher. Klar, ich hab sie kaum gekannt bevor sie gestorben ist, aber ich vermiss sie trotzdem. Das weißt du doch eigentlich.«

Stimmt, ich weiß es genau. »Geht mir auch so«, entgegne ich, während ich abwesend an dem noch immer verdreckten Verband meiner linken Hand nestle.

»Und solche Momente wie die hier, die … machen das nur noch schlimmer«, gestehe ich.

Für eine Sekunde schweigt sie, dann spüre ich ihre Hand an meinem Oberarm.

»Hey, ich versteh das. Aber was, wenn sie noch da draußen ist? Was, wenn sie auch nach dir sucht? Glaubst du nicht, dass du das wissen wollen würdest? Oder, wenn nicht, dann was damals wirklich passiert ist?«

Es fühlt sich an, als würde ich innerlich verkümmern. Ich weiß nicht, was ich denken soll.

»Liv, meinst du … man kann wirklich jemanden vermissen, von dem man nicht einmal beweisen könnte, dass er je existiert hat?«

Fragend blicke ich zu meiner Freundin hinüber, die einen Augenblick zu überlegen scheint.

»Ich denke schon«, beantwortet sie recht schnell und schenkt mir einen aufmunternden Blick. »Und immerhin gibt es doch einen sehr guten Beweis dafür, dass sie existiert hat.«

»Ach ja? Welchen denn?«

Augenrollend stöhnt sie auf und schlägt mir gegen die Schulter, als wäre das eben die dümmste Frage der Welt gewesen.

»Na du, du Vollpfosten! Ohne deine Mutter würdest du nicht existieren, ganz egal wo auf der Welt sie sich auch immer herumtreiben mag, ob sie tot ist oder noch lebt; und wenn sie die dicke Schwester von Godzilla wäre: du bist hier, also hat sie irgendwann, vor siebzehn Jahren, ebenfalls gelebt. Wie schwer kann das zu verstehen sein?«

Blinzelnd wende ich meinen Blick erneut ab, diesmal klebt er an der Decke.

»Liv?«

»Hm?«

»Danke.«

»Kein Ding.«

Es dauert eine Weile, in der wir beide nur die Zimmerdecke anstarren, bis wieder etwas zu hören ist.

Seufzend hievt sich die Braunhaarige ein wenig hoch, um ihren Oberkörper auf die Unterarme zu stützen.

»Annie … du weißt ja, ich war hier nie zu Besuch während ich weg war, weil ich erstens kein Geld für den Flug bekommen hab und zweitens nicht hier sein wollte.«

»Ja, ich weiß. Ich bin immer noch sauer deswegen.«

Ich lasse jedoch nicht fallen, dass ich glaube, dass sie in Bezug darauf nicht ganz ehrlich zu mir ist. Sie wird schon ihre Gründe gehabt haben, aus denen sie nicht hatte herkommen wollen, also bohre ich nicht nach.

»Im Prinzip liebe ich diesen Ort, irgendwie hat er etwas … Magisches. Wir sind damals wegen meiner Mutter und ihrer Familie hergezogen. Sylvia findet es jedoch grauenhaft. Sie wollten sogar umziehen, doch das Haus ist im Familienbesitz.«

»Ja, das hattest du mir mal erzählt.«

Ich überlege kurz, um mir die Einzelheiten wieder ins Gedächtnis zu rufen.

»Es gehört deiner Großmutter mütterlicherseits. Sie versuchen sie schon seit Jahren als unzurechnungsfähig einstufen zu lassen, damit sie über ihre Habe verfügen und das Haus verkaufen können«, gebe ich schlussendlich ihre damalige Erklärung wieder.

»Genau. Es ist traurig. Und ich hasse es. Zugegeben, sie ist etwas seltsam, sagte, dass ihre Mutter damals ›aus dem Meer‹ kam und ihr Vater ›aus der Dunkelheit, die ein Feuer hinterlässt‹. Sie wurde ja auch adoptiert, wie  du, weil ihre Eltern verschwunden sind. Man sagt, dass sie sich in diesem Wahn verkrochen hat, damit es nicht so wehtut. Irgendwie verstehe ich das sogar.«

Während sie spricht, zupft sie die ganze Zeit an der Uhr herum, von der ich weiß, dass sie sie immer trägt, selbst wenn sie nicht zu ihrem Outfit passt; ein Fauxpas, den sie normalerweise niemals zulassen oder bei anderen tolerieren würde, wenn es nach ihr ginge.

Diese Uhr gehörte ihrer Mutter. Sie ist alt, aber funktioniert noch, was an sich ein kleines Wunder ist.

Es muss schön sein, etwas so Schlichtes zu besitzen, an dem man hängen kann.

Aber ich weiß, dass ich mit meinen Zieheltern viel mehr Glück hatte, als Liv mit ihrem Vater und Sylvia.

»Du kannst jederzeit zu uns kommen, das weißt du. Im Gästezimmer nebenan ist immer Platz für dich.«

»Ich weiß. Und dafür bin ich wirklich dankbar.« Sie atmet einmal tief durch.

Dann lacht sie kurz auf; kein sehr fröhliches Lachen.

»Und das werde ich vermutlich bald brauchen, denn mein Vater hat es angeblich fast geschafft, Grandma einweisen zu lassen. Jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis er sie völlig entmündigt hat. Und da dachte ich schon, es wäre schlimm genug, dass ich immer den Drang hatte, hier zu bleiben, aber auch Angst hatte, ich würde bei ihnen fest sitzen. Jetzt soll ich mit denen auch noch an einem Ort festsitzen, der nicht hier ist. Und das kann ich nicht.«

Sie sieht zu mir herüber und der Blick in ihren Augen lastet schwer auf meiner Brust.

»Ich werde mit meinen Eltern reden. Ich lass nicht zu, dass du am Ende auf der Straße sitzt.«

Ein wenig ungelenk richte ich mich auf, um sie eine Weile in die Arme zu schließen.

Bis sie sich von mir entfernt. »Ich sollte besser gehen, nicht, dass ich wirklich die komplette Laune ruiniere«, merkt sie mit einem weiteren, kurzen Lachen an.

Wobei ich jedoch eine Träne sehen kann, wie sie von ihrer Wange perlt, ehe sie sich diese schnell aus dem Gesicht wischt.

»Okay«, stimme ich zu, auch wenn mir nicht sehr wohl dabei ist, sie jetzt gehen zu lassen.

Aber so ist es wahrscheinlich besser. Sie war schon immer zu stolz, um vor anderen zu weinen. Selbst vor mir geschah das bisher erst dreimal.

Das erste Mal am Hochzeitstag ihrer neuen ›Eltern‹. Beim zweiten Mal ist ihre geliebte Katze Penny von einem Auto überfahren worden. Und das letzte Mal hat sie es getan, als sie herausgefunden hat, dass ihr Vater schon jahrelang mit dieser Hexe fremdgegangen ist, als ihre Mutter noch gelebt hatte.

Danach hat sie in meiner Gegenwart nie mehr geweint.

Ich schließe sie noch einmal fest in die Arme, bevor ich sie nach unten begleite, achte jedoch akribisch darauf, dass sie auf dem Weg nach draußen nicht noch meinen Eltern über die Füße stolpert. Einfach, da diese sich nur Sorgen machen würden, wenn sie sie so sehen. Und würde sie vor anderen weinen, wäre es noch schlimmer, also lasse ich ihr den Freiraum, den sie braucht.

Etwas träge finde ich erst nach einigen Minuten den Weg zurück nach oben. Ich muss noch immer die Bilder aussuchen … entscheiden, ob ich mehr brauche. Es ist eine gute Ablenkung.

So setze ich mich in meinem Zimmer auf den Boden und beginne zu sortieren. Ich habe noch nicht alle Bilder gesehen, die Liv selbst ausgesucht hat, so breite ich sie vor mir aus.

Als meine Aufmerksamkeit auf eines der Gemälde fällt, weiten sich meine Augen schlagartig im Schock.

Erst jetzt erkenne ich das Werk, das weiter vorn liegt. Eines, das noch immer in dem Korb ruht, den Liv genutzt hat.

Man sieht etwas, das mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper jagt und mir geradezu Angst einflößt, ohne dabei beängstigend zu sein.

Ein Gefühl der Kälte breitet sich in mir aus.

Frost, der mich erzittern lässt; bibbern lässt. Innerlich wie äußerlich. Ich kann es nicht glauben.

Eine große, wunderschöne, majestätische Krähe, herausstechend aus einer Reihe von anderen Krähen.

Und diese sieht verdammt vertraut aus.

Gott, ich brauche dringend etwas Süßes.

 

Die Morgensonne ist bereits vor einer ganzen Weile der trägen mittäglichen gewichen und ich gähne ausgiebig, mit meinem Laptop auf dem Schoß. Es ist ein relativ schöner Samstag, doch ich habe die Nacht kein Auge zugetan.

Die ganze Zeit hatte ich an Liv denken müssen, und das, was sie gesagt hatte. Auch an dieses Bild …

Genauso wie all die anderen, verwirrenden Dinge. Es belastet meinen Verstand.

Dabei kann ich mir das gar nicht erklären. Ich hatte vorher zum Beispiel nie eine besonders starke Bindung zu Krähen. Jetzt sehe ich sie praktisch überall. Ich werde noch wahnsinnig, wenn ich es nicht bereits bin. Das würde so viel erklären.

Freiheit war mir zwar immer wichtig, doch ich mochte eher Wölfe oder Katzen, als irgendwelche Vögel.

Und dann diese eine bestimmte Krähe; sie ist etwas Besonderes, das spüre ich einfach.

Unruhig lasse ich meinen Finger auf den Rand der in das Gerät eingelassenen Tastatur fallen. Tipp. Tapp.

Was soll ich ihm schreiben? Sowas wie ›Ja, ich habe mich für die Ausstellung entschieden und zehn Bilder für Sie ausgewählt‹? Ich meine, was, wenn er sie jetzt doch nicht mehr möchte? Oder wenn sie zu alt sind?

Obwohl er durchaus gesagt hatte, er würde sich nur dafür interessieren, dass sie noch keiner zuvor gesehen hat, außer vielleicht meine Eltern. Letzteres hat er dabei vielleicht nicht explizit gesagt, aber ich gehe doch davon aus, dass er es so gemeint hat.

Wieder muss ich gähnen und strecke mich, um meinen Rücken ein wenig knacksen zu lassen.

Naja, ich sollte es einfach hinter mich bringen. So schlimm ist es ja nicht. Wie schwer kann eine solche Nachricht schon sein? Wenn man es objektiv betrachtet, meine ich.

Doch allein der Gedanke an den Mann, der hinter diesem Pseudonym steht, das wir am Anfang des Jahres von ihm erhalten haben, beginnt mein Herz wie wild zu schlagen und ich weiß nicht, wohin mit meinen Gedanken. Was soll ich tun?

Großer Gott, das ist sowieso Blödsinn. Ich tue gar nichts. Was auch schon? Er ist schließlich mein Lehrer. Auch wenn er noch nicht sehr alt ist …

Schnell schüttle ich den Kopf. Lassen wir es gut sein.

Getippt ist die Mail schnell und mit einem Klick auch schon versendet, das passt. Ich hab sogar extra Bilddateien angehängt; Schnappschüsse von den Leinwänden, die ich mit meinem Smartphone aufgenommen habe, damit er sie einmal sehen kann.

Seufzend klappe ich daraufhin den kleinen Computer zusammen, ohne ihn richtig abzuschalten, und ziehe das besagte Telefon aus meiner Hosentasche.

Als ich meine Hände so sehe, bin ich froh. Bald kann ich wieder am Unterricht teilhaben.

Ich hätte nie gedacht, dass Schule noch langweiliger werden kann, wenn man nicht einmal die Möglichkeit hat, mitzuschreiben … oder mit einem Bleistift Karikaturen auf das Blatt zu kritzeln, um der Langeweile zu entfliehen.

Einen Bleistift fest zu umgreifen hat anfangs wirklich wehgetan, aber es wird langsam leichter. Gestern habe ich es gesehen, als ich den Verband ausgewechselt habe.

Ich werfe einen kurzen Blick auf das Display. Eine Nachricht.

»Komm mit dem Bus zum Geschäftsviertel. Ich warte auf dich bei der Bank an der Haltestelle, sobald du hierauf antwortest.«

An der Nummernkennung kann ich feststellen, dass diese Nachricht von Liv kommt.

Aber weshalb? »Was ist denn los?«

Ich tippe so schnell ich kann und sehe dann auf den Zeitstempel. Es ist erst etwa zwanzig Minuten her. Ich sollte endlich daran denken, die Stummschaltung zu deaktivieren.

Aber es nervt mich immer so, wenn es klingelt.

»Wir müssen uns doch noch immer um die Kostüme für nächste Woche kümmern. Freitag kommt schneller als du denkst, also beweg deinen faulen Arsch.«

Ich kann sie praktisch zetern hören.

Schwerer seufzend als je zuvor, lasse ich mich also erweichen.

»Also gut. Ich sitz im nächsten Bus.«

Sie hat Glück, dass ich sowieso angezogen bin.

»Du bist doch wahrscheinlich eh schon ausgehfertig, also jammer nicht so viel.«

Blinzelnd betrachte ich die SMS. Okay

Statt etwas zu erwidern, schüttle ich ungläubig den Kopf und stecke das Handy zurück, nachdem ich die Kopfhörer daran befestige und eine Handtasche schnappe, in die ich mein Portemonnaie und ein paar andere Kleinigkeiten fallen lasse.

»Mom? Dad …?! Ich geh in die Stadt, also wartet nicht mit dem Essen!«

Ein paar Sekunden halte ich inne, bis ich meine Mutter rufen höre. »Alles klar!«

Ich lächle, während ich meine Kopfhörer in die Ohren schiebe und einen Song aufdrehe.

Dann mal ab ins Getümmel.

 

Der Bus lässt mich wieder heraus, etwa zehn Minuten nachdem ich eingestiegen bin. Mit dem Geld in der Tasche, das ich eigentlich von meinen Ersparnissen abgehoben hatte, um mir damit eine Menge neuer Malutensilien zu kaufen, sehe ich mich um.

Dabei schiebe ich mir abwesend eine rote Gummistange zwischen die Zähne, während ich nach meinem Handy fische, um Liv anzuklingeln.

»Da bist du ja endlich!«

Womit sich das Vorhaben schon einmal erledigt hat.

»Von wegen ›endlich‹«, nuschle ich unbeeindruckt durch meine Gummistange hindurch, als ich mich zu ihr herumdrehe.

Dann richte ich mein Augenmerk auf den Himmel. Klar und blau; die Luft ist warm, aber nicht abgestanden.

Auch heute kein Anzeichen von Regen, dabei steht er jetzt schon Ewigkeiten aus.

»Ich hab dir vielleicht vor zwanzig Minuten gesagt, dass ich kommen würde, wenn überhaupt.«

»Ach, wer zählt schon mit«, höre ich sie dagegen mosern, während ich nur die Augen verdrehe.

Mit festem Griff packt sie mich an meinem Arm und schleift mich im nächsten Augenblick die Straße entlang, als wäre ich ein Sack Kartoffeln.

»Ich hab hier vor einiger Zeit ein paar süße, kleine Lädchen entdeckt. Die existieren offenbar immer noch, also hab ich extra Geld abgehoben und gewartet, damit wir sie zusammen unsicher machen können.« Sie scheint völlig aufgeregt und überdreht.

Ganz anders als gestern.

Ich traue mich ehrlich gesagt nicht wirklich, sie zu fragen, wie es ihr heute geht. Bin nur froh, dass sie ehrlich fröhlich ist. Sie mag nicht vor mir weinen, doch sie spielt mir auch nichts vor.

Auf jeden Fall nicht erfolgreich, soweit es mich betrifft.

»Okay, wenn du meinst«, antworte ich meinerseits eher verhalten und blicke mich dabei um.

Ich kaufe mir doch meist alles im Internet. Die Läden habe ich hier noch nie wirklich gesehen, auch wenn es traurig klingen mag, da ich ja schon ewig hier lebe.

Ich war früher manchmal mit Liv in Kleidergeschäften, aber wenn sie die hier vor zwei Jahren erst ›entdeckt‹ hat, kann ich mir denken, weshalb ich sie nicht kenne.

Die Lebensmittelgeschäfte sind an einer anderen Stelle und was sollte ich sonst hier?

Unseren ersten Halt machen wir vor einer großen Tür, hinter der offensichtlich … Kosmetik verkauft wird? Schätze ich. Auch hieran kann ich mich nicht erinnern.

Ich nutze allerdings auch fast kein Make-Up, was bereits einiges erklären würde.

Kaum sind wir durch die Tür, steigt mir der beißende Geruch irgendeiner Chemikalie in die Nase, welche ich nicht ganz zuordnen kann. Ich halte lediglich eine Hand vor mein Gesicht.

»Ammoniak und Profi-Haarfärbemittel«, stellt die Modebegeisterte neben mir nüchtern fest und beantwortet damit meine unausgesprochene Frage.

Ich rümpfe bloß die Nase.

»Aber hier gibt es schon eine recht gute Auswahl an … Oh. Mein. Gott!«

Erschrocken fahre ich zusammen. »Was ist passiert? Ist jemand gestorben?!« Es riecht auf jeden Fall danach.

Könnte schon sein, dass jemand versucht hat die Verwesung damit zu überdecken. Bringt nur nichts, wenn es dann dennoch stinkt wie in Satans Achselhöhle.

»Quatsch, nichts ist passiert.«

Sie schleift mich einige Regale weiter und verdreht dabei die Augen.

»Die hier brauchen wir einfach!«

Scheinbar sind hier die Perücken und Haarteile angesiedelt. Sie zieht zuerst einen der kleinen Warenkörbe von einem Stand an der Seite heran und beginnt dann, einzelne schwarze Haarsträhnen, die man später offensichtlich in eine Frisur stecken würde, hinein zu legen. Erst dann blickt sie hochachtungsvoll in Richtung einer vollständigen Perücke.

Das Bild das sich mir bietet, gibt mir jedoch ein seltsames Gefühl. Es ist eine glatte, gerade geschnittene und dazu noch pechschwarze Langhaar-Perücke.

Der Schnitt und der Fall der Haare … es sieht fast aus, wie das Ebenbild meiner Haare, als ich noch ein Kind war. Der gerade Pony nur knapp über den Augen; ordentlich, glatt und strack in sicherlich über fünfzig Zentimetern Länge herabhängend.

Das Haar, welches mir immer fremd erschien; der Grund, warum ich es mir irgendwann einfach selbst abgeschnitten und damit alle um mich herum schockiert habe.

Liv hebt sie von ihrem Sockel aus dem Regal und betrachtet sie eingehend, während ihr Korb auf dem Boden ruht.

»Die Strähnen sind für mich, aber die hier …« Sie macht eine bedeutungsvolle Pause.

 

»Die ist für dich.«

Chapter 7: In This Wide and Open World

 

Es fahren vereinzelt Autos durch die verschlafenen Straßen, während wir über die Gehwege an ihnen vorbei schlendern und in der Ruhe einen Moment verschnaufen.

Ich gähne ausgiebig. »Also, was brauchen wir noch?«

Schließlich scheint Liv, so wie die meiste Zeit über, einen ganz klaren Plan zu verfolgen, dem ich besser nicht im Wege stehe, wenn ich weiß, was gut für mich ist.

»Jetzt, da wir Make-Up und Haare haben, sind unsere neuen Persönlichkeiten im Prinzip schon bereit«, lässt sie mich großzügig an ihrem Wissen teilhaben. »Wir müssen sie nur noch passend einkleiden. Und ich denke, ich weiß auch schon wo.«

Unsere neuen Persönlichkeiten …? »Und ich dachte immer, ich hätte bereits ein Gesicht und Haare auf dem Kopf«, merke ich beiläufig an, werde dafür aber mit einem scharfen Seitenhieb bedacht.

»Du meinst die Haare, die du schneidest und färbst? Eigentlich geb‘ ich dir mit dem Teil bloß deinen natürlichen Look zurück. Zufall, dass er sich perfekt für das Image einer Halloween-Hexe eignet.« Sie überlegt eine Sekunde. »Das heißt, wenn man nicht gerade als die grünhäutige, hakennäsige Warzenfratze gehen möchte.«

Ich lache nur und schüttle den Kopf. Die Zauberer von Oz, oder was?

Doch alles was sie gekauft hat, waren ein bisschen dunkles Make-Up, schwarzer Nagellack, die Perücken … reicht das bereits, um von einer völlig neuen Persönlichkeit zu sprechen?

Plötzlich nimmt sie mich an der Hand und zieht mich ein weiteres Mal hinter sich her.

Diesmal führt es uns zu einem Bekleidungsgeschäft, wie mir scheint. Ein ziemlich Düsteres.

Wobei ich zugestehen muss, auch wenn ich selten Schwarz trage, dies hier doch für sehr angenehm zu halten. Es hat etwas Heimeliges.

Zumindest solange, bis wir einen Schritt hinein wagen.

Ein sonderbar muffiger Geruch schlägt uns bereits entgegen, als die Tür aufgeht. Dieser Ausflug ist eine Vergewaltigung meiner Sinne … besonders für meine Nase.

Liv steuert derweil bereits einen großen Kleiderständer an, als ich noch dabei bin, den ganzen Laden zu sondieren. Erst danach folge ich ihr langsam an die Auswahl.

»Was hast du da?«

»Die hab ich hier schon mal gesehen«, antwortet sie kryptisch, während ihr ganzer Kopf im Aushang verschwindet.

Mittlerweile sieht sie aus, wie ein seltsamer Kobold im Kleiderschrank.

»Ich hab’s gleich.«

»Dann hoffentlich schnell«, meine ich nur verlegen und sehe mich einmal kurz um, »die Verkäuferin schaut schon ganz komisch.«

»Ich werd‘ schon nichts mitgehen lassen.«

»Ich weiß das.«

Schnell rücke ich ein klein wenig näher an sie heran, um sie an ihrer Bluse aus dem Kleiderhaufen zu ziehen.

»Aber sie doch nicht!«

Mit den Augen mache ich bei dem Stichwort eine deutende Bewegung zur Seite, wo die Kasse steht. Und wo eine mittelgroße, streng wirkende Dame, ihre Brille auf der Nase zurechtrückt, während sie uns argwöhnisch mustert.

»Oh«

Mehr scheint der Braunhaarigen dazu nicht einzufallen.

»Komm mir nicht mit ›Oh‹«, versetze ich aufgebracht flüsternd, »die beobachtet uns mit Adleraugen, also denkt sie offensichtlich, wir sind nicht ganz koscher. Ich bitte dich daher inständig: verhalte dich normal

Doch sie zuckt nur die Achseln, als wäre das alles eine Lappalie.

»Tu ich doch immer.« Dann sieht sie zur besagten Verkäuferin. »Und eigentlich ist es ja sogar ganz praktisch, dass wir schon mal ihre Aufmerksamkeit haben.«

Gerade will ich nachhaken, was sie damit meint, da geht sie auch schon schnurstracks auf die betagte Dame zu und stellt sich kerzengerade vor ihren Tresen. Jetzt kommt‘s …

»Schönen guten Tag«, grüßt sie etwas überschwänglich, »könnten Sie mir vielleicht helfen ein bestimmtes Kleid zu finden? Ich weiß, dass es das hier mal gegeben hat, aber ich kann es nicht finden.«

Moment … sofern ich das richtig verstanden habe, war sie hier zuletzt vor über zwei Jahren, oder etwa nicht? Wie kann sie erwarten, dass es das jetzt noch gibt? Unglaublich.

»Und was könnte das wohl für ein Kleid gewesen sein?«

»Ein langes, dunkles Bauernkleid. Sehr schlicht.«

»Davon haben wir hier jede Menge«, gibt sie zurück, »neuere und ältere Modelle. Wollen Sie, dass ich Ihnen ein paar der Stücke zeige?«

Die Frau zieht fragend eine Augenbraue nach oben und sieht uns, über den Rahmen ihrer schmalen Brille hinweg, an.

»Das wäre jedenfalls sehr freundlich.«

Lächelnd wartet Liv darauf, dass die Angestellte hinter dem Tresen hervortritt und in den Hauptteil des Ladens marschiert.

»Ich mag diese Kleider hier einfach, weil man an der Art so viel verändern kann. In erster Linie wirken sie wie Bauernkleider oder Kleider für Dienstmägde aus dem Mittelalter, nur etwas dunkler, wenn nicht sogar komplett schwarz. Da lässt sich sehr viel raus holen, besonders für unsere Zwecke.«

»Aha«, lasse ich schlicht fallen. »Ich hab wenig Ahnung von Mode, aber das weißt du ja.«

Mich schockt noch immer der Fakt, dass sie so sicher ist, hier zwei Jahre alte Kleider zu finden, die dazu auch noch aussehen sollen, als wären sie Jahrhunderte alt.

Wenn das nicht mal bittere Ironie ist … okay, nicht ganz so bitter, wie unser Totengräber, der sich letztes Jahr ausversehen selbst erschlagen hat, nachdem er in sein selbst gebuddeltes Loch gefallen ist.

Das war irgendwie tragisch, aber auch unvorteilhaft witzig. Vor allem schwer zu vergessen.

Als ein freudiges Jubeln zu vernehmen ist und ich deshalb aufblicke, fällt mir wieder ein, weshalb ich eigentlich hier bin.

Was ich vor mir sehe, ist Liv, die offenbar Recht behalten hat, mit ihrer vorigen Annahme.

Das nennt man in Fachkreisen wohl … traditionell?

Vielleicht ändern die hier ja einfach niemals ihr Sortiment. Daher auch der muffige Flair.

»Ich sag doch, die gab es hier schon immer! Warum sollte es jetzt nicht mehr so sein?«

Weil … normale Läden ihre Auslagen hin und wieder ändern? Oder weil ich hier noch nie jemanden eines habe tragen sehen, was die Nachfrage doch etwas einschränken sollte und somit vielleicht auch das Angebot?

Ich meine, ich bin ja kein Experte, aber … zwei Jahre? Ist das euer scheiß Ernst, Leute?

Okay, ganz richtig ist das dann auch wieder nicht. Sie kommen mir durchaus verdammt bekannt vor. Doch das rührt wohl eher daher, dass selbst ich bereits Filme und Serien gesehen habe, die im Mittelalter spielen. Und ich weiß sicher, dass ich noch nie jemanden von hier in einem solchen Aufzug habe herumspazieren sehen. Nicht einmal zu Halloween.

Ich lehne mich unauffällig zu meiner Freundin herüber. »Sind wir uns sicher, dass das hier keine Scheinfirma für Geldwäscher-Geschäfte ist?«

»Wieso denn das?«

»Weil es nicht so aussieht, als würden die hier jemals etwas einnehmen. Es gibt ja nicht mal Kunden. Und ich könnte schwören, einige der Kleider sind bereits Mottenfutter geworden. Von was lebt dieser Laden denn bitte? Von Spenden, oder was?«

Wieder zuckt sie bloß die Schultern. »Na und? Keine Ahnung«, entgegnet sie schlicht. »Nimm es einfach als gegeben.«

Eigentlich will ich noch eine Kleinigkeit erwidern, doch da kommt auch schon die Angestellte zurück, mit einigen Lagen Stoff auf den Armen. Sie legt sie vor uns beiden auf einem Tisch ab und sieht uns dann erwartungsvoll an.

Selbstverständlich muss sie meiner Freundin keinerlei Anweisung geben, ehe diese sich auch schon hindurch wühlt. So viel zum Thema ›Motten‹.

Glücklicherweise dauert es nicht lange, bis diese, zufrieden lächelnd, zwei Stücke auswählt.

»Das eine hat genau deine Größe, das andere ist für mich«, legt sie fest.

Skeptisch mustere ich ihre Wahl. »Bist du dir damit sicher?«

»Ja, total!«

Mit diesen Worten schiebt sie mich vor zur Kasse und die Frau, welche eigentlich dahinter sitzen sollte, folgt uns auf dem Fuße. Wir werden sie gar nicht anprobieren, aber das macht eigentlich Sinn, da Liv ja ohnehin daran herumschnippeln wird.

Was nicht passt, wird passend gemacht. Das war schon immer ihr Motto.

Außerdem ist es das erste und einzige am heutigen Tag, das ich für wirklich einleuchtend halte, wenn ich ehrlich sein soll, das wollen wir mal nicht kaputt machen.

Wir bezahlen brav unsere Einkäufe und stapfen dann auch schon wieder nach draußen, in den regen Nachmittagsbetrieb den Huntsville zu bieten hat.

»Schon ein seltsames Geschäft, finde ich«, merke ich gedankenlos an, während ich einen letzten, länger andauernden Blick riskiere.

»Weiß auch nicht. Solange er Kleider führt die ich kaufen will und sie mich die Sachen auch kaufen lassen, hab ich kein Problem damit.«

»›Black Mirror‹«, lese ich den schlicht gehaltenen, passenderweise schwarzen Schriftzug im Schaufenster über meiner Schulter hinweg. Bei dem Namen habe ich ein komisches Gefühl, aber vielleicht ist es auch nur irgendein Goth-Trend.

Alles an dem Laden ist irgendwie merkwürdig. Von innen wie von außen, hat er eine ungewöhnliche Atmosphäre. Doch das ist jetzt wohl auch nicht mehr so wichtig.

Es ist ein Bekleidungsgeschäft und irgendwie habe ich mich in solchen einfach noch nie so wirklich wohl gefühlt. Das wird’s wohl gewesen sein.

Dazu wird meine Aufmerksamkeit ohnehin anderswo verlangt, als ich das Mädchen neben mir lautstark seufzen höre.

»Was denn? Du hast doch jetzt dein Kleid.«

»Ja«, gibt sie zurück, doch sieht gar nicht mal so glücklich aus, »aber es ist ja deshalb noch lange kein perfektes Halloween-Kostüm. Ich muss sie aufmotzen, aber wie ich das sehe, werd‘ ich mich dazu den ganzen morgigen Tag in meinem Atelier, auch bekannt als Keller, verbarrikadieren müssen. Nein, sobald wir hier fertig sind, kann ich vermutlich heute schon anfangen und werde trotzdem die ganze verbliebene Woche bis zur Party dafür brauchen!«

Durch ihr lautes Klagen drehen sich sogar vereinzelte Passanten nach uns um, die ich stumm ignoriere.

»Aber wenn das so schwer ist, dann lass es doch einfach sein. Ich verlange ja auch gar nicht, dass du das für mich machst. Wenn es nur deins ist, ist die Arbeit viel geringer!«

Doch mein Vorschlag wird mit einem Augenrollen einfach abgeschmettert.

»Red keinen Stuss. Ich will dass dieser Abend unglaublich und vor allem unvergesslich wird – für uns beide. Und ohne dich wäre es nicht mal halb so lustig.«

Nun bin ich es die seufzt. »Wie du meinst. Aber übernimm dich mal nicht damit.«

Ich hab nämlich kein Geld für deine Beerdigung.

 

Immer auf meine beste Freundin hörend, die schließlich auch vorhat, die Kleider neu zu gestalten, kaufen wir zusammen den restlichen Tand für Halloween. Handschuhe, Schmuck, Haarnadeln, ein bisschen Stoff, anderer Schnickschnack … dekorativen Kram eben, mit dem ich selbst, bei all meiner vermeintlichen Kreativität, überhaupt nichts anzufangen wüsste.

Und nun sind wir hier, an dem Ort, der schon immer nur uns gehört zu haben scheint, und blicken in den klaren, blauen Himmel empor. Vereinzelte, für den klaren Tag kein bisschen bedrohlich wirkende Wölkchen, ziehen dabei hoch über unseren Köpfen vorüber.

Ich atme die frische Brise ein, die vom Meer landeinwärts zieht, direkt zu uns nach oben und schließe für einen Moment die Augen.

»Dieser Ort ist noch immer so magisch wie vor zwei Jahren«, schwärmt die Braunhaarige, welche neben mir in der Wiese liegt und es mir gleichtut, wie ich bemerke.

»Ja«, gebe ich nur knapp zurück.

Als ich allein war, kam ich immer noch sehr oft her. Es hat mich klar denken lassen. Vielleicht ist es ja der Ausblick. Außerdem ist man hier immer für sich.

Eigentlich ist es eine Lichtung ganz am Rande des Waldes, der Huntsville umgibt.

Sie liegt sogar außerhalb des Jagdgebiets. Weil sie für unaufmerksame Besucher oder Jäger, gerade nachts oder bei starkem Regen, mit ihren Klippen zur Todesfalle werden kann.

Prinzipiell ist es eine ansteigende Felsspalte über dem offenen Meer und damit ohnehin in gewisser Weise gefährlich. Viele, viele Meilen, diesen großen Spalt entlang, senkt er sich ab, bis er zu einem richtigen Fluss wird.

Doch an dieser Stelle hier, weit über dem Meeresspiegel, ist der Fluss nicht gerade einer, in den man seine Füße baumeln lassen könnte. Zumindest nicht, sofern man nicht gerade zehn Meter lange Unterschenkel hat.

Ich stehe auf, klopfe ein wenig Dreck von meiner Kehrseite und den Schulterblättern, und stapfe nach vorn, an den Rand der Schlucht. Bei einem kleinen Erdrutsch, nachdem es stark geschüttet hatte, hat es hier vor einiger Zeit die Brücke aus den Angeln gerissen. Seitdem kommt gar niemand mehr her, weil es auch einfach keinen Grund mehr dazu gibt.

Dabei ist es hier wunderschön. Ich blicke hinab in den mindestens vier bis fünf Meter breiten Abgrund. Die Brandung, die vorn gegen die felsige Außenseite der Klippen schellt, scheint hier gegen einen reißenden Fluss zu kämpfen; der vorher wiederum gegen diese kleineren Felsen am Boden seines Weges schlägt, zu welchen ich nun hinabsehe.

Auf einmal wird mir siedend heiß bewusst, wo ich hier stehe.

Das Gemälde, das ich scheinbar im Schlaf gemalt habe, taucht dabei unwillkürlich vor meinem geistigen Auge auf. Kein Wunder, das mir dieser Ausblick so bekannt vorkam.

Ich runzle die Stirn, als ich mir ein Bild ins Gedächtnis rufe und schlage mir dann reflexartig und unvorteilhaft mit der Hand gegen das Gesicht. Gleichzeitig lache ich erleichtert auf.

So lächerlich und einfach. Morgens treffe ich noch auf Olivia, die ich ewig nicht gesehen habe. Einen Tag vorher hatte ich ein traumatisches Erlebnis gehabt und kaum geschlafen.

Kein Wunder, das es in einer so verwirrten Zeit, eine so komische Situation ausgelöst hat. Vermutlich habe ich mich nach diesem Ort gesehnt, nachdem so viel los war, und Liv hat mich daran erinnert. Das war alles.

Eine so einfache Antwort. Nach all den Stunden in denen ich mich damit abgeplagt habe. Es hätte so einfach sein können …

»Was ist?«

Ich vernehme die besorgte Stimme meiner Freundin und zucke überrascht zusammen, ehe ich ihr einen Blick über die rechte Schulter zuwerfe und sehe, wie sie sich aufsetzt.

»Ist alles in Ordnung?«

Das muss eben wirklich verdammt bescheuert ausgesehen haben. Doch überraschenderweise, kann ich das ausnahmsweise leicht beantworten.

»Ja… Ja, alles okay. Besser denn je, ehrlich gesagt. Keine Sorge. Mir ist nur gerade was Wichtiges eingefallen.«

»Aha«, meint diese trocken, mit vielsagendem Unterton. »Du solltest da übrigens vorsichtig sein. Ich find es nicht sicher, da runter zu sehen. Schließlich kann bei sowas der Höhenrausch bewirken, das man einfach runter fällt, weil einem schwindelig wird. Hör auf mich, ich bin immerhin ein Jahr älter als du.«

Ich kann nicht anders, als zu lachen während ich von der Kante zurückweiche.

»Ach ja? Das wurde vielleicht so geschätzt, aber ich glaub nicht dran, bis es mir einer beweist.« Erst jetzt drehe ich mich vollständig zu ihr herum. »Und dazu müsste man schon meinen Geburtsschein ausfindig machen.«

Ich nehme es mit Humor, doch Liv wirkt plötzlich, als hätte ich sie damit an etwas erinnert.

»Oh, verdammt! Ich wollte dir ja noch was zeigen.«

Mit diesen Worten klopft sie auf die freie Stelle neben sich, wie um mir zu bedeuten, mich wieder zu ihr zu setzen.

Ratlos tue ich einfach wie mir geheißen.

»Was denn?«

Ihr Blick hat etwas Merkwürdiges an sich. Ich kann es allerdings nicht richtig in Worte fassen.

»Hör mal, ich weiß, du sagtest es interessiert dich nicht wirklich. Trotzdem hab ich mich gestern, nachdem ich abends noch Zeit hatte, ein bisschen für dich schlau gemacht.«

»Ob ich interessiert bin oder nicht, kann ich erst sagen, wenn ich weiß, inwiefern du dich denn ›schlau gemacht‹ hast«, gebe ich mit unverhohlener Skepsis zurück.

Das leichte Gefühl von eben weicht einer unangenehmen Art von Anspannung.

Ein wenig auf dem Hintern herumrutschend, zieht sie umständlich ihr Handy aus der Hosentasche und ruft dort irgendetwas auf den Screen.

»Das Teil hier war auf einem der Bilder von gestern zu sehen, nicht wahr?«

Ich ergreife das Telefon sofort, um es mir näher anzusehen. Obwohl ich sagte, es würde mich nicht interessieren, ist da in mir diese seltsame Aufregung, als ich das Bild vor mir sehe. Nur das Bild. Keine Beschreibung oder Bezeichnung dazu.

Aber ich weiß, dass es das richtige ist. Unsicher schluckend, wäge ich meine folgenden Worte ab.

»Was ist das?« Ich weiß nicht, ob ich es wirklich wissen will.

Manchmal ist Unwissenheit viel beruhigender als Gewissheit, aber manchmal auch nicht.

Es zu wissen könnte für mich alles bedeuten oder aber gar nichts. Was, wenn es nutzlos ist?

Doch klar ist auf jeden Fall eines: Wenn ich es erst einmal weiß, dann kann ich es nicht rückgängig machen, selbst wenn ich es dann tatsächlich nicht mehr wissen will. Und das macht mir Angst.

Wird das ab jetzt immer so sein, wenn ich etwas über meine Vergangenheit erfahren könnte?

»Siehst du? Es interessiert dich doch!«

Triumphierend scheint sie meine stillen Sorgen nicht zu bemerken und ich verdrehe bloß die Augen, als sie ihr Eigentum zurückfordert.

»Ich hab einfach nach sowas wie ›Schlaufenkreuz‹ oder Ähnlichem gesucht. Man nennt es ›Ankh-Kreuz‹. Ist so’ne Art altägyptisches Symbol für das Leben«, weiht sie mich endlich ein.

Überrascht blinzelnd lasse ich mir diese Information durch den Kopf gehen.

»Für das Leben? Bist du dir sicher?«

Ich hatte dieses Kreuz immer anders in Erinnerung. Verbunden mit dem Tod.

Doch wieso? Ich wusste bis eben ja nicht mal wie es heißt, geschweige denn, wo es herkommt oder für was es stehen soll.

»Naja, als Gegenstand oder Symbol steht es wohl für sowas wie ›das Weiterleben im Jenseits‹, und als Hieroglyphe bedeutet es in ungefähr so viel wie ›das körperliche Leben‹. Ich bin mir demnach ziemlich sicher, dass es ein Zeichen für das Leben ist.«

»Hm … Und sonst bedeutet es wirklich nichts?«

»Nein. Was denn? Passt dir was nicht?« Sie wirkt ein wenig enttäuscht.

»Keine Ahnung. Ich hätte es eher nicht mit dem Leben verbunden, auch wenn ich es jetzt so höre … Für mich bedeutet es eher genau das Gegenteil, in vielerlei Hinsicht.«

Sie runzelt die Stirn ein wenig und legt dann eine Hand an meinen Arm.

»Annie, es klingt vielleicht bescheuert, aber ich sagte ja, wenn das alles Erinnerungen waren, kannst du daraus vielleicht ableiten, was damals geschehen ist.«

Sie atmet einmal tief aus und ich erkenne einen traurigen Ausdruck in ihren braunen Augen. Beinahe bedauernd. Und ich will nicht, dass sie mich bedauert.

»Ich sagte ja, die Hände die sich nicht treffen und dieser verdorrte, schwarze Baum, welchen du ebenfalls mit deiner Mutter assoziierst … Könnte es nicht sein, dass du sie das letzte Mal gesehen hast, kurz bevor sie starb?« Sie wählt ihre Worte mit Bedacht. »Das würde viel erklären. Die Art, wie du dieses Symbol siehst oder, zum Beispiel, auch das Verdrängen deiner Erinnerungen.«

Da ich nicht weiß, was ich ihr darauf antworten soll; nicht weiß, wie ich das Gesagte widerlegen könnte, bleibe ich stumm.

Es ist egal, da sie weiter spricht. »Ich fand ohnehin immer, dass du ein zu guter Mensch bist, um von einer Frau abzustammen, die es schafft, ihr Kind acht Jahre lang bei sich zu behalten, um es dann wegzugeben. Bei aller Liebe und Mitleid, wenn das Geld knapp wird … das kann man doch nach einer so langen Bindung nicht mehr einfach so bringen«, schlussfolgert sie weiter. »Und da du ihr nicht weggenommen wurdest, weil die Ämter dich sonst doch irgendwo auf der Welt suchen müssten, hätte sie dich selbst aussetzen müssen, damit es so endet, wie es eben geendet hat. Das fand ich nie vorstellbar, wenn ich ehrlich sein soll.«

Vermutlich will sie mich damit aufmuntern, obwohl überall auf der Welt Kinder verschwinden und Ämter kaum hinterher kommen. Die Version ist also sehr wohl möglich.

Unsicher nicke ich jedoch, als sie beginnt vorsichtig über meinen Rücken zu streicheln.

Sie hat sich diese Mühe um meinetwillen gemacht, also sollte ich sie auch wahrnehmen.

Eine unangenehme Stille entsteht, bis ich sie nach einigen Minuten des Schweigens breche.

»Lass uns gehen«, lasse ich mit einem Lächeln fallen, von dem ich selbst nicht so genau weiß, was es darstellen soll.

Am Ende ist die Sache doch keine so große Enthüllung gewesen; kein Zeichen von beispielsweise irgendeiner dubiosen Sekte, aus der meine Mutter mich erretten wollte, indem sie sich aufgeopfert hat, um mich weg zu bringen. Auch kein Symbol irgendeiner Kirche, nach der ich suchen könnte, um sie dort als Nonne lebend zu finden. Kein Lebenszeichen.

So viele Dinge, die ich mir beim Anblick dieser Kette insgeheim ausgemalt habe, sind mit einem Schlag nichtig geworden.

Damit ist es bloß noch ein altes Symbol. Es müsste so viel mehr dahinter stecken, aber das scheint nicht der Fall zu sein.

Und wenn doch, sehe ich es nicht. Aber ich kann das Gefühl dennoch nicht ablegen, dass es wichtig ist. Etwas so Unwichtiges.

Nicht nur Liv, sondern auch ich dachte irgendwann mal, dass es sicher wichtig ist. Nun stellt sich heraus, dass es symbolisch auch nicht aussagekräftiger ist, als ein Anhänger mit dem chinesischen Schriftzeichen für ›Ausschlag‹? Einfach nur ein willkürliches Schmuckstück?

Keine Ahnung ob mich das nun enttäuscht, weil ich dadurch keine wirkliche, neue Spur erhalten habe, wie ich es immer irgendwie unterbewusst vermutet habe … oder ob es mich aus demselben Grund sogar beruhigt.

Beides macht mich nicht gerade fröhlich.

»Stimmt.«

Offenbar versucht auch sie die Stimmung weiter zu lockern, was ich ihr hoch anrechne. Auch für den Rest, selbst wenn ich sie nicht gebeten habe. Vielleicht war das einfach nötig.

»Wir müssen noch unsere Einkäufe nach Hause bringen, damit ich daran arbeiten kann.«

Sie meint, sie würde aus all dem etwas ›Unglaubliches‹ zaubern, das mich ganz sicher ›schockieren‹ wird. Wie ich sie kenne, ist das vermutlich auch noch im Rahmen des Möglichen. Sie hat wirklich Talent. Ein Händchen für solche Dinge.

Ganz anders als ich.

Darum bin ich es auch, die noch immer unsicher ist. So wie immer.

»Wollen wir wirklich auf eine dieser Halloweenpartys gehen? Wir können doch nach dem offenen Empfang auch einfach nach Hause«, schlage ich vor. »Ich meine, unsere Kostüme müssen dann auch nicht so glanzvoll sein, dann hast du weniger zu tun. Und tragen können wir sie irgendwie trotzdem, immerhin trägt jeder schon auf dem Empfang ein Kostüm. Laut der anderen ist das praktisch Pflicht

»Nein, nein und nochmals nein. Fängst du schon wieder damit an?«

Sie schmettert meine Aussage so schnell ab, dass ich sogar etwas beleidigt wäre, würde ich sie nicht schon ewig kennen.

»Ich sagte doch, dieser Abend wird einmalig-«

»Und unvergesslich«, beende ich ihren Satz. »Schon verstanden. Aber der offene Empfang kann doch ebenfalls schön sein, oder nicht?«

»Kann er nicht, glaub mir. Da sind dann ein Haufen Eltern und alles wird irgendwie so … langweilig und formell. Ich kenn das, ehrlich. Das müssen wir uns nicht geben.«

»Was ist so schlimm an ›langweilig und formell‹?«

»Wow, hörst du dir eigentlich selbst zu?« Sie scheint ehrlich schockiert.

»Ich meinte ja nur. Ich hab irgendwie ein komisches Gefühl bei der Sache …«

Und das wahrscheinlich nur, weil sie noch immer nicht weiß, welchen ›besonderen‹ neuen Mitschüler sie ab jetzt haben wird, zwei Klassen über uns.

Ich hab’s ihr immer noch nicht gesagt.

»Du, da ist noch was, was ich dir sagen sollte«, gestehe ich, während ich mich zurück auf die Füße hieve und sehe, wie sie es mir nachmacht.

Zu meiner Anmerkung verdreht sie jedoch nur genervt die Augen.

»Komm schon, du hast doch in letzter Zeit bei allem ein schlechtes Gefühl. Bei der Party, bei dem Kostüm, bei dem Kleidergeschäft … Das ist bestimmt nur so, weil du nervös bist. Weil du so selten unter Menschen gehst. Aber das wird toll, vertrau mir«, redet sie auf mich ein.

Obwohl es gar nicht das ist, was ich eigentlich sagen wollte.

»Und jetzt will ich nichts mehr davon hören, klar?«

»Aber…«

»Nichts!«

Sie unterbricht mich mit Nachdruck, sodass ich verstumme.

»Komm, gehen wir nach Hause, jetzt, wo wir haben was wir wollten.«

»Was du wolltest, meinst du wohl«, werfe ich dazu nur ein, während ich einen Satz in Richtung Rückweg mache.

»Jaja …«

Als ich bereits weg bin, eilt sie mir nach. »In einer Woche wirst du mir dafür dankbar sein!«

Ich wage es zu bezweifeln, doch mit diesen Worten treten wir dennoch die Rückreise an, es dauert gar nicht lange, dann sind wir bereits wieder in der Zivilisation.

Und alle Sorgen, die man gehabt hat, brechen wieder auf einen ein; werden ein weiteres Mal wahrhaftig.

Und trotz aller schlechter Ahnungen, die ohnehin ziemlich haltlos scheinen, und all der Dinge, wegen derer ich mir Sorgen machen müsste, komme ich nicht umhin, Aufgeregt zu sein. Ja …

Ich bin gespannt, was mich dort erwarten wird.

 

»Noch ein bisschen weiter nach rechts«, höre ich die Stimme unserer Hilfestellung am Boden, um das große Willkommensband zentral im Eingangsbereich der Schule anzubringen.

Tony, der Mitschüler der auf der anderen Seite des Bandes steht, schnaubt dagegen.

»Das macht sie doch mit Absicht! Soll sie sich doch mal hier rauf stellen, während ich unten stehe und sie herum kommandiere.«

Lachend kann ich ihn von meiner Position aus nur zu beruhigen versuche.

»Ist doch okay. Stacy will auch nur, dass es perfekt wird. Wie wir alle, oder nicht?«

Er sieht mich jedoch an als sei ich bescheuert. »Nicht wirklich. Mir ist egal wie es hier läuft, ich geh danach sowieso nach Hause. Dieses ganze Fest nervt mich jetzt schon.«

»Oh«, ist alles was ich dazu sagen kann.

Stimmt, nicht jeder kann Halloween so sehr lieben wie ich. Für mich ist es eben besonders.

Als ich herkam, war es damals gerade Oktober. Ich war einfach so irgendwo aufgetaucht. Und stand plötzlich vor all diesen Fremden.

Ich kann mich selbst nicht mehr so gut daran erinnern, doch dieses Gefühl, wird mir ewig erhalten bleiben. Es war ein kaltes Gefühl der Angst, der Panik und der Einsamkeit.

Meine Haare stellen sich auf, wenn ich nur daran denke, wie ich damals weinend im Regen stand. Mehr ist nicht mehr da; bloß dieser Moment. Aber das ist mehr als genug.

Es fühlt sich an, als wäre es nicht einmal meine Erinnerung, so lange ist es schon her, aber die Wirkung bleibt. Ich war wie eine ausgesetzte Katze. So wehrlos.

Und dann traten Lauren und Gideon Dowell in mein Leben. Es ging ganz schnell, weil Lauren damals ehrenamtlich für soziale Dienste mit Kindern tätig war.

Erst war es nur vorübergehend, sozusagen als Pflegefamilie, damit ich nicht in ein Heim musste. Dann war jedoch klar, dass niemand für mich kommen würde; dass ich ganz allein auf der Welt war. Und ich wurde adoptiert.

Sicher war es ein langer Kampf, aber irgendwie haben sie es geschafft, mich dabei die ganze Zeit bei sich zu behalten. Doch auch bei ihnen war ich zuerst nur eine Fremde und habe mich vor so gut wie allem gefürchtet.

Laut meiner Mutter war ich die meiste Zeit verwirrt. Bestimmte Dinge kannte ich zwar, andere dagegen waren mir völlig fremd und machten mir dementsprechend Angst.

Ich wusste was Besteck ist, aber nicht wozu ein Fernseher gut war.

Ich konnte einen Stift benutzen, aber der brummende Kühlschrank brachte mich zum Weinen.

Und dann kam Halloween. Ich war an diesem Tag so glücklich, dass mein Vater sagte, ich wäre praktisch neu geboren worden; dass dieser Tag von da an mein Geburtstag sei.

Heute weiß ich, dass ja eh niemand wusste, wann ich geboren worden bin. Damals war es mir jedoch egal. Ich habe nur verstanden, dass dieser besondere Tag ein ganz besonderer Tag für mich allein ist. Es hat mich einfach froh gemacht.

Ja, wenn es nach mir ginge, könnte das ganze Jahr lang Halloween sein.

Lächelnd befestige ich das große Band. »Passt doch so«, meine ich und sehe nach unten, wo Stacy die Achseln zuckt und etwas in Richtung »Wenn ihr es nicht besser hinkriegt« murmelt.

Mit diesen Worten dreht sie sich einfach um und zieht von dannen, vermutlich um an einer anderen Stelle für ›Perfektion‹ zu sorgen.

Ich kann sie nur belächeln und den Kopf schütteln, während ich von der Leiter steige und der kleine Tony es mir gleichtut.

»Wirst du dich auch nicht verkleiden?«

Es dauert eine Sekunde, ehe ich begreife, dass er mich angesprochen hat.

Leider verstehe ich den Hintergrund nicht ganz. »Hä?«

Verwirrt blicke ich an mir herab, dann wird mir auch klar was er meint.

»Ach so, nein, also, doch, natürlich. Ich verkleide mich noch, nur jetzt noch nicht. Damit ich mich freier bewegen kann.«

Außerdem würde Liv den dritten Weltkrieg ausrufen, wenn es jemand schafft, mir bei den letzten Vorbereitungen noch Farbe, Kleister oder Sonstiges aufs Kostüm zu schmieren; oder wenn ich es schaffen würde, etwas zu verlieren, zu zerreißen oder sonst wie zu beschädigen.

Da bin ich mir absolut sicher.

Schmuckkleider wie diese, sind einfach nicht zum Arbeiten geschaffen, auch wenn ich Liv in jedem Fall Qualitätsarbeit zutraue.

Ich sehe auf die Uhr, um zu prüfen, wie viel Zeit noch bleibt, während ich ein kleines, in Folie gewickeltes Bonbon aus meiner Tasche ziehe, es auspacke, und in den Mund schiebe.

Was für ein stressiger Tag.

Die ganze Woche verging viel schneller als erwartet. Alles ging total fix über die Bühne, die Schule wurde schon vor drei Tagen von Grund auf gereinigt, damit sie für den Empfang nur so blitzt. Alles nur, damit es einen guten Eindruck macht.

Obwohl diese Schule von Natur aus schön ist, wie ich finde. Sie braucht keine Tricks.

Am Stand mit den Flyern über auswärtige Programme und Clubs sind ebenfalls Neuzugänge eingekehrt. Partyflyer von Schülern, die im Anschluss zu sich einladen.

Ich bin mir nicht sicher, wie viele Halloweenpartys es heute Nacht noch geben wird, aber wir sind in jedem Fall bedient. Man muss nicht einmal Angst haben, alle einzuladen.

Da es so viele Möglichkeiten gibt, wird es sich schon verteilen und wer wirklich nicht will, dass sein Haus explodiert, der muss ja keine Flyer verteilen. Private Partys gibt es ja auch.

Schade ist nur, dass die Schule dann hauptsächlich für die Eltern der Schüler reserviert bleibt. Die waten hier sogar mit einem riesigen Buffet auf, das vermutlich kaum einer anrühren wird.

Seufzend will ich gerade einen anderen Brandherd ausfindig machen, da sehe ich erneut auf die Uhr, und realisiere erst diesmal wirklich, was dort eigentlich steht.

»Was denn, schon so spät?!«

Wie es scheint, vergehen hier nicht nur die Wochen sehr schnell …

»Annie«, höre ich wie mein Name in etwas atemloser Art und Weise ausgesprochen wird und drehe mich um.

»Liv«, beginne ich, doch stocke, als ich ihre Misere erkenne. »Äh, brauchst du vielleicht Hilfe?«

Sie stößt die beiden aufeinandergestapelten, großen Pappkartons in ihren Händen mit dem Knie auf, als sie sich umständlich durch die Flügeltüren drückt.

»Geht schon«, raunzt sie halb abgewürgt. »Wo sind hier die Umkleiden?«

Ohne zu zögern, zeige ich hinter mir den Flur entlang.

»Da hinten ist die Sporthalle, in der auch der Empfang beginnt und das Buffet steht. Die Umkleiden sind direkt daneben und-«

Mit schnellen Schritten hechtet sie in Richtung meines Fingerzeigs.

»Komm schon!«

Ich kann ihr nur folgen. »Sind da etwa unsere Kleider drin?«

»Und das Make-Up, die Perücken und die Accessoires«, ergänzt sie abgehetzt. »Ja, da sind unsere Kleider drin.«

Kaum erreichen wir die Umkleide, die Gott sei Dank offen steht, flitzen wir auch schon ungesehen hinein und verriegeln die Tür, woraufhin Liv die Kisten einfach so fallen lässt.

»Du weißt, alles was in der Kiste mit dem schwarz-violetten Kram ist, gehört dir. Das mit dem schwarz-grünen Zeug ist meins.«

»Verstanden.«

Im Akkord ziehen wir zuerst die Kostüme an. Die Kleider, die Strumpfhosen und die Schuhe.

»Wow, das ist ja wirklich schön geworden«, lasse ich zwischendurch fallen, als ich an mir herabsehe.

»Hör auf zu schleimen und zieh dich schneller an, sonst kommen wir noch zu spät und das wär bescheuert.«

»Ist es nicht Sitte, dass man ein bisschen zu spät kommt, um mehr aufzufallen?«

»Nein, nicht heute. Tendenziell ja, aber nicht heute«, wiederholt sie sich. »Eltern und Lehrer reagieren nicht so gut auf sowas, hab ich die Erfahrung gemacht.«

Es war ja ohnehin nicht ernst gemeint, doch meine Hexenfreundin scheint so gar nicht zu Scherzen aufgelegt. Ich sollte wohl aufpassen.

Die Dauerarbeit an den Kleidern muss sie nervlich mehr mitgenommen haben, als sie zugeben würde. Zum Glück ist das Ganze jetzt vorbei und wir können das Ergebnis bewundern.

Das war es allemal wert … hoffe ich.

Als ich meine passenden Handschuhe überstreife und mir so nur noch Perücke und Make-Up fehlen, beobachte ich neugierig, wie Liv ihr Haar steckt. Sie steckt es hoch, wie meist, die Frisur mutet etwas altertümlicher an als sonst und dazu unsauberer, obwohl der Schein trügt.

So unwirsch wie sie danach noch ein paar zusätzliche, schwarze Haarsträhnen hineinsteckt, erkennt man, wie fest dieser Knoten in Wahrheit sein muss. Er rührt sich nicht vom Fleck.

Kaum hat sie das erledigt, sieht sie mich an. »Warum hörst du auf? Es ist nicht gut, wenn du aufhörst«, stellt sie erschrocken fest.

Ihre Anmerkung bleibt nervös, während ich nur die schwarzen Kunsthaare ins Licht halte.

»Ich kann sowas nicht«, gestehe ich schlicht.

»Oh Mann … lass mich mal ran.«

Etwa eine Viertelstunde, und eine Menge verlorenes Echthaar später, hat sie mich auch tatsächlich fest und sicher in diesen dunklen Wischmopp gedrückt und wir beide haben nun ein wenig von der schwarzen Schminke im Gesicht.

Nun sammeln wir nur noch die verstreuten Kleider ein, werfen sie zurück in die Kisten und flüchten damit durch den Hinterausgang, wo, wie auf die Sekunde genau, meine Eltern auf dem großen Parkplatz vorfahren.

»Hey«, grüße ich sie und meine Mutter staunt bereits nicht schlecht, als sie uns sieht.

»Na, meine kleinen Hexen?«

Ich verziehe das Gesicht bei dieser Aussage. »Mom …«

»Wir sind doch keine kleinen Kinder mehr«, wird sie dabei jedoch von Liv erinnert. »Können wir unsere Sachen in eurem Wagen unterstellen?«

»Klar … Sicher«, entgegnet meine Mutter noch ein wenig perplex, doch da huscht besagte Freundin bereits an ihr vorbei in Richtung Autotür.

Schulterzuckend tue ich es ihr gleich, um meine Sachen auf die Rückbank zu laden.

»Danke, wir müssen nämlich gleich wieder rein. Geht ihr bitte durch die Vordertür?«

Wir haben eigentlich Glück, dass sie immer überpünktlich erscheinen, der Parkplatz der Schule ist nun nicht gerade übermäßig groß und immerhin gibt es auch reservierte Lehrerplätze.

Ansonsten hätten sie vielleicht nicht hier, sondern irgendwo einen Kilometer entfernt in einem Parkhaus gestanden.

Ich weiß ehrlich nicht, wie ich diese Situation gerade zusammenfassen sollte.

Denn ›Chaos‹ trifft es einfach nicht so ganz.

Und bei Gott, ich hoffe der Abend endet nicht genauso hektisch, wie er gerade anfängt.

 

Oder ich brauche wirklich mehr Zucker.

Chapter 8: With Driving Memories Among Us

 

Wir hasten zurück ins Gebäude, durch die Hintertür, so als wären wir nie weggewesen.

Vorbei an meinem Vater, der sich gerade noch die Brille richtet … er sollte sie endlich mal anpassen lassen, das sagen wir ihm schon seit drei Monaten.

Aber darum kann ich mich nicht kümmern, als wir den Korridor durchqueren. Ein Lehrer kommt uns auf dem Weg entgegen, keine Ahnung, wer das ist; habe ihn noch nie zuvor gesehen.

Wir lächeln nur und sagen höflich »Guten Abend«.

»Okay, ich hab einen Termin bei den Leuten die ein kleines Geisterhaus zusammengestellt haben. Wir sehen uns später, okay?«

Mit diesen Worten meldet sich meine Freundin letztlich ab und ich halte abrupt an.

»Warte, was?« Irritiert sehe ich mich noch um.

Doch ich suche vergeblich. Sie ist bereits durch einen der Gänge verschwunden. Na sowas …

Also lege ich meinen Pfad ab jetzt allein zurück. Wo will ich denn überhaupt hin? Ich nahm an, wir würden zusammen zum Empfang gehen, aber nun kann ich auch am Eingang darauf warten, dass meine Eltern zur Vordertür hereinspazieren.

Was für eine Zeitverschwendung.

Seufzend gehe ich einige Schritt in den Korridor bei unserem Haupteingang und sehe noch, wie jemand ein letztes Bild aufhängt.

Ich staune nicht schlecht, als ich erkenne, worum es sich bei diesem bestimmten Bild handelt.

Noch ist es ganz ruhig, nur vereinzelt verklingen einige Laute in den Hallen der Schule. So macht es diesen Moment irgendwie noch ein wenig spezieller.

Diese Bilder, die ich so lange nicht beachtet habe; über die ich in den letzten Tagen jedoch mehr nachdenken musste, als je zuvor. Sie nun so zu sehen, ist ein seltsames Gefühl.

Es reißt mich ein wenig aus der Konzentration, als ich einige Sekunden später eine Hand auf meiner Schulter spüre.

Als ich mich umdrehe, verschlucke ich beinahe meine eigene Zunge.

»Es sieht wirklich toll aus«, höre ich seine vertraute Stimme sagen und mein Herz macht wie auf Kommando einen Satz. »Es hat hier eine unglaubliche Wirkung, nicht wahr?«

»Äh«, mache ich, ohne dabei wirklich klug zu klingen. »Ja. Vielen Dank für diese Chance.«

Für einen Moment dachte ich aus irgendeinem Grund, das Kompliment sei an mich gerichtet. Wie konnte ich das denken?

»Nein, ich habe zu danken. Nicht, dass es hier nicht viele begabte Schüler gäbe, doch irgendwie haben all Ihre Bilder diese besondere«, er macht eine Pause und scheint nach den richtigen Worten zu suchen, »Atmosphäre. Zu diesem Fest passt das ganz hervorragend. Ich bin dementsprechend froh, dass Sie mein Angebot nicht ausgeschlagen haben.«

Ich nicke wie ein Wackeldackel. Wieder nicht sehr vorteilhaft, aber immerhin eine Reaktion.

»Auch dafür danke.«

Nervös überlege ich hin und her, um irgendetwas sagen zu können. Etwas Intelligentes. Jetzt.

»Wie geht es denn mit dem Empfang voran, sollten Sie die anderen Lehrer nicht unterstützen, Mr. O’Farrell?«

Sehr intelligent, Annie

Mach ihm Schuldgefühle. Bezeichne ihn als faul. Perfekt. Was will man mehr?

Warum bringt mich dieser Mann nur immer so durcheinander? Er ist ein Lehrer, wie falsch ist das bitte?! Er könnte mein … naja, Bruder sein, oder so. Keine Ahnung. Cousin?

Großer Gott, selbst wenn er siebzehn wäre, er ist Lehrer!

»Ach, die kommen schon eine Weile ohne mich zurecht, die machen das ganz hervorragend«, versetzt er, doch dieses Kompliment durchschaue ich recht einfach als Ausrede dafür, nicht helfen zu müssen.

Aber ich darf mich nicht beschweren, da ich ja auch nicht gerade der produktivste Mensch im Gebäude bin.

»Ich habe gehört, dass Sie heute Geburtstag haben«, lenkt er stattdessen vom Thema ab.

Und ich werde umso nervöser. »Ja, ich werde heute offiziell siebzehn.«

»Herzlichen Glückwunsch. Wie schon bemerkt, sehen Sie wirklich toll aus. Was stellt das Kostüm dar?«

Während ich versuche, mein Gesicht durch pure Willenskraft dazu zu bringen, nicht offensichtlich zu erröten, nicke ich erneut.

»Vielen Dank … für beides«, stammle ich meine Antwort, realisiere jedoch, dass das gar nicht die Frage war. »Also, das Kostüm stellt eine Hexe dar. Die Kreation einer Freundin.«

Ich räuspere mich verlegen, als durch seinen Kommentar die Aufmerksamkeit auf sein eigenes Outfit gelenkt wird. Ein schlichter schwarzer Anzug, recht formell, aber er steht ihm sehr gut. Die dunkle Farbe bringt seine stahlblauen Augen zur Geltung, welche mich einen kurzen Moment zum Dahinschmelzen bringen … ich sehe schnell wieder zu den Bildern.

Dann herab zu meinen Händen. Eine nervöse Angewohnheit der vergangenen Tage.

»Eine Hexe also? Wirklich interessant. Apropos«, vernehme ich seine Stimme erneut. »Wie geht es eigentlich Ihren Händen? Keine Verbände mehr?«

»Oh, denen geht’s gut. Gut … danke«

Selbst in meinen eigenen Ohren wirke ich überdreht, doch diese peinliche Erkenntnis lässt mein Herz nur noch schneller schlagen.

»Naja, sie tun gar nicht mehr weh, daher auch keine Verbände mehr. Alles heile; bleiben nicht mal Narben. Ich war gestern bei einem Arzt deswegen, aber der sagte nur, ich sei ein ›kleines medizinisches Wunder‹ und hat mich nach Hause geschickt. So geht’s«, plappere ich weiter und weiter, bis ich mich mit Gewalt verstummen lasse.

Mir fällt geradewegs ein Stein vom Herzen, als ich zwei mir sehr bekannte Gestalten erblicke, die endlich den Weg gefunden zu haben scheinen und mir winkend entgegentreten.

Die Erleichterung währt jedoch nicht allzu lange.

Kaum sind sie bei mir, betrachtet mich meine Mutter besonders sorgfältig.

»Wow, du siehst ja wahnsinnig toll aus, Schatz«, staunt sie und strahlt bis über beide Ohren.

Dann fällt ihr Blick auf den Mann neben mir.

»Und wer sind Sie? Ich hoffe doch nicht, dass Sie ihre Begleitung darstellen.«

Er lacht über diesen schlechten Scherz meiner Mutter und am liebsten würde ich dabei einfach im Boden versinken.

Klar, das könnte ja auch nur als Scherz gesehen werden.

»Nein«, versichert er.

Zuerst streckt er meiner Mutter die Hand entgegen, dann meinem Vater.

»Ich bin ihr Kunstlehrer, Darren O‘Farrell. Ihre Tochter ist wirklich sehr talentiert, ihre Bilder haben alle eine gewisse … Seele. Trotz all meiner Erfahrung, sehe ich so etwas nur sehr selten. Sie könnte es mal weit bringen.«

Das immer heller werdende Leuchten in den grünen Augen meiner Mutter, beginnt so langsam mich zu blenden. Beinahe hätte ich eine Hand vor mein Gesicht gehalten, um es abzuschotten.

»Ja, wir sind auch so stolz auf sie. Schon als kleines Kind hatte sie diese Fähigkeit und sie freut sich immer so auf den Kunstunterricht. Ich wollte schon lange Mal herkommen und ›Hallo‹ sagen, so wie sie immer von Ihnen schwärmt.«

Alles klar, es wird Zeit für einen strategischen Rückzug.

»Okay«, unterbreche ich, schneller als ich darüber nachdenken kann.

Außerdem auch viel lauter als geplant, sodass mir nun die Aufmerksamkeit von drei Augenpaaren sicher ist und zusätzlich etwa fünf Weiteren, die eigentlich nur an uns vorbeigehen wollten.

»Mom, Dad, ich glaube es wäre besser, wenn wir langsam zum Empfang gehen. Kommt ihr?«

Hoffentlich treffen wir dort auf Liv.

Ich brauche dringend Verstärkung.

 

Irritiert sehe ich mich um. All diese Eltern. Einige von ihnen, würde ich wirklich gerne mal unter vier Augen sprechen. Diese arroganten, anmaßenden Bratzen.

Andererseits sollte ich mich in diese Art Dinge eigentlich auch nicht einmischen; nicht in die Erziehung anderer. Das gibt nur Probleme. Daher konzentriere ich mich lieber auf meine eigenen Eltern und auf Liv, die noch immer nicht hier ist.

Der Saal ist wirklich aufwendig geschmückt, das Büffet ist besonders ›schaurig‹ gestaltet worden und die Musik im Hintergrund wirkt angenehm bis unterhaltend.

Manche der Anwesenden tanzen sogar … was allerdings schon etwas merkwürdig ist.

Eine Ansprache gab es auch schon. Die hat meine ›Modeberaterin‹ bereits verpasst.

Allerdings wusste ich ja vorher schon, dass sie dieser ›Elternabend‹ nicht sonderlich interessiert. Sie sagte jedoch, sie wolle nicht zu spät erscheinen. Und das macht mir irgendwie doch Sorgen. Andererseits … was kann ihr in der Schule schon Schlimmes zustoßen?

Jetzt mal abgesehen von all den Eltern und Lehrern, die hier auf engstem Raum praktisch dazu genötigt werden, sich zu unterhalten, damit sie sich nicht zu langweilen beginnen.

Das ist jedenfalls das, was ich aktuell als das Schlimmste wahrnehmen würde und davor scheint Liv sogar noch gefeit.

Tatsächlich reden einige Lehrer mit den Anwesenden und glücklicherweise halten sich die, die davon zu mir gehören, so weit von meinem Kunstlehrer fern, wie der freie Raum es ihnen nur möglich macht.

Das will ich ihnen aber auch geraten haben, wenn sie nicht wollen, dass ich sie heute Nacht im Schlaf ersticke oder einfach vor Scham an Ort und Stelle explodiere – die Sauerei würde ich dann jedenfalls nicht mehr aufwischen …

»Hey, wie läuft’s bisher …?«

Leicht erschrocken von der plötzlichen Stimme zucke ich zusammen und fast zeitgleich steigt mir ein unangenehmer Geruch in die Nase. Ich kenne diesen Gestank, selbst wenn ich ihm nicht häufig ausgesetzt bin.

Als ich mich nach dessen Ausgangspunkt richte, stehe ich vor meiner besten Freundin und ziehe eine angeekelte Grimasse.

»Sag mal, hast du getrunken?«

»Ja, die Leute vom Geisterhaus hatten Wodka«, erwidert sie ehrlich; offenkundig angeheitert.

Ich hoffe das hat noch keiner der Lehrer gesehen, denn egal was auch immer nach dieser Feier passieren mag, das Trinken auf dem Schulgelände ist für Schüler strengstens untersagt.

Auch auf einer Party. Und das zu Recht, meiner Meinung nach.

»Aber warum?«

Ich weiß ziemlich sicher, dass sie nicht gerne trinkt. Also was soll das?

»Rate mal, wen ich gerade gesehen habe«, stellt sie mich auf die Probe.

Oh nein … »Liv«, ich schließe die Augen und versuche es mit ruhigem Tonfall.

Scheinbar ist meine Reaktion so deutlich, dass sie selbst in ihrem Zustand genau weiß, was ich gerade denke.

»Ich kann nicht fassen, dass du mir das verheimlicht hast!«, unterstellt sie mir wütend.

Doch da habe ich auch noch ein Wörtchen mitzureden.

»Warte mal, ich wollte es dir sagen, auch wenn ich mir nicht sicher war, wie du es aufnehmen würdest! Aber du hast mich einfach abgewürgt und seitdem warst du kaum noch ansprechbar. Er geht nun mal nicht in unsere Klasse, also hatte ich gehofft, dass …« Keine Ahnung.

»Was?« Plötzlich klingt sie wieder so nüchtern. »Dass ich ihn nicht sehen würde, auf einem Event, das die ganze Schule organisiert und zu dem so ziemlich jeder erscheinen musste?«

Mist … »Hör zu, es tut mir leid, okay?«

Ich weiß nicht recht, was ich jetzt tun soll, also greife ich nach ihrem Arm und ziehe sie ein wenig zur Seite, ehe wir zu viel Aufmerksamkeit auf uns ziehen. Aufmerksamkeit ist das Letzte, was diese Fahnenstange gerade gebrauchen kann.

»Aber es hätte auch nichts geändert. Ich wusste es selbst nicht, bis vor einer Weile.«

Sie scheint einen Moment darüber nachzudenken, in ihrem vermutlich ziemlich verklärten Zustand.

Fahrig streicht sie sich mit den Fingern durch das gemachte Haar und kann dabei nur froh sein, dass sie einen so haltbaren Knoten fabriziert hat.

Vielleicht nüchtert sie ja noch ein wenig aus, bevor wir hier verschwinden können.

»Okay, warte«, lallt sie leicht und sammelt offenbar ihre verbliebenen Gedanken. »Okay … is‘ mir jetzt auch egal. Komm, verschwinden wir von hier …«

Verwirrt sehe ich erst zu ihr, dann zu der Menge um uns herum.

Warum dieser plötzliche Sinneswandel? »Wieso denn?«

»Weil’s hier eben langweilig is‘«, entgegnet sie zuerst und lehnt sich dann zu mir, wie um mir etwas zuzuflüstern, wobei sie aber irgendwie nicht richtig flüstert und mich sogar ein bisschen anspuckt, während sie spricht.

Ich werde das jetzt mal als Unfall betrachten.

»Ich weiß aus sicherer Quelle, dass dieser Idiot heute auch eine Privatparty schmeiß‘. Schleichen wir ihm nach.«

Ihr Vorschlag klingt nach einem absoluten Katastrophenplan.

»Nein! Du bist bet…« Einer der Eltern läuft gerade an uns vorbei.

Ich lächle und tue so, als sei alles ganz normal, um zumindest ein wenig Ärger abzuwenden.

Dann richte ich das Wort erneut an die Schnapsdrossel. »Mann, du bist betrunken!«

»Na und?«

»›Na und‹?!«

Ich versuche meine Stimme so gedämpft wie möglich zu halten, was zunehmend schwerer wird. Zumindest scheint uns niemand zu beachten.

»Du kannst jetzt nicht einfach gehen, es könnte etwas passieren. Was dann, hm?!«

Sie rollt genervt mit den Augen. »Mein Gott, du bis‘so ein übervorsichtiger Angsthase, Annie …«

Unwirsch lässt sie den Blick durch den Raum gleiten, scheint alles anzusehen und doch nichts wirklich zu beachten.

»Ich hau je‘enfalls ab. Mach doch was‘su willst.«

Shit.

Und sie tut, wie sie es prophezeit hat. Sie verschwindet. Doch da ich das nicht zulassen kann, eile ich ihr natürlich hinterher.

Diese verdammte Party …

 

Es brauchte einige Meter, ehe ich realisiert habe, dass ihr wütendes Abdampfen nicht in eine wahllose Richtung geführt hat. Gemeinsam haben wir zwar durchaus quer über den Hof, scheinbar wahllos die Schule verlassen, doch ein paar Schritte vor uns sehe ich, seit einiger Zeit schon, immer denselben Rücken. Scheinbar verfolgt sie diese bestimmte Person.

Zwar kann ich es nicht beweisen, aber daher kam vermutlich der übereilte Abgang von vorhin.

Ich habe derzeit allerdings nicht die geringste Ahnung, wem wir da genau hinterherlaufen.

Erst nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich hinter ihr her stapfe und sie mich nicht einmal eines Blickes würdigt, bekomme ich so langsam ein Gefühl davon, wo dieser Kerl hin möchte.

Er besucht die Party. Seine Party.

Meine Güte, Liv weiß doch wo Peter wohnt, auch ohne einen Wegweiser.

Was genau geht eigentlich gerade in ihrem Schädel vor? Hält sie sich vielleicht für eine Art Ninja auf geheimer Mission?

Mit einem genervten Laut sehe ich mit an, wie sie in dem Haus verschwindet. Dieser Mistkerl hat ihr vor zwei Jahren den Laufpass gegeben. Das war mitunter einer der Startschüsse für ihre Reise nach Europa, abgesehen davon, dass Paris nun einmal das Mekka der Modebewussten und Modekreierenden darstellt.

Liv war schon immer eine romantische Person. Und ihr Vater, auch wenn er sie liebte, hatte mit Sylvia eine Frau an seiner Seite, die ihre Gegenwart nicht ertragen konnte.

Ich weiß auch nicht, vielleicht war ich nicht genug für sie da, aber offensichtlich hat es jedenfalls nicht gereicht.

Damals haben wir uns das erste Mal gestritten. Das einzige, echte Streitthema, das wir je hatten. Dieser Vollidiot.

Sie hat ihn damals mit fünfzehn Jahren kennengelernt. Ich war damals vierzehn und sie sagte mir, ich würde es nicht verstehen.

Doch ich verstand nur, dass er sie nicht wirklich geliebt hat, was sie jedoch nicht sehen wollte. Ich habe ihn mit einer anderen gesehen. Als sie sechzehn und ich fünfzehn war, hat er sich sogar an mich rangemacht.

Weil er sie nicht haben konnte. Und er hat so lange gedrängt, bis sie ihm ihre Jungfräulichkeit geopfert hat. Danach hat er sie fallen lassen. Einfach so.

Und sie hat wochenlang geweint, selbst wenn sie sich dafür verkrochen hat, wusste ich es.

Sie hat sich sogar an die tausend Mal dafür entschuldigt, dass sie nicht auf mich gehört hat, doch das konnte nichts von dem rückgängig machen, was geschehen ist. So ist das Leben.

So sehr habe ich ihn dafür gehasst. Dafür, dass er ihr so wehgetan hat.

Allerdings frage ich mich durchaus …

»Hey«, spreche ich sie an, als wir endlich im Haus sind.

Umzingelt von feiernden und trinkenden Jugendlichen.

»Was hat er eigentlich getan, dass du so durchdrehst? Ich meine, ja, du bist wütend und das ist auch okay. Aber warum plötzlich diese Explosion und das Trinken?«

Scheinbar überfordere ich damit kurzfristig ihre Aufmerksamkeitsspanne, ehe sie ihre Gedanken ordnen kann und mich dann todernst ansieht.

»Weil er es schon wieder tut. Hab’s gesehen«, stellt sie todernst, aber irgendwie auch kindlich niedlich fest, als sie mich ansieht.

»Was?«

Leicht schockiert brauche ich nicht lange zu überlegen, um zu wissen, was sie wohl meint.

»Er hat wieder Eine? Aber … Kann man das nicht zur Anzeige bringen? Er ist doch mittlerweile über zwanzig!«

»Keine Ahnung … Aber wenn man’s anzeigen kann, iss‘es für gewöhnlich schon zu spät und vorher macht ja keiner was.«

»Das stimmt«, gebe ich schweren Herzens zu. »Aber was willst du tun? Ihn auffliegen lassen?«

Der Ausdruck auf ihrem Gesicht verändert sich, ehe mir klar wird, was ich da gerade angerichtet habe.

»Nein, das wirst du nicht tun, das wird nur Probleme geben! Wenn er dich raus wirft und das die Runde macht … Mensch, du bist betrunken! Das kann Riesenärger geben!«

Ich stemme die Hände in die Hüften und sehe sie streng an, doch sie scheint mich nicht einmal wahrzunehmen.

»Na und? Bin volljährig …«

Ich ziehe eine Augenbraue nach oben und sehe sie mit verschränkten Armen an.

»Wo denn bitte das?!«

»Frankreich.«

»Aber wir sind hier nicht in Frankreich

Sie sieht nicht einmal mehr in meine Richtung, weswegen ich nach ihrer Schulter greife.

»Hey, hörst du mir überhaupt zu?!«

Doch sie schüttelt die Hand wieder ab.

»Jaja«, faselt sie nur und verzieht sich dann. »Falls du ihn nicht mehr wiedererkennst … Er meinte, er würde als Vampir rumlaufen, aber das Kostüm hab ich noch nich‘ gesehen …«

Na, wenn das mal gut geht.

Teilweise kommt sie mir echt hagelbreit vor, aber dann wieder völlig normal. Es ist so trügerisch. Ich weiß nicht, wie potentiell gefährdet sie gerade ist, wenn ich nicht aufpasse. Andererseits will ich auch, dass sie ihre Probleme regeln kann, sonst kommt sie nicht richtig darüber hinweg.

Dazu kenne ich sie zu gut.

Außerdem ist da in mir diese kleine Stimme, die sich wünscht, dass niemand mehr so enden muss, wie Liv damals. Es hat ihr Erinnerungen gegeben, die wirklich schön hätten sein sollen und sie in etwas Schmerzhaftes verwandelt.

Also lasse ich sie ziehen.

Wollen wir hoffen, dass ich das nicht noch bereuen muss.

 

Ich streiche das falsche, schwarze Haar zurück und sehe mich etwas nervös um. Irgendein Kerl kommt derweil vorbei, legt mir einen Arm um die Schulter und drückt mir dabei einen Becher in die Hand. Offenbar will er mit mir trinken.

Aber ich wimmle ihn einfach ab.

Den Becher aus Nervosität dennoch weiter in Händen haltend, starre ich in die Richtung, in die meine mindestens angetrunkene Freundin vor ein paar Minuten verschwunden ist.

Komm schon … komm schon! Sie sollte längst wieder hier sein.

Normalerweise setzt sie sich irgendwelche Flausen in den Kopf und zieht sie durch – es sei denn sie realisiert, dass sie eigentlich nicht durchführbar sind. So male ich mir gerade alle möglichen Theorien aus, was da drüben los sein könnte. Wo auch immer sie jetzt ist.

Doch noch ehe ich weiter überlegen kann, vernehme ich einen lauten Schrei. Ein Mädchen, etwas derangiert, ein wenig jünger als wir und ziemlich aufgewühlt, kommt aus der Richtung gestürmt, aus der ich Liv erwartet habe.

»Oh verdammt …«, murmle ich zu mir selbst.

Ich setze zu einem Schritt an, um nach der gesuchten Übeltäterin zu sehen, wobei ich mir das jedoch sparen kann. Diese kommt nur einen Atemzug später wütend und nicht weniger aufgewühlt, aus derselben Tür gestampft; hinter ihr lallendes, genervtes Gezeter von irgendeinem Kerl.

Ich werde mich mal ganz weit aus dem Fenster lehnen und davon ausgehen, dass es sich hierbei um keinen Geringeren als unseren alten Kumpel Pete handelt.

In dem Moment rennt eine weitere Gestalt in die Braunhaarige hinein, wobei sie einen Schwall rote Flüssigkeit aus dessen Glas abbekommt, das sich über ihr halbes Dekolleté ergießt. Beschämt, beschwipst und sowieso komplett aus der Bahn geworfen, eilt sie damit in irgendeine Richtung des Hauses. Vermutlich in ein Badezimmer.

Doch hier sind überall Menschen die im Weg stehen. Ich muss dringend zu ihr!

Entschlossen stelle ich meinen eigenen Becher, welchen ich noch immer sinnlos mit mir herumtrage, auf einen Beistelltisch in meiner Nähe. Mich auf dem Absatz umdrehend, renne ich dabei jedoch noch mit voller Wucht in eine weitere Person, welche dort wie aus dem Nichts auftaucht.

»Uff« Etwas perplex blinzelnd, versuche ich den Wegblocker zu erkennen.

»Hey, pass doch auf, du Trampel …!«

Kurz zucke ich zusammen, als mein Blick auf einen altertümlichen, adlig anmutenden Aufzug fällt … komplett in Grün. Und dann wird mir plötzlich klar, wen ich da vor mir habe.

»Wow«, entfährt es mir mit einer gewissen Ungläubigkeit in der Stimme, »geiles Kostüm. Was ist das? Ne Gurke mit Fangzähnen? Muss ne Spezialanfertigung sein.«

»Ach, halt doch die Klappe. Es wurde bloß in der falschen Farbe geliefert«, jammert er, ehe er mich fahrig von oben bis unten mustert.

Was mir ehrlich gesagt, auf mindestens zehn verschiedene Arten, vor Ekel mein vergangenes Frühstück in den Rachen zurücktreibt.

»Und tu nich so, als wär dein Kostüm besser, du verdrehter Grufti«, meint der Partykönig mit der vermutlich halben Alkoholvergiftung im Blut; und das noch vor zweiundzwanzig Uhr.

Was ist er nur für ein Charmeur

Ich glaube auch nicht, dass er sich noch an mich erinnert, zumindest macht er nicht den Anschein. Vielleicht kommt es durch die Perücke und das dunkle Outfit. Vielleicht ist es aber auch der Alkohol und die Tatsache, dass er mich nie rumgekriegt hat, was für ihn blamabel ist.

Aber mir soll es ohnehin egal sein. Ich hätte ihn vermutlich auch nicht sofort erkannt, wäre mir nicht schon durch Liv bekannt gewesen, dass er als Vampir rumläuft.

Theatralisch verdrehe ich vor ihm die Augen und wedle den Dunst vor meinem Gesicht zur Seite. Wobei mir jedoch mit Schreck meine eigentliche Mission bewusst wird. Denn ich sehe, wer da gerade nur ein paar Schritte entfernt die Tür durchschreitet und somit Reißaus nimmt.

Hey, du wolltest doch unbedingt auf diese Party, nun hau gefälligst nicht ohne mich ab!

Schade, dass sie das nicht hören kann … Ich muss ihr wohl wieder hinterher laufen.

Allerdings steht mir dabei noch immer eine gewisse Wand in der Farbe einer Seegurke im Weg, als ich einen Schritt mache.

»Wohin denn so eilig?«

Genervt stöhne ich auf. »Okay, jetzt spitz mal die Ohren, Graf Rucola, ich hab Besseres zu tun, als mich mit dem Vakuum in deinem Schädel zu messen, also steh mir nicht im Weg!«

Mit diesen Worten drücke ich mich auch schon an Peter vorbei und eile hinter meiner Freundin her.

Toll, jetzt hab ich sie wegen diesem Deppen entkommen lassen.

Mal hoffen, dass ich sie noch erwischen kann, auf jeden Fall glaube ich, dass ich weiß, wo sie hin möchte.

Wenn ich falsch liege, sehe ich allerdings alt aus

 

Ich habe wirklich ein mieses Gefühl hierbei.

Chapter 9: And Whatever Pain May Come

 

So schnell ich kann, laufe ich nach draußen. Über mir scheint es in den letzten Minuten einen Wolkenbruch gegeben zu haben, welchen ich jedoch nicht mitbekommen habe. Weiß der Geier wieso, denn es gewittert auch. Ich war wohl viel eingenommener, als ich gedacht habe.

Nun weiß ich es besser.

Doch was soll ich tun? Der Regen wird immer stärker, als er sich über unsere Köpfe ergießt und mir unablässig die Sicht nimmt. Dieses Gefühl erscheint mir so unangenehm vertraut.

So sehr, dass mir schlecht davon wird. Doch ich ignoriere das Gefühl, Liv zuliebe.

Ich bin bereits völlig durchnässt, als ich die große Straße überquere.

Wo ist sie hingegangen? Links? Rechts? Einfach den Weg entlang?

Mir bleibt nicht mehr, als meinem Instinkt zu folgen und an den Ort zu gehen, an dem ich sie schon zuvor vermutet hatte. Bleibt nur zu hoffen, dass ich mit diesem dumpfen Gefühl auch wirklich richtig liege, denn die Gefahr, dass ihr etwas zustößt, besonders in ihrem jetzigen Zustand, ist mit dem Regen nicht unerheblich gestiegen.

Dem Verkehr auf einer anderen Spur ausweichend, eile ich ans rettende Ufer, denn die betonierten Pfade sind bereits zu kleinen Bächen mutiert. Ein Fakt, der es den Autos immens erschwert, im Halbdunkeln zu navigieren. Ich kann praktisch zusehen, wie es immer weniger werden, die sich trauen, los zu fahren.

Und das, obwohl ich kaum Zeit habe, überhaupt einen Blick zu riskieren.

In gefühlt einem Wimpernschlag ist meine Umgebung wie ausgestorben. Das Tosen über den Baumkronen, als ich in den Wald renne, was sicher auch keine gute Idee darstellt, macht mir beinahe Angst.

Doch nicht, weil ich Angst vor Gewittern hätte. Es macht mir Angst, weil es jederzeit einer dieser Schläge sein könnte, der ankündigt, dass irgendetwas Schreckliches geschehen ist. Ich glaube daran, dass solche Dinge immer als schlechte Omen fungieren.

Und wenn ich es vorher nicht hätte, dann ganz sicher heute Nacht.

Die Wiese unter meinen Füßen fühlt sich sumpfig an, als ich mich hindurch schleppe.

Noch einen Tick schneller renne ich. Ein kurzer Seitenblick auf die von Wasser überlaufene Uhr an meinem Handgelenk, zeigt mir, dass ich schon über zehn Minuten auf dieser Spur bin.

Ich hoffe dabei, dass sie nicht bereits vor zehn Minuten stehen geblieben ist, da ich für mehr nicht die Zeit und nicht den nötigen ›Durchblick‹ habe. Ich vertraue auf das Glück, das mir bis heute meist zur Seite gestanden hat, wenn ich es am meisten gebraucht habe.

Meine Augen brennen schrecklich; ich muss immer wieder blinzeln, um überhaupt etwas sehen zu können. Es ist so dunkel und überall nur Bäume vor mir.

Das Kleid ist klatschnass und hindert mich daran, ordentlich einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Auch die ohnehin schweren Stiefel an meinen Füßen, laufen immer weiter mit Wasser voll. So sehr, dass ich mich fühle, als würde ich durch einen zwanzig Zentimeter tiefen Tümpel waten. Jeder Schritt ist ein schmatzendes, nasses Unterfangen.

Wenn ich Liv so nicht finden kann, schwöre ich, drehe ich ihr den Hals höchst persönlich um.

»Liv?«

Ich schreie wahllos in den Wald hinein, doch nichts, bis auf das laute Tratschen des Regens auf meinem Haupt, auf die Blätter und Zweige der Bäume, Büsche und den Boden um mich herum, soll meine Antwort sein.

Einen Augenblick bleibe ich stehen. Bin ich überhaupt noch richtig?

Es sieht alles so anders aus, in diesem Unwetter. Gott, ich will eigentlich einfach nur umkehren und nach Hause gehen. Aber das kann ich nicht tun.

Ich kann es einfach nicht. Nicht, wenn ich weiß, dass sie vielleicht genau in diesem Augenblick dort ist. Und solche Regenfälle machen diesen Ort gefährlich. Sie könnte stürzen und sich verletzen.

Vielleicht liegt sie in diesem Augenblick irgendwo dort auf der Lichtung oder sogar noch hier im Wald, auf dem Weg dorthin, und kann nicht aufstehen. Oder schlimmer … vielleicht hat sie sich den Kopf angeschlagen und ist bewusstlos.

Bei diesen Widrigkeiten reicht es aus, in der Wiese zu liegen, um zu ertrinken. Ein Szenario, das ich mir eigentlich gar nicht ausmalen will, aber es ist zu spät.

Allein der Gedanke an all die Dinge, die ihr zugestoßen sein könnten, gibt mir den Antrieb, noch einmal los zu rennen. Ich denke, ich habe die richtige Richtung gewählt. Denn ich kann den Mond sehen, wie er durch die einzelnen Baumstämme hindurch zu mir herab scheint.

In der Ferne kann ich das fahle Licht eines Leuchtturms erkennen, das sich durch die Regendecke zu kämpfen versucht und matt auf der unruhigen Meeresoberfläche schimmert.

Ich sehe die Klippe, welche unverkennbar über dem Wasser aufragt … und bin erleichtert.

Außer Atem und völlig verwirrt, erreiche ich beinahe auf allen Vieren das Gelände, da ich auf dem letzten Meter über eine Wurzel stolpere und nach vorn falle.

Das laute Geräusch scheint mich deutlich angekündigt zu haben, denn die Person, die ich ohnehin suche, und die zu meinem Glück auch tatsächlich vor mir steht, dreht sich nun zu mir herum.

Sie sieht mich an und ihr Blick ist kälter als der Regen, der auf uns herabfällt. Ich kann erkennen, dass sie geweint hat, obwohl das Wetter eine solche Unterscheidung unmöglich machen sollte. Es sind ihre Augen, die es klar verraten.

Ihre Arme sind wütend vor der Brust verschränkt und kaum, dass sie mich sieht, wendet sie sich auch schon wieder ab.

»Bitte geh. Ich will allein sein«, schreit sie und klingt dabei beruhigenderweise klarer als vorhin.

Die kalte Dusche muss sie ein wenig zurückgeholt haben, aber ihre leicht unstete Haltung gibt klar zu verstehen, dass sie noch lange nicht über den Berg ist. Und dazu ist sie auch noch emotional beansprucht.

Ich sollte sie von hier wegbringen. Nur wie?

Auch sie ist selbstverständlich völlig durchnässt, es könnte eine Möglichkeit sein.

»Hey, Liv«, rufe ich ihr durch den Lärm der Welt über unsere Entfernung zu und kämpfe mich zurück auf die Füße.

Was bei diesem rutschigen Gras unter meinen Sohlen nicht gerade ein Leichtes ist, wie ich feststellen muss.

Doch ich lasse mich nicht kleinkriegen. »Lass uns nach Hause gehen, dort können wir so lange reden, wie du willst. Ich kann dich auch so lange in Ruhe lassen, wie es dir passt. Aber komm bitte mit, du wirst dir sonst den Tod holen, in den nassen Sachen.«

Bei jedem Mal, wenn ich den Mund öffne, fließt ein Schwall Wasser über meine Lippen, der meine Stimme dämpft und die Worte undeutlich macht, doch ich bin mir sicher, dass sie mich sehr wohl verstehen kann.

Bloß will sie einfach nicht reagieren.

Unschlüssig darüber, was ich nun tue soll, sehe ich mich um.

Keine Hilfe in Sicht. Mein Handy habe ich auch nicht dabei, wie ich mit einem genervten Stöhnen bemerke. Ich bin wohl kaum in der Lage, sie nach Hause zu tragen, also muss mir etwas anderes einfallen.

»Komm schon. Ich weiß, dass er ein Arschloch sondergleichen ist. Was er mit dir gemacht hat, das hätte er nicht tun dürfen. Auch mit niemandem sonst.«

Sie zuckt beinahe unmerklich zusammen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es nicht doch Einbildung war oder wirklich passiert ist.

»Aber das ist doch kein Grund dich in Gefahr zu bringen!«

»Weißt du, was das Schlimmste ist?«, wirft sie plötzlich einfach so ein.

Und nein, sie schreit nicht. Weswegen ich auch besonders gut hinhören muss, um sie durch das Rauschen meines eigenen Blutes und den vielen Nebengeräuschen herausfiltern und verstehen zu können.

»Was denn?«

Vielleicht hilft es ja, wenn sie sich von der Seele redet, was sie gerade so stresst. Deshalb ist sie ja hergekommen. Gerade ist nur einfach nicht der beste Zeitpunkt dafür, wie ich finde.

Sie scheint das jedoch nicht so ganz zu sehen.

»Er war die ganze Zeit schon ein Arschloch.« Langsam dreht sie sich wieder zu mir um. »Er war es die ganze Zeit schon, aber ich habe es nicht gesehen. Du schon, aber ich nicht. Und wieso? Weil ich naiv und geblendet war. Weil er mich verarschen konnte. Und genau deshalb hat er mich ausgewählt.«

»Nein, das…«

Ich versuche ihr diesen Gedanken abspenstig zu machen, doch sie unterbricht mich bereits.

»Und weißt du was ich da heute gesehen habe?«

Seufzend gebe ich mich geschlagen. »Nein. Was?«

»Dieses Weib.« Sie kommt einen Schritt auf mich zu. »Sie war genau wie ich, nur blond. Sie hat genauso reagiert wie ich, als ich in ihrem Alter war. Als du versucht hast, mir die Augen zu öffnen und ich so saudumm war, ihm mehr zu vertrauen als dir, weil ich dachte, du seist einfach eifersüchtig. Sie war genauso

Ja, das war absehbar. »Aber das hat doch damit nichts zu tun! Er war bereits achtzehn und hat dich nur benutzt. Du hast an die Liebe geglaubt und das ist doch nichts Schlimmes, oder? Das tue ich auch.«

Ich fühle mich selbst schlecht, als ich bei diesem Gespräch an eine ganz bestimmte Person denken muss. Ebenfalls eine wirklich sehr, sehr schlechte Idee für eine Beziehung.

Und diesmal bin ich es, die sich als unbelehrbar herausstellt. Welch Ironie.

Auch wenn aus diesem Zwist zumindest keine Beziehung entstehen kann, die mir zum Verhängnis werden könnte, so wie bei ihr …

Mit beinahe flehender Stimme wende ich mich erneut an sie.

»Na und? Das ist doch trotzdem nicht deine Schuld. Ich versteh, dass du wütend bist. Echt jetzt, ich versteh das! Ich bin genauso wütend wegen der Sache, aber ich will nicht, dass du dich verletzt, weil irgendein Spinner etwas getan hat, was er nicht hätte tun dürfen.«

Wenn das so weitergeht, ertrinken wir bald noch im Stehen. Selbst der Meeresspiegel scheint anzuschwellen.

Ich stehe weiterhin mindestens vier Meter von ihr entfernt, so wage ich ein paar erste Schritte in ihre Richtung. Allerdings stellt sich das als offenkundiger Fehler heraus.

»Bleib einfach wo du bist«, wirft sie mir entgegen.

Ich bekomme beinahe einen Herzinfarkt, als sie auf wackeligen Beinen noch weiter zurückweicht, in Richtung Kante. Sie dürfte jetzt genau da stehen, wo es einst die Brücke gegeben hat. Die Brücke zur anderen Seite, welche nun nicht mehr ist und das aus durchaus gutem Grund.

»Ich brauche einfach ein bisschen Abstand, okay?«

Sie fasst sich fahrig an den Kopf und zieht dort an einigen der unechten Strähnen. Dabei murmelt sie irgendetwas, das ich mit ›Gott, ich hab Kopfschmerzen‹, übersetzen würde, doch ich könnte es so nicht unterschreiben. Sinn machen würde es jedoch.

Ich weiß zwar nicht genau, was sie sagt, doch ich lasse sie einfach einen Moment in Ruhe.

»Weißt du«, beginnt sie nach ein paar Sekunden erneut. »Für jemanden wie dich, die sowieso nie Freunde finden will, mag das alles ja nur ein Witz sein, aber ich bin nun mal nicht so. Ich bin nicht so eiskalt gegenüber anderen und es ist mir auch nicht egal, was andere über mich denken. Anders als dir.«

Ich gehe beinahe einen Schritt zurück, da mich ihre Worte für den Moment genauso hart treffen, wie ein Schlag mit der Faust.

»Was meinst du damit?«

»Was ich damit meine?« Sie lacht seltsam hysterisch. »›Hallo, ich bin Annie und ich schaffe es volle zwei Jahre lang nicht, auch nur einen einzigen anderen Freund zu finden oder überhaupt einen anzusprechen‹«, schreit sie laut durch die Gegend und ich zucke zusammen.

Etwas sagen kann ich jedoch nicht.

Auf die Stille hin, blickt sie mich an. »Ich weiß nicht, aber klang das gerade vielleicht nach jemandem, den wir beide kennen?«

»Ich weiß zwar nicht, ob du immer noch betrunken bist, aber es tut mir ehrlich leid, wenn du mich wirklich so siehst. Falls du es genau wissen willst, ich hab auch Gefühle, auch wenn du das vielleicht nicht glauben kannst.«

Sie verstummt kurz. Bleibt nur stehen und sieht mich schweigend an, dann reibt sie sich über Gesicht und Augen, ehe sie ein paar Mal hin und her tapert.

»Okay«, meint sie. »Das war hart. Tut mir leid.«

Ich kann nichts dazu sagen. Ich weiß, dass ich nicht gut darin bin, Freunde zu finden oder mich zu binden. Das war ich eben noch nie.

Ehrlich gesagt war es Liv, die mich anfangs wohl auch für sehr skurril hielt, aber nicht locker ließ, bevor ich mich ihr endlich irgendwann öffnen konnte. Ohne dass ich es gemerkt habe, entstand ein Band zwischen uns.

Ich selbst bin dafür allerdings nicht verantwortlich. Bei meinen Eltern war es ganz ähnlich.

Und nein, ich habe in diesen zwei Jahren wirklich keinen einzigen neuen Menschen kennen gelernt, den ich als so etwas wie einen ›Freund‹ bezeichnen würde. Habe mich mit niemandem getroffen oder bin auf Partys gegangen.

Selbst als mich noch keiner kannte und ich eingeladen wurde, habe ich es ausgeschlagen. Früher war ich immer nur Livs Anhängsel und sonst nichts, auch wenn sie mich hat fühlen lassen, als wäre das ganz normal. Als wäre ich besonders.

Dennoch bin ich nicht kalt. Oder gefühllos.

»Aber ich bin eben anders als du, Annie. Ich war jung und verliebt; zu jung vielleicht, aber ich hab ihn wirklich geliebt. Anders als dir, sind mir solche Sachen schon immer schwer gefallen.«

Sie atmet einmal tief durch, was sich, aufgrund dieses Wasserfalls aus den Wolken, noch immer nicht allzu leicht gestaltet. Selbiger wird so langsam jedoch zu einem gleichmäßigen Spiel im Hintergrund, an das sich zumindest mein Gehör gewöhnt.

»Du erinnerst dich sicher an die Sache in diesem Kleidergeschäft? Da, wo wir diese bescheuerten Teile her haben.«

Ich sehe an mir herab und nicke. »Ja«, rufe ich zurück, als mir klar wird, das solch kleine Gesten im Moment kaum richtig zu erkennen sein werden, wenn sie nicht besonders darauf achtet.

Jedenfalls nicht auf diese Distanz.

»Überraschung«, kommt es von ihr und für eine Sekunde bleibe ich verwirrt zurück. »Ich war da. Erst vor kurzem. Deshalb hat mich die Frau so angeschaut … weil ich ihr beim letzten Mal eingeschärft hab, so zu tun, als wär ich noch nie da gewesen. Verstehst du?«

»Nein, ich-«

»Ich war hier.« Ihre gesamte Haltung verrät ihren mentalen Zustand. »Innerhalb der letzten zwei Jahre, war ich hier in der Stadt. Aber ich konnte euch nicht besuchen, weil ich Angst hatte. Ich wollte nie hierher zurück, weil mein Vater mich nicht mehr wie früher angesehen hat. Ich konnte auch nicht riskieren, allein zurück zu bleiben, also wollte ich mich selbst abschotten. Aber es hat nicht funktioniert.«

»Okay«, sage ich, doch schüttle den Kopf. »Ist doch okay. Das macht nichts. Es ist völlig in Ordnung, wenn du so bist, ich weiß es doch.«

»Nein, du weißt gar nichts!«

Würde es nicht so regnen, würde ihr Schrei vermutlich durch den ganzen Wald schallen, so laut und durchschneidend scheint es mir.

»Es ist nicht alles in Ordnung. Gar nichts ist in Ordnung.«

Jetzt bin ich mir sogar ziemlich sicher, dass da der Alkohol aus ihr spricht. Vielleicht auch aufgestaute Wut gegenüber ihm, gegenüber ihrem Vater, gegenüber mir, und vermutlich jedem gegenüber, der ihr je irgendwie geschadet hat.

Ob es mir wehtut, dass es ausgerechnet so herauskommt? Ja, vermutlich.

Aber ich denke, dass es sie viel mehr verletzt hat, das alles über Jahre in sich rein zu fressen. Selbst wenn ich über kleine Teile bereits im Bilde war, nagte doch offensichtlich viel mehr an ihr, das sie nicht einmal mir je gezeigt hat.

Weil sie zu stolz dazu ist oder es zumindest war. Genau deshalb bin ich mir auch so sicher, dass sie noch immer nicht bei klarem Verstand ist, auch wenn sie fast so klingen mag.

Das ist es, was mir die Kraft gibt, hier weiterhin zu stehen und ruhig zu bleiben.

»Alles klar … Nur, bitte komm jetzt wieder rüber, okay?«

Es dauert eine ganze Weile, in der wir einfach stumm da stehen, ehe sie sich zu mir umdreht und nickt. Und ich atme erleichtert auf, als ich erkenne, dass sie wirklich in meine Richtung marschieren will.

Bei dem Versuch stolpert sie ein wenig über den matschigen Boden und noch ehe ich irgendwie reagieren kann, löst sich ein Stück der gelagerten Erde unter ihren Füßen.

Und es trägt sie über den Rand der Schlucht.

Die Realisierung dessen, was gerade geschieht, scheint sich ein Jahrtausend hinzuziehen, in dem mein Herz stehen bleibt. In dem alles stehen bleibt. Doch in Wahrheit ist es nur der Bruchteil einer Sekunde, in der ich zur Salzsäule erstarre.

Mit einem Satz, ohne nachzudenken, werfe ich mich nach vorn. Erst dort verstehe ich wirklich, dass sie noch immer an der Klippe hängt und mit dem Oberkörper langsam nach unten rutscht. Dass sie noch hier ist.

Dass ich sie noch retten kann.

Als ich mich zu ihr in den Dreck werfe, um nach ihr zu greifen, fällt sie bereits etwas weiter zurück. Geschockt über diese Situation, versuche ich dem Wasser zu trotzen und sie im Auge zu behalten, wie sie sich an einem Vorsprung festhält.

»Nimm meine Hand«, versuche ich ihr mitzuteilen.

Doch ich weiß nicht, wie man so etwas macht. Ich war weder jemals bergsteigen, noch etwas Ähnliches. Ich habe solche Szenen bisher nur in Filmen gesehen und sie sagen einem leider nicht, wie man die Nervosität, den Schock und die Panik überwindet. Und die Gedanken.

Wenn die Hände zittern und jedes Rädchen in deinem Hirn rattert, während du darüber nachdenkst, wie du vielleicht etwas verhindern kannst, dass sich kaum verhindern lässt.

Aber im Film funktioniert es doch immer, oder nicht? Es geht?

Ich schluchze panisch, als ich sie da hängen sehe. Mit der anderen Hand versucht sie nach mir zu greifen, doch die Finger sind feucht und teilweise matschig.

Noch einmal reiche ich ihr die Hand. Der laufende Niederschlag über uns macht das Ganze nur immer schwerer und auch ich beginne langsam ein wenig zu rutschen, obwohl ich eigentlich mit dem ganzen Körper auf dem Boden liegen sollte.

Ich bekomme einfach keinen festen Halt, so kann ich sie nicht hochziehen.

Wieder greift sie nach mir und diesmal kann ich sie erwischen.

Mit Tränen in den Augen, lächle ich sie an. »Es wird wieder … Alles wird gut«, sage ich, als könne sie das jetzt beruhigen.

Sehr wahrscheinlich hat sie mich nicht einmal gehört.

Doch es gibt mir ein gutes Gefühl, also ist es mir gleich, während ich versuche, sie mit aller Kraft nach oben zu ziehen und sie mit den Füßen nach Halt an der Felswand sucht, um mir das Ziehen zu erleichtern. Das Zappeln macht es jedoch nur schwerer.

Ihr Gewicht zusammen mit dem vielen Nass ist größer als gedacht, doch ich habe sie. Ich muss sie nur hochziehen.

Mit der anderen Hand, versuche ich nach der aufgeweichten Erde zwischen dem platten Gras zu fischen, um meine Finger darin zu verhaken.

Unterdessen schleppe ich mich mit aller Kraft nach hinten. Doch ich rutsche immer wieder über das glatte, schlammige Gras zurück.

Plötzlich spüre ich, wie einige Bänder mein Handgelenk einschnüren.

Der Handschuh, welcher verhindert, dass Liv mir wegen all der Feuchtigkeit buchstäblich durch die Finger gleitet, schneidet in meine Haut. Der Schmerz zieht bis in meinen Ellenbogen und schwächt meinen Griff.

Und dann ist er plötzlich verschwunden.

Erschrocken sehe ich nach unten und erkenne, wie der Gerissene Handschuh einfach abrutscht.

Und Liv mit ihm.

Ich krabble so schnell ich kann, wie gelähmt zurück an den Rand, während mir das schwarze, nasse Haar, im Sturm gegen das Gesicht schlägt.

Es dauert eine ganze Weile. Ich kann mich nicht rühren und eine Träne nach der anderen fällt ziellos in den Abgrund vor mir.

Völlig hilflos gegenüber dem, was eben geschehen ist, bleibe ich stumm und zucke nicht einmal mit einem Muskel. Die Felsen unter mir stehen fest.

Das Wasser schlägt unnachgiebig dagegen und die kalte Luft um mich herum lässt mein Blut zu Eis gefrieren.

Wie ein Schalter, der umgelegt wird, beginne ich plötzlich zu schreien.

Ich schreie immer wieder ihren Namen. So als müsste mich jemand hören. Doch scheinbar komme ich nicht gegen das Unwetter an, da mich nicht einmal die Menschen zu bemerken scheinen, die hinter dem Wald darauf warten, dass sie endlich weiterfahren können.

Es scheint so unwirklich. Wie ein Traum.

Ja, wie der Traum von vor einer Woche.

Das hier ist einfach noch einmal derselbe Traum. Dieselbe Angst. Dasselbe beklemmende Gefühl. Dieses Gefühl, etwas Unersetzbares für immer verloren zu haben.

Es ist nicht echt.

Weiter starre ich einfach nach unten. In das Nichts, von dem sie einfach verschluckt worden ist.

Ich habe gesehen, wie sie darin verschwunden ist, doch es wirkt so absurd. Als wäre sie nicht wirklich gefallen.

 

Und ich nicht wirklich hier.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.09.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Schwester Nisha und meine Tante Ursula.

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