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Prologue

 

„Zwischen der Idee und der Wirklichkeit
Zwischen der Regung und der Tat
Fällt der Schatten“
- T.S. Eliot

 

 

Wovor hast du Angst?

 

Es gibt in der Regel drei Arten von Ängsten, zumindest wie man es sich erzählt.

So gibt es die Erste – die Art von Angst, die ein jeder von uns in sich trägt und es doch nicht ganz erklären kann. Die Urangst.

Dann gibt es diese Ängste, die durch einen Vorfall, oder eine Erfahrung ausgelöst werden.

Auch vor diesen, sind wir alle nicht gefeit.

Und zu guter Letzt, gibt es dann noch die dritte Angst. Es ist eine Angst, die unsereins nur als irrational zu bezeichnen weiß. Es sind Ängste, die wir nicht erklären können.

Die uns jedoch nur allzu real erscheinen.

 

Das junge Mädchen in unserer kleinen Geschichte, leidet unter einer Angst, die jeder wohl als eine aus der dritten Variante einstufen würde, ohne viel darüber nachzudenken.

Aber stimmt es wirklich? Ist es irrational, das Ungewisse zu Fürchten?

Es wird immer jene geben, die das Tageslicht als selbstverständlich ansehen.

Die keine Angst, vor der Dunkelheit verspüren.

Immer in dem Glauben, alles wäre gut.

 

Doch wenn die Sonne untergeht – der Mond in vollem Glanz am Himmel steht.

Dann sei auf der Hut – selbst wenn du denkst, es sei wie immer alles gut.

Und die Sonne strahlt, in voller Pracht...

 

…denn Schatten

gibt es nicht nur bei Nacht.

Chapter 1: Silent Shadows

 

„Jeder ist ein Mond und hat eine dunkle Seite,

die er niemandem zeigt.“

- Mark Twain

 

 

Don’t be afraid of the midnight, Baby”, stimmt der Sänger von Sunrise Avenue seinen Song an, „Don’t go running scared…

Ich stöhne beinahe genervt auf, als die Töne an mein Ohr dringen und schlage etwas härter als unbedingt nötig, auf den Knopf des Autoradios, um das Gerät abzuschalten – und ernte dafür einen halbwegs geschockten Blick von der Frau, die aktuell neben mir im Wagen sitzt und fährt.

Ihre braunen Augen sehen zwischen mir und der Straße vor sich hin und her, während ein Auto nach dem anderen an uns vorüberzieht.

Meine Tante – wo auch immer sie herkommen mag. Und ja, das weiß ich nicht, denn das Jugendamt hat sie für mich aufgetrieben. Sie schien aus dem nichts aufgetaucht zu sein.

Eigentlich ist sie ein Überbleibsel der Familie meiner Mutter – die Frau von einem meiner Onkel, soweit ich weiß. Dennoch nennen sie alle meine ‚Tante‘ – der Einfachheit halber, will ich meinen.

Ich weiß im Grunde nichts über sie. Nur, dass sie genauso allein ist, wie ich es bin – war.

Als ich sie ansehe, entspannen sich meine kurzzeitig etwas verkrampften Gesichtszüge und ich schenke ihr einen entschuldigenden Blick. „Tut mir leid – ich kann diesen Song einfach nicht ausstehen…“

Sie nickt nur schwach und sieht wieder weiter auf die Straße vor sich. „Weißt du, ich muss noch viel lernen – vor allem muss ich wissen, was du magst und was nicht. Jetzt weiß ich zumindest, dass du Sunrise Avenue nicht leiden kannst – das ist doch schon mal was, für den Anfang“, erwidert sie lachend.

Es bringt mich zum Lächeln, als ich nach rechts aus dem Fenster sehe – die grünen Wiesen betrachte, auf denen vereinzelt Bäume stehen, die allesamt an uns vorbeirauschen – wie in einem Film bei schnellem Vorlauf. „Ich habe nichts gegen die Band an sich – ich mag nur dieses eine Lied nicht…“ Immer wenn ich ihn höre ist es, als würde es mich verhöhnen.

Mich auslachen und, während ich bereits am Boden, noch einmal nachtreten.

„Was?“, hakt sie nach und lässt dabei ihren Blick kurz zu mir herüberschweifen, doch als ich nichts mehr dazu sage, zuckt sie einfach die Achseln „Naja, jedenfalls hoffe ich, dass es dir bei mir gefallen wird – du wirst zwar eine Weile im Gästezimmer klar kommen müssen, wie es jetzt aussieht, aber ich habe schon in die Wege geleitet, dass deine anderen Sachen so schnell wie möglich nachkommen – zumindest erst einmal das Wichtigste…“

Ich nicke etwas abwesend und drücke dabei meine Stirn leicht an die Scheibe. Der Himmel ist bewölkt.

Meine Großmutter hat an solchen Tagen immer gesagt, dass der Himmel dann versucht, seinen Schatten über die Erde zu legen, wenn es noch nicht Zeit für die Dunkelheit ist.

Dunkelheit.

Ein Wort dass mir bei dem bloßen Gedanken daran, einen Schauder über Nacken und Rücken wandern lässt – wie eiskalter Atem.

Zum Glück bekommt mein neuer Vormund neben mir, nichts von meinem kurzen Schütteln mit, da sie ihre eine Hand für einen Moment vom Lenkrad nimmt, um auf das Ortsschild zu zeigen, welches nur diesen einen Moment vor uns, und dann auch schon wieder passiert und vorbeigezogen ist.

Willkommen in Kalifornien.

 

Es ist angenehm hier. Die Sonne scheint – die Heimat meiner Tante. Bei uns war es noch kühler.

Saoirse Randolph – welche eigentlich aus Irland stammt. Ihr rotes Haar, der Hautton und die Sommersprossen auf ihrer Nase, sowie ihr in Amerika etwas auffälliger Name, sind aber wohl aussagekräftig genug, was das angeht.

Wobei ihr Vorname, welcher wohl so etwas wie ‚Freiheit‘ bedeuten soll, etwas ist, um das ich sie beneide. Und das ist nicht einmal das Einzige.

Denn meine Mutter kommt ebenfalls aus Irland. Doch auch wenn ich ihr Haar von ihrer Substanz her geerbt haben mag, so tragen diese doch die Farbe meines Vaters.

Schwarz wie die Nacht.

Vielleicht könnten wir ja später darüber reden – über Irland. Meine Mutter ist schließlich dort aufgewachsen, aber ich weiß nichts darüber, da mein Vater hier aus Amerika kam und ich nie selbst dort war, abgesehen von meiner Geburt, an die ich mich jedoch selbstverständlich nicht zurückerinnern kann. Ich würde so gerne mehr wissen.

Wäre meine Großmutter doch nur…

Und in dem Moment werden meine Gedanken jäh unterbrochen, als das arme Auto meiner Tante ein wenig knatternd auf einen Bordstein auffährt – und ein Blick nach oben, lässt mich erstaunt die Augenbrauen anheben.

Wir stehen in einer Einfahrt. Sieht so aus, als wären wir angekommen, als ich nicht aufgepasst habe.

Aber das ist wohl auch egal – ich hätte ohnehin nicht gewusst, wann wir da sind. Immerhin war ich hier noch nie.

Als wir nun dort verharren, sieht sie mich etwas schweigsam von der Seite an – ich kann die Rothaarige dafür jedoch nur mit zusammengezogenen Augenbrauen betrachten. Sollten wir nicht aussteigen?

In dem Moment reicht ein Arm zu mir herüber und wuschelt mir durch meine kurzen Strähnen.

„Dein Haarschnitt sieht gut aus – besonders aus diesem Winkel und in dem Licht hier. Der Friseur hat das echt gut hinbekommen, oder nicht?“, fragt sie mit einem breiten Lächeln auf ihren roten Lippen.

„Naja…“, erwidere ich nur - etwas überrascht über den abrupten Themenwechsel, doch auch ausweichend. 

Es stimmt schon – aber lang haben sie mir sehr viel besser gefallen. Eine Sekunde überlege ich noch, ob ich ihr das sagen sollte, oder lieber doch nicht – es wäre eigentlich besser, wenn nicht.

Doch da spricht sie bereits weiter und nimmt mir somit ohnehin eine vielleicht vorschnelle Entscheidung ab. „Tja, er musste ja irgendetwas tun – immerhin war deine Frisur, Marke ‚Eigenbau‘, nicht wirklich das Wahre, hm? Es sah aus als hättest du sie kreuz und quer mit einer Scherbe abgeschnitten…“, meint sie und zieht ihre Hand zurück, um dann ihre schwarze, große Handtasche zu ergattern, welche zu meinen Füßen liegt. Wenn sie nur wüsste, wie nahe sie mit ihrem scherzhaften Vorschlag, an die Wahrheit herankommt. „Ich habe Bilder gesehen, die noch nicht alt sein können – da gingen dir deine Haare mindestens bis zu den Hüften. Was war dann? Ist das irgendein neuer Trend von euch jungen Leuten heutzutage, den jemand Altes wie ich nicht verstehen würde? Oder wolltest du sie einfach so dringend loswerden, dass du nicht mehr bis zum Friseur warten konntest?“, witzelt sie nebenbei und versetzt mir dabei unbewusst einen Stich.

Am liebsten hätte ich gleichzeitig gelacht und geweint – wie Recht sie doch hat.

Aber das ahnt sie nicht. Sie ahnt mit Sicherheit nicht, was für eine Verrückte sie sich da ins

Haus geholt hat – oder gerade in diesem Moment ins Haus holt, eher gesagt.

Ich mochte meine langen Haare wirklich. Wirklich sehr, sogar.

Sie kamen von meiner Mutter – auch wenn ich eben nicht ihre fuchsrote Farbe geerbt habe. Es war ja nicht die Farbe, die sie schön gemacht haben.

Sie waren weich, schön und stark – und das, desto länger sie wurden. Hatten nie ein Problem, wie Spliss oder ähnliches. Auch wenn ich mich nicht so gut darum gekümmert habe, wie ich es hätte tun können.

Es war das einzig Gute an mir und das einzige, worum mich je einer beneidet hat. Das Letzte, das etwas wert gewesen wäre.

Und wahrscheinlich war es auch genau das Gegenteil von mir selbst, weshalb ich es zum Schluss wohl einfach nicht verdient hatte.

Ich wünschte, ich hätte es nicht abschneiden müssen. Nun sind es einfach nur Haare, die mich im Nacken kitzeln. Ein heilloses Durcheinander, aber immerhin in einem ordentlichen Schnitt, den manch einer vielleicht für schön, oder gar cool halten würde. Nur ich eben nicht.

Es sind nicht meine Haare.

Und ja, am liebsten würde ich lachen und weinen – in dieser Sekunde.

Jetzt und hier.

Über alles.

Aber ich tue es nicht. Bleibe schlicht stumm sitzen.

Zumindest kann ich in letzter Zeit keine unerwünschten Besuche beklagen – ich war jedoch auch viel zu durcheinander, um es tatsächlich zu registrieren. Hatte der plötzliche Tod meiner Großmutter etwa tatsächlich einen Vorteil? Makaber, wenn ich so darüber nachdenke.

Es fühlt sich nicht richtig an.

Nur am Rande nehme ich unterdessen wahr, wie Saoirse endlich aus dem etwas in die Jahre gekommenen GMC Sierra aussteigt, und die Tür hinter sich mit einem sanften Stoß zuschlägt.

Es dauert noch einen weiteren Moment, ehe ich meine leicht schwitzenden Hände, nebenbei etwas fahrig und auch leicht nervös an meiner Bluejeans abwische, während ich es ihr gleich tue um an ihre Seite treten zu können. Jetzt, als sie so vor der geräumigen Ladefläche ihres schwarzen Pick-Up Trucks steht, um den Koffer und die Tasche daraus hervorzuholen – in denen sich meine Sachen befinden – und sie dann anschließend auf dem gepflasterten Boden der Auffahrt abzustellen.

Ich seufze, als ich nach dem größeren Koffer greifen will, sie mich aber nur zurückdrängt und mir stattdessen die etwas leichtere Tasche unter die Nase hält. „Ich bringe das rein, du nimmst die Tasche und kannst dich ja schon mal ein wenig umsehen – wenn du darauf keine Lust hast, dann setz dich einfach an den Küchentisch. Die Küche ist gleich die zweite Tür von Links“, weist sie mich ein und marschiert dann geradewegs auf das Haus vor uns zu.

Verspätet, aber immer noch besser spät als nie, nicke ich langsam verstehend, bevor ich mich anschicke ihr bald Folge zu leisten.

Mein ganzes Zimmer, abgesehen von den massiven Möbeln natürlich, befindet sich in einem mittelgroßen Karton – der jedoch separat geschickt wurde, da ich einen großen Teil des Weges mit dem Zug her kam – und auch andere Kleinigkeiten, die jedoch im Koffer und der Tasche ihren Platz gefunden haben. Es so zu betrachten, macht mich irgendwie nachdenklich.

Sein ganzes Leben auf einen Koffer, einen Karton und eine Tasche beschränkt zu sehen, ist kein sehr schönes Gefühl.

Aber es gibt wohl Schlimmeres.

So schnappe ich mir die Tasche, während ich versuche mit einem Kopfschütteln auch all diese nutzlosen Gedanken loszuwerden.

Das hier ist also Lafayette

Das Haus vor mir, das in einem sanften Gelbton gestrichen ist, sieht mir freundlich entgegen, während die Sonne dahinter den Wolken zu trotzen versucht und mir gleichzeitig schmerzlich bewusst macht, dass sie sich langsam auf ihren Weg gen Süden machen wird.

Dass sich der Tag damit dem Ende neigt.

‚Ja, es gibt wirklich Schlimmeres‘, hallen mir meine eigenen Worte, in höhnischem Unterton durch den Kopf.

Also gut.

Normalerweise würde einem sicher vieles durch den Kopf gehen, wenn man gerade aus einem Auto steigt, in dem man stundenlang durch halb Nordamerika in sein neues Leben gefahren ist.

Doch was wären diese typischen Gedanken? Wie würden sie aussehe?

Vielleicht, wie wohl das neue Haus so sein mag?

Ob man auch gut zurecht kommt? Viele Freunde finden wird?

Und was ist mit der neuen Nachbarschaft? Oder der Schule?

Möglicherweise muss man sogar auf die Toilette.

Aber warum habe ich das Gefühl, dass es weniger normal ist, wenn der erste Gedanke der ist, ob man vor Einbruch der Dunkelheit noch alles vorbereiten, und dennoch rechtzeitig in seinem Zimmer verschwinden kann? Oder ob genügend Lampen vorhanden sind…

 

Ich glaube nicht, dass ich besonders gut in dieser Rolle bin.

Chapter 2: Watching Shadows

 

„Was Macht hat, mich zu verletzen,

ist nicht halb so stark wie mein Gefühl,

verletzt werden zu können.“

- William Shakespear

 

„Komm dann wieder in die Küche, wenn du dein Zeug abgelegt hast“, höre ich eine sanfte Stimme hinter mir und sehe nur noch, wie eine Welle aus rotem Haar durch den Türrahmen verschwindet, dicht gefolgt von einer sich schließenden Tür.

Endlich allein.

Aber auf der anderen Seite, ist es nun auch nicht unbedingt das Beruhigendste auf der Welt, allein in dem noch recht kahlen Zimmer zu stehen. Die etwas stickige Luft zu atmen, während ich die hübschen Blumen auf der Fensterbank betrachte, deren Blüten von Minute zu Minute weniger zu leuchten scheinen.

Als würde man ihnen den Charakter rauben. Betrübend.

Es sind hübsche Tulpen. In einer sehr ungewöhnlichen Farbe – ein besonderes Violett, würde ich sagen. Ich weiß nicht, aber sie sehen außerordentlich schön aus.

Meine Mutter war Floristin, so wie Saoirse offenbar ebenfalls. Sie haben sich gekannt – was rückblickend wohl der einzige Grund sein kann, warum man ein kaputtes Mädchen wie mich aufnimmt. Selbst ohne mich zu kennen, sollte sie sich dem bewusst sein.

Sie kennt jedoch das Ausmaß nicht.

Dennoch hat sie eigentlich nichts mehr mit meiner Familie gemein, abgesehen von ihrem Namen, welcher der Mädchenname meiner Mutter ist, weswegen wir nicht einmal diesen teilen. Mein Onkel starb schließlich ebenfalls bereits vor langer Zeit. Nur wenige Tage vor meinen Eltern.

Ein trauriger Zufall.

Genauso traurig wie die Tulpen nur wenige Schritte von mir entfernt. Ihr Glanz vergeht.

Stattdessen liegt auf allen Blättern, sowie auf der Fensterbank und einem Teil des Bodens, eine ungewöhnliche Röte. Das Abbild des blutenden Himmels.

Der Grund dafür, ist natürlich die langsam schwindende Sonne am Horizont, den ich von hier aus jedoch nicht wirklich sehen kann – stattdessen entschwindet die Sonne nur langsam hinter einem Haus, auf der anderen Seite der Straße.

Und ich kann nichts weiter tun, als dazustehen – den Atem anhaltend – und ihr dabei zuzusehen. 

Hilflos.

Bis plötzlich der erste große Schatten an meine Schuhspitze stößt, was mir meine Situation noch einmal vor Augen führt und ich erschrocken zusammenzucke, als hätte ich ihn körperlich gespürt.

Wie rauch, oder Nebel, der von Unten die Beine hinaufkriecht.

In einer fließenden Bewegung, schmeiße ich die Tasche in meinen Händen einfach hastig auf die Tagesdecke des Bettes, das vor mir steht, und drehe mich zur Tür herum, um aus dem Raum zu rennen - als ich erschrocken aufschreie.

Das Herz hämmert mir wie verrückt gegen den Brustkorb, als würde es ihm jeden Moment entspringen wollen und mein Atem bleibt mir im Halse stecken, als ich im selben Augenblick die Gestalt vor mir sehe.

Doch braucht es nur einen weiteren Moment, ehe ich realisiere um wen es sich dabei handelt.

Die etwas verdutzte Rothaarige, die nun in der Tür steht, sieht mich nur etwas verständnislos an. „Was ist denn los mit dir – bin ich wirklich so furchteinflößend? Vielleicht sollte ich auch mal wieder zum Frisör gehen…“, fragt sie in einem noch recht lockeren Ton und legt den Kopf schief, um mich genauer zu mustern.

Ich selbst beginne langsam wieder zu atmen und fange an, meine angespannten Muskeln zu lockern. Ich muss ein lächerliches Bild abgeben und es würde mich nicht einmal wundern, wenn die Freu vor mir nun auch noch mein Herz hören könnte, so laut wie es noch immer pocht.

Ein wenig gezwungen, lächle ich sie daher an. „Tut mir leid – ich bin etwas…schreckhaft.“, erkläre ich.

„Aha…“ Ihre eine Augenbraue wandert ein wenig skeptisch in die Höhe, als sie diesen Ton von sich gibt, jedoch schüttelt sie gleich darauf den Kopf und wechselt das Thema.

Wofür ich ihr auch mehr als dankbar bin.

Sie sieht sich kurz in die Richtung um, aus der sie wohl eben kam und sieht dann wieder zu mir. „Du warst so lange weg, da wollte ich mal nach dir sehen – außerdem wollte ich dich fragen, ob du zum Abendbrot vielleicht auch einen Kaffee möchtest, denn dann würde ich den auch direkt aufsetzen. Noch ist es schließlich nicht so spät und du hast doch auch sicher Hunger, oder?“ 

Und schon ist ihre unbekümmerte und fröhliche Art zurück, die ich schon ein paar Mal bestaunen durfte, seit ich sie kennen gelernt habe.

Ich frage mich, ob sie wirklich so gut gelaunt ist, oder ob sie sich einfach so gibt – vielleicht, um zu vergessen, dass es nicht wirklich so einfach ist? 

Dennoch komme ich nicht umhin, die erste Möglichkeit für die Schönere zu halten und mir für einen Moment zu wünschen, dass es auch so stimmt.

Am Rande meiner Gedanken weiß ich jedoch, dass die Wahrheit wohl eher anders aussieht.

Nun selbst den Kopf schüttelnd, so als könne ich damit auch meine ruhelosen Ideen abschütteln, sehe ich weiter geradeaus, den Blick ein wenig zu Boden geneigt. „Ja, das ist ein wirklich guter Vorschlag…“, meine ich noch und glaube tatsächlich, meinen Magen knurren zu hören.

Glücklicherweise ist das nicht wirklich der Fall, sonst hätte mir das wohl auch noch peinlich sein müssen.

Als ich ihre Beine sehe, wie sie einen Schritt zurücktreten, weiten sich meine Augen. Ich kann nicht allein zurückbleiben.

Nicht hier – nicht jetzt. Nicht noch einmal.

Wie vom Donner gerührt, setze ich zum Gehen an um ihr aus dem Raum zu folgen – keine so geniale Reaktion, wie ich außerhalb des Türrahmens, leider etwas zu spät, feststellen darf.

Es befinden sich keinerlei Fenster im Flur. Gar keine.

Ich kann das Licht aus einem Raum, einige Schritte weiter erkennen. 

Der Flur, der zuvor noch geradezu vom Licht – welches durch die halb gläserne Eingangstür gefallen war – geflutet gewesen ist, liegt nun in rötlich schimmerndem Schatten.

Dem Schatten, die der blutrote Sonnenuntergang auf seinem Weg hinterlässt.

Er erscheint mir weit intensiver als sonst. Das Rot sehr viel dunkler.

Die Schatten sehr viel beunruhigender.

Mit einem kurzen Ruck, zwinge ich meinen Blick in eine andere Richtung und versuche so schnell wie möglich, unauffällig in die hell erleuchtete Küche zu kommen. Nur ein paar Schritte. Nicht einmal zwei Meter, wenn es hoch kommt.

Und tatsächlich – kaum bin ich über der Schwelle, kann ich aufatmen.

So setze ich mich weitaus entspannter als zuvor, an einen der weißen Holzstühle der Sitzecke.

Erst in diesem Moment, fällt meine Aufmerksamkeit zurück auf meine Tante. „Oh… Saoirse, das ist wirklich…“, ich überlege kurz und suche nach Worten, um die Leere im Raum zu füllen, „eine sehr schöne Küche. Wirklich.“

Und das stimmt sogar tatsächlich – nicht nur, dass der Raum sehr modern ist, aber dennoch irgendwie gemütlich wirkt, sondern dass das meiste außerdem auch noch in Weiß gehalten ist, trägt zu meinem Urteil bei.

Ein schönes Weiß, das das Licht reflektiert und selbst zu einer solchen Zeit noch zu strahlen scheint.

Ja – eine schöne, helle Küche.

Meine Tante setzt sich an den Tisch, von dem mir jetzt das erste Mal auffällt, dass sich darauf bereits etwas befindet. Eine Art Topf.

„Ja, das habe ich gemerkt – so wie du plötzlich hier herein gehetzt bist…“, merkt sie mit großen Augen an und nimmt einen von zwei Tellern, die neben ihr auf dem Tisch stehen, um auf beide etwas zu häufen, das schwer nach Spaghetti mit so etwas wie Fleischklößchen aussieht. „Da habe ich mir schon gedacht, dass sie dir gefällt.“

Das Traurige ist, dass mir bei dem Anblick diesmal wirklich der Magen knurrt, was ein wenig wie ein genervter Bär klingt.

Saoirse kann jedoch nur lachen. Ein freundliches Lachen.

Ich mag es – es fühlt sich irgendwie warm an und gibt einem direkt ein gutes Gefühl. Ein bisschen wie die Sonne im Frühling.

Etwas Schönes und Angenehmes – doch nicht zu viel davon.

Je länger ich mit ihr zu tun habe, desto mehr denke ich…

Hier könnte eigentlich ein schöner Ort zum Leben sein.

 

„Du hast also die ganze Zeit bei Nora gelebt?“, kommt plötzlich die Frage aller Fragen, als ich gerade unter der schönen Deckenlampe sitze und meine Spaghetti vertilge. Ich hatte nicht gemerkt, wie hungrig ich tatsächlich war, bis ich anfing zu essen.

Ich sehe jedoch, wenn auch widerwillig, von meinem Teller auf und suche ihren Blick. „Ja. Die letzten neun Jahre und ein paar Monate, schätze ich. Du kanntest sie? Meine Großmutter?“

„Nicht persönlich, leider. Jedoch von Bildern, Erzählungen und natürlich von Telefonaten – sie konnte ganz schön exzentrisch sein.“

Nun bin ich es, die lacht – heute wohl das erste Mal, aber ich kann es mir kaum verkneifen. „Ja, manchmal schon. Aber sie war alles was ich hatte und sie war großartig, so wie sie war…“

Die Stimmung scheint zu kippen. Für einige Momente, sind wir einfach nur still, so lange, bis meine Tante wieder ihre Stimme erhebt. „Es war ein Unfall, nicht wahr?“

„Ein Treppensturz, genau genommen. Ich verstehe nicht einmal, wie das geschehen konnte.“ Meine Miene verfinstert sich, das kann ich sicher sagen, auch ohne mich selbst sehen zu können. Wieder starre ich in den Teller vor mir, diesmal jedoch nicht um zu handeln, sondern einfach nur um zu sehen. 

Ich blicke hindurch. Durch den Teller; durch den Tisch. Nur auf das, was damals war.

Kann nicht verstehen, wie sie stürzen konnte. Sie hätte nicht einmal außerhalb ihres Raumes sein dürfen. Denn es war Nacht.

Doch diesen Einwand verstand niemand, dem ich ihn bisher erläutert habe. Niemand wollte es verstehen.

Erst die Stimme meines Gegenübers, reißt mich wieder aus meinen Gedanken. „Wenn solche Dinge geschehen, dann verstehen wir sie nie – wir, die Hinterbliebenen.“

„Oh, natürlich…“ Weniger stimme ich ihr zu, als meinen dummen Gedanken. Ich bin schließlich nicht die Einzige, die jemanden verloren hat.

Mein Onkel Kelvin, der ältere Bruder meiner Mutter, starb immerhin ebenfalls vor gut neun Jahren. Ebenfalls ein Unfall.

Und ebenfalls nicht zu erklären.

Er verursachte damals einen Autounfall. Obwohl er äußerst Vorsichtig fuhr, wurde er immer schneller. Und das auf einer Landstraße, mitten in der Nacht.

Der Unfall geschah damals in unmittelbarer Nähe unseres Hauses. Kurz bevor meine Eltern starben.

Und er war nicht der Einzige der damals starb. Auch meine Tante saß im Auto und sie war nicht allein…

Es war nie verständlich, wie er so schnell hat fahren können – es war, als hätte jemand, oder etwas, seinen Fuß auf das Pedal gedrückt. Ich habe keine Vorstellung davon, wie schrecklich dieser Moment gewesen sein muss.

Meine Tante selbst kann sich soweit ich weiß kaum erinnern, da sie danach eine Weile im Koma lag. Ich selbst war damals gerade erst sieben Jahre alt geworden und kannte nur wenige Mitglieder meiner Familie. 

Ich wusste damals nichts über sie. Nicht einmal wirklich, worum es in ihrem geplanten Besuch ging, was geschehen war, oder wohin sie danach verschwand. Doch dass sie lange verschwunden war, war nicht ihre Schuld.

Sie hatte ihre eigene Last zu tragen und die Narben sieht man noch heute.

„Jedenfalls…“, beginne ich und meine Stimme ist flach, weswegen ich mich kurz räuspere und dann wieder aufsehe. „Sag, hast du vielleicht einen Spitznamen den ich nutzen kann? Irische Spitznamen sind für mich etwas gewöhnungsbedürftig und außerdem meist nicht wirklich kürzer als normale Namen, daher…“

Sie lächelt mich an und sieht dann etwas nachdenklich aus. „Wie wäre es mit… Sara?“

„Sara?“, hake ich nach.

„Ja. Nun ja, mein Name wird vielleicht ‚Sirscha‘ gesprochen, doch beginnt er geschrieben mit ‚Sa‘, das solltest du doch wissen, oder nicht?“

„Klar!“, stimme ich beinahe empört zu. Ich bin zwar nicht so gut darin, aber ein wenig über Irland, seine Sprache und vor allem seine Aussprache, weiß ich dann doch…

„Ein… Freund von mir, kam einst auf die Idee. Er sagte, wenn ich ‚Randolph‘ mit Nachnamen heiße, könne er es ja wie bei Initialen abkürzen, und ‚Sara‘ daraus machen – also im Grunde eigentlich Sa-Ra, verstehst du?“

Ich nicke schnell. „Verstehe. Gute Idee.“ Ich erwidere ihr Lächeln – glücklich darüber, dass die Stimmung etwas gerettet scheint.

Sie muss eine sehr traurige Person sein, nach allem was geschehen ist. Jedoch lässt sie es sich nicht anmerken.

Vielleicht schaffe ich es irgendwann, genauso stark zu werden wie sie es ist.

Als ich wieder von meinem Essen aufsehe, zu dem ich ohne es zu merken gesehen habe, merke ich plötzlich, wie mich ihre grünen Augen fixieren. „Was ist?“, frage ich leicht verwirrt - stimmt etwas nicht mit mir?

„Sag mal… Wieso kniest du eigentlich auf deinem Stuhl? Das frage ich mich schon, seit du hier sitzt.“

Uh… „Nun, das ist so, ich… ich sitze sehr gern so“, versuche ich ihr glauben zu machen. Manchmal ist der beste Weg einfach der Leichteste.

Doch ob es funktioniert, steht wohl in den Sternen. Daher beeile ich mich ein bisschen, um so schnell wie möglich aus ihrem Fokus zu verschwinden und wechsle wieder das Thema.

So fliegt die Zeit nur so davon.

Als ich fertig mit dem Essen bin, stelle ich meinen Teller in die Spüle und sehe mich etwas irritiert um. 

Es hat gut geschmeckt und die Atmosphäre war auch am Ende noch weitestgehend entspannt – wie wir zusammen saßen und aßen. Ein schönes Gefühl, das ich schon lange nicht mehr hatte. 

Wir haben zwar noch ein bisschen geredet, doch nun nur noch belangloses Geplapper; Smalltalk. 

Nichts Besonderes.

Dennoch ein Gespräch, das mich alles um mich herum ein wenig vergessen lassen hat – ein wenig so, als wäre ich einen kleinen Moment nicht ich gewesen. Geschützt in einer Blase. Ohne Angst.

Und es war gut. Meine Tante hat den Raum verlassen.

Ich stehe noch immer an der Spüle und sehe mich um. Das Licht erhellt den Raum und fällt auch zu mir.

Doch wo Licht ist, da gibt es auch Schatten. Schon meine Großmutter pflegte es zu sagen.

Immer und immer wieder. Dass ich meinen Schutz nicht fallen lassen darf. Niemals.

Auch nicht am Tag. Und schon gar nicht in der Nacht.

Eben war noch alles in Ordnung. Doch jetzt, in diesem Moment, ist alles wieder da. Als mir klar wird, dass ich allein bin. 

In einem Raum voller Schatten.

Wie ein direkter Schlag ins Gesicht. Einfach so.

Sie kriecht mir die Wirbelsäule hinauf und lässt mich erschaudern, was mich unwillkürlich frösteln lässt.

Aber es ist okay. Es sind nur schwache Schatten. Nicht einmal richtig dunkel.

Es ist nicht schlimm... oder?

Wo bleibt überhaupt Sara? Sie ging schon vor einigen Minuten und wollte sofort zurück sein…

Was sie wohl so lange tut? Nein, Blödsinn.

Eigentlich war es ja noch gar nicht lange. Und sie ist kein kleines Mädchen. Sie kann tun und lassen, was sie möchte.

Doch egal wie oft ich mir diese Worte in meinen Kopf zu brennen versuche, werde ich nervöser mit jedem Moment der in Stille verstreicht. Das Ticken der alten Wanduhr scheint von Sekunde zu Sekunde lauter und drückender zu werden – penetranter; fordernder. Beinahe bedrohlich.

Aber nein… Ich bilde es mir nur ein. Es ist einfach nur das Ticken einer Uhr.

Mein eigener hastiger Blick, der von links nach rechts durch den Raum zuckt, beginnt mich zu nerven. 

Verdammt, reiß dich mal zusammen, okay?

Endlich kann ich den Mut aufbringen, mich mehr zu rühren – ich stehe noch immer neben dem einzigen Zugang zum Rest des Hauses. So öffne ich langsam aber bestimmt die Tür aus weiß lackiertem, massivem Holz und spähe hinaus auf den Flur. Das Licht ist an.

Glück gehabt.

Als ich mich vorsichtig beginne durch den Spalt auf den Gang hinaus zu schieben, bekomme ich plötzlich ein seltsames Gefühl im Nacken – ein schweres Gefühl, fast wie ein Brennen. Das Brennen eines Blickes der mich von hinten trifft, durchbohrt, und mir eine neuerliche Gänsehaut beschert.

Mich umzusehen, traue ich mich nicht. Es macht mich unheimlich nervös, auch wenn ich nicht weiß, wieso.

Dieses Gefühl beobachtet zu werden… ich habe es schon lange. Meist kann ich nicht mehr sagen, ob es Wahn oder Wirklichkeit ist.

Dieser stechende Blick, der mich von hinten taxiert. Immer und immer wieder. Doch nie kann ich mich vergewissern.

Ich kann einfach nicht.

Zu viel Angst habe ich vor dem, was dort stehen könnte. Was dort lauern könnte; mich beobachtend. 

Um dem endlich ein Ende zu bereiten. Und manchmal wünsche ich mir, es würde wirklich enden.

Einfach so.

Nur weniger Schritte vor mir ist das Zimmer in dem ich von nun an leben sollte, und es ist offen, doch kann ich nicht hinein sehen. Das Licht ist gelöscht und die Tür ist nur einige Zentimeter weit geöffnet.

Mein kurzes Haar beginnt sich von selbst zu bewegen und ich kann Atem spüren – kalt. Unmenschlich. Meine altbekannte Panik hat mich offenbar wieder.

Die Gedanken die mich umschwirren werden langsam wirr und ich merke kaum, wie ich zu zittern beginne.

Meine Knie werden langsam weich und erliegen vielleicht bald ihrem Dienst, mich aufrecht zu halten – lange werden sie das jedenfalls sicher nicht mehr schaffen. Dennoch ist es nebensächlich.

Etwas, das eben so ist. Ich ignoriere es einfach.

Und genau dann packt es mich an der Schulter. Ich schreie.

Mehr weiß ich nicht. Nur gähnende Leere und ein Ohrenbetäubender Schrei, der sich aus meiner eigenen Kehle losreißt.

Hätte ich eine etwas höhere Stimme, hätte er vielleicht Gläser zum Bersten bringen können – Gehörgänge wohl so und so.

Aber es war mir egal… zumindest so lange, bis mich zwei Hände ergreifen, herumdrehen und leicht schütteln. 

Herumdrehen, damit ich dem Besitzer direkt ins Gesicht sehen kann. 

Und was mich da aus braunen, ziemlich entsetzten Augen anstarrt, ist keine andere Person als… Sara.

 

Oh mein Gott, bin ich dämlich.

Chapter 3: Moving Shadows

 

„Ich war schon anders in früh‘sten Jahren;

Ich sah nicht das, was andre sahen.“

- Edgar Allen Poe

 

 

Ich bin eine Idiotin.

Eine dämliche, ängstliche und weinerliche Idiotin. So bescheuert, es ist wahrscheinlich ein neuer Rekord.

Klar, zu Hause hatte ich so vieles. Ich hatte Vorkehrungen treffen können – ich hatte Sicherheiten. Ein abgeklärtes Umfeld.

Dort kannte ich jeden Winkel und jedes Staubkorn. Außerdem hatte ich noch Großmutter.

Aber wie kann man denn so dämlich sein nicht zu merken, dass man nicht allein ist – allerdings zusammen mit zufälligerweise dem Menschen, dem das Haus gehört in dem man sich gerade befindet? So dämlich

Wie kann einem so etwas passieren? Ich wusste doch, dass Sara noch irgendwo sein musste. Es kann doch wohl kaum schwer sein sich zu denken, dass es vielleicht eben diese Person ist, die gerade hinter einem steht, oder?

Und was tue ich stattdessen? Kreische wie ein kleines, hypernervöses, angstgestörtes Kind.

Wie zum Teufel soll ich das nun bitte erklären?

Meine Tante sieht mich derweil nur wortlos an, als würde sie versuchen herauszufinden, ob ich Scherze mit ihr treibe – oder ob sie vielleicht irgendwie erfahren kann, was ich gerade denke, wenn sie mir nur lange genug, tief in die Augen sieht.

Ich weiß nicht, was ich tun soll, als sie mich so anstarrt. Wenn das so weitergeht, dann wird es enden wie mit all den anderen Menschen vor ihr.

Sie wird mich nie wieder ansehen wie zuvor. Nur noch wie eine kleine Psychopatin – die kleine Psychopatin, die ich vermutlich auch wirklich bin, aber das spielt ja keine Rolle.

Denn das ist alles was ich je sein werde, nicht wahr? Für andere zumindest. Nie für meine Großmutter. Auch nicht… für meine Eltern. Aber…

Langsam versuche ich meine Fassung wieder zusammen zu raffen und setze ein etwas wackeliges, außerdem auch ziemlich falsches Lächeln auf. „Ähm… Nun ja, ich… Du hast mich erschreckt“, bringe ich leicht stotternd heraus und sehe sie nach einigen Moment langsam und stumm nicken.

„Ja, das ist mir aufgefallen…“, stellt sie fest. „Aber weshalb? Du hast geschrien, als würdest du Freddie Krueger höchst persönlich erwarten“, meint sie, noch immer perplex, „ein Wunder, dass ich nicht taub bin – oder die Nachbarn die Polizei verständigt haben. Also, was war los?“

„Das ist… schwer zu erklären“, lautet meine ausweichende Antwort und ich sehe zur Seite, wobei meine rechte Hand in alter Gewohnheit eine nervöse Geste ausführt, bei der ich immer eine lange Strähne hinter mein Ohr schieben möchte. Doch nun macht es nicht mehr viel Sinn, da mein Haar nun zu kurz ist, um es tatsächlich hinter mein Ohr stecken zu können.

Der Gedanke daran macht mich etwas traurig, doch der Rest der Situation – die Nervosität, die Angst und natürlich auch das Adrenalin für einige Momente – überwiegen. Ich weiß allerdings nicht, ob ich das nun als eher negativ, oder eher positiv einstufen soll.

Schnell schüttle ich jedenfalls den Kopf. Bis vor wenigen Augenblicken war ich noch den Tränen nah, das weiß ich – und obwohl ich es jetzt eigentlich nicht mehr bin, fühlen sich meine Augen sehr feucht an und als ich einmal zu oft blinzle, löst sich eine kleine Träne, die daraufhin quälend langsam über meine Wange kullert, ehe ich sie eilig fortwische, da ich sowieso nur die Chance habe, die fallen zu lassen, oder zu entfernen.

Bemerken wird sie es in beiden Fällen, also ist dieser Kampf bereits verloren.

Meine Gedanken sind noch immer verworren. Warum hatte ich solche Angst?

Ich dachte ich habe Atem gespürt… doch war es das wirklich? Echter, eiskalter Atem?

Wohl eher nicht, was mir klar wird, als die Tür zu ‚meinem‘ neuen Zimmer plötzlich und ohne Vorwarnung hinter mir zuschlägt.

Erschrocken drehe ich mich um, als sich im selben Moment die warme Hand meiner Tante erneut auf meine Schulter legt. „Das war nur der Wind. Ich habe das Fenster geöffnet, damit der muffige Geruch verfliegt und vielleicht ein bisschen Staub mit hinausgeweht wird, weil ich gemerkt habe, dass es draußen aufgefrischt hat. Wenn du willst, kann ich es sofort wieder schließen.“ Ihre Stimme beruhigt mich beinahe in derselben Sekunde, in der sie den Mund zum Sprechen geöffnet hat, doch die Worte selbst lassen mich dumm da stehen.

Plötzlich fühle ich mich wieder wie ein kleines Kind – einfältig und bescheuert.

Leicht schockiert über meine eigenen, morbiden Einfälle von zuvor, starre ich zwischen der besagten Zimmertür und meiner ruhigen Tante hin und her, nicht ganz sicher, was ich nun tun soll.

Es war also ein einfacher Luftzug?

Und der Blick… naja, der war natürlich von Sara selbst. Von wem sonst? Wäre hier noch jemand, dann wüsste sie schließlich davon.

Ich kann nicht fassen, wie paranoid ich geworden bin.

Und doch… kann ich nichts dagegen tun, wenn es erst soweit ist. Es ist, als würde mich meine eigene Angst erbarmungslos verschlingen.

Und die Schatten verhöhnen mich dafür.

 

Ich sitze in meinem neuen Zimmer. Allein. Zwar konnte ich Sara tatsächlich mit der lächerlichen Geschichte abspeisen, dass ich gedacht hätte, ich hätte jemand hereinkommen hören und dachte an einen Einbrecher, doch war ihre Reaktion derart offensichtlich skeptisch, dass das sicher kein zweites Mal funktionieren wird.

Himmel, es hat ja offensichtlich nicht einmal beim ersten Versuch wirklich funktioniert.

In Zukunft werde ich mich weitaus mehr zusammenreißen müssen – oder ich brauche bessere Ausreden. Letzteres ist schon keine schlechte Idee, doch Prävention wäre die weit klügere Alternative.

Wieso geschieht so etwas ausgerechnet schon am ersten Tag? Verdammt… Und das, nachdem ich so lange meine Ruhe hatte.

Es ist zum Verrückt werden.

Seufzend lasse ich meinen Blick durch den, dank mir und meiner Lampen, hell erleuchteten Raum gleiten. Ein paar Dinge habe ich, viele jedoch nicht.

Das meiste in meinem alten Zimmer waren keine richtigen Möbel – nein. Keine Schränke, vor allem keine Geschlossenen. Es waren… Lampen.

Kleinere und Größere, mit Akku oder Kabel – ich habe einige. Im Haus verteilt, aber die meisten in meinem Zimmer. Doch hier nicht.

Viel konnte ich hier auch nicht aufstellen.

Ich habe eine zweite Lampe aufstellen können, welche ich von zu Hause mitgebracht hatte. Aber das war auch schon alles, das ich Ungewöhnliches tun konnte, ohne noch mehr aufzufallen als ich es bereits tue.

Keine weiteren Lampen. Kein umherschieben der Möbel. Nicht zu seltsam erscheinen. Kein weißer Bettbezug.

Die überdecke auf der Matratze hat ein sehr hübsches, mädchenhaftes Muster. So auch der Rest der Textilien – Kissenbezug, Deckenbezug und die kleinen Zierkissen.

Aber das bringt mir nichts. Nur widerwillig, lege ich mich in das Schattige, doch weiche Bett und schlage die Decke zurück. Ich sollte Vorkehrungen treffen.

Es so machen wie immer, wenn ich nicht zu Hause bin. Ich sollte mich schützen.

Doch kann ich es nicht. Das nagende Gefühl in meinem Hinterkopf hindert mich daran – denn es ist das Gefühl, dass Sara mich noch nicht für vollkommen verrückt hält, es jedoch tun wird, sollte ich mich verhalten wie sonst.

Wie ich mich normalerweise verhalte. Ich will doch nur einmal in meinem Leben einen Menschen finden, der mich nicht für gestört hält.

Der mich nicht meidet und wegsperren lassen will. Es ist eine Zwickmühle.

Die Angst ist groß – ja, sogar sehr groß, so wie immer – doch einmal will ich etwas richtig machen. Ich kann meinen Hirngespinsten nicht jedes einzelne Mal nachgeben. Sonst werde ich noch wirklich und wahrhaftig wahnsinnig.

Außerdem wird  jeder es dann so und so von mir denken, ob ich es nun wahrhaftig bin oder nicht.

Einmal tief durchatmend, lasse ich meinen Blick wie eine Fliege vom Licht anziehen und fixiere mich vollkommen auf das warme Leuchten unter dem Lampenschirm.

Auf den Lichtkegel, der sowohl oben, als auch unten aus eben Genanntem hell hervortritt, und den allgegenwärtige Schein, den er rundherum ausstrahlt.

Eine leichte Ruhe breitet sich auf meinem Gemüt aus und meine Augen werden langsam aber sicher schwer. Vielleicht werde ich das hier wirklich schaffen.

Meine Angst überwinden. Sie zumindest nicht zeigen.

Ich schließe die müden Lider und spüre noch immer die sanfte Wärme, die mir Geborgenheit und Sicherheit verschafft, während ich glaube, langsam in den Schlaf hinab zu driften.

Beinahe zufrieden.

 

Etwa drei Stunden später – wie mir der kleine Wecker neben dem Bett verrät –, schlage ich wieder etwas perplex blinzelnd, meine verschlafenen Seelenspiegel auf und sehe mich verwirrt in dem kleinen Raum um.

Die Lampen scheinen noch immer. Zu Recht.

Denn in der Welt hinter der Glasscheibe, ist und bleibt es weiterhin finster; kalt.

Unheimlich.

Hier in dem geschlossenen, erleuchteten Raum, kann mir das jedoch nichts anhaben. Ich liege ganz ruhig da. Das Kissen faltenfrei. Natürlich habe ich mich im Schlaf nicht bewegt – wie sonst. Man gewöhnt es sich irgendwann ab, wenn man genügend Gründe hat.

Und die Angst verbietet es mir eben – selbst im Schlaf – unvorsichtig zu sein.

Auch wenn ich nicht weiß, wie man eigentlich so tief sinken kann.

Alles unter mir ist so lückenlos wie möglich. Eine Lampe bescheint mich von hinten und eine von der anderen Seite, zu der ich gerade sehe.

Keine Dunkelheit. Keine großen, schwarzen Schatten. Zumindest nicht in Reichweite.

Alles sollte gut sein, oder nicht?

Weshalb habe ich dann dieses bedrückende Gefühl in der Magengrube, so, als würde bald etwas geschehen? Und was hat mich überhaupt aufgeweckt?

Mein Blick gleitet durch den Raum. Nur leere Regale, bis auf ein bisschen Kleinkram. Nichts von mir.

Und dann höre ich es. Ein vertrautes Geräusch – jedoch keineswegs eines der beruhigenden Sorte.

Eigentlich ist es nur ein leises Tappen – ich kann nicht einmal sagen, weshalb es mir in diesem Moment so besonders erscheint.

Es könnte alles sein. Eines dieser Geräusche die man sicher an die hundert Mal am Tag zu hören bekommt, die man aber nie registriert.

Doch dieses hier…das habe ich registriert. Nur wo? Ich kann es nicht sagen.

Aber das ist auch egal, denn ich bin mir sicher, dass es dieses Kribbeln in meinen Gedanken war – dieses dunkle Gefühl, das ich gerade verspüre, wenn ich das Geräusch vernehme –, das mich geweckt hat. Oder naja, zumindest habe ich es gespürt, als ich erwacht bin.

Auf der anderen Seite ist es nichts Neues für mich, verschiedene Formen von Angst kennen zu lernen und zu erkennen. Die Angst ist praktisch mein ständiger Begleiter und das schon seit Jahren.

Denn die Quelle meiner Angst ist mein ständiger Begleiter.

Tief durchatmend, konzentriere ich mich, als das Tappen erneut ertönt und ich ignoriere einfach das furchtbare Gefühl, als ich den Ausgangspunkt zu lokalisieren versuche. Es ist gar nicht einmal schwer.

Nein, es ist sogar sehr einfach, denn es befindet sich in meiner Nähe. Mehr als nur in der Nähe, wenn man es genau nimmt.

Und das ist das eigentliche Problem.

Meine Augen wandern suchend nach unten, bis sie direkt auf den Boden starren und ohne es zu merken, wandere ich von der Mitte des Bettes, bis an den Rand – um von dort aus dann gerade hinabblicken zu können. Direkt auf den Boden vor meinem Bett.

Keine sehr gute Idee.

Ein urplötzlicher Schlag, dich neben meinem Kopf, lässt mich erschrocken auffahren und plötzlich ist es auf dieser Seite des Raumes dunkel. Die Lampe, welche bereits im Zimmer auf dem Nachttisch stand, erlischt mit einem Mal.

Mein Atem geht schnell. Hastige Versuche zu meiner Vernunft zurück zu finden – sie ist nur durchgebrannt. Das passiert mit alten Lampen hin und wieder mal. Da ist nichts dabei und ich kann sie ja auswechseln lassen. Und es ist ja nicht alles Licht vergangen, oder?

Trotz dessen, und trotz des tobenden Chaos in meinem Inneren, muss ich mich noch einmal vorlehnen. Diesmal zur anderen Seite, dort, wo sich noch ein wenig Helligkeit befindet, denn die andere Seite liegt ja nunmehr im Schatten verborgen.

Etwas war dort. Ich weiß es. Und obgleich ich weiß, dass es keine gute Idee ist, muss ich es sehen; muss es wissen.

Gewissheit darüber erhalten, was es ist, was mir so unwahrscheinlich vertraut erschien.

Als ich jedoch wirklich dort bin – und direkt hinuntersehe – verwirrt es mich, zur selben Zeit wie es ein flaues Gefühl in meiner Magengegend auslöst.

Denn was ich sehe, ist die Überdecke der Matratze, wie sie sich im Luftzug des Zimmers leicht bewegt und meine Gedanken an die offene Dunkelheit darunter entfacht.

Okay, ich sollte ganz schnell wieder nach hinten-

„Was…?“, murmle ich abwesend als meine Gedanken jäh unterbrochen werden.

Und zwar als ich ganz langsam den Kopf nach hinten drehe, um in Richtung Fenster zu sehen.

Also zu der Wand die sich hinter meinem Rücken befindet. Mein Haar steht langsam aber sicher zu Berge und ich kann spüren, wie mein Puls sich auf einen Schlag, rapide beschleunigt, während mich eine Einsicht trifft, wie ein direkter Blitzschlag im Sturm.

Es ist geschlossen.

Wieder gleitet mein Blick nach unten, während mir das Entsetzen durch alle Glieder fährt und mein Verstand nur eine Frage zulässt, auf die er sich jedoch keine Antwort zusammen zu reimen vermag.

Denn wenn das Fenster geschlossen ist und die Tür ebenfalls…

Wie zur Hölle kann dann ein Luftzug unter dem Bett entstehen…?

 

Mit purem Schrecken erfüllt, sehe ich entsetzt dem leicht hin und her wehenden Ende der Überdecke zu und bemerke wie erstarrt, dass das Ende eigentlich gar nicht mehr nur noch hin und her zu wehen scheint.

Nein, an einer Stelle, direkt unter mir, beult es sich langsam aus. So, als würde etwas von innen – aus der Dunkelheit unter dem Bett – direkt dagegen drücken und sich langsam herausschieben.

Ich kann es nicht sehen. Nur das Stück Stoff. Doch das ist genug.

Genug, um die Panik nicht mehr überwinden zu können, die meinen Verstand erneut zu vernebeln beginnt.

Genug, um meiner Angst wieder einmal freien Lauf zu lassen.

Genug, um mich in schiere zu Panik zu versetzen.

Ich weiß wie lächerlich es ist. Diese Angst. Ich.

Unter der Matratze kann ich etwas spüren. Etwas, das von unten gegen den Stoff drückt. Immer fester und fester.

Es drängt mich auf der Matratze zurück und ich kann schon sehen, wie sie sich nach oben ausbeult.

Das gab es noch nie. Das geschah noch nie, was soll ich nur tun? Ich weiß es einfach nicht.

Doch ich kann nichts dagegen tun. Sie frisst mich auf. Zerrt an meinen Nerven. An meinem Verstand. Lässt mich leiden.

Und wieder kann ich mich selbst nicht kontrollieren, so wie ich es eigentlich sollte; wie meine Großmutter es mir beigebracht hatte. Wäre sie doch nur hier!

Panisches Schluchzen dringt aus meiner Kehle, ehe ich es bemerken und verhindern kann. Ich spüre einige heiße Tränen, die mir über die verzerrten Gesichtszüge perlen – nicht dazu in der Lage, sie weg zu wischen, oder anderweitig aufzuhalten, denn ich bin wie gelähmt.

Es ist, als könne es durch die Unterlage nach mir greifen; mich in die Dunkelheit hinab reißen. Als wüsste es genau, dass ich nicht weglaufen kann. Dass ich hier festsitze.

Ein weiterer Schrei, wahrscheinlich lauter als der am Abend, löst sich von meinen Lippen und hallt scheinbar von allen Wänden wider. Es ist ein gellender Laut, der selbst mir in den Ohren klingelt.

Doch stoppen kann ich mich nicht, als ich die Schwärze unter dem alten Holzrahmen und der Überdecke hervorkriechen sehe und mich unwillkürlich aus meiner Starre löse, um auf dem Bett noch weiter zurück zu rutschen. Nicht mehr hinabzusehen. Von dort zu fliehen.

Zentimeter um Zentimeter, lege ich vorsichtig zurück, doch so breit ist das Bett leider nicht. Ein weiteres Stück nach hinten und meine rechte Hand greift unerwartet ins Leere.

Der Halt löst sich im selben Moment in Luft auf und das Nächste das ich spüre, ist, wie ich mit einem lauten Krachen auf dem harten Parkett lande.

Was ich jedoch beachte ist nicht der Schmerz in meinem Rücken und Steißbein. Nicht das zweite laute Geräusch das ertönt, als ich hastig im letzten Moment versuche, irgendwo mit meiner Hand nach Halt zu suchen und dabei verzweifelt nach allem greife, das ich erreichen kann.

Das alles ist für mich nebensächlich. Ich nehme es nur am Rande wahr. Wie eine Kulisse.

Nein, was ich beachte, ist die Dunkelheit. Die Dunkelheit die sich vor mir auftut. Die mich umgibt. Die Dunkelheit, in die ich gestürzt bin.

Mit blankem Entsetzen, noch mehr als zuvor, betrachte ich die Schatten.

Es wirkt, als würden sie pochen – leben. Als hätte die Dunkelheit einen Herzschlag.

Und diese wabernden Schleier aus schwarzem Rauch, die sich vor meinen Augen bewegen, kommen mir immer näher, während ich sie nur regungslos anstarren kann. Und dann sehe ich sie.

Die Hand.

Eine schwarze Hand, die aus der Dunklen Fläche heraustritt und nach meinem Fuß greift, welcher nach meinem Sturz am nächsten zu dem leeren Bereich unter dem schweren Holzbett liegt.

Dem Bereich, der eigentlich leer sein sollte. Ich kann nicht anders, als zu weinen. Denn nun ist es aus.

Ich kneife die Augen zusammen – auf das Schlimmste gefasst – und mein Herz macht einen Satz, als die Hand plötzlich nach einem meiner Oberarme greift.

Wieder öffne ich die Lippen, um zu schreien, doch in diesem Moment legt sich eine weitere Hand auf mich – diesmal jedoch über meinen Mund, um mich verstummen zu lassen, noch ehe ich einen weiteren Ton herausbringen kann.

Und dann verstumme ich wirklich. Halte in meinen Bewegungen inne. Die Wärme die meine Haut trifft und sich bis auf den Knochen zu brennen scheint, kommt mir bekannt vor. Ich weiß nur nicht woher. Bin ich doch viel zu verwirrt, um einen klaren Gedanken zu fassen.

Langsam öffne ich die schweren Lider  und sehe erneut in besorgte, und nun auch etwas verunsichert wirkende, braune Iriden.

Ich weiß nicht, wann ich zuletzt derart erleichtert war. Ich weiß es wirklich nicht mehr.

Doch erst jetzt kann ich den Atem wieder frei lassen, von dem ich nicht einmal gemerkt hatte, dass ich ihn anhielt.

Als ich den Blick letztendlich etwas wackelig von ihr abwende, um unter das Bett sehen zu können, ist die Hand verschwunden. Die Überdecke hängt ruhig über dem hohen Spalt und verdeckt das meiste, das dahinter verborgen liegt.

So wie es sein sollte. Keine Bewegung. Kein Mucks.

Nichts.

Mit geweiteten Augen, starre ich zuerst meine Tante an und dann wieder das Bett. Was war hier eben geschehen?

Gerade als ich ihre Hände wegschieben und mich vorsichtig erheben will, hält sie mich entschlossen zurück. „Was war hier eben los? Du warst komplett eingenommen von irgendetwas und wie weggetreten – hast nicht reagiert, oder geantwortet. Was ist denn geschehen? Geht es dir wirklich gut?“ Besorgt mustert sie mich und schätzt wohl meinen Zustand ab.

Ihre Fragen überfordern mich im ersten Moment, doch dann wird mir klar, was sie von mir hören möchte.

Die Wahrheit.

Ich seufze einmal schwer. „Das ist… wirklich sehr schwer zu erklären. Ich weiß selbst nicht… wirklich was eben geschehen ist, ehrlich nicht… Aber es geht mir gut – ernsthaft“, versichere ich leicht verzweifelt und raufe mir kurz die Haare.

Sie scheint es mir nicht zu glauben, was mich jedoch nicht überrascht. Mein Puls hat sich noch nicht normalisiert. Meine Augen fühlen sich noch feucht an.

Und das Bedürfnis zu weinen oder zu schreien, hat sich ebenfalls noch nicht in Luft aufgelöst.

Ich kann meine Beine sogar in meiner sitzenden Position zittern spüren, sowie auch meine Hände zittern. Ein wenig mehr und wahrscheinlich würden sogar meine Zähne klappern.

Weiter in ihrem Griff verweilend und mich letztendlich nicht mehr rührend, treffe ich eine Entscheidung – auch wenn ich weiß, dass ich sie ganz sicher noch bereuen werde.

Ich komme nicht vor und nicht zurück, wenn ich nun einfach sitzen bleibe.

 

Habe ich also überhaupt eine Wahl?

Chapter 4: Stronger Shadows

 

„Vertrauen ist das Gefühl, einem Menschen

sogar dann glauben zu können, wenn man weiß,

dass man an seiner Stelle lügen würde.“

– Henry Louis Mencken

 

 

Mit einer Tasse Tee in meinen Händen, sitze ich unter dem hell erleuchteten Küchentisch. Es ist eigentlich mitten in der Nacht und unter normalen Umständen, würde wohl gerade jeder in seinem Bett liegen und tief und fest schlafen.

Doch manchmal kommt es eben anders, so sitzen wir hier bereits seit etwa einer halben Stunde in absoluter Stille zusammen. Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll – und Sara weiß vermutlich nicht, wie sie danach fragen soll.

Es ist im Grunde eine Pattsituation.

Dabei könnte es so einfach sein. Indem ich schlichtweg nichts sage. Irgendwann schlafen gehe und es nicht mehr anspreche. Kein Gespräch zulasse.

Aber was wäre das Ergebnis eines solchen Verhaltens?

Abgesehen davon habe ich mich zuvor bereits entschieden. Und ich werde bei meiner Entscheidung bleiben. Denn ich habe nichts, das mir bleibt.

Also will ich zumindest zu meinen Entscheidungen stehen. Ein wenig Stärke zeigen.

Und wenn es nur ein bisschen ist.

„Das vorhin…“, beginne ich eher zögerlich. „Was denkst du, ist passiert?“

Sie sieht mich an und ich kann nicht sagen, was sie denkt. In ihren braunen Seelenspiegeln erkenne ich weder irgendeine Art von Ablehnung, noch von Verwirrtheit. Nur Ruhe. Sie atmet einmal tief durch und sieht kurz nach unten in ihre Tasse, ehe sie einmal darin rührt. „Ich weiß nicht. Erklär du es mir.“ Die Tasse anhebend, sieht sie mir erneut in die Augen.

Diesmal ist ihr Blick allerdings etwas eindringlicher. Vollkommen konzentriert. „Als ich hier herkam, da wusste ich, dass so etwas geschehen würde. Es war schon immer so, denke ich.“

„Was denn?“, hakt sie nach meinem wohl etwas kryptischen Anfang nach.

Aber ich weiß einfach nicht, wie ich das hier sagen soll. Nicht einmal, wie ich beginnen soll. So entscheide ich mich für die kalte Dusche – schnell. Wie ein Pflaster. „Ich habe Angst. Angst vor…“ Wie könnte ich das wohl am besten umschreiben? Ohne dass es komplett bescheuert klingt? Vielleicht direkt… „Schatten. Ich habe Angst vor Schatten.“

Okay, es hat nicht funktioniert.

Schatten?“ Ihr Ausdruck wirkt ehrlich verwundert, aber gleichzeitig kann ich praktisch sehen, wie die Rädchen in ihrem Kopf zu rattern beginnen. „Hattest du deshalb mehr als eine Lampe in deinem Zimmer?“

„Ja…“ Meine Zustimmung ist allerdings eher kleinlaut. In meinem Alter sollte man eigentlich nicht mehr mit einem Nachtlicht schlafen müssen.

Und dazu besteht mein kleines ‚Nachtlicht‘ auch noch aus mehreren, vollwertigen Lampen. Jede einzelne davon wäre, für sich genommen, bereits mehr als genug für ein kleines Kind.

Seufzend nehme ich letztendlich auch einen Schluck von meinem Tee. Es war keine gute Idee. Aber nun ist es zu spät um noch einmal zurück zu rudern. „Meine Angst ist allerdings nicht so einfach zu erklären“, merke ich an und habe sofort die Aufmerksamkeit meiner Tante, die ebenfalls einen weiteren Schluck von ihrem Tee nimmt, während ich schon wieder nicht weiß, wie ich den nächsten Teil der Geschichte anfangen soll. „Es ist so: Manchmal habe ich unglaubliche Angst – so sehr, dass ich schreien muss. Sogar weinen, oder ich bekomme eine Panikattacke. Einen hysterischen Anfall.“ Allein die Erinnerung an den Vorabend lässt mich auf unangenehme Weise erschaudern. „Es kommt mir dann so real vor. So schlimm, dass ich manchmal denke, ich sterbe. Dass es mich töten wird.“

Es?“

„Es… Ich meinte die Angst. Die Anfälle“, hänge ich etwas unbehaglich an und ich kann nicht sagen, ob sie sich etwas dabei denkt, oder nicht. „Jedenfalls habe ich manchmal Angst und manchmal nicht. Besonders Schlimm sind dunkle Schatten – schwarze Schatten. Nur leichte Schatten, ganz klein, damit kann ich normalerweise noch umgehen. Aber manchmal ist es auch einfach so schlimm und dann…“ Ich breche ab und starre wieder nach unten in meinen halb leeren, mittlerweile fast kalten Tee.

Eine warme Hand legt sich auf meine, welche neben der Tasse auf dem Tisch platziert ist, und bringt mich dazu, aufzublicken. „Es ist schon gut. Jeder hat vor irgendetwas Angst.“

„Ja, schon, aber nicht vor seinem eigenen Schatten…“

Zu meinem Erstaunen bringt sie das zum Lachen, worauf ich sie nur verständnislos ansehen kann. „Tut mir leid. Es erinnerte mich nur an etwas, das meine Mutter immer gesagt hat.“ Ihre Augen leuchten bei ihren Worten auf, wie Blumen die in der Sonne erblühen.

Wenn ich an meine Mutter denke, weiß ich nicht, ob es bei mir denselben Effekt hat.

Doch darüber möchte ich nicht nachdenken. „Was hat sie denn gesagt?“ Die Neugierde ist ein weiteres meiner Laster, aber in diesem Fall sollte es okay sein – sie hat es schließlich selbst angesprochen.

„Naja, immer wenn ich mit einem Freund Streit hatte und sehr traurig und einsam war, setzte sie sich zu mir. Sie sagte dann immer, dass der eigene Schatten manchmal der einzige ist, der einen im Leben begleiten wird und er die einzige Konstante darstellen würde. Er gehört zu uns und ist unsere dunkle Hälfte. Wie jeder Mensch Gutes und Böses in sich trägt. Stärke und Schwäche. Immer Hand in Hand, denn sie gehören zusammen und können nicht getrennt werden. Sie sagte immer, dass – solange ich einen Schatten habe – ich auch lebe. Und wenn ich lebe, dann kann ich meinen Weg weiter beschreiten. Sobald ich das tue, werde ich auf diesem Weg wiederum viele Leute treffen. Ob gut oder schlecht kann vorher keiner sagen, aber sie werden nicht alle bleiben. Nur manche. Und wenn man eine Weile niemanden hat, dann hat man-“

„Noch immer seinen Schatten?“, werfe ich mehr ratend ein, ohne wirklich nachzudenken.

Doch sie lacht nur. „Ja, genau.“

„Aber am Ende war es doch eigentlich nur etwas, das deine Mutter dir sagte, um es dir leichter zu machen. Eigentlich ist ein Schatten nicht mehr als die Erde, wie sie wirklich aussieht. Wie sie aussieht, wenn die Sonne ihr kein Licht spendet. Man könnte fast sagen, es ist ihre wahre Natur und wir bringen sie erst zum Vorschein.“

Sie nickt. „Guter Gedankengang. Aber ich frage mich doch… Wieso hast du eigentlich Angst vor ihnen, wenn du es gleichzeitig so nüchtern betrachten kannst? Fing das denn einfach so an?“

Ihre Frage überrascht mich ein wenig – obwohl sie es eigentlich nicht sollte, denn sie ist ziemlich offensichtlich. Wer hat denn schon Angst vor etwas so natürlichem wie Schatten?

Es ist auch eher der Fall, dass ich verwirrt bin, weil ich nicht genau weiß, wie ich die Frage beantworten soll – und diesmal nicht, weil ich Angst vor ihrer Reaktion habe, sondern schlicht und ergreifend deshalb, weil ich die Antwort nicht kenne.

Überlegend ziehe ich die Augenbrauen etwas verkrampft zusammen. „Ich… Ich weiß es nicht genau. Es war vermutlich irgendwie schon immer so…“ Ganz so stimmt das wohl nicht, auch wenn ich es selbst nicht genau weiß.

Aber ich sehe das als kleine Notlüge. Nur ein leichtes Flunkern – nicht der Rede wert.

So wie vorhin auch.

Doch ebenfalls wie vorhin auch, wirft sie mir einen Blick zu, bei dem ich nicht sagen kann, ob sie merkt, dass es nicht ganz die Wahrheit entspricht, oder eben nicht.

Zumindest so lange, bis sie plötzlich wieder nach ihrer Tasse greift, jedoch nur um sie anzusehen – sie scheinbar genauer zu betrachten, obwohl das eigentlich keinen Sinn machen würde, da sie ihre Tasse wohl kennen müsste. Dennoch fährt sie die einzelnen, grünlichen Blumenornamente, die auf das recht einfache, weiße Porzellangeschirr gedruckt wurden, langsam mit dem Daumen nach.

Und sie beginnt wieder zu sprechen. „Weißt du, Carrie… manchmal entscheiden sich Menschen dazu, anderen Dinge anzuvertrauen. Manchmal wollen sie das auch gar nicht, und tun es daher nur, weil sie müssen – auf irgendeine Art gezwungen werden. Dann kann es passieren, dass diese Menschen an Teile ihrer Geschichten stoßen, die sie nicht erzählen wollen…“ Sie lässt den Rest ausklingen und sieht mich dann mit einem recht bedeutungsschweren Blick, fragend an.

Okay, was hat mich verraten? Im Ernst, so auffällig kann es nicht gewesen sein! „Verstehe…“, meine ich daher nur und versuche mir nichts weiter anmerken zu lassen.

„Ja. Und wenn dies geschieht, dann neigen wir dazu, hin und wieder eine Lüge zu erzählen. Oder Dinge weg zu lassen. Es ist erscheint uns nicht schlimm und oft ist es das auch gar nicht – nur ein kleines bisschen an der Wahrheit gedreht. Um sich selbst zu schützen. Um beispielsweise nichts zu verraten, das einem selbst nur Schmerz bereiten würde – oder um es nicht aussprechen zu müssen. Vielleicht auch, um Ärger zu entgehen, oder ähnliches.“ Wieder macht sie eine Pause. „Das ist nicht schlimm, weißt du? Zumindest meist nicht. Ich habe vorhin auch etwas weggelassen. Oder naja, an der Wahrheit etwas gedreht“, gesteht sie.

„Ach ja?“ Ich sehe sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Wann soll das gewesen sein?

„Ja. Vorhin, da habe ich dir doch von meinem Spitznamen erzählt, auf dessen Idee ein Freund von mir kam, nicht wahr?

„Sicher“, stimme ich zu und bin noch immer leicht verwirrt.

„Tja, die Wahrheit ist… es war nicht einfach irgendein ‚Freund‘, der diese Idee hatte. Tatsächlich war es dein Onkel Kelvin. Er hat diesen Vorschlag gemacht, in Verbindung mit seinem Heiratsantrag – da meinte er, wenn ich seinen Namen übernehmen würde, dann hätte ich sogar endlich einen passenden Spitznamen für meine amerikanischen Freunde parat, die nie wissen, wie sie meinen Namen abkürzen sollten. Und das ist sie – die wahre Geschichte. Ich weiß selbst nicht, weshalb ich vorhin etwas anderes sagte. Tut mir leid.“

„Das klingt… süß. Es macht nichts. Ich gehe nicht davon aus, dass es einfach ist, darüber zu sprechen. Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, wie du überhaupt noch lächeln kannst, nach alldem was geschehen ist“, lautet meine trockene Entgegnung.

Sie lacht wieder kurz auf, allerdings klingt es eher traurig. „Ich habe es mir geschworen. Dass ich nie wieder weinen werde, wenn es nicht nötig ist. Das ist der Lebensweg den ich wählte, nachdem ich meine zweite Chance erhielt und neu beginnen musste – nachdem ich aus dem Koma aufgewacht war. Das ist alles.“

„Es klingt schwer“, erwidere ich ehrlich.

„Nun, es ist nicht einfach. Aber auch nicht so schwer wie man glaubt.“ Sie sieht mich an, beugt sich nach vorn über den Tisch zu mir und legt erneut eine Hand auf Meine. „Und du wirst das ebenso schaffen wie ich. Irgendwann.“

„Ja, ich weiß schon – die Zeit heilt ja bekanntlich alle Wunden und so ein Quatsch…“, meine ich seufzend, doch sie schaltet sich sofort ein.

„Nein“, sagt sie bestimmt. „Das ist nicht der Fall. Die Zeit heilt gewiss nicht alle Wunden. Tatsächlich macht sie sie manchmal sogar schlimmer. Doch wenn du der Zeit hilfst, dann kann sie dafür sorgen, dass deine offenen Wunden verheilen und nicht mehr so sehr schmerzen. Narben werden jedoch immer bleiben.“

„Und diese Narben sind schlimm?“, frage ich, da ich weiß dass ich mit jemandem Spreche der es wissen muss.

„Nein“, entgegnet sie erneut, nicht weniger bestimmt doch mit einem etwas sanfteren Gesichtsausdruck und einem Lächeln, ehe sie meine Hand noch einmal leicht tätschelt und dann davon ablässt. „Die Narben erinnern dich an die Wunden die du hattest und zeigen dir, dass es dir besser geht. Außerdem sind sie das Zeichen dafür, dass du den Grund für diese Narben niemals vergessen wirst und diese Erinnerungen wiederum sind das, was uns als individuelle Menschen ausmacht. Daran ist nichts Schlimmes.“ Während sie sich erhebt, greift sie nach unseren Tassen – ich habe nicht einmal gemerkt, dass ich meine Tasse bereits ausgetrunken habe.

Sie stellt sie lediglich in die Spüle und lässt Wasser einlaufen. „Du solltest nun langsam ins Bett gehen. Du hast zwar noch keine Schule, jedoch wollte ich dir die Stadt ein wenig zeigen.“ Als sie mit ihrer kleinen Arbeit fertig ist, wendet sie sich mir wieder zu. „Jedenfalls wenn du das wollen würdest.“

Ich schenke ihr ein Lächeln – die Strapazen von zuvor und meine Angst sind dabei beinahe vergessen, als hätte es sie nie gegeben. „Das würde mich freuen. Kann es kaum erwarten.“

Doch als ich aufstehe und den Raum verlassen will, hält mich ihre Stimme noch einmal zurück.

„Und wenn du je Probleme haben solltest, oder deine Angst schlimmer wird, dann komm zu mir, okay? Oder wenn du vorhin ebenfalls nicht völlig ehrlich zu mir warst – du musst wissen, dass ich dir deshalb nicht böse bin. Es ist okay.“

Darauf kann ich nur etwas unsicher nicken. „Okay, verstanden… Vielen Dank, Sara.“

Wenn ich das tun jedoch würde, müsste ich es ihr jetzt schon sagen. Müsste völlig ehrlich sein.

Aber das kann ich nicht.

Dafür…

 

Habe ich einfach nicht genug Mut.

Chapter 5: Ordinary Shadows

 

„Die Normalität ist eine gepflasterte Straße;

man kann gut darauf gehen - 

doch es wachsen keine Blumen auf ihr.“

– Vincent van Gogh

 

 

„Das ist also meine Schule?“, frage ich erstaunt und sehe zu dem Gebäude hoch.

Sara nickt nur zur Antwort als ich kurz zu ihr herüber sehe, so richte ich meinen Blick wieder nach vorn. Sie ist groß und scheinbar war hier vor kurzem auch eine Art Festivität, denn dort hängen überall noch Schmückungen, wie Girlanden zum Beispiel – oder gehört das etwa zum gewöhnlichen Stil der Schule?

Ansonsten ist sie aber wohl doch wie jede andere Lehranstalt auch. Ich war einfach schon sehr lange nicht mehr auf irgendeiner normalen Schule – zumindest nicht für mehr als zwei jämmerliche Tage.

Aus gewissen Gründen, wurde ich über acht Jahre lang von zu Hause aus unterrichtet – durch meine Großmutter persönlich. An sich ist das meiste hier also nicht direkt neu für mich.

Dennoch aber ungewohnt. Vor allem auch beängstigend

„Und ich darf an einem Club teilhaben?“

„Logisch. Wenn du das gerne möchtest habe ich nichts dagegen – vernachlässige nur deine Noten nicht.“

„Cool!“ Ich meine, nicht dass ich es vorher unbedingt gewollt hätte, aber wenn ich schon die Chance habe…

Doch die Erinnerung daran, weshalb ich auch damals, als ich noch zur Schule ging, nie mehr einem Club beigetreten war, versetzt mir einen Stich. So wie die Erinnerung daran, weshalb auch der letzte Versuch eine Schule zu besuchen nach zwei Tagen beendet gewesen wäre, wenn meine Großmutter nicht ohnehin genau dann...

Ich unterbreche meine Gedanken selbst, in dem ich meinen Kopf in die Richtung reiße, in der die Stadt liegt. „Es ist schön hier.“

„Freut mich, dass du es so siehst. Ich weiß schon, es ist nicht Colorado, aber Kalifornien kann ebenso schön sein, vertrau mir. Du wirst dich hier bald eingelebt haben“, versichert sie mit einem warmen lächeln.

„Klar…“ Auch wenn ich zurück lächle, macht es mich doch nervös.

Ab morgen bin ich reguläre Schülerin, an einer ganz gewöhnlichen Schule…

Werde ich das überstehen?

 

„Wisst ihr wer sie ist?“, tuschelt ein Mädchen mit braunem Haar – scheinbar kein bisschen darum geniert, dass ich sie hören kann. Klar, warum sollten einen solche Nichtigkeiten auch groß kümmern?

Eine andere schüttelt hastig, aber immerhin so unauffällig wie möglich, ihren schwarzen Lockenkopf. „Noch nie gesehen, aber ich habe gehört sie wurde von ihrer alten Schule geworfen. Wegen Sachbeschädigung.“

Echt?!“ Der Einwurf war laut genug um auch andere Köpfe in deren Richtung zu bewegen.

„Ja, wenn ich es doch sage! Sonst wäre sie ja auch nicht erst so spät im Schuljahr noch auf eine andere Schule gegangen!“

„Ich habe gehört ihre Eltern haben sich gegenseitig umgebracht“, schaltet sich nun ein Dritter ein. „Und ihre Großmutter. Sie ist die einzige Überlebende und hat alles mit angesehen.“

Mein Hals schnürt sich zu, als ich all diese lächerlichen, doch haarsträubenden Geschichten höre. Erst als sich plötzlich eine vierte Person, die vor den Dreien aus der letzten Reihe sitzt, zu ihnen umdreht und auf den Tisch schlägt, schrecken die Drei hoch. „Nun haltet doch endlich euer Maul, es reicht. Was redet ihr überhaupt für einen Blödsinn? Es kann ja wohl kaum alles wahr sein – und wenn man sein Hirn anstrengt, dann merkt man vielleicht das die anderen Stories dann vermutlich auch nur Bullshit sind!“, herrscht sie sie in einem steten, ruhigen, aber bestimmten Tonfall an.

Das Mädchen mit dem hellbraunen, beinahe ins Gräuliche fallenden Haar, dreht sich daraufhin einfach wieder herum und sieht nach vorn, wo auch ich soeben stehe und sie nur erstaunt anstarren kann.

Irgendwie bin ich wirklich froh, als der Lehrer, welcher zuvor nur einen Moment aus dem Raum treten musste, wieder hereinkommt und in die Hände klatscht. „So, Ruhe bitte. Ich war nur kurz vor der Tür also glaubt ja nicht, es wäre nun Party angesagt. Wir haben eine neue Schülerin und wir wollen sie alle herzlich willkommen heißen, nicht wahr?“, fragt er die Klasse fordernd. Es war im Grunde keine Frage, ja, aber wen kümmert das schon?

Wie an der Grundschule, wenn es einen Aufruf gab, höre ich daraufhin jedoch tatsächlich ein, leider nicht allzu herzliches, aber doch lautes „Herzlich Willkommen“.

Selbst die Lästermäuler von vor nicht einmal einer Minute, halten nun die Klappe.

Wo haben sie solche Geschichten wie die von vorhin überhaupt her?

Ich wusste an Schulen verbreiten sich Dinge schnell, doch so etwas?! Ich habe heute im Gang vor dem Lehrerzimmer, so wie auf den Gängen vor dem Unterricht, sicher schon drei weitere dieser Horrortheorien mitbekommen. Die halbe Schule zerreißt sich entweder das Maul über mich, oder ist sogar naiv genug diesen Mist auch noch zu glauben – hat ergo Angst vor mir und meinem inneren Killer.

Echt unglaublich.

„Genau“, reißt nun mein neuer Klassenlehrer – Mr. Delany – wieder die Aufmerksamkeit aller an sich. „Herzlich Willkommen an der Ascalanes High School – ich hoffe, es wird dir hier gefallen.“ Bezweifle ich kein bisschen. Dann sieht er plötzlich die Truppe von zuvor an, mit einem Blick, den ich nicht ganz deuten kann. „Auch wenn dir sicher auch aufgefallen ist, dass es hier einige sehr… kreative Köpfe gibt. Das wird schon.“

‚Komisch, mir war gar nicht klar dass ich auf einer Schule für junge Schriftsteller und Märchenerzähler gelandet bin‘, füge ich noch in Gedanken zu, sage jedoch nichts.

Die drei Hühner von zuvor blicken derweil lediglich ertappt vor sich auf den Tisch und sind still. Ich muss mir ein Lachen verkneifen, auch wenn es schwer fällt. „Vielen Dank, das hoffe ich auch.“

„Willst du dich nicht vorstellen?“, fragt er mich und weist mit einem Arm auf die Klasse. „Wir wollen schließlich alle wissen, mit wem wir es hier zu tun haben – ich meine, wirklich zu tun haben.“

Ich sehe ihn eine Weile an, nicke dann und blicke das erste Mal tatsächlich in die Schülerschaft vor mir. So viele neue Gesichter. Es ist wie… nein, diesmal ist es anders. Ich werde dafür sorgen, dass das nicht wieder geschieht.

Mir ist schon klar, was der Lehrer mir sagen wollte – dass ich sagen solle, was mich wirklich bewegt. Weshalb ich hier bin, und was ich bisher so erlebt habe. Doch er weiß vermutlich nicht allzu viel über mich – kennt die Wahrheit nicht und wird nicht verstehen, dass die Wahrheit nichts besser machen wird. Auch wenn er es gut gemeint hat. „Also, mein Name ist Carine Murdoch. Da dieser Name jedoch meist falsch ausgesprochen, oder aber falsch geschrieben wird, da er irischer Natur ist, könnt ihr mich einfach Carrie nennen. Carrie ist völlig in Ordnung. Ursprünglich komme ich wohl aus Colorado, aber meine Wurzeln liegen, wie die meines Namens, in Irland. Sonst noch Fragen?“ Als ich spreche, werde ich immer schneller; mein Sauerstoff scheint zu schwinden und mir wird schwindelig, dennoch spreche ich weiter. Kann fühlen, wie meine sonst so blassen Wangen zu glühen beginnen.

Ich hoffe jedoch man sieht es nicht auch noch. Denn ich war so nervös, dass ich mit Sicherheit gezittert habe – ob sie es hören konnten? Meine Zähne klappern? Keine Ahnung.

 Oh mein Gott, das ist so peinlich…

Eine Person – genau genommen ein Mädchen – welche ich auch zuvor schon hatte reden hören, wirft genau dann eine Frage in den Raum, als ich gerade zu Mr. Delany sehe, um mich nach meinem Platz zu erkundigen. Es ist das Mädchen mit dem graubraunen Haar. Und ihre Frage schnürt mit erneut die Kehle zu.

„Welchen Grund hattest du wirklich, mitten im Jahr die Schule zu wechseln?“  Sie meint es sicher nicht böse, glaube ich. Sonst hätte sie mich vorhin ja nicht verteidigt… oder?

Ich meine, das muss doch der Grund gewesen sein? Oder wollte sie die anderen einfach nur zusammenstauchen? Das ergibt doch keinen Sinn.

„Also…“, beginne ich, wie so oft, doch weiß nicht wie ich weitermachen soll. „Meine Großmutter starb, und da ich schon lange mit ihr allein war, musste ich von Colorado hier her zu meiner Tante ziehen“, fasse ich mich so kurz es geht. Keine Einzelheiten. Klare Fakten.

Hoffentlich belassen sie es dabei.

„Ach so“, entgegnet sie daher und lächelt bekräftigend, „das tut mir sehr leid für dich, ehrlich.“

„Ja, mir auch…“, rutscht es mir heraus, ehe ich es stoppen kann, so lenke ich schnell ein. „Kann ich mich nun setzen?“

Der Lehrer, der selbst nicht ganz zu wissen scheint, wie wir an dieser Stelle gelandet sind – denn plötzlich scheint die ganze Klasse in einer seltsamen Stille zu versinken, die nicht einmal dem Boogeyman behagen würde – nickt nur etwas desorientiert und zeigt auf zwei freie Plätze. „Von den beiden kannst du dir gerne einen aussuchen, wenn du möchtest.“

Wie der Zufall es so will, ist einer davon genau… neben dem etwas vorlauten Mädchen, von eben. Sie zeigt etwas auffällig auf die freie Bank neben sich und grinst mich breit an.

Der andere Platz steht, was die Seiten betrifft, nur neben einer Person, da zur anderen Seite die Wand das Ende des Raumes markiert. Der Platz daneben jedenfalls, wird von einem Mädchen besetzt, das mich ebenfalls erwartungsvoll ansieht, als mein Blick auf sie fällt.

Sie wirkt, als sei sie sich sicher, ich würde mich zu ihr setzen und ich kann wirklich nicht sagen, weshalb – nicht einmal, was mir den Eindruck vermittelt, doch auch wenn es eigentlich keinen Grund haben sollte, macht mir dieses Mädchen, mit der Zahnspange und der etwas seltsamen Brille auf der Nase, tatsächlich irgendwie Angst.

Obwohl sie eigentlich harmlos aussehen müsste.

So ist meine Entscheidung nicht schwer und meine nächsten Schritte führen mich zielstrebig zu dem Platz in der dritten Reihe von hinten, nur einen Platz von den Fenstern entfernt. „Hey, Carrie!“, begrüßt mich das Mädchen mit dem Aschebraunen Haar – gibt es diese Farbe überhaupt? Scheinbar – vielleicht ein Pigmentfehler. „Nett dich kennenzulernen - mein Name ist übrigens Christine! Christine Graham, genau genommen. Gut, nicht wahr? Du kannst mich dennoch einfach Chris nennen, wenn du willst“, redet sie mehr oder weniger auf mich ein.

Ich sehe kurz nach vorn, als ich meine improvisierten Sachen aus der Tasche zerre – ein Block und einen Stift, da ich nicht wusste, was ich denn brauche. Da der Lehrer selbst noch irgendwelche Sachen zu suchen scheint, interessiert er sich wenig für uns, so richte ich mein Augenmerk ebenfalls zur Seite. „Hallo Chris, freut mich. Aber was meinst du denn mit ‚gut‘?“, hake ich etwas überfragt nach. Sie sagte, etwas sei gut – nur was? Habe ich etwas verpasst? Etwas Wichtiges? Essentiell für diese Unterhaltung?

„Na, unsere Namen!“, setzt sie mich zwar ins Bild, doch schlauer werde ich daraus nicht wirklich, wenn ich ganz ehrlich sein soll – ich habe wirklich etwas verpasst, nicht wahr? „Carrie und Christine – zwei absolute Klassiker der Horrorfilmgeschichte! Vor allem Carrie! Ich meine – Stephen King? Den wirst du doch wohl kennen, oder nicht?“

Ich kann sie bei all ihrem Enthusiasmus jedoch nur fragend ansehen. „Ach, einen Film meinst du?“

„Na logisch die Filme! Aber nicht das Remake – niemand mag die Remakes…“ Sie schüttelt den Kopf, zusammen mit einem abwertenden laut, wie um ihren letzten Teil noch zu unterstreichen und lacht leicht auf, während sie selbst eines der Bücher vor sich aufschlägt. Ein Geschichtsbuch, würde ich wetten.

Das andere, welches noch immer geschlossen ist, ist eine Lektüre und liegt auch eher abseits. „Der Titus?“, merke ich in Gedanken an.

„Ja, genau. Kennst du den Wälzer?“

Habe ich das gerade etwa laut gesagt? Klang jedenfalls danach. Überrascht wandert mein Blick kurz zu ihr, um mich zu vergewissern das sie mich meinte, ehe ich wieder zum Buch sehe. „Ja, aber es ist schon eine ganze Weile her. Meine Großmutter hatte ihn mir vor einiger Zeit vorgelesen. Wir haben auch darüber gesprochen, falls ich etwas nicht verstanden hatte. Ich kann mich jedoch nicht mehr an alles erinnern…“

Als ich aufsehe, weiche ich beinahe zurück, bei der Art und Weise auf die mich mein Gegenüber gerade mustert. „Ich sehe schon, du hattest eine sehr interessante Kindheit, hm?“ Ihr Blick ist für mich nicht ganz zu deuten, aber vielleicht liegt es einfach daran, dass ich dafür nicht genug Erfahrung mit Menschen habe. Zumindest nicht so, dass ich viele verschiedene Ausdrücke hätte sehen können. „Es tut mir übrigens leid, dass ich das vorhin fragen musste – es war sehr persönlich, aber ich dachte, wir schaffen endlich diese ganzen unnötigen Gerüchte aus der Welt, die seit einer Weile kursieren. Es hieß schon vor einigen Tagen, dass wir eine Neue kriegen würden, aber dass du noch nicht kommen könntest und dann kamen irgendwelche neugierigen Spinner und andere Idioten, die meinten, sie müssten sich wichtigmachen. So lange, bis es einfach ausartete – du bist praktisch eine Berühmtheit hier, aber keine Sorge, das geht vorbei. Zeig ihnen einfach, wie normal du bist.“

Ob ich so normal bin, ist noch immer eher zweifelhaft, doch ich lächle sie trotzdem an. „Danke, ich hoffe es, wirklich… Aber sag mal, was machen wir nun eigent-“

Genau in dem Moment ertönt ein Schlag vom vorderen Ende des Klassenraumes. Mr. Delany scheint einen Stapel Blätter, zusammen mit einem Buch auf den Pult fallen gelassen zu haben.

Eindeutig ein Zeichen dafür, dass er jetzt entweder mit dem Unterricht beginnen möchte, oder dass die Materialien ihn gemobbt haben. Ich tippe auf hauptsächlich Ersteres, und ein wenig Letzteres. „Also, Leute… Wir fangen heute mit einem neuen Thema an, was gut ist, denn Ms. Murdoch wird es auf diese Weise etwas einfacher haben, dem Unterricht zu folgen, als wenn sie mitten in einem Thema versuchen müsste, sich zurechtzufinden. Dennoch will ich jetzt noch einmal ein wenig wiederholen, was wir bisher hatten, damit auch allen – vor allem Ihnen, Ms. Murdoch – klar ist, was wir bereits hatten und was wir noch schaffen müssen, bis in etwa vier Monaten langsam die ersten Prüfungen anstehen. So, das wäre dann…“

Geschichte.

Ein Fach das ich wirklich mag – ich kann es auch, weil ich es mir gut merken kann.

Anders als beispielsweise Mathematik, aber nun ja…

Dem Lehrer noch immer aufmerksam zuhörend, kann ich jedoch nicht vergessen, was Chris vorhin gesagt hatte – das, mit dem normal sein. Was, wenn ich nicht normal genug bin?

Was, wenn ich ihre Geschichten vielleicht noch schüre?

Der Gedanke macht mir Angst. Angst, die nicht von den Schatten herrührt. Eine Angst, die ich eigentlich selten verspüre, jedoch auch nur, weil ich normalerweise keine Risiken eingehe.

Doch was ist zurzeit schon noch normal? Mein Leben war bisher immer gut organisiert. Ich wusste was ich tun kann, und ich wusste, was ich nicht tun kann.

Ich wusste, was ich tun musste um auf der sicheren Seite zu stehen und meine Großmutter half mir dabei.

Wir zogen nie in die Stadt, obwohl das Haus meiner Großmutter am Rande stand, dort, wo keiner mehr wohnte – in der Nähe einer abgelegten Goldmine, an einem Hügel.

In einer Stadt zu wohnen, machte nie viel Sinn. Meine Großmutter wollte es nicht, da es zu gefährlich für mich war.

Seit mein Großvater tot war, hatte meine Großmutter jedoch nicht mehr in diesem Haus gelebt – nein, im Gegenteil. Sie zog sogar nach Denver, in die Großstadt also. In ein kleines Apartment, welches sie dann nur für mich aufgab.

Zwar fand ich es nicht schlimm, in die Stadt zu ziehen, doch sah meine Großmutter dies ganz anders. Sie sagte immer, dass Städte glitzern und glänzen mögen und scheinen, als gäbe es dort immerzu Licht, doch gibt es dort mehr Schatten als irgendwo sonst.

Denn wo viel Licht ist, ist oft noch viel mehr Schatten, auch wenn man sie auf dem ersten Blick nicht zu sehen vermag.

So zog sie zurück in ihr altes Haus und nahm mich mit. Das Haus meiner Eltern gehörte ihnen noch nicht, daher ging es zurück an die Stadt. Wir haben es wohl auch nicht mehr gebraucht…

Seufzend zwinge ich meine Gedanken dazu, dem Unterricht zu folgen. Auch wenn Geschichte für mich nicht schwer sein mag, sollte ich doch zumindest wissen, worum es gerade geht, damit ich überhaupt erst die Chance habe, es zu verstehen.

Der Knackpunkt ist aber ohnehin ein anderer. Ich meine, so wirklich normal sein…

 

Kann ich das überhaupt?

Chapter 6: Legendary Shadows

 

„Geschichten sind deshalb Geschichten,

weil sie uns an Geschichten erinnern."

– Peter Bichsel

 

 

„Also, wie ihr alle wisst, fällt nächsten Donnerstag Geschichte aus. Jedoch will ich, dass ihr auf die nächste Stunde die Seiten 69 bis einschließlich 73 gründlich anseht und durchlest, wenn ihr sonst schon nichts auf bekommt, damit wir in den nächsten beiden Stunde etwas schneller durch kommen können – und tut es besser wirklich, ihr werdet vielleicht abgefragt.“

Mit diesen mehr oder weniger strengen Worten schnappt sich Mr. Delany auch schon seine Tasche und huscht aus dem Klassenraum, vermutlich zu seiner nächsten Stunde. „Was ist denn am Donnerstag?“, frage ich jedoch nur in Richtung meiner neuen Sitznachbarin.

„Schulfrei. Wegen Lehrerkonferenz, oder sowas. Ist ja auch egal, so lange es uns nicht weiter betrifft – Hauptsache wir haben frei“, grinst sie mich an.

Ich nicke nur langsam, während sie ihre Sachen arglos in die Tasche wirft, die zu ihrer Linken steht. „Ach ja, wenn du noch irgendwelche Fragen hast – ob zum Unterricht, oder sonst irgendetwas – dann kannst du gerne zu mir kommen. Ich hab immer ein offenes Ohr und dafür sind Freunde schließlich da, nicht wahr?“

Ich nicke so lange, bis ich an einem Wort hängen bleibe und etwas stutzig werde. „Freunde?“

„Ja, Freunde“, meint sie scherzhaft in einem Tonfall, als würde sie mit einer geistig Zurückgebliebenen sprechen. „Was denn sonst?“ Ihr Lächeln ist jetzt sogar noch breiter.

„Naja, ich dachte…“

„Jetzt hab dich nicht so! – High School Freundschaften halten statistisch gesehen ohnehin nicht allzu lange, jedenfalls nicht mehr, wenn die Schule erst einmal zu Ende ist, also warum dann lange fackeln? Außerdem denke ich, dass du nett wirkst und allein unsere Namen müssen schließlich ein Zeichen sein.“

„Aha…“ Ich lache nur und schüttle den Kopf, meine jedoch trotzdem, „Na, wenn du das sagst.“

„Ja, sage ich. Und jetzt pass auf, wir haben nämlich gleich Englisch.“ Sie nimmt das Buch, welches noch immer am oberen Rand ihres Tisches liegt, nun zur Hand und öffnet es an einer markierten Stelle. „Ich bin heute mit dem Lesen dran, das weiß ich, weil ich aufgepasst habe – sie geht nach dem Alphabet vor. Und ich weiß, wie viel wir immer lesen – naja, ich habe zur Vorsorge mehr gelesen. Ich wollte üben, damit ich nicht ins Stottern komme. Das Lesen vor Leuten macht mich immer so nervös…“

„Kann ich mir gar nicht vorstellen“, rutscht es mir überrascht heraus. Vorher wirkte sie noch so ruhig als sie mir die Frage gestellt, oder die anderen zusammengestaucht hat, und sie hat mich immerhin auch direkt angesprochen. „Du wirktest vorhin noch so selbstbewusst.“

„Nein, es geht nicht um das Reden selbst, sondern nur das Lesen. Obwohl ich Geschichten liebe, bin ich im laut Lesen nicht wirklich gut und das ist mir peinlich, musst du wissen – ich mag es nicht, wenn andere meine Schwächen kennen.“

Und warum erzählst du sie mir dann? „Ist doch eigentlich gar nicht schlimm.“

„Denkst du!“, entgegnet sie sofort. „Und jetzt bitte Ruhe.“

Als sie die Seite ansieht und leise liest, bewegt sie dabei die Lippen. Da ich die Stelle kenne, an der sie sich momentan befindet, erkenne ich die Mundbewegungen und den leisen Klang der mit ihnen schwingt, auf Anhieb wieder. „Das ist meine Lieblingsstelle…“, merke ich an.

Ich sollte mich endlich wieder daran gewöhnen, unter Menschen zu sein – vor allem daran, nicht immer gleich alles zu sagen, was ich denke.

Als ich meinem Gegenüber ins Gesicht sehe, fällt mir ihr fragender Blick auf. „Du hast die Stelle ernsthaft erkannt? Habe ich so laut gelesen?“

„Nein, keine Sorge. Aber ich habe sie so oft gelesen, dass es für mich nicht schwer war, sie wiederzuerkennen. Vielleicht war es auch einfach ein Gefühl, keine Ahnung…“

Doch es war ein Fehler, denn offensichtlich habe ich ihre Neugierde geweckt – mal wieder. „Warum ist es denn deine Lieblingsstelle?“

Die plötzliche Frage verwirrt mich etwas. „Was?“

Kurz lacht sie auf. „Tut mir leid, ich bin einfach neugierig. Warum ist es denn deine Lieblingsstelle, wenn ich fragen darf?

Ich muss ebenfalls lachen – wer kann denn da schon nein sagen? „Es ist nichts Besonderes. Nur, weil ich sie irgendwie schön finde… süß sogar.“

„Süß?“, hakt sie etwas skeptisch klingend nach.

„Einfach, weil diese Szene zeigt, wie sehr ihm das Schicksal seiner Tochter nahe geht und wie sehr er Lavinia liebt.“ Es erinnert mich daran, wie sehr sich mein Vater um mich gekümmert hat.

Doch es ist schon so lange her.

„Ach so. Naja, so kann man es natürlich auch interpretieren.“

Gerade als ich mich wieder meinem eigenen Tisch zuwenden will, höre ich hinter mir eine Tür aufgehen und Absätze, die auf dem Laminatboden einen hellen Klang von sich geben. „Guten Morgen! Ich hoffe, ihr hattet alle ein schönes und erholsames Wochenende“, grüßt uns eine Frau, die scheint als sei sie etwa Mitte zwanzig, mit blondem Haar und einem roten Oberteil, dessen Ausschnitt vielleicht ein klein wenig mehr von ihrem Busen zeigt, als es sollte, so wie ihr schwarzer Rock vielleicht ein klein wenig kürzer ist, als nötig. „Ich habe gehört, wir haben ab heute eine neue Schülerin?“

Etwas aus meinen Gedanken gerissen, hebe ich hastig die Hand. „Äh, ja, hier. Ich – Carrie Murdoch.“

„Ah, ein hübsches Gesicht. Mein Name ist Lydia Wayland und ich unterrichte hier Englisch und Latein – freut mich, dich kennen zu lernen, Carrie.“

„Freut mich auch…“, meine ich leise, da ich nicht weiß ob eine Antwort überhaupt angebracht war – ich fand es nur höflich.

„Also… Wir sind gerade dabei eine Lektüre durch zu gehen, jedoch nicht die ganze Stunde – ehrlich gesagt haben wir sogar eher wenig Zeit dafür. Daher werden wir nur ein kurzes Stück lesen, darüber sprechen und dann mit einem anderen Thema weiter machen. Das Buch werde ich dir leihen – ich habe für Leute die ihres vergessen haben sollten, immer einen Ersatz dabei, das kannst du haben…“ Schnell eilt sie durch den Raum, legt das Buch auf meinem Tisch ab und schenkt mir dann ein Lächeln. „Vielleicht solltest du dir aber dennoch eine eigene Ausgabe beschaffen, denn es wird in der kommenden Prüfung sehr wichtig sein. Und natürlich solltest du auch lesen, was wir bisher gelesen haben, damit du verstehst, worum es in der Geschichte geht – es ist ‚Titus Andronicus‘, von William Shakespear, falls du schon einmal davon gehört haben solltest.“

„Nicht nur gehört – sie hat es sogar schon gelesen!“, wirft meine Nachbarin plötzlich ein.

Immer noch etwas orientierungslos, wegen des schnellen Geschehens, nicke ich erst nur leicht, stimme dann jedoch etwas sicherer zu. „Ja, es ist aber schon etwas länger her.“

„Oh nein, das macht doch nichts – eher im Gegenteil! Welch wohltuende Überraschung…“, ist ihre fröhliche Antwort, ehe sie wieder nach vorn stöckelt. „So, wo waren wir… Ach ja, Christine, wenn ich bitten dürfte.“

Angesprochene erhebt sich sofort und nimmt ihr Buch zur Hand. „Sie war mein Reh, und der die Wund ihr schlug, tat weher mir, als hätt er mich durchbohrt“, beginnt sie, „Nun steh ich wie ein Mann auf einem Fels, umgeben von der weiten, wüsten See, der Wog auf Woge schwellen sieht die Flut, und stets erwartet, ob ein neidscher Schwall in seinen salzgen Tiefen ihn begräbt. Zum Tod hier gingen meine armen Söhne…“

Ihre Stimme rückt mit jedem Wort mehr in weiter Ferne. So lange, bis sie nicht mehr als ein Summen im Hintergrund dieser Kulisse wird.

Schon den ganzen Tag, habe ich das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden, ignoriert. Es ist nichts Neues mehr.

Gewiss nicht.

Dennoch beschleunigt die Angst bereits seit geraumer Zeit meinen Puls. Genug, um es zu spüren.

Und solange ich abgelenkt bin, ist es in Ordnung. Es muss einfach in Ordnung sein.

Tief durchatmend, ignoriere ich den leichten Schatten unter dem Tisch. Er macht mir nichts aus. Er ist nicht so dunkel.

Ich rede es mir so lange ein, bis mein Herzschlag sich wieder normalisiert, dabei verstreichen die Minuten so zäh wie Kaugummi.

Bis plötzlich etwas an meiner Schulter rüttelt. Ich zucke zusammen und kann nur gerade so ein leichtes Quieken unterdrücken, das mir beinahe vor Schreck herausgerutscht wäre. „Carrie!“ Es ist die Stimme der Person, die mich auch wachgerüttelt hat aus meinem Tagtraum, der genauso leer war, wie meine nächtlichen Träume heutzutage ebenfalls. „Sie hat dich etwas gefragt“, hängt Chris etwas drängend an.

„Ich wollte wissen, was dir bisher besonders auffiel, Carrie“, höre ich meine Lehrerin. „Gerade, weil du das Buch schon einmal gelesen hast, möchte ich es gerne wissen, um herauszufinden, wie viel du denn ungefähr noch weißt.“

„Nun, ähm… also, besonders fiel mir die Tragik der Lavinia auf.“ Mittlerweile bin ich sehr viel ruhiger und denke einmal kurz nach. „Sie hat eine schreckliche Geschichte hinter sich gebracht. Zuerst wurde ihr Geliebter getötet, dann zwei ihrer Brüder dafür angeklagt und schließlich enthauptet. Danach wurde sie von denselben Tätern die schon ihren Gemahl töteten, vergewaltigt und verstümmelt, damit sie sie nicht mehr verraten konnte. Ihr wurde die Stimme genommen, indem man ihr die Zunge herausschnitt und die Hände abschlug. Doch sie blieb stark. Sie schrieb die Namen ihrer Peiniger mit einem Stock, den sie in ihrem Mund hielt in den Sand. Doch nach allem war sie noch immer geschändet und ihr Vater ertrug ihren Anblick nicht mehr, wodurch sie letzten Endes durch seine Hand starb.“

Während meinem kleinen Monolog sehen mich nur einige Mitschüler und die Lehrerin stumm an, manche kümmern sich um ihren eigenen Kram und wieder andere, tuscheln nur miteinander. Ich habe kaum gemerkt, wie viel ich eigentlich gesagt habe, ehe ich jetzt darüber nachdenke.

Etwas beschämt, sehe ich auf meinen Tisch und bin erst einmal still, als sich Ms. Wayland an mich wendet. „Nun, ich denke an dieser Stelle waren wir noch nicht, aber es ist ein guter Ansatz, was das ‚schwarze Schaf‘ unter Shakespears Werken betrifft. Die Lavinia.“

Sie redet noch eine ganze Weile, doch ich höre nur mit einem Ohr zu.

Aus irgendeinem Grund fühle ich mich müde. Noch immer dieses Gefühl im Nacken und ich frage mich, ob das wohl ab jetzt immer so laufen wird.

Ob ich immer diese Angst verspüren werde.

Oder ob es vielleicht sogar schlimmer werden würde.

Und ob ich das auch schaffen kann.

 

„Endlich Schluss…“, stöhnt das Mädchen neben mir erleichtert auf und ich muss lachen.

„So lang war der Tag doch gar nicht“, meine ich nur und sie stöhnt noch einmal auf.

„Ehrlich? Musst du so pessimistisch sein?“

„Das war nicht pessimistisch – es war nur realistisch!“, entgegne ich. „Komm schon, Chris, so schlimm war es nicht.“

„Stimmt, das ist nicht pessimistisch. Das ist… keine Ahnung was das ist, aber du hast eindeutig zu gute Laune, nachdem du den ganzen Tag aussahst als würdest du gleich sterben. Das ist nicht fair.“ Langsam und irgendwie wie eine alte Frau, erhebt sie sich von ihrem Stuhl.

Ich habe es geschafft, in jedem meiner Stunden neben ihr zu sitzen. Weil sie es irgendwie geschafft hat, überall allein zu sein – möglicherweise, weil sie sich manchmal so gerne reden zu hören scheint.

Oder aber, weil sie bestimmend ist. Vielleicht ist es auch einfach ihre Neugier.

Ja, rückblickend hat sie wohl einige herausstechende, negative Eigenschaften – oder zumindest Eigenschaften, die andere von ihr fern halten könnten.

Allerdings finde ich es nicht schlimm. Sie ist doch sehr nett.

Zusammen verlassen wir das Gebäude und zu meiner Überraschung entdecke ich an der Ecke einen schwarzen Pick-Up Truck, den ich mittlerweile ziemlich gut kenne.

„Meine Tante scheint gekommen zu sein, um mich abzuholen – wie fährst du nach Hause?“

„Auch kein eigenes Auto? Ich fahre mit dem Bus, weil meine Mutter mir ihres nicht leihen will – so ein Geizkragen...“

„Nein, ich hab auch keins – nur habe ich auch keinen Führerschein. Und naja, ich würde ja fragen ob du mit uns fahren willst, solltest du jedoch nicht auf der Ladefläche sitzen wollen, wird das wohl etwas schwierig werden.“

„Ist schon okay, ich fahre gern mit dem Bus“, kommt es von ihr und man kann den Sarkasmus förmlich riechen, ich lache jedoch ohnehin.

„Also dann, bis morgen…“

„Warte!“, ruft sie mir zu und ich halte inne, als ich mich gerade zum Gehen wenden will. „Ich habe noch was für dich – du bist ja noch in keinem Club, nicht wahr? Tja, ich wollte schneller sein, bevor du einen anderen Club findest. Hier!“ Mit einem blendenden, breiten Grinsen im Gesicht, hält sie mir einen Zettel unter die Nase.

Einen Zettel mit Daten. „Was ist das?“

„Das sind Datum, Uhrzeit und Klassenraum der regelmäßigen Treffen des Mythologie Clubs“, erklärt sie stolz.

„Mythologie Club?“ Ich kann nicht anders, als eine Augenbraue zu heben und sie anzusehen, als käme sie vom Mars.

„Hey! So schlimm ist das gar nicht, außerdem reden wir eigentlich nur über Urbane Legenden und sonstige Gruselgeschichten. Nur Mythen und Legenden der Art, die uns interessieren, keine langweilige Geschichte. Klar, wir haben ein paar Geeks, die das total faszinierend finden und auch darüber reden, aber ansonsten…“

„Also… ist es überhaupt kein Mythologie Club?“

„Nun, wie man’s nimmt, würde ich sagen. Wir brauchten schließlich einen Grund dafür, den Club zu gründen und die Schulleitung hätte es nie genehmigt, wenn sie wüssten, dass wir die finanzielle Unterstützung des Clubs dazu nutzen, uns Horrorfilme und Bücher zu beschaffen. Wir mussten den Club ja irgendwie pädagogisch wertvoll erscheinen lassen, oder so, damit sie zustimmen.“

„Äh, ist das nicht Betrug?“

„Nein!“, streitet sie mit viel Nachdruck ab. „Es ist aber manchmal nötig, ein bisschen die Regeln zu verdrehen, um zu bekommen was man will.

„Okay. Es ist Betrug“, stelle ich lediglich fest, nehme ihren Zettel jedoch an.

„Na, dann ist ja alles klar. Wir sehen uns morgen.“

Und weg ist sie. Das heißt dann wohl, ich bin ab jetzt in einem Club.

 

In… einem falschen Mythologie Club?

Chapter 7: Fighting Shadows

 

Das Reden tut dem Menschen gut,

wenn man es nämlich selber tut.

– Wilhelm Busch

 

 

„Ein Club? Was denn für einer?“, fragt meine Tante, die gerade an der Arbeitsfläche ihrer Küche steht und einen Pfefferminztee für uns beide aufbrüht.

„Sagen wir, es ist so etwas wie ein Buch Club – es geht jedenfalls um Geschichten…“, ist meine ausweichende Antwort. Wie erklärst du deiner rechtschaffenden Tante, dass du einem Club voller Betrüger beigetreten bist, die das – hoffen wir – ehrlich verdiente Geld unserer braven Steuerzahler verschwenden?

Ganz einfach: Du erklärst es gar nicht.

„Ach?“, meint sie und dreht sich kurz zu mir herum. „Na das klingt ja schön – das freut mich wirklich für dich, denn ich habe gesehen, dass du außer Lampen lediglich Bücher in dem Karton hattest – man könnte meinen, ein Mädchen in deinem Alter hätte viel Kleinkram, aber bei dir waren es nur Bücher und ein paar Kleidungsstücke. Wie kamst du überhaupt zu diesem Club? Musstest du lange suchen?“

„Eigentlich war es ganz einfach – mehr so, dass ich darauf gestoßen wurde. Oder auch gezwungen, denn das Mädchen, Chris, neben dem ich im Unterricht immer sitze, scheint manchmal kein Nein zu dulden und sie wollte mich im Club. Aber ich weiß eigentlich noch gar nicht, ob ich wirklich beitrete, wenn man es genau nimmt…“

„Das wird schon noch - vielleicht tun dir neue Bekanntschaften ja gut.“, versichert sie, als sie sich gerade ganz umdreht, um auf den Tisch zuzukommen. „Und du hast also bereits eine erste Freundschaft geschlossen, hm?“ In dem Moment wird auch schon eine dampfende Tasse Tee vor meiner Nase abgestellt. „Das ging ja richtig fix.“

Sie scheint sich wirklich für mich zu freuen, ich bin mir da allerdings noch immer nicht ganz sicher. „Naja, sie meint, da Freundschaften die an der High School geschlossen werden, sowieso nie länger als so weit halten, wäre es ja nicht schlimm, wenn man ‚nicht lange fackelt‘. Sie ist jedoch ziemlich nett, also wäre es schön, wenn sie wirklich meine Freundin bleiben würde… zumindest solange ich auf der Schule bin.“

Meine Tante setzt sich nun ebenfalls, mir direkt gegenüber.. „Solange du auf der Schule bist?“, wiederholt sie meine Worte etwas nachdenklich. „Wieso habe ich nur das Gefühl, dass du nicht nur davon sprichst, sie zumindest während der High School als Freundin zu behalten?“, fühlt sie mir ruhig auf den Zahn, als sie ihre eigene heiße Tasse an die Lippen hält, um einen Schluck Tee zu trinken.

Zu ruhig für meinen Geschmack.

„Nun ja…“ Kann ich dieser Konversation noch irgendwie ausweichen?

Scheinbar kann ich es nicht. „Was gibt dir das Gefühl, dass du nicht lange an der Schule bleiben wirst?“, hakt sie nach, diesmal klarer.

„Es ist nun einmal so. Beim letzten Mal, da…“

„Ich weiß vom Jugendamt, dass du sehr lange auf keiner Schule mehr warst und nur von zu Hause unterrichtet wurdest. Auch weiß ich, dass du zwei Tage vor dem Tod deiner Großmutter, wegen dem du ab da beurlaubt und dann abgemeldet wurdest, das erste Mal wieder auf eine richtige Schule gegangen warst. Und dass dort scheinbar der Vorfall mit deinen Haaren geschah – doch was genau vorgefallen ist, das weiß ich nicht. Das scheint keiner wirklich zu wissen“, unterbreitet sie mir offen ihre Informationen. „Willst du es mir erzählen?“

Nicht wissend, was ich darauf nun antworten will – denn offensichtlich, will ich es nicht – bleibe ich einfach stumm.

„Gut“, meint sie dann, noch immer ruhig. „Es ist in Ordnung. Denn ich muss gestehen, dass ich selbst bereits etwas in die Wege geleitet habe, was deine Phobie angeht.“

Plötzlich hellhörig, sehe ich etwas erschrocken zu ihr auf. „Was meinst du?“

Doch Sara bleibt stumm, als würde sie jedes Wort, welches sie gleich spricht, erst einmal abwägen und prüfen müssen, damit ich mich nicht angegriffen fühle, oder anderweitig wütend werde. „Nun, da es dir nicht gut zu gehen scheint, wollte ich, dass du mit jemandem darüber sprichst – über alles was dir bisher geschehen ist. Ich weiß, es wird schwer werden, aber es wird keiner davon erfahren, sollte es dir peinlich sein. Die Sitzungen werden nicht mit deinen schulischen Aktivitäten ins Gehege kommen, dafür sorge ich. Aber ich möchte, dass du dir helfen lässt – es ist bitter nötig. Ich kenne zumindest einen Teil deiner Akten, Carrie, ich weiß, dass du seit damals bei keiner psychologischen Hilfe mehr warst und da war es bereits viel zu wenig, da deine Großmutter scheinbar nichts davon hielt.“

„Genau, das tue ich nämlich auch nicht!“, entgegne ich in einem unumstößlichen Ton fall und stehe mit einem Ruck von der Sitzfläche auf. „Und ich werde auch mit keinem Therapeuten sprechen – Ich bin nicht verrückt! Vielleicht nicht ganz normal, aber doch nicht völlig gestört…“, entgegne ich energisch.

Irgendwie fühle ich mich den Tränen nahe, obwohl es dafür eben noch kein Zeichen gab. Mein Blick senkt sich auf die Hände, welche auf der Tischplatte aufliegen in dem Versuch mich zu beruhigen.

Es scheint, als sei vor einer Sekunde noch alles in Ordnung gewesen, und jetzt?

Plötzlich liegt eine Hand auf meiner Schulter. Wann ist sie aufgestanden?

Irgendwann in der Zeit, als mein Blick nach unten gefallen war und ich damit beschäftigt gewesen bin, mich zu bemitleiden oder was auch immer, scheint sie jedenfalls den Tisch umrundet und sich hinter mich gestellt zu haben. Gerade rechtzeitig, als erste Tränen über meine Wangen kullern.

Ich zerbreche. Ohne es wirklich registriert zu haben.

„Du musst deshalb nicht weinen und es heißt auch sicher nicht, dass du gestört wärst. Es ist nicht schlimm sich einzugestehen, dass es einem nicht gut geht.“ Sie geht neben dem Stuhl in die Knie und fischt ein Taschentuch aus einer Packung auf dem Tisch, um es mir in die Hand zu legen. „Es bedeutet einfach nur, dass du mit jemandem sprechen musst und es auch tust. Und es wird dir danach sicher besser gehen.“

Ich schniefe einmal kurz und wische mir einige Tränen aus dem Gesicht. „Woher willst du das wissen?“

„Ganz einfach, weil ich an diesem Punkt ebenfalls schon angekommen war.“ Eine Strähne meiner kurzen Haare fällt mir über die Augen und sie streicht sie so weit es geht zur Seite. „Damals, nach dem Autounfall, da lag ich beinahe ein Jahr lang im Koma, das solltest du wissen. Ich habe damals nicht nur meinen Ehemann, sondern auch mein Baby verloren, auch das solltest du wissen. Ich war allein, als ich aus meinem einjährigen Schlaf erwacht bin. Habe nur erfahren, dass nun auch deine Mutter und ihr Mann nicht mehr da waren, so wie meine eigene Familie. Ich konnte dich nicht sehen, weil ich mich nicht getraut habe. Am liebsten hätte ich mich verkrochen…“

„Und wieso hast du es nicht einfach getan?“, will ich von ihr wissen.

Sie sieht kurz zu Boden und atmet kurz durch, ehe sie wieder aufsieht, dabei fallen einige ihrer roten Haare nach vorn, so dass sie aus dieser Höhe beinahe auf dem Teppich aufliegen. „Weil ich überlebt habe.“

Ich schniefe erneut und wische mir mit dem Taschentuch auch über die Nase. „Wie meinst du das?“

„Als ich aufgewacht war, war ich zwar allein, doch habe ich realisiert, dass ich die einzige war, die es überlebt hat. Dass ich nicht etwa die einzige war, die all dem entgehen konnte, sondern die einzige, die noch lebt – die für sie noch lebt. Es heißt zwar nicht, dass ich mein Leben nun nach dem richten muss, was sie für mich wollten, oder nach ihren Vorstellungen und Wünschen den Rest meines Lebens zu verbringen habe, doch es heißt sehr wohl, dass ich froh sein sollte, diese Chance überhaupt erhalten zu haben“, erklärt sie ruhig, „Dass ich die Chance habe, zu leben. Und glücklich zu sein. Einen neuen Anfang zu wagen. Ja, vielleicht habe ich viel verloren, aber genauso viel gewonnen. Ich kann noch einmal anfangen und nur weil ich das getan habe, bin ich heute noch da. Und ich bin für dich da. Ich habe mir damals geschworen, im Leben nie wieder mehr zu weinen, als zu lachen. Ich lache lieber, als traurig zu sein und weine nur noch, wenn es wirklich an der Zeit ist. Und das wäre heute nicht der Fall, wenn ich damals nicht mit irgendjemandem gesprochen hätte – Carrie, man kann nicht alles allein schaffen, es geht einfach nicht. Wir Menschen sind sozial veranlagt und das gilt nicht nur für die glücklichen und schönen Dinge, die man gerne mit anderen erlebt, sondern es gilt besonders für die schweren und schlimmen Erinnerungen, die man mit anderen teilt, damit sie leichter für einen werden.“

Mein Nicken ist eher langsam, dennoch verstehend. Ich weiß ja was sie meint.

Doch es ist nicht einfach. Es sich einzugestehen – dass man Probleme hat, meine ich. Meist denkt man doch, dass alles in Ordnung ist; Dass man schon alles selbst hinbekommen kann, auch wenn man tief im Inneren genau weiß, dass man sich doch nur selbst belügt.

„Und genau deshalb, habe ich den Termin für dich gemacht. Bitte, versuche es wenigstens. Es ist ein Therapeut aus Deutschland, sein Name ist Dr. Klein und er ist besonders auf die Behandlung von Phobien spezialisiert.“

Nach einem Moment der Stille, ringe ich mich zu einer Antwort durch. „Wann soll der Termin sein?“

„Naja, ab morgen. Jeden Abend – aber keine Sorge, die Termine sind erst einmal unverbindlich, das heißt, du gehst wenn du gehst und kommst nicht, wenn du nicht kommst. Man sollte es nur vorher absagen. Unter anderem hatte ich die Anweisung dich zu einem Therapeuten zu schicken von den Behörden – oder naja, man hat es mir jedenfalls angeraten, weswegen die Sitzungen auch erst einmal, finanziell gesehen, übernommen werden. Daher weiß ich nämlich, dass du im Grunde noch nie wirklich in Behandlung warst, was bei deiner Vorgeschichte mehr als unglaublich ist und es nicht mehr überraschend macht, dass etwas Großes daraus entstanden ist, wie eine schlimme Phobie zum Beispiel.“ Sie schüttelt den Kopf. „Ich kann nur einfach nicht verstehen, wie deine Großmutter es soweit hat kommen lassen können, wirklich nicht…“

„Es ist nicht ihre Schuld…“

„Das sage ich auch gar nicht“, entgegnet sie gleich, „aber sie hätte es besser wissen müssen. Sie hätte etwas unternehmen müssen.“

Ich sehe Sara, die sich wieder erhebt und langsam an ihren Platz zurückgeht. „Das hat sie. Sie hat mir geholfen. All die Jahre.“

„Aber es wurde nicht besser, oder?“, hakt sie nach.

Ich sage nichts. Und sie ebenso wenig.

Sie sieht mich eigentlich nur mit einem eisernen Blick an.

Doch es scheint, als wisse sie was ich denke. Als müsse ich nichts mehr sagen…

Weil alles Wichtige bereits gesagt ist.

 

Ein bisschen auf meinem Platz von links nach rechts rutschend, irgendwie niemals eine auch nur annähernd angenehme Position findend, sehe ich mich in dem kleinen Warteraum um.

Ist er absichtlich so konzipiert, dass man schreiend davon laufen möchte, schon bevor man dem Doktor überhaupt erst begegnet ist? Ich denke nicht – aber ich denke auch, dass sie einen neuen Innenraumdesigner brauchen.

Plötzlich kommt eine dunkelblonde Frau in einem grauen Anzug in den Raum – einer von diesen, zu denen ein seltsamer, enganliegender Rock gehört. Sie hält ein Klemmbrett im Arm und sieht mich an – laut Namensschild ist es Claudia Hankle. „Du bist Carrie, nicht wahr?“, meint sie mit zuckersüßer Stimme.

Ich weiß nicht, ob ich zurückschrecken, oder einfach still sitzen bleiben soll. „Ja, das bin ich.“ Es war meine eigene Idee, hier allein herzukommen.

Also ist es auch meine eigene Schuld, dass ich mir jetzt wünschen muss, ich hätte nicht so entschieden. Ich bin ganz allein daran schuld.

„Wenn du möchtest, kannst du jetzt mitkommen.“ Mich langsam umsehend, stehe ich unbeholfen auf und folge ihr. Mein Körper wiegt schwer wie Blei.

‚Und was, wenn ich nicht möchte?‘, hänge ich in Gedanken an – doch die fröhliche Frau ist bereits auf dem Weg und weist mich an, ihr zu folgen.

Der Raum, in dem ich ab jetzt ausgequetscht werden soll, ist etwas anders als der Warteraum. Ähnlich farblos, doch irgendwie trotz allem nicht gar so ungemütlich.

Auch wenn der eindringliche Blick des etwas älteren Mannes – welcher an seinem Pult, in der von mir aus rechten Ecke sitzt – mich ein wenig einschüchtert. Er sieht mich über die Gläser seiner leicht nach unten gerutschten Brille hinweg, an. Das schüttere Haar auf seinem Haupt ist bereits fast weiß geblichen.

Er rückt die Sehhilfe zurecht und erhebt sich, ehe er beinahe unmerklich nickt und die Tür in meinem Rücken, hinter der Sekretärin ins Schloss fällt. „So, Carrie – ich darf dich doch Carrie nennen, oder?“, erkundigt er sich sofort. „Ich bin da nie so förmlich, aber manche Leute, gerade junge Menschen wie du, möchten dass ich sie wie Erwachsene behandle.“

Leicht schüttle ich den Kopf, bis ich merke, dass er sich eigentlich kaum bewegt. „Nein, kein Bedarf... ich bin ja auch noch nicht erwachsen“, erwidere ich wahrheitsgemäß, jedoch mit merkwürdig dünner Stimme.

Himmel, Carrie – du wirst doch wohl jetzt nicht vor Angst erstarren, nur wegen eines alten Mannes?

Er lacht ein wenig auf und sofort erinnert er mich an einen dieser alten Opas aus Filmen – an diese lieben Großväter. Doch mein Stolz will nicht zulassen, ihn für sympathisch zu halten, weswegen ich weiterhin still halte und ihn nur observiere. „Weißt du, Carrie, indem du das zugibst, bist du schon weitaus erwachsener als die meisten Leute, die sehr viel älter sind als du.“

Ich sehe ihn weiterhin an, bis er plötzlich verwirrt zu mir sieht.

„Oh nein, wo sind nur meine Manieren – setz dich, setz dich…“, meint er und zeigt auf das Sofa, an der linken Wand des Raumes. Es ist offenbar aus schwarzem Leder gemacht und ganz klar für die Patienten. Vor dem Sofa steht nur ein kleiner Kaffeetisch und dahinter, direkt gegenüber der Couch, befindet sich ein Sessel.

Ich tue wie mir geheißen, lasse den älteren Herrn jedoch nicht aus den Augen, als er noch ein paar Mal im Raum von links nach rechts tapert – von einer Seite eine Tasse nimmt, auf der anderen eine Kanne abgreift, dann alles zusammenführt und wieder zu einem anderen Tisch geht, um Zusätze und einen Löffel zu finden. Als Letztes kehrt er zu seinem Schreibtisch zurück, greift dort nach einer zweiten Tasse, die dort schon stand als ich den Raum betreten habe, und eilt dann mit beiden zurück zu mir, nur um die Gefäße auf dem kleinen Tisch vor uns zu platzieren.

„Hier, bediene dich. Es ist normaler Kaffee – ich hoffe du magst Milch und Zucker? Ich hatte deine Tante danach fragen lassen, aber vielleicht hätte ich vorher sicher gehen sollen-“

„Nein, ist schon gut“, schalte ich mich ein und hebe abwehrend eine Hand. „Schon gut…“, wiederhole ich und nehme die Tasse, welche er frisch zubereitet hat.

Erst als ich mich daraufhin zurücklehne und mir das Aroma des Kaffees in die Nase steigt, kann ich etwas entspannter durchatmen. Meine Tante ist kein Mensch für Kaffee, weswegen ich selten welchen trinke, seit ich hier bin, obwohl ich ihn eigentlich liebe. Ich wusste bis eben nicht, wie sehr ich ihn vermisst habe.

„Also… was wissen Sie noch alles von meiner Tante?“, frage ich und bin ehrlich gespannt.

„Ach…“, beginnt er und setzt sich nun ebenfalls, mir gegenüber. „Nur das Nötigste. Ich bevorzuge, das was ich wissen möchte, von meinen Patienten persönlich zu erfahren. Auf der anderen Seite weiß ich jedoch, dass du das hier so schnell wie möglich hinter dich bringen möchtest und ich bin weiß Gott kein Mensch, der andere durch Dinge quält, die nicht nötig sind.“

Meine einzige Reaktion ist es, die ganze Zeit zu nicken. Wie ein Wackeldackel auf der Rückbank.

„Deshalb wäre es nett von dir“, fährt er fort, „wenn du mit mir und nicht gegen mich arbeiten würdest. Wir könnten damit beginnen, dass du mir ein paar Dinge von dir erzählst. Und dann kommen wir zum Kern des Ganzen. Aber beginnen wir erst einmal mit den Symptomen. Und damit, wie du dich mit ihnen fühlst – mit deiner Angst. Scheinbar haben auch deine Haare irgendetwas Besonderes an sich – das sie so kurz sind. Erzähl mir doch ein wenig, wie du bisher gelebt hast. Das ist alles, was ich heute von dir erfahren möchte.“

Ich sehe ihn an und langsam ebbt das stete Vor und Zurück meines Kopfes ab, während ich den Blick zur Tasse mit dem schwarzen Inhalt in meiner Hand senke. „Wie ich gelebt habe…?“, wiederhole ich leise. „Ich habe die letzten zehn Jahre bei meiner Großmutter verbracht, aber gelebt…?“ Kurz lache ich etwas hohl auf und sehe nach oben zur Decke, nur um den Blick sofort wieder zu senken. „Man könnte eher sagen, ich habe überlebt.“

„Überlebt?“, hakt er nach.

„Ja, überlebt. Denn ich war schwach und ich bin es noch.“ Nach einer meiner kurzen Strähnen greifend, zeige ich sie nach vorn. „Sie wollen wissen, was damit war? Das war ich. Mit einer Scherbe – von einer Scheibe, die ich angeblich eingeschlagen habe, doch ich war es nicht. Ich weiß auch nicht, wer es war. Doch es war am zweiten Tag, als ich nach Jahren endlich wieder zur Schule durfte. Einen Tag bevor sie…“ Kurz stocke ich, ehe ich weiter erzähle. „Ich habe einfach nur in diesem Gang gestanden. Plötzlich waren sie da – die Schatten. Ich habe mich nach vorn gebeugt, um die Scherben zu berühren, die plötzlich zu meinen Füßen lagen. Einfach so – es war wie ein Reflex. Und mein langes Haar viel nach vorn; warf einen schwarzen, großen Schatten, genau auf meinen Hals. Und da waren diese Hände – sie würgten mich, verstehen Sie? Also hatte ich keine andere Wahl – ich griff nach einer der Scherben und schnitt sie mir ab. Alle. So schnell ich konnte. In meinen Händen waren tiefe Einschnitte und mein Gesicht habe ich mir auch zerkratzt. Dann war plötzlich die Polizei da und hat mich mitgenommen. Nach Haus gebracht – zu Großmutter.“ Ich erhebe mich und schlage meine Hände zu meinen Seiten in die Hose, bis die Fingernägel sich in meine Oberschenkel bohren. Ich kann meine Stimme langsam zittern spüren. „Sie hat mich gelehrt, wissen Sie? Wie man überlebt. Wie man vor den Schatten flieht und sich wappnet. Wie man sein Zimmer einrichtet und es beleuchtet, damit einem nichts geschehen kann. Wo und wie man das Haus sichert. Wie man schläft. Was man trägt und mit wem man Kontakt hat. Und ich habe alles gelernt. Ich habe zugehört und es verinnerlicht, aber dann, vor einigen Tagen, da ging sie raus. Aus ihrem Zimmer, mitten in der Nacht. Und sie ging in den Keller – welchen ich nicht einmal betreten hätte, wenn es mir erlaubt gewesen wäre. Sie ging im Dunklen in den Keller und stürzte die Treppe hinab. Einfach so. Und es ergab keinen Sinn – es wird nie Sinn ergeben!“ Erst jetzt realisiere ich, wie ich mit jedem Wort hysterischer und lauter wurde. Ja, das ich am Ende beinahe schrie.

Und doch hat er mich nicht gestoppt. Hat mir einfach freien Lauf gelassen, bis ich los war, was ich so dringend loswerden wollte.

Er sieht mich auch nicht geschockt an. Nicht überrascht und nicht verwundert.

Ist es, weil er ein alter Mann ist, der schon viel gehört und viel gesehen hat?

Oder ist es, weil er ein alter Therapeut ist, der schon viel mehr gehört und viel mehr gesehen hat, als ich es mir je vorstellen könnte?

Wie dem auch sei. Ich habe das Gefühl, als sei ich nun etwas leichter – als sei ein kleiner Teil meiner Last verschwunden, die ich seit einer Weile schon zu spüren hatte, während ich mich nun langsam setze.

Die Kaffeetasse muss ich beim Aufstehen zu Boden geworfen haben. Vielleicht sogar schon vorher.

Ich sehe ihn erneut an und sein Blick wirkt fragend. „Besser?“

Wieder nicke ich, diesmal jedoch etwas ehrlicher als zuvor – mit etwas mehr Bedacht.

Er seufzt nur kurz und sieht mich dann eindringlich an. „Weißt du weshalb Menschen Angst haben?“, fragt er mich und ich sehe ihn verwirrt an. „Ihre Angst rührt von dem Gefühl her, keine Kontrolle zu haben.“

Ich atme einmal tief ein und dann wieder aus. „Wenn ich also das Gefühl hätte… Also, wenn ich in der Lage wäre zu kontrollieren, wie ich mich fühle, oder naja… wenn ich mich immer stark fühlen würde, als könnte es mir nichts anhaben, dann hört die Angst auf?“

Er zieht die Augenbrauen in einer abschätzend wirkenden Geste nach oben, die etwas komisch aussieht. „Nun ja, du hast Angst, weil du keine Kontrolle fühlst – du fühlst dich der Situation nicht gewachsen. Und dann bekommst du Angst, weil du keine Macht darüber hast, was geschehen wird. Wenn du dieses Gefühl bekämpfst, dann bekämpfst du auch die Angst, denn du musst dir immer im Klaren sein, dass das einzige vor dem du wirklich Angst haben musst, die Angst selbst ist. Es gibt in den Schatten nichts, vor dem du dich fürchten müsstest; keine Monster unter dem Bett.“, erzählt er und es könnte mir nun peinlich sein, dass er vermutlich von diesem dämlichen Anfall an meinem ersten Abend hier in Lafayette gehört hat.

Doch ich lasse es mir nicht anmerken. „Es heißt also, ich habe nichts vor dem ich Angst haben muss. Erst das Gefühl, dass ich den Schatten unterlegen bin, macht mir also genug Angst, um mich Dinge sehen zu lassen, die meine Angst weiter schüren? Habe ich das richtig gedeutet?“

„Mehr als richtig. Großartig sogar. Ich wünschte viele Patienten von mir hätten einen solch wachen Verstand.“, sagt er und lacht ein wenig, scheinbar auch einfach um die Stimmung zu lockern.

Er ist mit Sicherheit nur nett zu mir, doch das Lob tut dennoch irgendwie gut.

Und zu meinem eigenen, grenzenlosen erstaunen, muss ich lachen. Es ist auch kein kleines Lachen.

Nein, ich beginne plötzlich zu lachen und höre nicht mehr auf, ehe mir die Puste ausgeht und ich erst einmal einige Sekunden brauche, um mich wieder zu fangen.

Wann habe ich zuletzt so gelacht?

Und warum eigentlich?

Ich kann es nicht sagen, jedoch weiß ich Eines sicher…

 

Ich kann endlich wieder atmen.

Chapter 8: Whispering Shadows

 

„Mein ganzes Wesen verstummt und lauscht,

wenn der leise geheimnisvolle Hauch des Abends mich anweht.“

– Friedrich Hölderlin

 

 

„Wow, ehrlich?“, höre ich eine Stimme die ich noch nicht kenne. Eine männliche Stimme – auch wenn ‚männlich‘ doch schon wieder zu viel gesagt ist.

Es ist eher ein Junge. Noch kaum im Stimmbruch – Alter nicht zu schätzen.

„Ja, ehrlich Warren. Problem damit?Diese Stimme erkenne ich allerdings auf Anhieb und der Tonfall lässt mich grinsen, obwohl ich nicht einmal weiß worum es eigentlich geht, als ich so in der Nähe der Tür zum ‚Mythologie-Club‘ stehe – unentschlossen, ob ich wirklich eintreten soll.

Doch das Grinsen verrutscht schlagartig, als sich eine weitere Person zu Wort meldet. „Er hat aber doch Recht!“, meint wieder ein anderer Junge. „Sie gehört nicht zu uns – ist dir klar, was man sich über sie erzählt? Mein Dad ist Polizist und er sagte selbst, dass sie von ihrer letzten Schule geflogen wäre, wäre ihre Großmutter nicht eh abgekratzt. Sie hat dort eine Scheibe eingeschlagen, in Folge eines psychischen Zusammenbruchs, oder sowas in der Richtung. War jedenfalls total verrückt, meint mein Vater – er hat die Unterlagen wegen ihres Schulwechsels bekommen.“

Nun höre ich erneut Chris, die nur genervt schnaubt. „Ach ja? Wenn dein Vater diese Unterlagen eingesehen hat, dann sicher nicht auf dem normalen Dienstweg, du Amöbe – so etwas hat nichts mit einem Schulwechsel zu tun. Und selbst wenn sie eine Akte hat, ist sie ein nettes Mädchen – tun wir nicht alle irgendwann mal verrückte Dinge? Also halt bloß die Klappe, Mr. Ich-brech-das-Auto-eines-Lehrers-auf-und-stehle-die-Prüfungsergebnisse.“

Ich weiß nicht, was danach geschieht, denn ich drehe mich lediglich um, um zu gehen. Zwar bin ich Chris wirklich dankbar, dass sie mir geholfen hat, doch das macht es nicht besser.

Lügen konnte ich abwehren – konnte darüber lachen, solange es nicht zu haarsträubend war – doch was tue ich, wenn es die Wahrheit ist? Wenn die verrückteste Geschichte die ist, die sich wirklich zugetragen hat?

Was tue ich dann?

Seufzend schließe ich einen Moment die Augen, und setze mich dann in Bewegung – wobei ich jedoch vor Schreck erstarre, als ich plötzlich mit etwas kollidiere. Oder eher mit jemandem – einem Mädchen. Welches ich bereits einmal gesehen habe.

„Oh, hey… tut mir furchtbar leid. Ist alles in Ordnung?“, frage ich nervös und sehe mich leicht desorientiert um.

„Alles ist gut – es war auch meine Schuld.“

Erst nicke ich, wie aus Reflex, schüttle dann jedoch den Kopf. „Nein… nein, es war meine Schuld. Ich hätte die Augen auf machen sollen. Tut mir wirklich leid.“ Schnell sehe ich mich um, um sicher zu gehen, dass nicht allzu viele Menschen auf dem Gang sind, und vielleicht niemand auf dem Club-Raum meine Anwesenheit bemerkt hat. „Jedenfalls… muss ich jetzt gehen. Wiedersehen.“

Schnell eile ich an ihr vorbei – dem Mädchen mit der Brille und der Zahnspange. Wie hieß sie noch gleich? Ich weiß es nicht mehr. Eigentlich achte ich nicht mehr auf ihre Entgegnung, doch was mir im Gedächtnis bleibt, ist ihr Blick.

Als ich an ihr vorbeigehe, und diese stechenden Augen aus der Nähe sehe.

Wenn ihr ehrlich bin, macht sie mir noch immer Angst – doch ich sollte vielleicht aufhören, so paranoid zu sein. Der Unterricht ist für heute vorbei…

Ich sollte langsam von hier verschwinden.

 

Erneut sitze ich in diesem Raum. Warte darauf, dass Ms. Hankle mich abholt und zu Dr. Klein bringt. Gestern hatten wir zwar noch gesprochen und die Sache etwas aufgelockert...

Doch leicht ist es noch immer nicht. Hier zu sein.

„Guten Tag, Carrie – wie geht es dir denn heute?“, fragt er ruhig.

Ich überlege kurz. „Gut. Ich bin heute offiziell einem Club beigetreten. Habe mit Menschen gesprochen. Und es gab keine Zwischenfälle – worüber ich allgemein sehr froh bin“, plappere ich so vor mich hin, während ich auf die Couch zugehe, die ich am vorigen Abend etwa um dieselbe Zeit, ebenfalls für mehr als eine Stunde beansprucht hatte.

Wenn ich nun so darüber nachdenke, kam mir die Zeit gar nicht so lange vor – ich war regelrecht geschockt, als ich auf die Uhr sah. Vielleicht ist reden wirklich nicht so schlimm, wie ich immer dachte.

Vor allem mit Menschen, die einen nicht sofort verurteilen.

„Ah, was denn für ein Club?“

„Oh…“ Mein Mund schnappt kurz auf und zu, wie bei einem Karpfen – wieder diese Frage. Was soll ich sagen? „Ein Buch Club? Ähm, nun so etwas in der Art, jedenfalls…“, meine ich nur. Wird das nun die offizielle Version sein?

Ich beginne langsam, mich zu hassen…

„Na, das klingt doch fabelhaft. Und wie gefällt dir das Dasein in der Gruppe?“ Er ordnet noch einige Papiere, während er spricht, ehe er von seinem Schreibtisch zurücktritt und langsam auf seinen Sessel zukommt. „Wie kommst du mit den anderen Mitgliedern zurecht?“

„Sicher… Gut. Alles bestens“, antworte ich schnell. Zu schnell. Denn in dem Moment denke ich an diese Szene – das, was heute nach dem Unterricht geschah.

Und seltsamerweise taucht auch ein bestimmtes Gesicht vor meinem geistigen Auge auf. Das Mädchen aus der ersten Stunde, welches mir so seltsam unheimlich erschien und gegen dessen Sitznachbarschaft ich mich zu diesem Zeitpunkt entschied – und immer wieder entscheiden würde – war ebenfalls im Club, oder schien zumindest dort hin zu wollen. Und sie ist mir kein bisschen weniger unheimlich am an jenem ersten Schultag. „Nun, eigentlich gibt es da schon ein Mädchen, welches etwas seltsam ist. Sie sieht mich immer so eindringlich und intensiv an – auch im Unterricht. Es ist regelrecht furchterregend. Aber solange sie kein Stalker ist, bin ich nicht weiter besorgt, daher…“

„Ah, verstehe. Das klingt wirklich schön – also, dass du dich so gut mit den anderen verstehst“, meint er. Wenn er wüsste… nun, ich will ja nicht, dass er es weiß. „Und es gab auch keine ungewöhnlichen Vorkommnisse? Keine Stimmen? Oder ähnliches?“, erkundigt er sich und schlägt ein Notizbuch auf, das er auch den gestrigen Abend die ganze Zeit mit sich geführt und mit Notizen – wohl über mich – versehen hatte.

„Nein“, sage ich bestimmt. Am Vorabend muss ich wohl das erste Mal darüber gesprochen haben, was mir erst in diesem Moment, recht peinlich bewusst wird.

Ja, ich erzählte ihm nicht nur von den Erscheinungen – den Händen die ich sehe. Spüre.

Sondern auch davon, dass ich Stimmen höre. Nur ganz selten, aber manchmal, da höre ich sie. Die Stimme aus den Schatten. Ich denke, es ist immer nur eine, aber ich bin dann jedes Mal so durcheinander, dass ich sie weder zuordnen, noch irgendwie filtern kann.

Es klingt, als wären es viele Stimmen auf einmal – oder eine Aufnahme überlagerte eben eine Andere, Identische. Es tut weh, hinzuhören.

Und es macht mir Angst. Ich habe nicht einmal meiner Großmutter davon erzählt, doch ich dachte gestern, das hier sei vielleicht der richtige Ort dazu.

Nachdem ich eine Nacht darüber geschlafen habe, ist mir das Wissen, das dieser ältere Herr vor mir nun über mich hat, allerdings irgendwie nicht mehr ganz geheuer. Vor allem aber ist es mir peinlich.

Dass er Dinge weiß, die niemand wissen sollte. Für die mich jemand über Jahre in eine Gummizelle sperren könnte, wenn er wollte.

Ich seufze und sehe ihn an. „Ich dachte, wir wollen das hier schnell klären? Sie meinten doch selbst, es gäbe eine schnelle Methode um gegen die Phobie anzukommen.“

Er senkt das Buch noch ein wenig und sieht mich dann an. „Weißt du, Carrie, ich sagte zwar, dass ich versuche es auf die schnellste Möglichkeit zu schaffen, die bei dir möglich ist, doch ob es auch funktioniert – das ist eine völlig andere Geschichte. Es wird auch nicht in zehn Minuten funktionieren-“

„Und in wie vielen Minuten dann?“, falle ich ihm etwas schnell ins Wort, weswegen ich mich zwar kurz schlecht fühle, es aber dennoch nicht zurücknehme oder entschuldige. „Ich möchte es so schnell klären, wie es nur möglich ist.“

Nun ist es an ihm zu seufzen. „Also gut. Aber dazu müssen wir an den Ursprung zurückkehren – den Ursprung deiner Angst. Den Ursprung allen Übels.“

Schnaubend schüttle ich den Kopf. „Wissen Sie von meiner Tante nicht, dass unklar ist, woher diese Phobie kommt?“

„Nein, was ich von deiner Tante weiß, ist, dass du nicht sagen willst, was der Ursprung deiner Angst ist. Ich denke, dass du es ganz genau weißt und ich denke auch, dass ich es weiß. Ein großes Ereignis in deinem Leben“, meint er und ich schüttle bereits den Kopf, „vor dem Verlust deiner Großmutter…“

„Nein!“, falle ich ihm erneut ins Wort und diesmal tut es mir nicht einmal ein bisschen leid. „Ich kann darüber unmöglich sprechen.“ Meine Stimme ist stark. Klingt sicher. Doch im Hintergrund tobt ein Orkan.

Mich plötzlich erhebend, stürme ich auf die Tür zu und öffne sie, noch ehe er mir folgen kann.

Als er wieder zu einer Entgegnung ansetzen will, wimmle ich ihn nur ab. „Das war mein letztes Wort. Ich habe Jahre gebraucht, die Alpträume los zu werden und ich bin froh, dass ich mich nun nicht einmal an sie erinnern kann, also lassen sie mich damit gefälligst in Ruhe, klar?!“

Und mit diesen Worten bin ich auch schon verschwunden.

Ich weiß nicht, ob es die richtige Entscheidung ist.

Ich weiß nur, dass ich mich fühle, als müsste ich weinen, doch ich kann nicht.

Und meine Schwäche ruft Kopfschmerzen hervor.

Wieso immer ich…?

 

Seufzend setze ich einen Fuß vor den anderen. Es ist furchtbar. Und heute ist erst Donnerstag.

Erst als ich meinen Namen von hinten höre, bleibe ich stehen und sehe mich zur Quelle der Stimme um. „Ja?“

Chris kommt auf mich zu und schlägt mir auf die Schulter. „Na, kommst du nun?“

Ich sehe sie verwirrt an, als sie mich bereits weiter zieht. „Hä? Wohin denn?“, frage ich und will stehen bleiben, doch es geht einfach nicht recht.

„Ach Spatzenhirn – das Club-Treffen natürlich! Wir haben dich gestern bereits erwartet, aber du bist einfach nicht aufgetaucht!“, meckert sie und sieht kurz zu mir, nur damit ich zusehen kann, wie sie mit den Augen rollt. Vielen Dank auch.

„Ach, woher soll ich das denn bitte wissen…“

„Weil ich es dir gesagt und auch aufgeschrieben habe? Wir hätten gestern so viel Spaß haben können, aber gut – vorbei ist vorbei. Dafür ist ja heute auch noch ein Tag. Ich dachte Stephen King‘sCarrie‘  wäre eine echt gute Idee – du nicht auch?“ Ihr verschmitztes Grinsen zieht sich von einem Ohr zum anderen, als würde es jeden Augenblick ihren Kopf spalten wollen. Gruselig.

Aber ja, der Film… Tja, sie ist wirklich nicht schlecht, das muss ich ihr lassen. Und die Gesellschaft tut vielleicht gut. Aber ich weiß noch immer nicht, ob ich wirklich Mitglied in ihrem etwas fragwürdigen Club werden will – egal was ich während der Sitzung bei Dr. Klein gesagt habe. Die Leute wollen mich doch offensichtlich nicht.

Doch noch ehe ich bei dem Gedanken an die Sitzung vom vorigen Abend so viel tun kann wie seufzen, werde ich schon in einen Raum gezogen, der mir eine Sekunde lang den Atem raubt.

Es ist vermutlich derselbe Raum, den ich beim letzten Mal beinahe betreten hätte, nur mit einem Unterschied…

Hier ist es dunkel.

 

Nun, wenn ich ehrlich bin, ist es zumindest nicht richtig finster. Es ist eher sehr… schattig.

Die Jalousien sind geschlossen, wo sie am Vortag noch geöffnet waren, so dass Licht aus der Tür auf den Flur drang. „Warum ist es hier so dunkel?“

Sie sieht mich an, als käme ich vom Mond. „Das hier ist ein Club, in dem wir gerne Filme gucken, verstehst du?“ Artikuliert sie überdeutlich, während ich mich von Sekunde zu Sekunde unbehaglicher fühle. Es ist ja nicht die Dunkelheit die ich fürchte.

Und auch nicht diese leicht grauen Schattierungen.

Es sind die schwarzen Schatten. Die dunkelsten. Die, die ich in der Dunkelheit nicht sehen kann.

Als ich nichts erwidere, scheint sie sich wieder zum Reden animiert zu fühlen. „Man sieht Filme nicht im Licht, schon gar keine Horrorfilme, weißt du das denn nicht?“

Nein. Denn ich sehe keine Horrorfilme. Der Grund, weshalb ich weder Carrie, noch Christine, oder meinetwegen auch die heilige Magdalena, je gesehen habe! Und vor allem nicht im Dunklen!

Ich erwidere nichts.

Sie sieht mich des Weiteren nur von der Seite an, bis sie plötzlich mit den Schultern zuckt und sich auf eine der Schulbänke setzt, welche mir gegenüber an der Wand stehen. „Gestern war es hier tatsächlich hell, weil die elektrischen Jalousien kaputt waren – aber sie wurden repariert. Du hättest gestern auftauchen sollen, wenn es dir nicht gefällt“, erklärt sie weiter. „Schließlich war das hier mal ein Musikraum, aber dann war er viel zu klein, wegen der Anschaffung eines Pianos – nun ist es nur ein leerstehender kleiner Raum, den manche Clubs noch nutzen. Wenn also etwas kaputt geht, ist das nichts Neues. Genau genommen, waren die Fensterläden hier schon eine Woche kaputte und es ist gut, dass sie endlich wieder laufen – es war zum verrückt werden.“

Ich nicke nur abwesend, als sie ihr Handy aus der Hosentasche zieht um scheinbar irgendetwas nachzusehen.

Es ist so seltsam still. Klar, die anderen sind nicht hier, aber sollte es nicht dennoch etwas lauter sein? Geräusche von draußen zum Beispiel?

Langsam atme ich durch. „Die anderen kommen heute etwas später, oder gar nicht.“ ‚Wegen dir‘, wird sie vermutlich in Gedanken ergänzen – warum auch sonst? „Ich weiß es von allen, außer von… Ella“, speit sie praktisch den Namen aus. Ich scheine wohl nicht die einzige zu sein, die ein Problem mit ihr hat.

Es fiel mir auch eigentlich schon in den vergangenen Schulstunden auf – da wurde sie von allen gemieden und nicht nur gemieden, sondern auch ignoriert. Ich habe jedoch nicht nach dem Grund gefragt. An sich ist sie nicht besser dran als ich – seltsamerweise sogar schlimmer, wenn man es genau nimmt.

Vielleicht hätte ich ja fragen sollen, aber ich wollte irgendwie nicht.

Und wie es nun scheint, muss ich das jetzt ohnehin nicht mehr. „Sie ist so seltsam – wusstest du, dass sie eine obsessive Störung hat? Sie verfolgt Leute – wie ein Stalker. Und wenn sie einmal glaubt, sie sei mit jemandem befreundet, dann wird es im…“ Ihre Stimme wird lauter, doch ich höre sie kaum noch, bis ein Rauschen in meinen Ohren sie plötzlich gänzlich verdeckt, obwohl sich ihre Lippen noch immer bewegen.  Verdammt, was ist los?

Den Kopf schüttelnd und mir mit einer Hand auf die Ohren klopfend, sehe ich mich verwirrt um. Weshalb kann ich nichts hören? Scheinbar merkt auch Chris, dass etwas nicht stimmt.

„Hey, ist alles in Ordnung?“, scheinen ihre Lippen zu sagen. Ihr Blick wirkt besorgt, doch als ich zu ihr sehe, ist es nicht ihr Gesicht, welches meinen Blick auf sich lenkt.

„Wer bist du…?“, frage ich in den leeren Raum hinein, dicht über ihre Schulter. Eine Frage, die ich schon so oft gestellt habe, und zu der ich doch nie eine Antwort erhielt.

Bis heute nicht.

Ich frage die Gestalt, die ich hinter ihr sehe. Die Gestalt, welche sich aus dem deckenden Schatten zu erheben scheint.

Meine Magen dreht sich im Kreis, als ich eine Hand daraus hervorkommen sehe, welche nach meiner Mitschülerin greift.

Doch ich kann nicht atmen. Ich versuche sie zu warnen, doch ich kann nicht. Es kommt kein Ton heraus. Sie kommt auf mich zu; greift nach meinen Schultern um mich zu schütteln.

Aber wie soll ich etwas sagen? Wenn ich nicht kann, dann…

„Die Frage ist nicht wer, oder was ich bin…“ …was?

Die Stimme scheint das Rauschen in meinem Kopf nicht einmal zu übertönen – sie hat es nicht nötig. Sie scheint es eher zu kontrollieren. Es hört sich an, als käme die Stimme direkt aus dem Rauschen heraus.

Als sei sie die Stille, die mich umgibt. Und sie jagt mir eine fast schmerzhafte Gänsehaut über den Rücken.

Und sie dreht sich nicht um. Nein, sie sieht nur mich an. „Lauf…“, versuche ich zu sagen, doch ich kann nichts hören; nichts spüren. Meine eigene Stimme ist taub. Tot.

So lange, bis ich erneut diese Grauenhafte Stimme höre – so vertraut und doch so fremd. „Die Frage ist, wer oder was du bist.“

Es ist eine Frage, die mir durch Mark und Bein geht.

Sie ist wie eine Stimme, die ich Jahre nicht gehört habe. Wie etwas, das ich kannte und dann verlor.

Doch ich wünschte, ich hätte es nicht wiedergefunden… Was auch immer es sein mag.

Die Hand folgte ihr, vom Schatten an der Wand, bis zu mir in die Mitte des Raumes. Ich sehe nur die Hand, wie sie über Chis‘ Schulter hinweg greift; Nach mir greift.

Versuche zu schreien bleiben ohne Erfolg. Kein Ton will mich verlassen.

Schnell nehme ich meine Hände von den Ohren, auf denen sie automatisch gelandet waren; will nach Chris greifen um sie mit mir zu zerren, doch auch das geht nicht. Es ist, als sei ich in meinem eigenen Körper gefangen und dann…

Ist es plötzlich vorbei.

Als uns unerwartet ein Lichtstrahl trifft, der von etwas stammt, das sich hinter Chris befindet und nun ihren Rücken beleuchtet. Es ist die Tür.

Durch welche gerade jemand eintrat, über den wir vorhin noch gesprochen hatte. „Oh, Carrie, Chris - ihr seid ja hier. Sonst keiner?“, meint Ella und sieht uns erwartungsvoll an.

Scheiße…

 

Ich brauche so schnell wie möglich Hilfe.

Chapter 9: Vivid Shadows I

 

Seltsam ist es, dass wir in schlimmen Tagen uns die Vergangenen.

Glücklichen sehr lebhaft vergegenwärtigen können, hingegen in guten Tagen,

die Schlimmen nur sehr unvollkommen.“

- Arthur Schopenhauer

 

 

Ich sehe zu dem etwas hageren Mann, der auf seinem Sessel sitzt und von einer Tasse Kaffee aufsieht, während meine Gedanken sich im Kreis zu drehen scheinen.

Sein weißgrau meliertes Haar ist ordentlich zurückgekämmt und die schwarze Brille sitzt wieder tief auf seiner Nase, ehe er sie mit einer gewohnten Bewegung zurück nach oben schiebt – dorthin, wo sie eigentlich sein sollte.

Bewegungen, die ich mittlerweile nur allzu gut kenne – denn ich beobachte ihn, so wie er mich beobachtet.

„Guten Abend, Carrie“, hallt seine ruhige, tiefe Stimme von den Wänden wider.

Das sanfte Lächeln auf seinen Zügen verblasst jedoch, als er meine etwas verkrampfte Haltung sieht.

Nach dem, was er in der letzten Sitzung mitangesehen hat, und wenn man bedenkt, welchen Tag wir heute haben, ist es… egal.

„Guten Abend, Dr. Klein“, antworte ich nichtsdestotrotz.

Er weist mit einer Hand auf den üblichen Platz – dem schwarzen Sofa – der auch sonst immer von mir in Beschlag genommen wird. „Du kommst heute zu mir, nach allem was gestern war… Darf ich daher annehmen, dass du eine Entscheidung gefällt hast?“, erkundigt er sich, während ich mich noch setze und ich sehe ihn etwas zerknirscht an.

Es ist vielleicht keine Entscheidung die ich gerne getroffen habe, aber ich sehe ein, dass sie ein notwendiges Übel ist. „Ja, habe ich“, gestehe ich ein und lache ein wenig nervös, in einem etwas verzerrten Tonfall auf, als ich unwillkürlich an gestern und heute Morgen denke. „Ich musste heute jemanden einweihen, den ich überhaupt nicht kenne – oder naja, den ich kennen lernen wollte. Die Freundin, die ich erwähnte. Aber nun… Und ich habe sogar die Stimme gehört – und mehr. Ich weiß nicht, wieso es ausgerechnet dann so schlimm werden muss, wenn ich vor einer solchen Wahl stehe, aber so ist es bei mir wohl immer. Pech. Nun, das heißt dann jedenfalls, dass ich dringend Hilfe brauche, oder nicht?“, meine Stimme klingt unruhig und weinerlich, selbst in meinen eigenen Ohren. „Und zwar so schnell es geht, darum bitte ich Sie… tun Sie bitte was auch immer Sie für richtig halten, doch helfen Sie mir. Schnell. Bitte.“ Ich halte den Atem an und versuche seinen Blick zu deuten.

„Ich kann nicht sagen, dass ich es schlecht finde, dass du zu einer so positiven Entscheidung kamst – doch es tut mir auch wirklich leid, dass du dafür einen solch hohen Preis zahlen musstest. Mir ist bewusst, dass manche Dinge schwer sind, sich einzugestehen und dies ist sicher eines der Schwersten. Es zu offenbaren muss sich für einen Moment zumindest furchtbar angefühlt haben. Doch genau deshalb werde ich tun was ich kann, um deine Angst zu beenden.“ Er lehnt sich nach vorn und legt eine Hand auf mein linkes Knie, um es ein wenig zu tätscheln. „Es wird alles gut werden, glaube mir.“

Ein leichtes Nicken meinerseits, gibt ihm mein Verständnis zu verstehen, so zieht er sich wieder von mir zurück und seufzt. „Aber dazu musst du dich an ein paar unangenehme Dinge erinnern. Das weißt du ja bereits. Bist du damit wirklich einverstanden?“, hakt er noch einmal nach.

Wieder nicke ich, doch mein Kopf fühlt sich dabei schwer an. Es ist Angst – doch nicht die Art von Angst, die zu verspüren ich gewohnt bin, sondern eine andere Art.

Die Art von Angst, die daher rührt, etwas auf einen zukommen zu sehen, das man nicht aufhalten kann. Wie ein Zug, der auf einen zugerast kommt.

Etwas, das einem wirklich Furcht einflößt, die das Blut in den Adern gefrieren, und schließlich erstarren lässt. Es ist die Angst, vor der Angst selbst.

Und dennoch hebt und senkt sich mein Kopf, in einer fast rhythmischen Bewegung.

Mit einer Spiegelung meines eigenen Nickens seinerseits, nimmt er sein Notizbuch zur Hand, in dem er ja immerzu etwas zu vermerken scheint. „Von deiner Tante Saoirse hatte ich zu Anfang einige kleinere Details über deine Person erhalten, das weißt du ja. Mir wurde gesagt, es gäbe eine Sache über die du nicht sprichst – nicht mit deiner Tante, oder irgendjemandem sonst. Außer vielleicht mit deiner Großmutter, was nun jedoch keiner mehr bestätigen kann, abgesehen von dir selbst. Es geht natürlich um das, was an dem Tag geschah. An dem Tag vor zehn Jahren, meine ich.“

Ich weiß ganz genau was er meint. Er meint das, was alle meinen.

Wie meine Eltern gestorben sind.

Meine Hände liegen auf meinen angespannten Oberschenkeln und krallen sich unbewusst in den Stoff meiner Hose. Schnell lasse ich sie los und fahre stattdessen nervös mit einer Hand durch das kurze Haar hinter meinen Ohren. Wie soll ich es erklären? Ganz banal? Einfach? Vielleicht. „Ich weiß es nicht.“

Einen kurzen Moment herrscht daraufhin einfach nur Stille. Keiner spricht – nein, es scheint sogar, als würde die Welt für uns den Atem anhalten. Totenstille.

Bis der Doktor kurz einatmet und eine Hand auf meine Schulter legt. „Ich denke, du weißt es ganz genau. Nicht, weil du bereits sieben Jahre alt warst und dich deshalb erinnern müsstest, oder ähnliches – ich meine, dass man eine andere wichtige Sache, in all der Zeit außen vor gelassen hat. Eigentlich würde ich es ja dir überlassen, den Mut dazu zu fassen, doch du möchtest das hier schnell regeln und daher ist es auch genau das, was ich dir biete. Doch du musst ehrlich zu mir sein. Alles versuchen. Denn ein Teil von dir, der erinnert sich noch ganz genau daran. Du hat es lediglich verdrängt. Denn ich denke, dass irgendetwas in dieser Nacht, deine fürchterlichen Angstzustände ausgelöst hat. Ganz abgesehen davon, dass deine Großmutter deine Ängste wahrscheinlich noch verstärkt hat, indem sie sie als Real eingestuft und auch so behandelt hat. Es hatte doch vor zehn Jahren seinen Ursprung, denkst du nicht auch?“, fragt er, jedoch ist es eigentlich keine echte Frage.

Der etwas in die Jahre gekommene Deutsche, scheint mich einfach zu durchschauen und keine Mauer der Welt, die ich zum Schutz aufbaue, kann etwas dagegen unternehmen.

Ein Grund, weshalb ich Therapeuten unheimlich finde und lieber meide. Schon als Kind haben sie mir Angst gemacht. Zu wissen was ich denke und fühle… ist unnatürlich.

Als könnten sie alles sehen, was ich zu verstecken versuche und jeden Winkel ausleuchten, der lieber im Dunklen bleiben sollte. Erschreckend.

Zu meinem eigenen Erstaunen, fühle ich mich selbst trotz allem leicht nicken. Nur ganz leicht, aber doch genug.

„Was ist damals wirklich geschehen? Was hast du gesehen?“, meint er daraufhin lediglich erneut, nur eindringlicher, und lehnt sich etwas zu mir herunter, um meinen Gesichtsausdruck besser deuten zu können. Oder warum auch immer.

Nun gibt es kein Zurück mehr.

Langsam atme ich ein und aus, um jede Unze meines Mutes zusammen zu kratzen. Es ist keine Erinnerung, die ich leicht verbannen konnte – noch viel schwerer ist es, mich wieder daran erinnern zu müssen.

„Also…“, beginne ich unsicher. „Es war Nacht… wir waren alle zusammen und dann…“ Meine Gedanken schweifen ab. Was geschah an diesem Tag wirklich?

Verdammt… „Ich weiß es nicht mehr…“, flüstere ich so leise zu mir selbst, dass ich es auch selbst kaum verstehen würde, wüsste ich nicht, was es war.

Beinahe noch schlimmer als alles zuvor, ist das Gefühl das ich nun habe, als ich dort auf dieser mir beinahe vertrauten Couch sitze.

Wie kann ich so etwas vergessen haben? Nein, das kann einfach nicht sein! Aber doch… „Ich… ich weiß es nicht“, sage ich und meine Stimme klingt bereits weinerlich und jammernd. „Ehrlich… ich kann es nicht mehr beschwören. Es ist weg… nach all der Zeit in der ich versucht habe, es mit aller Macht zu verdrängen…“ Ein Schluchzen, von dem ich nicht einmal gespürt hatte, dass es sich anbahnen würde, überkommt mich und würgt meinen Satz langsam ab. Die Tränen auf meinen Wangen beginnen immer schneller zu fallen und träufeln lautlos auf meine Schenkel.

Wieso bin ich so schwach? Weshalb kann ich nicht einmal in meinem Leben so stark sein wie Sara?

„Ist schon gut, Carrie…“, vernehme ich die sanfte Stimme des Doktors und sehe etwas gequält auf. Meine Sicht ist noch leicht verschwommen, doch die Tränen versiegen schon wieder langsam.

Es war nur ein kurzer Anfall, könnte man sagen. Ich weiß nicht einmal, weshalb ich geweint habe.

Aus Enttäuschung, weil ich so schwach bin? Möglich.

Aus Trauer, weil ich den wichtigsten Moment meines Lebens, einfach so verdrängt habe? Klar.

Oder vielleicht doch… eher aus Freude, weil ich es endlich geschafft habe, diesen Moment aus meinen Erinnerungen und Träumen für immer zu streichen?

Sehr wahrscheinlich.

Aber eigentlich egal weshalb, ich will es auch gar nicht wirklich wissen. Es soll nur aufhören.

„Es ist jedoch wichtig, dass wir das herausfinden“, beginnt Dr. Klein wieder auf mich einzureden. „Mir liegt es fern dich zu verletzen, das weißt du hoffentlich. Doch wird es niemals möglich sein, dass du das hier wirklich in den Griff bekommst, wenn wir die Wurzel allen Übels nicht kennen – wenn wir den Ursprung nicht beheben, oder zumindest erfahren können. Irgendwann wirst du dich dem stellen müssen.“

Mir ist bewusst, wie er es meint und mir ist auch bewusst, wie Recht er damit hat. Und es war meine Entscheidung, das hier zu drängen und eine schnellere Methode anzufordern.

Doch könnte er es nicht anders tun? Muss ich mich dazu unbedingt erinnern können?

„Es hat so lange gedauert, bis die Alpträume endlich aufgehört haben…“, flüstere ich beinahe wieder.

Ja, ich weiß wirklich wie wichtig es ist. Aber wie könnte ich das wollen?

Und wie soll ich es überhaupt nach all der Zeit schaffen?

Ich höre den Doktor vor mir seufzen und vernehme das sanfte Geräusch das entsteht, als er sich von dem ledernen Sessel erhebt, um auf mich zuzukommen. „Okay, ich habe eine Idee. Aber dazu musst du dich entspannen – am besten legst du dich hin-“

„Nein“, falle ich ihm gedankenlos ins Wort, woraufhin er mich nur fragend ansieht. „Ich… kann mich nicht gut entspannen, wenn ich liege…“, meine ich daher kleinlaut und sehe weiter zu Boden.

Er seufzt ein weiteres Mal. „Also gut. Dann…“ Ein Moment verstreicht, als würde er sich etwas Neues überlegen – ich kann mir ja beinahe denken, worauf er hier hinaus will. Ich habe es oft im Fernsehen gesehen. „Dann tauschen wir am besten Plätze – du setzt dich in den Sessel und entspannst dich, wäre das eine Idee?“, schlägt er vor und fährt sich etwas fahrig durch sein dünnes Haar.

Mein langsames Nicken erleichtert ihn wohl – vielleicht weil es andeutet, dass ich einverstanden bin. Aber bin ich das? Ich weiß es nicht.

Doch weiß ich eigentlich, dass dieser alte Herr vor mir vermutlich nicht zulassen würde, dass ich irgendwelche Schäden davontrage. Und diese Gewissheit beruhigt mich tatsächlich etwas.

So tue ich wie mir geheißen und lasse mich in dem gemütlichen Sessel nieder, um erst einmal tief durchzuatmen.

„Gut, nun… ich werde es mal mit etwas Neuem versuchen. Es ist eine Art Hypnose – allerdings nicht direkt. Es ist eine Übung, könnte man eher sagen. Ich werde versuchen, deine Erinnerungen damit zu erneuern – sie sind schließlich da. Du hattest sie, nur hast du sie dann tief vergraben.“

Ich nicke nur und sehe ihn an. Viel zu nervös bin ich, um meiner Stimme trauen zu können.

„Ich weiß…“, kommt es daher von mir und meine Stimme ist nur mehr ein Flüstern, während ich versuche mich tatsächlich zu entspannen und die Augen schließe. So macht man das doch, oder?

Ich höre, wie er sich nun mir gegenüber niederlässt und einen Moment verharrt. Ob er wohl so unsicher ist wie ich selbst?

„Okay Carrie, es ist wirklich nicht schwer. Du hattest diese Erinnerungen lange, klar in deinem Kopf. Du musst sie nur wieder hervorrufen… Sag, an welchen Tag kannst du dich jetzt sofort erinnern? Irgendwann in diesem Zeitraum. Ein Tag, an den du dich wirklich gut erinnern kannst – davor, oder danach. Das ist egal. Wichtig ist nur, dass du eine sehr klare Erinnerung daran hast.“

Seine Anweisung irritiert mich ein wenig, denn es geht doch schließlich nur um diesen einen Tag, oder nicht? Dennoch…

Es ist ganz klar. Ich muss nicht einmal nachdenken, denn diese Erinnerung ist so klar in meinem Kopf, wie praktisch keine andere – ich weiß nicht wieso, vielleicht, weil es ein solch Schöner Tag war. „Mein siebter Geburtstag“, antworte ich daher knapp und wahrheitsgemäß.

Er sagt nichts dazu – wartet wohl einfach ab, bis ich weiter spreche.

Mein Geburtstag war knapp zwei Wochen vor dem Vorfall mit meinen Eltern. Ich überlege kurz, wie ich es beschreiben soll. „Es war… warm. Die Sonne schien und das, obwohl es Abends immer recht kühl wurde, ganz zu schweigen von der Kälte in der Nacht. Aber es war schön und wir waren draußen. Zwei meiner Freunde waren da und wir haben zusammen gespielt – eine davon war meine beste Freundin, zu dieser Zeit.“ Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, als die Erinnerung an diese wenigen Momente immer klarer wird, je länger ich daran denke. „Und mein Vater hat aus irgendeinem Grund eine Piñata an einen der Bäume im Vorgarten gehängt. Es war wirklich… lustig.“

„Gut… das machst du gut“, wirft der Ältere ein, doch ich nehme es nur nebenbei zur Kenntnis; versuche mich ganz auf diesen Tag zu konzentrieren.

Das war das letzte Mal, dass wir zusammen so glücklich waren.

Das wir als Familie Spaß hatten und sorglos den Tag mit einem Lächeln verbrachten.

 

Und wir ahnten es damals nicht einmal.

Chapter 10: Vivid Shadows II

 

Erinnerung ist eine Form der Begegnung,

Vergesslichkeit eine Form der Freiheit.“

– Khalil Gibran

 

 

Seltsam. Gestern hatte ich eine Sitzung bei meinem Therapeuten. Wir haben über die Zeit vor zehn Jahren gesprochen.

Und das mit den Tagen hat sogar funktioniert.

Doch hat er dann gesagt, dass es zu viel für mich sei – zu viel für einen Tag. Eine Sitzung.

Also hat er mich nach Hause geschickt. Zusammen mit der Hausaufgabe, mich ‚meiner Vergangenheit zu stellen‘.

Und diese Aufgabe umfasst, mich bei meiner ehemals besten Freundin zu melden. Dem Mädchen, das ich zuletzt getroffen hatte, als ich meinen siebenten Geburtstag feierte. Ich weiß nicht einmal mehr, weshalb ich sie ab da gemieden zu haben schien.

Ich weiß es nicht – wirklich nicht. Und ich fühle mich schuldig.

Susanne Mayer. Ein Name, den ich schon lange nicht mehr gehört habe und nun liege ich hier auf dem Bett, mit einem Zettel in der Hand, auf der ich erst vorhin eine Nummer gekritzelt habe.

Eine Nummer aus Black Hawk in Colorado – dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin.

Mit dem Zettel also in der einen und dem Telefonhörer in der anderen Hand, wäge ich so lange ab, bis ich einfach die Zähne zusammenbeiße und diese verdammte Nummer wähle.

„Hoffentlich geht sie nicht ran…“ Dann hätte ich es zwar versucht, jedoch müsste ich nicht mit ihr sprechen.

Doch auch ein kleines Stoßgebet gen Himmel kann nicht helfen, als ich den Hörer an mein Ohr halte, das Tuten abwarte und nach einigen Sekunden ein eindeutiges, verheißungsvolles Klicken zu vernehmen ist, welches mir sagt, dass jemand auf der anderen Seite abgehoben hat. „Mayer. Wer ist da?“, meldet sich eine Frau, an deren Stimme ich mich noch dunkel erinnere.

Früher klang sie fast genauso – vielleicht einen Tick jünger. „Mrs. Mayer?“, frage ich mich dünner Stimme. „Ich bin es, Carrie Murdoch – erinnern sie sich an mich?“, rede ich so schnell weiter, dass ich selbst nicht mehr sicher bin ob sie alles verstanden hat, doch ich will verhindern, mich am Ende doch noch zu drücken – vielleicht einfach aufzulegen. Und entgegen all meiner Erwartungen, kann ich einen erfreuten Unterton kaum unterdrücken, als ich noch einmal zum Reden ansetze. „Kann ich mit Susanne sprechen? Ist sie da?“

Etwas aufgeregt, spiele ich mit einer Hand an der eingeschalteten Lampe neben meinem Bett herum. „Carrie? Dich habe ich ja ewig nicht gesehen – es müssten jetzt schon gute zehn Jahre her sein! Susanne ist natürlich zu Hause – oder naja, zumindest wünschte ich, es wäre noch natürlich… Ich werde sie gleich holen gehen – bleib bitte kurz dran.“

Durch die Leitung höre ich es poltern und einige Stimmen kann ich im Hintergrund wahrnehmen, bis plötzlich eine irgendwie vertraute und doch fremde Stimme eine Meldung macht. „Hallo?“, sagt sie und klingt dabei etwas skeptisch.

„Susanne?“, will ich sichergehen und kann es dabei kaum fassen. Sie klingt wirklich anders – und doch so gleich. Irgendwie seltsam, doch gleichzeitig faszinierend.

Es ist schon so lange her und doch kann ich mich noch so gut an ihre Stimme erinnern.

„Carrie? Meine Mutter hat mir gesagt dass du es wärst, doch wenn ich ehrlich bin, habe ich ihr nicht geglaubt…“, gesteht sie und klingt sowohl sehr überrascht als auch verwirrt. „Was verschafft mir denn die Ehre deines Anrufs?“

Diese Frage ist wie ein kleiner Schlag ins Gesicht.

Sie ist durchaus berechtigt es wissen zu wollen, denn das ist sogar sehr verständlich. Ich habe sie zehn Jahre lang praktisch links liegen gelassen und nun? Nun bin ich einfach hier und rufe sie aus heiterem Himmel an. „Also, wenn ich ehrlich bin… Ich habe gesagt bekommen, ich solle mich mit meiner Vergangenheit auseinandersetzen. Und ich dachte, bei dir fange ich an“, fällt mir die schnelle Ausrede ein und es ist eigentlich kaum gelogen, so geht sie mir auch leicht von den Lippen.

Von der anderen Seite kommt derweil nur ein halbwegs zustimmend wirkendes Geräusch.

„Und was willst du nun von mir?“

„Nichts!“, meine ich sofort. „Nur reden… Wir haben uns so lange nicht gesehen, dabei waren wir beste Freunde. Wirklich… dieser letzte Tag mit dir, der war wirklich schön. Und es tut mir leid, dass ich dich so lange ignoriert habe.“

Doch die Reaktion die ich nun bekomme – ein seltsam verächtliches Schnauben – hätte ich weniger erwartet. „Ein schöner Tag? Wovon zum Teufel sprichst du? Ich meine, es ist eine Sache wenn etwas Schreckliches geschieht und man sich abkapselt, aber so etwas…“

„Was meinst du?“, will ich aufgebracht wissen. Sie ist sauer; ich bin verwirrt. So sollte das nicht laufen – es war so nicht gedacht. Was habe ich ihr denn bitte getan? „Mein siebter Geburtstag war doch so-“

Verregnet?“, wirft sie vorschlagend ein. „Oder einsam? Deprimierend?“

„Was…?“, stammle ich irritiert.

„Du warst die ganze Zeit seltsam, vor deinem Geburtstag. Bist herum gelaufen wie ein Zombie, hast kaum reagiert und warst geradezu unheimlich. Kurz vorher hatten wir noch Pläne für deinen Siebten gemacht und dann auf einmal waren alle Menschen Luft für dich. Und dann, zu deinem Geburtstag, warst du nicht einmal da. Nicht in der Schule. Als ich zu Besuch kam, war niemand zu Hause – ich weiß noch, wie ich mir Sorgen um dich gemacht habe und wir im strömenden Regen unter einem Schirm standen, weil ich warten wollte, bis du wieder kommst – bis irgendjemand wieder kommt. Irgendjemand, der mir sagt, was mit dir los ist. Aber dann warst du weg. Hast dich kaum noch blicken lassen und nur kurze Zeit später geschah dann das mit deiner Familie – und dann habe ich dich nie mehr wieder gesehen.“

Die ganze Zeit, höre ich nur zu – wage es nicht, meine Stimme zu erheben. Ich kann nicht und ich will auch gar nicht.

Erstens, weil sie sehr wütend ist. Ich kann die Wut praktisch spüren. Und sie hat ihre Wut verdient.

Ich habe sie verdient. Verdient, dass sie gegen mich gerichtet ist.

„Aber… das kann doch nicht sein… Ich kann mich doch erinnern! Die Sonne schien, und wir-“

Woran kannst du dich erinnern?“, fällt sie mir ins Wort. „Tut mir ja wirklich leid, aber ich weiß sehr genau was damals war – und meine Mutter weiß es sicherlich auch noch. So wie vermutlich jeder aus unserer alten Klasse. Es war einfach zu seltsam, um es zu vergessen. Wirklich, Carrie… es tut mir leid, aber…“

„Warte!“, halte ich sie auf, obwohl mein Geist einer ganz anderen Frage nachhängt.

Nämlich weshalb ich mich an nichts davon erinnern kann und viel schlimmer noch…

Weshalb kann ich mich an etwas erinnern, das niemals stattgefunden haben soll?

Doch es ist wie es ist. Und ich sollte mich nicht nur mit meinen Freunden und anderen Menschen aus dieser Vergangenheit auseinandersetzen.

„Sue, warte bitte…“, versuche ich sie zu überzeugen. „Ich möchte wirklich nur mit dir sprechen. Meine Erinnerungen an damals sind… nicht vollständig.“

Nun, sie scheint zumindest noch am Telefon zu sein, denn ich höre sie atmen – jedoch sagt sie keinen Ton.

„Und dann muss ich dich dringend um einen sehr wichtigen Gefallen bitten.“

 

Tag für Tag. Stunde um Stunde. Ein Ereignis nach dem Anderen. Und all die Gefühle.

Wir sind sie durch gegangen. Seit ich wieder hier bin, haben wir dort weiter gemacht, wo wir gestern aufgehört hatten. Und je näher es diesem Tag kommt, umso mehr fürchte ich mich vor dem, was ich bis heute verdrängt habe. Bald wird es nicht mehr vergessen sein. Es wird sein wie früher.

Doch ich weiß ich bin schwach. Und diesmal will ich stark sind. Jetzt, wo wir an unserem Ziel sind, kann ich nicht einfach aufhören. Wenn ich nun auch nur so viel wie eine Pause mache, habe ich das Gefühl, war vielleicht alles umsonst!

Obwohl es doch nur um diesen einen Tag geht.

Und es ist so weit.

„Also, der Tag war bisher ruhig. Schien denn wirklich alles normal? War alles in Ordnung?“

„Ja, es war alles…“, meine Gedanken wandern kurz und ich atme einmal tief durch. „Nein, nicht ganz“, ist der Schluss zu dem ich komme.

„Inwiefern denn?“, dringt die ruhige Stimme meines Therapeuten in meinen Verstand ein.

Ja, inwiefern eigentlich? Ich hatte gerade die Erinnerungen an diesen einen Tag heraufbeschworen. Der Tag war völlig ruhig. Es war ein Freitag. Ich war zur Schule gegangen, nach Hause gekommen, hatte meine Hausaufgaben gemacht und dann mit meiner Familie zu Abend gegessen.

Selbst alle Aktivitäten zwischendurch waren völlig ruhig – ich hatte nicht einmal Freunde bei mir.

Aber heute habe ich irgendwie das Gefühl, ich hätte damals – und all die Jahre dazwischen – irgendetwas übersehen. Etwas, am Verhalten meiner Eltern.

Mein Vater tat so, als sei alles in Ordnung – tat, als sei alles wie immer. Doch man konnte die Anspannung an seiner ganzen Haltung erkennen. In jedem einzelnen Muskel.

Wenn ich so recht darüber nachdenke, war er schon so seit meinem Geburtstag, circa zwei Wochen vorher.

Was könnte es ausgelöst haben? Wurde er vielleicht verfolgt? Hatten die Polizisten damals Recht, und es war jemand, der es eigentlich nur auf meinen Vater abgesehen hatte?

Mein Schädel pocht, als würde er gleich zerspringen wollen.

Er wirkte- Mein Vater wirkte nervös. Schon eine ganze Weile. Sogar meine Mutter war nicht so ruhig wie sonst. Als hätten sie einen Sturm erwartet. Nur damals… da fiel es mir nie auf. Ich weiß nicht, wieso…“

Er legt eine Hand auf meine Schulter. Nur ganz leicht – dennoch ist sie beruhigend. „Du musst dir deshalb keine Vorwürfe machen. Sie haben es sicher nicht offen gezeigt und du warst noch ein Kind…“

„Sollten Kinder so etwas nicht erst recht spüren? Heißt es das nicht immer?“

Er lacht kurz auf, nicht belustigt, auch nicht laut – ich kann es nicht ganz zuordnen. „Kinder sind zwar sensibel, doch man merkt auch nicht alles und manche Eltern können Dinge gut verstecken. Du verstehst erst heute wirklich, welche Anzeichen es damals gegeben hat – deshalb ist das noch lange nicht deine Schuld. Du hättest nichts tun können.“

„Vielleicht nicht, aber…“, werfe ich ein, doch er unterbricht mich mit einem sanften Druck der Hand, die noch immer auf meiner Schulter ruht.

„Kein Aber. Es ist wie es ist. Konzentriere dich wieder auf den Tag. Was jetzt kommt wird am Schwersten werden.“

Das kann ich mir vorstellen. „Also, wir hatten uns Bettfertig gemacht – vor allem ich. Meine Mutter hatte mich noch ins Bett gebracht und mir vorgelesen. Alles war wie immer. Und ich schlief ein – ebenfalls wie immer. Der Abend war noch jung, als ich im Bett lag und alles war still. Ein Abend wie jeder andere…“, meine Gedanken schweifen ab und werden hastig.

„Ganz ruhig. Woran kannst du dich erinnern?“

„Ich lag im Bett. Das erste was ich hörte, war ein lauter Schlag. Ich hatte geschlafen und dachte im ersten Moment, es wäre lediglich in meinem Traum gewesen. Das Geräusch kam aus der Richtung in der das Schlafzimmer meiner Eltern lag, dort ging es zum Vorgarten. Manchmal streunten dort dumme Hunde herum und warfen die Mülltonnen um, also dachte ich mir nichts weiter dabei und schlief weiter.“

„Was war es?“, hakt er nach.

„Später wurde mir klar, dass es wahrscheinlich eine Lampe war. Am Bett meiner Eltern. Auf beiden Seiten standen identische Nachttischlampen aus Porzellan. Die Lampe meiner Mutter war umgestoßen worden und auf dem Boden zerschellt. Das Seltsame daran war, dass die andere Lampe nicht angerührt wurde. Ich hatte sie am Abend zuvor selbst umgestoßen und sie war kaputt gegangen – auch die neue Glühbirne hat nicht geholfen. Sie sah zwar nach außen hin noch fehlerlos aus, jedoch war sie nicht mehr funktionsfähig.“

Eigentlich hätte die Lampe meiner Mutter gehört. Doch mein Vater war übervorsichtig – hatte eine Waffe zur Sicherheit, doch sie war weggeschlossen, wenn es nicht Nacht war. Alle Fenster und Türen waren übermäßig gesichert und geprüft, wenn es Abend wurde.

Er schlief auf der Seite des Bettes, das zur Tür führte, um einem Einbrecher zuerst entgegen zu stehen.

Und wenn eine Lampe kaputt war, dann bekam meine Mutter die, die funktionierte, damit sie Licht hatte, wenn sie es brauchte.

Er war ein guter Mann. Ein toller Vater.

Ich vermisse ihn…

 

Genau wie meine Mutter.

Chapter 11: Vivid Shadows III

 

„Trauer als Zustand verwundet.

Trauer als Prozess vertieft.

– Peter Horton

 

 

Langsam beginnt mein Schädel zu schmerzen, als würde er sich aufspalten wollen…

Mit einem kaum merklichen Kopfschütteln, versuche ich meinen roten Faden wieder zu entdecken, ehe ich einmal tief durchatme. „Das zweite Mal, als ich in dieser Nacht geweckt wurde, wusste ich ganz genau, dass ich es nicht geträumt hatte. Dieses laute Geräusch von Glas das zertrümmert wird, war für mich nicht zu überhören. Also schaltete ich verschlafen das Licht an meinem Bett ein und sah mich um. In meinem Zimmer war alles wie immer, also schlug ich die Decke zurück und schlich durch den Flur. Die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern stand offen. Genug, dass ich hinein sehen konnte.“ Kurz halte ich inne und atme ein weiteres Mal durch, als ich die Eindrücke zu verarbeiten versuche, welche meinen Geist fluten. Die alten Erinnerungen – die Gerüche, Gefühle und Geräusche. „Das Erste was mir durch meinen müden Blick nach unten aufgefallen war, war die auf dem Boden zusammengekauerte Gestalt meiner Mutter, im Schatten des Bettes. Ich hätte sie beinahe nicht erkannt, in dem schummrigen Licht, das von der Straßenlaterne draußen durch das zerbrochene Schlafzimmerfenster fiel.“

Der Geruch von Blut. Das leise Röcheln meiner Mutter.

Der kalte Hauch, welcher mir eine Gänsehaut über den Körper jagte.

Und der Teppich unter meinen blanken Füßen.

All das, was mich noch jahrelang in jedem meiner Träume verfolgte.

„Sie lag auf dem Boden? Weißt du noch, wie ihr Zustand war?“, fragt er und ich kann spüren, dass er ebenfalls etwas angespannt ist.

„Sie war noch am Leben, falls sie das meinen, Doktor… nein, sie war zumindest nicht tot. Sie hat gewimmert. Vor Angst. Ich kann mich daran erinnern, wie sie den Kopf hob und ihre Augen mit Tränen in einem Lichtstrahl funkelten, den sie aufgefangen hatten“, gebe ich monoton wieder, was ich vor meinem inneren Auge sehe. Diese Bilder… „Ich sah den Schock darin und konnte kaum noch atmen, geschweige denn einen Muskel bewegen. Ihre Augen waren starr auf mich gerichtet und ich könnte schwören, sie wollte mir stumm sagen, ich solle verschwinden. Doch ich habe es nicht gekonnt.“

Eine Weile herrscht Stille – Dr. Klein lässt mich einige Sekunden meinen eigenen Gedanken nachhängen, als die Erinnerung des Abends wie ein Vorschlaghammer in meinen Verstand eindringt, und die sorgfältig aufgestellte Schutzmauer zwischen mir und meiner Vergangenheit gnadenlos einreißt. Erst nach einigen Minuten, höre ich ihn wieder sprechen. „Und wo war dein Vater?“

Meine Augen tränen bei der Erinnerung, wie der sich hebende Kopf meiner Mutter als sie mich bemerkte, meinen Blick auf etwas dicht über ihr lenkte. Die Beine meines Vaters – oder eigentlich eher seine Füße.

„Er war auch da. Direkt hinter ihr… jedoch stand er nicht hinter ihr. Ich dachte es im ersten Moment. Es hatte damals eine kleine Weile gedauert, bis ich begriff was an dem Bild das sich mir bot, so falsch war – er hing über dem Boden. Jemand hatte ihn am Kragen gepackt – Etwas – und hob ihn an.“

Eigentlich hätte mein Vater eine Waffe in der Schublade seines Nachttisches haben müssen. Er hätte sie ziehen müssen. Doch er hatte sie nicht bei sich. Stattdessen hing er in den Händen des Eindringlings und zappelte hin und her – selbst für mich, für den es nie jemanden gab, der stärker war als mein Vater, war die Aussichtslosigkeit seiner Lage klar ersichtlich.

Ich kann die Tränen spüren, die über meine Wangen kullern und weiß nicht, ob ich es mir vielleicht nur einbilde.

Sie sind nicht wie die Tränen, die ich sonst vergießen würde – diese hier hindern mich nicht an meiner Geschichte. Sie hindern mich nicht daran, zu sprechen. Sie sind nicht so schwer.

Sie sind wie stille Begleiter, die meiner Geschichte lauschen und sie weiter tragen.

„Ich dachte, er würde ihn einfach fallen lassen. Die Person, die ihn in seinen Händen hatte, konnte ich nicht ausmachen. Die Dunkelheit schien ihn zu verschlingen, während das fahle Licht meinen Vater nur so herausstechen ließ. So wie die Scherben auf dem Boden, und die spitzen Enden des kaputten Fensters, das von einem umgekippten Regal zerschlagen wurde. Es lag noch immer im Fensterrahmen. So surreal.“ Wieder mache ich eine kleine Pause, als ich über die Situation damals nachdenke. „Ich war es gewohnt in diesem Zimmer Schutz zu suchen, wissen sie?“, meine ich und sehe ihn an. „Wenn ich Angst hatte, oder nervös  war – auch, wenn ich einfach nicht schlafen konnte. Es war der für mich sicherste und schönste Ort der Welt… bis zu diesem Moment. Ab da war er lediglich kalt und alles erschien so zerstört.“

„Niemand kann dich für diesen Gedanken verurteilen. Du hast etwas gesehen, was niemals von einem Kind gesehen werden sollte“, wirft mein Gegenüber ein.

Meine Augen sind wieder geschlossen, doch spüre ich, wie er sich bewegt – ehe mir etwas Weiches in die Hand gelegt wird.

Ein Taschentuch.

Mit einem schwachen Lächeln, das so fehl am Platze wirken muss, wie die Tatsache, dass ich die Augen noch immer nicht dauerhaft öffne, wische ich die Tränen fort und lehne mich dann wieder etwas zurück. „Ich kann mich noch an das Pfeifen des Windes erinnern, das durch die Kluft im Fenster in den Raum drang. In dem Moment, als ich zu meinem Vater nach oben sah. Und er zu mir… Dieser Moment, als ich einen Schritt zurücktrat und mir erst in diesem Augenblick klar wurde, weshalb mein Vater mich überhaupt bemerkt hatte.“ Meine Stimme wird mit jedem Wort leiser. „Und diese Kreatur sah mich an. Die Augen so unmenschlich – wie die eines Tieres. Sie schienen in der Dunkelheit zu leuchten – mehr noch, sich in sie hinein zu brennen. Direkt in meine Seele. Ich kann sie nicht vergessen. Noch heute sehe ich sie in meinen Träumen. Diese goldenen Augen. Ich konnte sie nur nicht mehr zuordnen. So wie dieses Gefühl, immerzu beobachtet zu werden. Genau dann geschah es…“

„Was?“ Die Frage des Doktors scheint nicht beabsichtigt gewesen zu sein – eher ein Reflex.

Ich reagiere jedoch kaum noch auf ihn. „Mein Vater starb.“

Die Worte scheinen tonnenschwer im Raum zu hängen und die Atmosphäre zu erdrücken.

So wie die neuerliche Stille. Eigentlich mag ich die Stille. Ich mag Ruhe.

Doch diese Stille gefällt mir nicht. Sie ist genau wie damals.

Wenn die Gewalt, Stille auslöst…

Die langsam wie Eiszapfen erkalteten Hände, reibe ich in meinem Schoß aneinander, doch sie werden nicht wärmer. „Ich habe die Bewegung in den Augen des Wesens gesehen, dessen Konturen ich einfach nicht auszumachen vermochte. In seinem Blick lag ein hämisches Funkeln, als sich der Arm um den Hals meines Vaters bewegt hatte. Und dann dieses Geräusch… Es war nur ein leises Knacken, wie wenn man im Wald auf einen Ast tritt – doch hallte es in meinen Ohren wieder und wieder und wiederdieses widerliche Knacken.“ Aufgebracht reibe ich die Hände noch etwas hektischer und fester aneinander, so lange, bis sie brennen.

Wenn ich die Augen schließe, kann ich es noch immer hören. Es ist, als würde die Luft vibrieren. Ich konnte meine Mutter schreien hören, als er meinen Vater daraufhin einfach fallen ließ. Er fiel wie ein nasser Sack.

„Ganz ruhig“, dringt seine Stimme an mein Ohr. „Du bist nicht mehr dort – es kann dir hier nichts passieren…“ Wieder ist sein Arm auf meiner Schulter, doch diesmal hält er mich mit beiden Armen.

Mir ist nicht aufgefallen, wie hysterisch ich während meiner Erzählung geworden sein muss. Erst jetzt ist es selbst für mich offensichtlich.

Die Tränen die ich zuvor erst weggewischt hatte, brechen in Sturzbächen hervor und strömen über mein Gesicht. Mein eigenes Schluchzen betäubt meine Ohren.

In diesem Zustand fühle ich mich verletzbar. Unwohl. Ich mochte ihn nie.

Das letzte Mal als ich mich so fühlte, geschah das mit meinen Haaren.

Heute ist es nicht so schmerzhaft – nicht körperlich, meine ich. Doch habe ich dennoch Schmerzen. Andere Schmerzen. Keine Angst.

Nur reine Trauer und Schmerz.

Ich halte den Doktor sanft zurück, auf das er sich wieder zurücksetzt und ich weiter erzählen kann. „Wir… sind noch nicht fertig“, presse ich stockend hervor, während ich erneut mein Gesicht trockne. Diesmal öffne ich jedoch die Augen und sehe, wie er sich langsam setzt.

Er wirkt etwas traurig, doch ich versuche mich an einem Lächeln, welches mir allerdings nicht tatsächlich gelingt, da parallel dazu auch noch eine kleine Träne über meine Wange kullert, die das alles hier zu einer Farce macht. Doch er sagt nichts dazu. „Es geht schon…“, meine ich; die Stimme schwach und zittrig. Zittriger als eben – ich versuche mich zu räuspern. Versuche den Kloß aus meinem Hals zu vertreiben – doch es gelingt mir nur mäßig.

Immerhin etwas. „Das Schlimmste… sollte vorbei sein. Ich hatte damals solche Angst – ich bin in mein Zimmer zurückgerannt. Ich weiß nicht, weshalb. Aber diese Kreatur machte mir eine solche Angst… also flüchtete ich in den einzigen Raum, in dem ich Licht ausmachen konnte. Die Lampe an meinem Bett war noch immer eingeschalten. Also schloss ich die Tür und rollte mich neben der Lichtquelle auf der Mitte der Matratze zusammen. Ich weiß nicht wie lange ich so da lag – vielleicht einige Stunden, vielleicht aber auch nur Minuten. Es erschien mir jedenfalls wie eine Ewigkeit. Erst als die Tür mit einem lauten Krachen geöffnet wurde und eine Horde Polizisten ins Haus stürmte, löste ich mich aus meiner Starre“, erzähle ich das Ende der Geschichte. „Man hatte mich verschont…“ Diese letzten Worte klingen dabei entsetzlich emotionslos – selbst für mich.

Ich war nie glücklich darüber – dabei ist das doch eigentlich Blödsinn, oder nicht? Ich meine, man läuft doch davon und versteckt sich, weil man Angst hat, oder nicht?

Und man hat Angst aus Instinkt, oder? Weil man nicht sterben will, und der Überlebensinstinkt einsetzt? Man hat Angst, weil man weiterleben will, oder etwa nicht?

Warum hatte ich dann Angst und mich versteckt… Und war später dennoch nicht glücklich darüber, leben zu dürfen?

Genau in diesem Moment, wird mir sogar eine weitere, irgendwie schockierende Wahrheit bewusst. „Wissen Sie, was irgendwie ironisch ist? Vor dieser Nacht, hatte ich die Dunkelheit geliebt, glaube ich. Ich wusste es die letzten Jahre nicht mehr, aber ich hatte aus gutem Grund kein Nachtlicht, wie viele andere Kinder. Ich habe keines gebraucht – nie. Das Licht war für mich unangenehm. Nur in der Dunkelheit konnte ich mich entspannen. Ja, ich brauchte nicht einmal Licht um des Nachts den Raum zu verlassen, wenn ich geschlafen hatte. Was mich verwirrt ist, dass ich in dieser Nacht das Licht eingeschaltet hatte. Auch die Nächte zuvor. Was hat sich geändert? Ich mochte das Licht vorher nicht. Da bin ich mir sicher, doch in dieser Nacht…“ Erneut schweife ich ab während ich über die Tage nachdenke, die ich in den letzten Stunden durchgegangen bin. „In dieser Nacht war ich mir völlig sicher… dass mir das Licht das Leben gerettet hat“, komme ich zu meinem Schluss.

„Das kann passieren. Manchmal ändert man sich – oft fällt es einem kaum auf, selbst wenn die Änderung recht plötzlich eintreten sollte“, meint der ältere Mann nur zu meiner Erkenntnis und seufzt. „Aber immerhin sollte nun klar sein, woher deine Angst stammt. Möglicherweise hilft uns das nun, dein Problem an der Wurzel zu bekämpfen.“

Ich weiß was er meint – wer nicht? Doch wird mir das helfen? Kann ich mir nun sagen, dass es nicht real ist? Dass es nur eine Angst ist, die ich Jahrelang hinter mir her geschleift hatte?

Etwas nüchterner als zuvor, versuche ich mir diese Person ins Gedächtnis zu rufen, welche ich all die Jahre nur als Monster erkennen konnte. Versuche einen Menschen auszumachen.

Doch es nützt nichts.

Diese Kreatur war schwarz; böse. Wie ein fleischgewordener Alptraum.

Sie schien aus den Schatten zu kommen – nein, sie war der Schatten.

Und dieser Schatten… jagt mich noch heute.

Ich stehe auf, wie betäubt. „Ich… Ich muss gehen…“, nuschle ich beinahe.

Er sieht aus, als will er etwas sagen, doch gehe ich bereits weiter. Als würde ich aus einer Art Narkose erwachen – aus einem tiefen, langen schlaf. Einem Koma.

Es ist seltsam, wie ich mich fühle, als ich gehe. Doch es verschwindet langsam, so will ich eigentlich einen Schritt zulegen, was ich jedoch unterlasse.

Stattdessen drehe ich mich, bei der Tür angekommen, noch einmal um. „Sagen Sie, Doktor, glauben Sie dass ich mich an die Wahrheit erinnere? Das meine Erinnerungen mich nicht trügen?“

Sein Blick scheint verwirrt, als käme es überraschend. Was es wahrscheinlich auch tut, denn ich habe ihm bei meiner Ankunft nicht verraten, weshalb ich am Freitag nicht erschienen war. Dass ich am Wochenende nicht das Haus verlassen hatte.

Dass ich nur meinen Gedanken nachhing und versuchte, die Wahrheit zu finden.

Doch stattdessen fand ich nur Leere. Leere und die Gewissheit, dass meine tolle Erinnerung an einen wundervollen Tag, nichts weiter als eine Lüge meines Verstandes war.

Doch wie ist das überhaupt möglich?

Es hat damals wirklich geregnet. Es stimmt, das hat mir ein Wetterverzeichnis im Internet verraten, welches passenderweise What’s-the-Weather.com heißt. Ein Tag voller Kummer und Sorgen. Ertränkt durch den Himmel persönlich.

Doch erinnern kann ich mich nicht an einen Tropfen davon.

Ich starre ins Nichts. Und das Nichts starrt zu mir zurück – so fühlt es sich an.

Beunruhigend.

Werde ich nun doch völlig verrückt?

Erst die nächsten Worte meines Therapeuten holen mich zurück ins Hier und Jetzt. „Fühlten sich deine Erinnerungen denn falsch an? Oder machten anderweitig den Eindruck, als seien sie unzuverlässig?“, erkundigt er sich mit einem etwas besorgten Ausdruck in seinen Augen.

„Nein, es ist nur…“ Dass ich Beweise habe? „Oder naja, doch, es ist irgendwie so ein Gefühl. Dass etwas nicht stimmt…“

Das sind meine Worte, als ich langsam den Raum verlasse – Langsam hinaustrete und die Tür hinter mir schließe.

Lügen, denn nicht davon ist schließlich wahr. Nichts fühlt sich falsch an. Nichts ist komisch. Dennoch weiß ich, dass diese Erinnerungen genau das sind.

Ich kann ihm doch nichts sagen, ehe ich nichts Genaueres weiß.

Doch ich weiß nun, dass ich heute Abend auf jeden Fall noch Christine anrufen muss.

Ich muss einfach…

 

Denn ich muss sie dringend um etwas bitten.

Chapter 12: Sleeping Shadows

 

„Jeder meint, dass seine Wirklichkeit die richtige Wirklichkeit ist.“

– Hilde Domin

 

 

Das leise Klappern des Bestecks und der Teetassen vor uns, sind einige Zeit das einzige das in der hellen Küche zu vernehmen ist. Wir hängen wohl beide unseren Gedanken nach.

Doch es gibt Dinge, die ich wissen muss. Dinge, die ich einfach herauszufinden habe.

Und das geht nicht, ohne Hilfe. „Sag, Sara…“, spreche ich sie an und sehe, wie sie mich fragend mustert. „Hast du je davon gehört, dass mir irgendetwas hinterlassen wurde? Keine Ahnung was, aber irgendetwas Informatives…“ Super, ich weiß nicht einmal genau, nach was ich hier eigentlich frage.

Ich meine, habe ich denn eine Vorstellung davon, was ich hier erfragen will? Wohl eher nicht.

Sara runzelt, gewissermaßen legitim, lediglich die Stirn und sieht etwas verwirrt aus. „Informativ? Von was redest du?“

Ich überlege kurz. „Naja, also so etwas wie ein Buch. Eine Kassette. Meinetwegen eine Schallplatte, oder ein verdammtes Post-It. Irgendetwas, womit man mir etwas mitteilen könnte, oder es zumindest hätte tun können.“

Die Stille die nun eintritt, ist weniger bedrückend, als angespannter Natur, während Sara meine Worte abzuwägen scheint. „Nicht dass ich wüsste, tut mir-“, beginnt sie, doch unterbricht sich selbst und sieht plötzlich etwas komisch in die Leere vor sich. Als sei sie gerade in einer anderen Welt.

„Sara?“, hake ich etwas perplex nach.

„Ja, warte kurz… Ich glaube, da könnte tatsächlich etwas gewesen sein.“

Meine Augen werden durch diese Worte ungefähr so groß wie die Untertassen auf denen unser Tee ruht. „Was? Im Ernst? Wo? Und Wann?“, will ich sofort wissen, doch sie hebt nur abwehrend die Hände.

„Tut mir leid, so einfach ist das ehrlich gesagt gar nicht. Es ist nicht wirklich hinterlassen worden, weißt du?“

Nun ist es an mir, verwirrt die Stirn zu runzeln. „Was denn dann?“

„Carrie, wusstest du dass dein Vater nur eine Weile vor… dem Vorfall damals, ein Geheimfach in den Schlafzimmerschrank hat einbauen lassen?“

„Wie bitte?“ Ich glaube nicht, dass ich je so ungläubig geklungen habe und ich bin bereits in der Lage, eine Menge zu glauben. „Wieso denn das?“

„Naja, einfach so. Um Dinge zu verwahren“, meint sie beiläufig und beginnt damit, sich nebenher ein Brot mit Marmelade zu schmieren. „Er hat damit vor meinem Mann angegeben und es uns damals gezeigt, als es gerade fertig war. Du warst in der Schule.“

„Und dieser Nachlass den du meintest – der ist in diesem Fach?“, kombiniere ich ihre Aussagen und scheine richtig zu liegen, als sie dezent nickt.

„Wie gesagt, ich weiß nicht, was es ist. Es war damals so, dass deine Mutter mir erzählte, dass es ein Brief deiner Großmutter war, welchen du nie sehen solltest. Jedenfalls nicht, bevor du alt genug bist, um es zu verstehen“, erklärt sie und sieht mich eindringlich an, in ihrem Tun derweil innehaltend. „Ich hatte auch nur gefragt, weil dein Name ganz groß auf dem Umschlag stand.“

„Und was wurde aus dem Fach?“

Nun scheint sie etwas zurückhaltender zu sein, was die Antworten angeht. „Ich weiß es nicht. Vermutlich wusste niemand außer mir noch, wo das Fach war – oder dass es das Fach überhaupt gab – zu der Zeit, als das Haus verkauft wurde. Und davor ebenfalls. Als das alles geschah lag ich im Koma, dein Onkel war tot und es gab niemanden, der es der Polizei hätte sagen können. Vielleicht haben die neuen Mieter das Fach gefunden – vielleicht aber auch nicht.“

„Dann müssen wir es holen!“, dränge ich praktisch sofort als sie den Satz beendet. „Bitte, Sara, bitte!“

Mir ist egal wie kindisch ich klinge. Ich muss an diesen Brief kommen.

Sie atmet ein paar Mal kurz durch und scheint dann auf eine Entscheidung gekommen zu sein. „Also gut. Aber wir rufen nur dort an, fragen die Leute danach und bitten dann darum, vielleicht dort vorbeifahren und die Sachen bergen zu dürfen. Das tun wir, wenn wir die Zeit dazu haben – verstanden?“

Mit einem plötzlichen Verlust des Elans den ich gerade noch hatte, lasse ich mich schlaff in den Stuhl hinter mir fallen. „Alles klar…“

Das kann ja noch was werden.

 

„Carrie!“, ruft Chris mir zu, als sie mich entdeckt und ich sehe sie praktisch im selben Moment. „Und? Hast du alles dabei? Ich hab dich heute Morgen noch nicht fragen können…“

„Klar, was sonst?“, antworte ich auf ihre Frage mit einer Gegenfrage.

„Und hast du deiner Tante Bescheid gegeben?“, erkundigt sie sich weiter.

Was bin ich? Ein Kleinkind? „Ja, Mami. Alles erledigt. Schon gestern Abend. Zufrieden?“

„Jup, total. Na dann können wir ja-“

„Hey!“, unterbricht uns eine Stimme, die wir bereits gut kennen und die mir ein ums andere Mal eine Gänsehaut im Nacken sprießen lässt.

„Ella…“, meint Chris nur etwas wackelig. „Was machst du denn hier?“

„Ich hab euch gesehen und dachte, ich schau mal so vorbei“, antwortet sie wie selbstverständlich.

„Ja, das haben wir tatsächlich gemerkt…“, lässt Chris mehrdeutig fallen, als sie sie missmutig ansieht.

„Und warum wolltest du vorbei schauen?“, mische ich mich nun ebenfalls ins das Gespräch mit ein.

Und Ella sieht uns nur mehrdeutig an. „Na, wegen dem Mädchenabend.“

„Mädchen…abend?“, fragt Chris ein wenig verwirrt.

Was denn für ein Mädchenabend?

Doch als sie auf meine Extratasche zeigt, wird alles klar. „Das ist kein Mädchenabend. Wir haben etwas vor und das geht wirklich nur uns beide etwas an. Würdest du uns also entschuldigen?“

Der Blick den sie mir nun zuwirft, ist irgendwie nicht zu deuten und am liebsten würde ich einfach gehen, aber irgendetwas hält mich. Mein Kopf beginnt schon wieder weh zu tun.

Sie ist mit Sicherheit nicht unschuldig. Warum geht man fremden Menschen auf die Nerven?

„Ich möchte gerne mitkommen“, fragt sie geradeheraus.

„Sehr subtil, Schätzchen, aber das haben wir irgendwie schon gemerkt. Nur wie gesagt – es ist so ’ne Sache zwischen uns beiden. Privat, verstehst du?“, versucht Chris es ihr verständlich zu machen.

Doch sie gibt keine Ruhe. „Aber wir sind doch… Freundinnen, oder nicht? Du solltest keine Geheimnisse vor mir haben.

„Nein, sind wir nicht“, kommt Chris‘ sofortiges Kommentar in einem recht herzlosen Ton. „Komm Carrie, ich hab noch ‘ne Stunde, du nur ‘ne Freistunde – wir suchen dir ‘n Plätzchen zum Abwarten…“, murmelt sie vor sich hin und ich folge ihr einfach.

Doch so weit kommen wir nicht, denn Ella ist schon wieder bei uns, noch ehe wir weit kommen. Sie ist wirklich unheimlich.

„Wir sind nicht deine Freunde, okay? Wir möchten gerne unsere Ruhe haben…“, versuche ich es nun, mit ihr zu reden.

Ich weiß, es ist nicht nett, aber… sie macht mir Angst. Schon seit dem ersten Tag. Ich möchte doch gerade nur… dass sie mich in Ruhe lässt. Versteht sie das nicht?

Doch sie packt mich stattdessen an den Oberarmen. „Aber wir sind doch so gute Freunde. Ich kenne sogar dein größtes Geheimnis, Carrie!“, besteht sie auf ihre Annahme.

Und als sie das sagt, versteife ich mich ungewollt. „Größtes Geheimnis?“

„Na, deine Angst vor Schatten, natürlich.“ Ihre freudige Stimme jagt mir einen unangenehmen Schauder über den Rücken und lässt mich frösteln.

„Woher weißt du davon…?“

„Na, du hast es doch selbst erzählt. Und du willst sicher nicht, dass irgendjemand sonst davon erfährt, oder?“

„Ella…“, beginnt Chris hinter mir etwas bedrohlich. Doch ich halte abwehrend eine Hand in Richtung Chris.

„Schon gut. Lass sie einfach. Sie ist verrückt.“ Ich schüttle die lästigen Hände ab und packe meine Taschen. „Ich werde jetzt einfach hier warten, während du zu Biologie gehst.“

„Und du würdest es wirklich akzeptieren, wenn jeder dein Geheimnis erfährt, Carrie?“, versucht sie es erneut.

Doch diesmal bin ich es, die gehen will. „Weißt du was? Ich lasse mich nicht erpressen. Erzähl doch was du willst…“

Meine Kopfschmerzen werden immer schlimmer, bis sie unerträglich werden, so packe ich Chris am Arm. „Du hast Recht – wir gehen.“

So lassen wir sie einfach dort zurück.

Ich hoffe, es war die richtige Entscheidung.

 

„Weißt du“, schneide ich ein Gespräch an, als wir umgezogen und fertig für das Bett, Chris‘ Zimmer betreten. „Deine Mum ist wirklich nett.“

„Danke, aber das ist sie nur, wenn ihr auch der Sinn danach steht. Und sie mag dich, weil sie die Hoffnung hat, du könntest mir Manieren beibringen“, kommt es beinahe bissig von ihr zurück, als sie ihr Handy zückt und darauf irgendetwas eintippt. „Sie ist sich sicher, dass ein Mädchen welches bei ihrer Großmutter aufgezogen wurde, mit einigen anderen Werten vertraut sein sollte, denn alte Leute sind bekanntlich oft sehr Traditionsbewusst und kennen es auch anders. Ihrer Meinung nach, sollte das vielleicht einen guten Einfluss auf deine Entwicklung gehabt haben…“

Ich muss lachen, als ich sie da so stehen sehe und sie sieht mich fragend an. „Ach, nichts…“

An dieses Zimmer muss ich mich zuerst gewöhnen. Sie hat wirklich einige DVDs, doch das dachte ich mir eigentlich bereits – Bücher hat sie ebenfalls und auch das ist keine Überraschung.

Vor allem Horrorgeschichten scheinen es ihr angetan zu haben – noch eine Sache, die ansonsten ebenfalls nicht unauffällig ist.

Alles in allem scheint sie größtenteils genau das zu sein, wonach sie die ganze Zeit aussah – eine Besessene von Horrorgeschichten und eine sehr offene Person.

Keine Geheimnisse, die in diesem Zimmer versteckt scheinen. Nichts, das mich anschreien würde, dass etwas hier nicht richtig ist.

Alles scheint an seinem Platz und auch genau dort hinzugehören. Kleine Figürchen stehen hier und dort. Bilder an den Schränken und Wänden.

„Also dann“, beginnt sie wieder zu sprechen und lenkt meine Aufmerksamkeit so zurück auf sich. „ich finde es ziemlich cool, dass du hier dein Experiment ‚erste Nacht im Dunklen‘ durchziehen willst, zusammen mit mir, jedoch sollten wir dafür auch endlich schlafen gehen, meinst du nicht? Die Sonne ist bereits untergegangen.“

Ich sehe zu dem kleinen Fenster über dem Kopfende ihres Doppelbettes. Es ist so ziemlich das größte Möbelstück in diesem Raum und nimmt fast den ganzen Platz weg, den der Schreibtisch und eine Kommode mit einem Mini-Fernseher – welcher bereits sehr alt aussieht und auf dem einige kleine Aufkleber prangen – noch übrig lassen.

So seufze ich nur und stimme zu, „Klar, lass uns schlafen gehen.“

Gesagt – getan. Nur wenige Minuten später, liegen wir nebeneinander im Bett und es ist das erste Mal seit Jahren dunkel.

Einfach nur dunkel.

Ich kann die Atmung von Chris verfolgen. Das ruhige Ein und Aus.

So lange, bis sie immer gleichmäßiger werden und ich mir sicher bin, dass sie eingeschlafen ist. Während ich noch immer hellwach bin.

Zumindest fühlt es sich so an, doch es könnte auch an der Nervosität liegen. Ich versuche die Augen zu schließen, doch ich kann nicht.

Zu viel Angst habe ich, dass ich etwas nicht sehen kann. Und dann wird mir klar, dass ich ohnehin nichts sehen kann – diese Tatsache beginnt mich zu erschrecken.

Die Dunkelheit selbst ist nicht das, was mir Angst macht. Es ist das, was in der Dunkelheit auf mich lauert. Das, was ich nicht sehen kann.

Auch ich versuche, so gleichmäßig wie möglich zu atmen und als lange Zeit alles still ist, werde ich tatsächlich ruhiger. Es ist fast so, als würde mich die Dunkelheit einlullen.

Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal ohne das Stechen einer hellen Lampe in den Augen, versucht habe zu meiner nächtlichen Ruhe zu kommen.

Es wurde einfach so normal für mich.

Doch es sollte auch klar sein, weshalb man normalerweise in der Dunkelheit schläft.

Seufzend schließe ich letztendlich doch die Lider, als ich spüre, wie die Energie von zuvor verschwindet und ich immer müder werde. So lange, bis mich eine wohltuende Taubheit umschließt und ins Reich der Träume geleitet.

Es ist beinahe friedlich. Keine Träume.

Doch ich erwache. Durch einen zunächst beinahe sanften Druck in meinem Kopf, der jedoch sehr schnell zu einem brennenden Schmerz wird.

Und das nächste was ich mitbekomme, ist eine Berührung.

Diese Berührung ist kalt und alles was ich zuerst tue, um darauf zu reagieren, ist einen genervten laut von mir zu geben. „Chris… zieh deine Füße ein…“, doch als ich zusammen mit meiner Beschwerde einen Arm nach ihr ausstrecke, wird mir klar, dass sie sich zur Seite eingerollt hat.

Wie ein Ball, an den anderen Rand des Bettes.

Was heißt… sie kann mich unmöglich am Knöchel berühren.

Wenn ich eben noch irgendwie verschlafen war, dann bin ich jetzt hellwach. Doch es bringt mir nichts mehr.

Denn das Nächste was ich spüre, ist ein harter Ruck und leichter Druck an meinem Knöchel.

Und das Letzte das ich wiederum spüre, ist der harte Aufprall, als ich mit einem Knall gegen irgendeine harte Oberfläche geworfen werde.

Die Schmerzen betäuben mich für einen langen Moment.

Als das Licht eingeschaltet wird, kann ich nichts tun. Keinen Ton sagen. Mein Rücken schmerzt.

Mein rechter Fuß schmerzt jedoch ein wenig mehr und als mein Blick darauf fällt, bekomme ich einen kleinen Schock.

Es hat sich beinahe sofort ein blauer Fleck gebildet und obwohl er noch schwach ist, kann man dessen Form genau erkennen.

Ich greife instinktiv danach und sehe mit Verwunderung, wie der Fleck perfekt von meiner Linken verdeckt wird. Als würde sie genau dort hingehören, doch darüber schüttle ich nur den Kopf.

Es ist die Form einer Hand. Ein blauer Fleck, der die Form einer Hand aufweist.

Erst in diesem Augenblick merke ich, wie ich angestarrt werde. Und ich starre zurück.

Chris, die auf dem Bett sitzt, sieht mich einfach nur an, wie ich da so auf dem Boden liege – die Füße von mir gestreckt, seltsam an der Wand lehnend und mit einem üblen Abdruck auf dem Knöchel, welcher just in diesem Moment auf die Idee kommt, einen stechenden Schmerz auszusenden, der mich hissend zusammenzucken lässt.

Super.

Doch meine Reaktion scheint Chris aus ihrer Starre zu erwecken, denn sie schlägt sogleich dir Decke zur Seite und springt praktisch aus dem Bett, um sich neben mir nieder zu lassen. „Geht’s dir gut? Was ist passiert? Ich habe nur das Krachen gehört, und dann…“, stammelt sie, doch ich hebe nur abwehrend eine Hand.

„Mach dir keine Sorgen. Es geht mir gut. Ich wurde…“ Einen Moment überlege ich, wie ich das erklären soll, doch eigentlich ist es gar nicht so schwer, wenn man es genau nimmt. „Mich hat etwas am Bein aus dem Bett gezogen und gegen die Wand geschleudert.“

Wow, das klingt wirklich bescheuert, wenn man es so hört. Vielleicht hätte ich besser über meine Worte nachdenken sollen? Aber ich weiß nicht einmal, ob ich das kann.

Ich kann nicht sagen, dass ich keine Panik habe, auch wenn es so wirkt, als hätte ich keine. Das Gefühl angegriffen worden zu sein…

Es macht mir Angst. Bisher habe ich die Hand immer wieder gesehen, doch noch nie gespürt – jedenfalls noch nie in diesem Maße, oder auf eine solche Weise.

Und was hat diese Stimme gesagt? Ich solle zum- „Carrie!“, unterbricht Chris meine Gedanken etwas forsch und greift nach meinen Oberarmen. „Weißt du eigentlich, wie absolut krank das ist?!“

Autsch.

Doch ich kann auch nicht mehr tun, als sie anzustarren – an antworten ist gar nicht zu denken. „Äh, nun… Also…“

Allerdings stellt sich mein Versuch zu antworten ohnehin als unnötig heraus, als meine aufgedrehte Freundin bereits weiter spricht. Wobei ‚sprechen‘ doch etwas… „Das ist sowas von unglaublich!“, rastet sie beinahe aus. „Im Ernst, ab jetzt will ich von dir über alles informiert werden, was auch immer geschieht. Ohne Ausnahme. Das ist so ziemlich das Krasseste das ich je gesehen habe…“

Ich weiß ehrlich nicht, was ich darauf erwidern soll.

Mir bleibt nicht viel, außer sie anzustarren. Für lange Minuten, in denen sie nun einfach vor mir auf dem Boden sitzt.

Und dann fällt mir erneut ein, dass die Stimme etwas gesagt hat und meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen, als ich an diesen Ort denke – doch sie muss ihn einfach gemeint haben.

Ich muss dort hin. Und aus irgendeinem Grund, will mir nur eine Möglichkeit dazu einfallen, wie ich das schaffen kann.

„Sag mal, Chris, kannst du mir vielleicht noch einen Gefallen tun?“

Ihr Blick wandert von dem seltsamen Fleck auf meinem Knöchel zu meinem Gesicht hinauf. „Was denn für einen?“

Mein Blick wandert durch den Raum, tapeziert mit Postern zu irgendwelchen Horrorfilmen, wobei er an einem hängen bleibt, welcher ein seltsam Zombieartiges Mädchen zeigt, das zu lachen scheint und darunter steht etwas von einem ‚bösen Tod‘. So schüttle ich den Kopf und sehe wieder zu ihr.

„Ich muss wegfahren – es gibt einen Ort zu dem ich muss. Es ist wirklich wichtig. Wirklich. Doch der Weg ist weit – ich werde wohl über Nacht unterwegs sein und Donnerstag haben wir frei, also ist das der einzige mögliche Termin. Aber ich kann nicht fahren und habe folglich natürlich auch kein Auto das ich fahren könnte. Daher…“

Eine Weile bleibt es still, bis es bei ihr scheinbar klick macht. „Oh, und du meinst da ich einen Führerschein habe, kann ich ja meine Mutter bitten mir ihr Auto zu leihen, was sie ja sonst schon nie tut, um dich irgendwo in die Pampa zu fahren – womit ich ganz nebenbei nicht nur den morgigen Tag, sondern wahrscheinlich auch noch den freien Tag darauf teilweise verschwenden werde – nur damit du tun kannst, was auch immer du tun willst?“

Kurz wäge ich ab, was ich nun sage, doch die Wahrheit erscheint mir am Plausibelsten. „Also… ja, schon irgendwie.“

Ihre Augenbrauen wandern bei dieser Aussage wie auf magische Weise nach oben, als wollten sie ihr in den Haaransatz kriechen, während sie mich ausdruckslos anstarrt.

Und nachdem auf diese Weise einige Momente vergehen, glaube ich schon gar nicht mehr daran, doch schließlich spricht sie wieder. „Alles klar, warum nicht“, meint sie schlicht und zuckt emotionslos die Achseln.

Zugegebenermaßen schockt mich diese Antwort ein wenig. „Was? Einfach so? Du willst gar nicht das Ziel kennen? Den Grund?“

„Den werde ich schon noch erfahren, oder nicht?“, reagiert sie nur lässig auf meinen eigentlich legitimen Einwand. „Nebenbei finde ich dein Leben ziemlich abgedreht. Wie in einem Film, der die Zuschauer in zwei Lager spalten würde – die einen, die ihn hassen und die anderen, die ihn lieben. Ich wär gern ein Teil davon.“

Über diese Aussage kann ich nur lachen – wir können gerne tauschen, denn ich will längst kein ‚Teil‘ mehr davon sein, wenn ich ehrlich bin.

Diese Gedanken behalte ich jedoch für mich. „Na, wenn du meinst – aber sei vorsichtig, sonst frisst dieser ‚Film‘ dich noch mit Haut und Haaren auf.“

Danach geht das Licht erst einmal nicht mehr aus und eine Weile später erscheint bereits die Sonne am Horizont.

Ja, ich werde es tun. Gleich morgen.

 

Ich kehre zum Ursprung zurück.

Chapter 13: Flowing Shadows

 

„Wie kann man einen Menschen beweinen, der gestorben ist?

Diejenigen sind zu beklagen, die ihn geliebt und verloren haben.“

– Helmuth von Moltke

 

 

Etwas aufgeregt, tappe ich mit einem Fuß immer wieder auf den Boden, was meinen halben Körper zum Wackeln bringt und vermutlich ausreichend dämlich aussieht, um offen über mich zu lachen, doch das könnte mir gerade nicht egaler sein.

Immer wieder muss ich nicht nur an den Abend zuvor denken – an die Nacht, eher gesagt – sondern auch an das, was dieses Mädchen gestern sagte. Bisher scheint jedoch niemand zu lästern, so scheint es, als hätte sie ihre Drohung noch nicht wahr gemacht.

Erst als ich den mittlerweile Bekannten, graubraunen Haarschopf in der Menge auftauchen sehe, auf den ich die ganze Zeit warte, atme ich erleichtert auf und stoße sofort zu ihr.

„Und? Hat deine Mutter sich nun endlich entschieden?“, bewerfe ich sie buchstäblich mit meiner Frage.

Zuerst macht sie eine etwas mehrdeutige Bewegung mit dem Kopf, bis sie plötzlich freudig nickt und mich strahlend ansieht. „Na klar!“ Dann wird ihr Blick jedoch wieder sachlicher. „Immerhin haben wir morgen frei und du bist noch immer neu hier, also darf ich mit dir auf einen kleinen Ausflug gehen, solange ich darauf achte, den Tank nachzufüllen. Zu viel sollte ich daher besser nicht verfahren – ich hab nicht so viel das ich locker machen könnte…“, meint sie und wird gegen Ende etwas leiser.

Doch ich mache nur eine wegwerfende Handbewegung. „Lass das mal meine Sorge sein. Hauptsache du hast den Wagen – und kannst auch fahren.“

„Logisch“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. „Ich muss noch kurz ins Sekretariat. Wirst du hier auf mich warten? Dann können wir zusammen in den Unterricht gehen. Es ist erst kurz nach neun, daher…“

„Logisch“, imitiere ich ihre Antwort von zuvor und in dem Moment entgeht mir ihr etwas seltsamer Blick nach unten nicht. „Was ist?“

„Ähm… naja, mir fiel nur gerade wieder ein, dass…“, sie stockt und scheint zu überlegen, welche Worte sie nun am besten verwendet. „Naja, dein Bein. Geht es wieder? Es sah irgendwie übel aus…“

Ich nicke matt. „Ja, es war nur ein blauer Fleck – sah also schlimmer aus, als es war. Zum Glück…“

„Ja…“, stimmt sie zu und seufzt. „Aber gut, dass du Glück gehabt hast. Also bis gleich – und warte genau hier, sonst finde ich dich nachher nicht mehr!“, mahnt sie – gespielt ernst – und richtet ihre braune Umhängetasche an der Schulter, als sie von dannen zieht.

Unterdessen stehe ich nur mitten auf dem Gang. Sehe zu, wie er immer leerer wird. Die Schüler alle verschwinden.

Der Unterricht beginnt zwar bald, doch noch haben wir ein wenig Zeit.

Trotz dessen, fühlt sich irgendetwas komisch an. Daran, hier zu stehen. Und es ist nicht einmal die bloße Tatsache hier zu stehen – auch nicht der Ort an sich.

Denke ich zumindest.

Es ist etwas anderes. Es ist, als wäre etwas nicht richtig.

Ich schüttle nur den Kopf über meine Gedanken. „Was soll schon sein? Es ist eine Schule.“

Langsam beginne ich damit, auf dem Gang umherzuwandern. Von links nach rechts.

Vor und zurück. Seitwärts und von einer Tür zur Anderen.

Ja, manche Gespräche können wirklich dauern, aber muss sie es denn so sehr in die Länge ziehen, wenn sie gerade vorher jemanden dazu gebracht hat, auf sie zu warten? Mist…

Meine Füße tragen mich immer weiter und das seltsame Gefühl wächst mit jedem Schritt den ich wage. Doch stoppen kann ich nicht.

Es ist, als würde mich etwas in diese Richtung ziehen. Ich weiß was dort ist.

In dieser Schule gibt es einen kleinen Raum mit einem Kopierer – eigentlich ist das Wort ‚Raum‘ bereits zu viel dafür – es ist nur eine kleine Nische hinter einer Tür, wenn es nach mir geht.

Und in diesem ‚Raum‘ gibt es kein Licht. Zumindest nicht gestern, denn ich war dort. Es sollte heute repariert werden, solange nutzte ihn eben keiner.

Es ist nur ein kleiner, L-förmiger Raum, ohne Fenster oder sonstige Lichtquellen.

Durch die Form gelang in den hinteren Bereich, dort wo der eigentliche Kopierer, also das Wichtigste, steht, kein Licht hinein. Wenn das Licht an der Decke also kaputt ist, dann ist es finster.

Und ich hasse mich dafür, dass ich aktuell auf genau diesen finsteren Raum zugehe.

So atme ich zwar einmal tief durch, halte dabei jedoch nicht ein einziges Mal an. Und als ich die Tür öffne, und ein Stück um die Ecke sehe bekomme ich etwas zu sehen, das mir die nackte Angst in die Glieder fahren lässt.

Und einmal schäme ich mich nicht dafür, als sich ein stechender Schrei aus meiner Kehle löst, welche schon wenige Minuten später eine ganze Schaar Schüler und Lehrer zu mir auf den Gang hinaus lockt, wo sie ebenfalls Zeuge von dem werden, was ich nie sehen wollte.

Es wirkt beinahe, als würde sie stehen. Die Haltung erinnert mich so sehr an die erst vor kurzem geweckte Erinnerung an meines Vaters Tod, dass mir schlecht wird – nicht nur, wegen dem was ich aktuell sehe.

Wie bei meinem Vater… wenn man genau hinsieht, erkennt man dass es nicht so ist, wie es im ersten Moment scheint.

Es ist das, was keiner hätte kommen sehen können.

Die tote Ella Thompson, an einem Seil von der Decke baumelnd…

 

Die Polizei hat den Tatort abgesperrt. Dennoch können sie die Traube an schaulustigen Schülern nicht davon abhalten, weiterhin schaulustig und neugierig zu sein.

Sogar einen Lehrer erkenne ich unter ihnen – es ist Ms. Wayland, unsere Englischlehrerin.

Bei all dem was gesagt wird, sickert eine Information nach der anderen durch. So zum Beispiel die Nachricht, dass Ella bereits seit gestern tot sein soll – laut der Gerichtsmedizin zumindest.

Auch ich wurde bereits dazu befragt, wann ich sie denn das letzte Mal gesehen hatte.

Doch da es schien, als seien ich und Chris so ziemlich die letzten gewesen, die sie gesehen hatten, habe ich es lieber für mich behalten – sagte, ich habe sie gestern nach dem Unterricht überhaupt nicht mehr gesehen. Und ich denke nicht, dass es eine schlechte Idee war.

Selbst wenn es ein komisches Gefühl ist, einen Polizisten zu belügen.

Denn irgendwer hatte ihnen gesteckt, dass ich die war, auf die Ella neuerdings ‚fixiert‘ war. Was heißt, ich stehe womöglich im Kreise der Verdächtigen, sollte das hier kein Selbstmord gewesen sein – Gott, das klingt so falsch...

Wieso habe ich das Gefühl, dass es keiner war? Es ergibt keinen Sinn.

Ich bleibe nur so lange, bis ich Christine sehe, welche auch endlich einmal die Güte hat, ihren Hintern in meine Richtung zu bewegen – wäre jetzt noch an Unterricht zu denken, kämen wir beide sicher zu spät.

Doch das ist zugegebenermaßen wohl die geringste Sorge die hier irgendjemand hat.

„Sie war psychisch labil – hat sich eingebildet mit Leuten befreundet zu sein, die sie gar nicht kannten und wenn sie einmal auf jemanden fixiert war, dann konnte es gut und gerne auch mal heftiger zugehen“, höre ich einen Lehrer erklären. Der Vertrauenslehrer, beziehungsweise Schulpsychologe. Und Mathematiklehrer – eine furchtbare Kombination.

Er spricht gerade zu einem Polizisten, welcher ihn fragend ansieht. „Heftiger? Definieren sie bitte  ‚heftiger‘.“

„Wie soll ich sagen…“, beginnt der Lehrer. „Es war so, dass sie die Leute verfolgte und hinter ihnen her spionierte. Irgendwann begann sie dann, Erinnerungen zu erfinden die nie stattfanden – gemeinsam mit ihren ‚Freunden‘. Gemeinsame Kinoabende, Übernachtungen, Stadtbummel, oder Partys, die es nie gegeben hat… das volle Programm. Und wenn man sie abwies, konnte sie leicht gewalttätig werden, was sie schon mehrmals über kurze Zeitspannen in Besserungsanstalten gebracht hat.“

„Und so eine habt ihr nicht wegsperren lassen? Ernsthaft?“, meint der Polizist in einem recht ungläubigen Tonfall. Hätte ich mir sicher auch gedacht – auch wenn ich es vielleicht nicht ausgesprochen hätte, und schon gar nicht so.

Immerhin sprechen wir hier von einer Toten… Auf der anderen Seite bin ich aber auch der Meinung, ob Menschen tot sind, oder nicht – man sollte nicht plötzlich so tun, als wäre es ein toller Mensch, wenn man dies nicht denkt.

Der Tod ist keine magische Entschuldigung für alles.

Als ich mich wieder auf die beiden konzentriere, schüttelt unser Lehrer nur leicht den Kopf. „So schlimm war sie eigentlich auch wieder nicht – sie hatte schon lange keine ‚Opfer‘ mehr und war harmlos geworden, das können Sie mir glauben. Daher hielten wir es für eine gute Idee, sie von anderen nicht fern zu halten, um sie zu resozialisieren, auch wenn es komisch klingen mag…“ Er macht eine kurze Pause und fährt sich mit einer Hand durch das braune Haar. „Ich hätte einfach nie gedacht, dass sie einmal…“

„Noch ist nichts sicher. Wir untersuchen noch – tatsächlich sieht es bisher eher so aus, als hätte sie es gar nicht selbst tun können.“, bestätigt er das schreckliche Gefühl, welches mir bisher so unbedeutend erschien – es schien so unbegründet. Mein Magen verkrampft sich bei dem Gedanken.

Mord.

„Wirklich?“, stößt der Lehrer daraufhin überrascht aus. Seltsam, dass ich weiß wer dieser Kerl ist, jedoch seinen Namen nicht kenne. Wahrscheinlich habe ich ihn umgangen, so gut es geht, ohne es wirklich zu realisieren.

Der Polizist sieht ihn an und lehnt sich nach vorn. Er merkt glaube ich nicht, dass sich überhaupt irgendwer nicht auf den Tatort und die Spurensicherung konzentriert, sondern auch auf ihn.

Jemand wie ich, zum Beispiel.

Und da sagt er es. „Es gab nichts, auf dem sie hätte stehen können. Zwar sagen hier fast alle aus, dass sie verrückt war und sicher das Potential zum Suizid hätte haben können, doch alles deutet darauf hin, dass das hier kein freiwilliges Ausscheiden aus einem jungen Leben war, verstehen Sie?“ Kurz hält er inne und sieht den anderen dann noch einmal ernst an. „Bitte behalten Sie diese Information fürs Erste für sich, Sie sind immerhin Vertrauenslehrer – Sie können das sicher. Es sollte vielleicht noch eine kleine Weile unter uns bleiben.“

Ich sehe zwar wie sein Gegenüber nickt, doch steht es ihm ins Gesicht geschrieben, wie schockiert er ist.

Was ist schlimmer? Eine Gestörte die sich im Kopierraum ihrer Schule erhängt, oder ein Gestörter, der eine andere Gestörte im Kopierraum ihrer Schule erhängt?

Ich erkenne eigentlich keinen Unterschied, außer dass im zweiten Falle noch ein Gestörter auf freiem Fuß wäre. Und das ist vermutlich auch das Problem, weswegen

Doch das ist im Moment nicht mein Problem. Denn ich habe heute nicht die Zeit, auf ein Revier zu gehen und zu erklären, warum meine Fingerabdrücke am Tatort sind. Sie werden sagen, ich bin ihre beste Spur.

Dabei ist es Bullshit, sie haben nur nichts anderes. Und natürlich haben sie das auch nur deshalb, weil sie meine Fingerabdrücke zuzuordnen vermögen, ohne meine Abdrücke erst bei mir einfordern zu müssen.

Schnell packe ich Chris am Arm, als ich das Gefühl habe, es passt ohnehin keiner mehr auf und zerre sie den Gang entlang. „Komm, ich glaube, der Tag ist für heute vorbei.“

„Was?“, fragt sie perplex. „Aber die Polizei hat-“

„Ist egal“, falle ich ihr in den Satz. „Wir müssen uns beeilen. Das Auto deiner Mutter hat ein Navi, oder nicht?“

Verwirrt sieht sie mich an, als wir vor der Schule endlich zum Stehen kommen. „Dann ist der Weg ja nicht so schwer zu finden.“

„Der Weg? Wohin? Du hast mir nie gesagt, wohin genau wir eigentlich fahren wollen, wenn ich so darüber nachdenke!“ beschwert sie sich, doch ich lache nur.

„Wir fahren in meine alte Heimat – nun komm schon! Die Fahrt wird nämlich eine ganze Weile dauern – und damit meine ich wirklich eine ganze Weile.“

Als sie mir noch hinterher trottet, stehe ich bereits an dem kleinen schwarzen Wagen.

Ein weiterer Polizeiwagen fährt derweil vor der Schule auf den Hof auf und ehe mich die Insassen sehen können, steige ich geschwind ein.

„Los, komm schon“, rufe ich noch einmal und atme erleichtert auf, als sie sich letztendlich entscheidet, doch noch einzusteigen und den Schlüssel im Schloss zu drehen.

 

Auf nach Black Hawk.

Chapter 14: Destructive Shadows

 

„Wir sollten niemals aus den Augen verlieren,

dass der Weg zur Tyrannei mit der Zerstörung der Wahrheit beginnt.“

– Bill Clinton

 

 

Etwas unruhig rutsche ich in meinem Sitz hin und her – versuche jedoch gleichzeitig, nicht die Aufmerksamkeit meiner Begleiterin auf mich zu ziehen.

Wir sitzen nun schon seit Ewigkeiten in diesem kleinen Wagen fest – jedoch ist es wahrscheinlich nicht die Größe des Gefährts, die mich gerade nervös macht.

Nein, es ist eher der Umstand, dass die Polizei in der Schule ist. Denn auch wenn ich es Chris verheimliche, wird es früher oder später klar werden.

Sie suchen mich.

„Hey, was tust du da?!“, ruft sie entsetzt aus, als ich ihr das Handy klaue und es kurzerhand aus dem Wagenfenster werfe.

„Mach dir keine Sorgen – wenn wir zurück sind, werde ich dir das alte Teil ersetzen“, meine ich nur zur Verteidigung, dann nehme ich mein eigenes Mobiltelefon zur Hand. „Und Meines wird ebenfalls hinterherfliegen, also geteiltes Leid, okay?“

Doch ihr Gesicht sagt mir, dass gar nichts okay ist, als sie von der Straße immer wieder geschockt zu mir hinüber sieht. „Das… Du kannst doch nicht… Es ist… Das war noch nicht einmal abbezahlt! Meine Mutter wird mich umbringen…“, ihre gestammelten Worte, bringen mich zum Lachen, was sie noch mehr aufregt.

Ich hebe abwehrend die Hände. „Wirklich. Beruhige dich. Ich werde dir ein Neues kaufen, okay?“, wiederhole ich und wähle nebenbei eine Nummer auf dem Display aus, indem ich darauf tippe. „Aber nun sei bitte einen Moment still, ja?“

Sie sieht aus, als würde sie vor Schock ein steifes Gesicht bekommen, doch darauf kann ich gerade keine Rücksicht nehmen, als das Tuten, das nebenbei aus dem Telefon drang, durch ein leises Klicken verklingt und jemand ran geht. „Sue?“, frage ich, doch eigentlich ist diese Frage unnötig.

„Ja?“

„Es tut mir leid, dass es so kurzfristig kommt, aber erinnerst du dich an die Bitte? Die Bitte, die ich bei unserem letzten Telefonat geäußert hatte?“

Einen Moment herrscht Stille. Dann höre ich sie ausatmen. „Ja, daran erinnere ich mich.“

„Gut… das ist gut. Und weißt du, wo sie jetzt sind?“

„Zu Hause, wo denn sonst? Doch irgendwann heute Abend werden sie verschwinden. Fahren ihren Sohn im Krankenhaus besuchen. Ist recht weit weg. Wieso willst du das jetzt wissen?“

Als ich das höre, würde ich am liebsten das Armaturenbrett treten, schreien und toben, doch ich halte mich zurück und massiere mir stattdessen mit meiner freien Hand den Nasenrücken. Angeblich hilft das, wenn sich Kopfschmerzen anbahnen.

Bei mir nicht. „Okay, vielen Dank. Kannst du mir noch einen Gefallen tun?“

Sie scheint zu warten, ehe sie antwortet. „Was denn?“

Ich seufze. „Sei bitte in einigen Stunden, gegen Morgengrauen, am Haus. Okay? Bitte, es ist sehr wichtig.“

„Was? Wieso sollte ich-“, beginnt sie, doch ich unterbreche sie sofort in ihrer Aufregung.

„Ich erkläre es dir dann – bitte, tu es einfach, okay?“

Nun ist es wohl an ihr zu seufzen. „Also gut. Aber ich werde nur dort warten – und dafür bist du mir was schuldig, verstanden?“

„Klar, verstanden“, stimme ich zu. „Aber…“ Meine Worte verklingen.

Denn genau in diesem Moment, ertönt das Freizeichen und lässt mich verwirrt seinem Ton lauschen.

Sie hat einfach aufgelegt.

 

Als wir losgefahren sind, da war es etwa zehn Uhr. Mittlerweile sind wir über neun Stunden unterwegs.

Mein Kopf wiegt schwer und schlägt die ganze Zeit gegen die Scheibe. Und meine Kehle ist staubtrocken.

„Gibt es hier irgendwo Raststätten?“, frage ich frei heraus, doch bekomme nur einen noch immer etwas zornigen Blick meiner Fahrerin. Auch ihr steht die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben, weswegen ich nach der Tasche greife, die zu meinen Füßen liegt.

„Leider ist das Navi meiner Mutter nicht so toll – wir können froh sein, dass er diesen unheimlich weiten Weg überhaupt hinbekommt. Ein Restaurantführer ist leider nicht inbegriffen“, antwortet sie bissig. „Hättest du jedoch mein Smartphone nicht aus dem Fenster geworfen, dann könnte ich ja nachsehen.“

Herrje, ich dachte sie wäre über die Sache mit ihrem Handy hinweg. Ich sagte doch, ich werde es ihr ersetzen – und mein eigenes habe ich ebenfalls nach dem Gespräch mit Sue hinausgeworfen. Ich wollte doch nur verhindern, dass sie uns damit sofort finden.

Wenn sie das nicht ohnehin können.

Das einzige was mir leid tut, ist, dass ich Sara nicht mehr schreiben konnte… das mit uns alles okay ist und das ich sicher bald wieder da sein würde. Dass sie nicht nach mir suchen sollte, sollte etwas geschehen.

Was auch immer geschehen könnte.

Ich seufze und greife nun endlich in die Tasche. „Ich weiß glaube ich, wo wir hier sind. Denn soweit ich das sehe, sind wir hier im Pershing County, wenn du hier herauskommst, dann müsste da vorn irgendwann der County Seat sein. Nicht mehr lange. Es liegt ungefähr auf der Hälfte unserer Strecke. Und da der Tank ohnehin bald leer ist, sollten wir uns beeilen – die Stadt heißt Lovelock. Als ich hier herkam, kam ich das meiste der Strecke mit einem Zug gefahren und er hielt dort ebenfalls an. Wir fahren also einfach mit diesem Zug weiter, wenn wir dort sind – es gibt Züge, in denen kann man schlafen, essen und trinken. Es wäre perfekt.“ Erwartungsvoll sehe ich sie an und hoffe auf eine gute Reaktion.

Welche jedoch leider aus bleibt. „Ja, klar gibt es das, und klar klingt das gut, doch dafür braucht man etwas, das sich Geld nennt – verdammt, wieso habe ich mich hierauf bloß eingelassen…“, murrt sie gestresst und offensichtlich genervt von der Situation.

Ich lege ihr eine Hand auf das Knie. „Fahr dort raus.“ Und sie tut es. „Wir werden mit dem Zug fahren – ich werde meine Sachen erledigen und dann werden wir wieder zurückkehren, als sei überhaupt nichts geschehen, das verspreche ich dir, okay?“

Sie schüttelt nur den Kopf, beruhigt sich aber und fährt einfach weiter. „Das ist ja sowas von verrückt…

„Und war das nicht das, was du wolltest?“ Wie nebensächlich beginne ich, in meiner Tasche zu kramen und ziehe langsam ein Buch daraus hervor. Eine alte, in braunes Leder geschlagene Schatulle. Ihr Antlitz ist bereits ziemlich zerfleddert und der Mechanismus zum Öffnen klemmt ein wenig, doch an sich ist sie noch intakt.

Als wir eine Weile später in die Stadt einfahren, muss Chris nur noch einigen Wegweisern folgen, ehe wir langsam, mit den letzten Tropfen Sprit, in eine Parklücke am Bahnhof einrollen.

Chris‘ Blick geht skeptisch zwischen mir und dem großen Gebäude hin und her. „Und jetzt?“

Doch ihr skeptischer Blick wird starr und ihre Augen groß, als ich die alte Stahlschachtel in meinen Händen aufklappe. „Was zum Teufel?!“

Ich schenke ihr jedoch nur meinen unschuldigsten Blick. „Naja, ich habe einen Teil meiner Abfindung erhalten, so wie hin und wieder Geld, über all die Jahre. Und einen kleinen Nachlass meiner Großmutter, die für mich nur das Beste wollte“, beginne ich zu erklären. „Sie vertraute Banken nicht, daher bewahrten wir unser Geld immer in so etwas hier auf“, meine ich und halte demonstrativ das Kästchen hoch, welches in seinem Inneren zwar hohl sein mag, jedoch voller Geld steckt. „Ich sagte doch, ich werde für dein Handy aufkommen. Wenn du willst, dann auch für den Sprit – damit wir zurückkommen. Lange Jahre hatte ich nichts, was es sich zu kaufen lohnte und ich gab kaum Geld aus, außer hin und wieder für Bücher. Sagen wir einfach: Ich kann es mir leisten. So wie ich mir auch diese Zugtickets für uns beide leisten kann. Wir müssen dringend eine Runde schlafen und das weißt du auch und das hier ist, wenn es jemals eine solche Situation geben kann, definitiv die beste Möglichkeit meine Ersparnisse auf den Kopf zu hauen, denn das hier ist mir ehrlich wichtig.“ Mit einer Hand auf dem Henkel der Wagentür, sehe ich mich zu ihr um. „Kommst du nun, oder bleibst du hier?“

Erst bleibt sie still, rollt dann jedoch genervt die Augen. „Ich habe kein Geld, kann den Tank also nicht allein auffüllen und da ich auch kein Handy mehr habe, würde ich allein wohl sterben – nein, danke. Da komme ich lieber mit.“

Ja, so kann man es natürlich auch sehen…

 

Das Rattern des Wagons über die Gleise, nahm bereits vor einer ganzen Weile einen gleichmäßigen Rhythmus an. Gleichmäßig genug, um darüber hinwegsehen und schlafen zu können.

Eigentlich.

Doch ich nicke nur hin und wieder ein, wache dann wieder auf und nicke kurz darauf erneut ein. Mit Chris ist es dasselbe.

Schon seit Stunden.

„Sag mal, Carrie, was ist das eigentlich, was du da immer siehst?“

Ihre Stimme zu hören verwundert mich; lässt mich aufblicken. „Hm?“

„Na, das was du immer siehst. Was dich auch in meinem Zimmer angegriffen hat. Was ist das genau?“

Ich ziehe etwas nachdenklich die Augenbrauen zusammen. Zugegeben – dafür, dass sie das alles mitmacht, sollte sie vielleicht wirklich alles erfahren. Oder zumindest fast alles. „Nun“, beginne ich langsam und setze mich etwas auf. „Es ist eine Art… Schatten. Ein Monster, das aus den Schatten auftaucht. Doch ist es fast wie ein Mensch – nur eben aus Dunkelheit. Es ist etwas seltsam, wenn man es so hört, das kann ich mir vorstellen, aber es ist wirklich schwer… schwer zu erklären, verstehst du? Ich weiß ja selbst nicht genau was es wirklich ist.“ Und dabei lasse ich weg, was mir unter anderem am meisten Sorgen bereitet.

Nämlich, was es wirklich von mir will. Was ist an mir nicht normal?

Und plötzlich kommt mir ein Gedanke. „Hast du es denn noch nie gesehen?“

Sie sieht mich überrascht an. „Nein – hätte ich sollen?“

„Naja, also…“ Ich denke an diesen Vorfall in der Schule – im alten Musikraum. Dann an die Sache in ihrem Zimmer. Beide Male war es nicht direkt in ihrem Sichtfeld – einmal hinter ihr und einmal mitten in der Dunkelheit, als sie selbst gerade noch schlief.

Es ist also womöglich ganz normal, dass sie es nicht gesehen hat.

Über eine andere Möglichkeit, möchte ich lieber nicht nachdenken.

Ich schüttle nur den Kopf und erhebe mich dann langsam.

„Wo gehst du hin?“, fragt mich meine Weggefährtin.

„Na, wir sind schon bald da und das hier ist ein Langstreckenzug – er hat einen Speisewagen.“ Bei diesen Worten erhellt sich ihre Miene auf einen Schlag, bereits ohne dass sie meine weiteren Worte hört.

„Gehen wir eine Kleinigkeit essen.“

 

Klick. Klick. Und klick.

Ich spüre die Blicke in meinem Nacken, als wären es Hitzewellen, die sich bis in meine Knochen brennen wollen. Hinter uns im Speisewagen sitzt ein Mann. Als ich ihn hier habe sitzen sehen, wurde mir direkt mulmig zumute.

Doch nicht etwa, weil er auffällig aussehen würde – genau genommen, sieht er normal aus. Langweilig.

Wie ein Versicherungsvertreter.

Doch irgendetwas an ihm erschien mir gefährlich – schon zuvor. Denn ich habe ihn das erste Mal gesehen, da habe ich gerade unsere Karten gekauft. Er sah mich so komisch an; musterte mich.

Es ist nicht gut. Und nun schießt er auch noch Fotos. Heimlich.

Ja, ich weiß – die jahrelange Angst davor, beobachtet zu werden, hat mich vermutlich paranoid gemacht, doch ich denke, diesmal ist es nicht meine Psyche die mir vorgaukelt, dass dieser Mann mir gefährlich werden kann.

Er macht nicht nur von mir Fotos. Sondern auch von Chris.

Wenn ich ihn sehe, fühlt es sich nicht gut an. Wie, als ich Ella Thompson das erste Mal gesehen habe. In diesem Moment, als ich vor der Klasse stand und zu ihr sah. Als ich entschied, mich nicht neben sie zu setzen.

Und dann muss ich daran denken, dass die Polizei nach mir sucht. Ich weiß es einfach – denn ich bin vorbestraft. Es war… wegen dieser Scheibe in der Schule.

Ich weiß seit dem, dass meine Fingerabdrücke im System sind – seit damals, als sie sie genommen haben, um im gesamte Haus nach fremden Abdrücken zu suchen, welche sie nie fanden. Zumindest keine, die einem Täter gehört haben könnten.

Sie brauchten meine, um sie genauer zuordnen zu können. Ich frage mich zwar, ob so etwas erlaubt ist, doch… Es ist egal. Ich weiß, dass sie mich erkennen werden. Und das sie nach mir suchen, weil ich das verrückte Mädchen bin, welches grundlos, mit bloßen Händen eine Scheibe in einem Gang eingeschlagen hat.

Das komische Mädchen ohne Freunde, das sich die Haare mit einer Scherbe abschnitt.

Die Neue, welche nach dem Tod ihrer beinahe letzten Verwandten an die Schule kam, und das neue ‚Opfer‘ des eigentlichen Opfers darstellte…

Es wird nicht gut aussehen, das ist mehr als klar – und ich muss das hier  unbedingt tun.

Ich kann mit der Polizei also keine Zeit verschwenden.

In dem Moment sehe ich zu dem kleinen Rest meines Essens, welcher bereits eine ganze Weile auf dem Teller herumliegt und alt wird, dabei wird mir plötzlich schwindelig. Etwas fahrig sehe ich zu Chris auf. „Mir ist… irgendwie schlecht. Ich muss zur Toilette…“

Als ich mich herumdrehe und leicht wankend auf die Türen zugehe, höre ich sie noch hinter mir antworten. „Ja, es ist schon echt spät – ich gehe zurück in unser Abteil, okay?“ Mein Nicken kommt langsam und etwas unkoordiniert, doch sie scheint es zu erkennen, auch wenn sie nur langsam geht, während sie mir etwas besorgt nach sieht. „Wenn du Hilfe brauchst, dann rufe einfach… Es ist ja niemand mehr hier, den du stören kannst und unser Abteil ja ohnehin gleich da vorn.“

Wieder nicke ich, nehme aber den schnellen Weg zum hinteren Ende des Wagons, der auch das Ende des Zuges auf dieser Seite andeutet. „Ich schaffe das schon – wir sind ohnehin bald da…“

In der Toilettenkabine angekommen, lehne ich mich an das Waschbecken und spritze mir erst einmal eiskaltes Wasser ins Gesicht. Mein Kopf schmerzt, als würde er zerspringen wollen und das schreckliche Gefühl, irgendwie nicht erwünscht zu sein – in Gefahr zu sein – lässt einfach nicht nach.

Und ab da, ist alles verschwommen. Es kommt wohl durch das extreme Schwindelgefühl.

So verlasse ich die Kabine wieder und sehe mich in dem mittlerweile menschenleeren Speisewagen um, welcher sich für meine Wahrnehmung etwas zu schnell um mich herum dreht. Es ist bestimmt schon vier Uhr morgens.

Neben mir steht die Tür zur Toilette offen. Noch davon, dass ich mich herausgeschleppt habe.

Ich konnte sie auch hinter mir nicht schließen, denn obwohl es mir nicht gut geht, habe ich die Dunkelheit darin bemerkt.

Ich kann das nicht. Auch nicht, wenn ich versuche stark zu sein.

Nicht, wenn ich so schwach bin.

Einfach die Augen schließend, lehne ich mich an die Wand neben eben jener Toilettentür.

Wie lange ich so da stehe, völlig weggetreten und mit geschlossenen Augen, das kann ich unmöglich sagen. Es fühlt sich an wie Stunden. Vielleicht waren es jedoch nur Minuten.

Auf jeden Fall werde ich wieder zurück in die Wirklichkeit gerissen, als plötzlich jemand an meiner Schulter rüttelt. Ich sehe auf, und es ist Chris. „Hey, wir sind gleich da!“

„Ähm, also… Was machst du hier?“, frage ich verwirrt. Meine Gedanken sind noch immer verworren, doch der Schwindel und die Übelkeit, so wie die übermäßigen Kopfschmerzen… sind einfach weg.

Verschwunden.

Die Zeit mich über diesen Umstand zu freuen, oder auch nur zu wundern, habe ich jedoch nicht. Denn Sie zieht nur leicht an meinem Arm, während hinter ihr eine etwas korpulente Frau mit ihrem Mann – vermute ich – an ihre Schulter stößt und sich nicht einmal entschuldigt.

Doch es scheint sie selbst auch nicht zu kümmern. „Du kamst einfach nicht nach und wir halten gleich, also wollte ich nach dir sehen und da standst du da an der Tür und sahst fertig aus. Geht es denn wieder?“

„Oh… klar“, meine ich nur, weiß jedoch selbst nicht recht, ob es mir gut geht.

Am Rande nehme ich wahr, wie die Frau von zuvor mit einer kleinen Diskussion fertig wird, die sie mit ihrem männlichen Begleiter geführt hatte – ich weiß jedoch nicht, worum es ging. Nur, dass sie daraufhin die Tür zur Toilettenkabine öffnen will.

Wann wurde sie geschlossen? War sie nicht die ganze Zeit geöffnet?

Aber nun, es ist eigentlich nichts Ungewöhnliches. Nur jemand, der noch einmal die Toilette aufsuchen will, ehe er in sein Ziel entlassen wird – mir ist nicht klar, weshalb mich diese Handlung so sehr aufhorchen lässt.

Nein, das Ungewöhnliche kommt erst, als dieser Jemand nur ein Stück hinter uns die Tür öffnet, und zuerst ein dumpfer Schlag erfolgt – dicht gefolgt von einem gellenden Schrei.

Wie von der Tarantel gestochen, sehen wir uns um.

Und bekommen ebenfalls einen Schock.

Es ist der seltsame Kerl von zuvor. Der, der die Fotos gemacht hat.

Offensichtlich tot. Mit aufgerissenen, Blut unterlaufenen Augen.

All das wird überschattet von einer Durchsage, die uns sagt, dass wir aussteigen sollen, wenn wir nach Black Hawk wollen und welche uns eine angenehme Weiterreise wünscht.

Zusammen mit einem Dank, dass wir mit ihnen gefahren sind.

Wieder sehen alle zu ihm. Als sei es ein stiller Befehl. Und niemand scheint recht zu wissen, was nun zu tun ist.

Mord? Klar. So offensichtlich, wie die Tatsache dass er tot ist, selbst.

In seiner aufgerissenen Jacke erkennt man einen versteckten Gegenstand.

Eine Dienstmarke.

 

Er war also wirklich ein Polizist.

Chapter 15: Bleeding Shadows

 

„Ein Blick in die Welt beweist,

dass Horror nichts anderes ist als Realität.“

– Alfred Hitchcock

 

 

„Hier – komm schon“, rufe ich leise und ziehe sie hinter mir her, während wir den Bahnhof auf unserem Weg zurücklassen; sehen, wie er in einem Lichtermeer ertrinkt und helle Aufruhr um uns herum ausbricht. „Das Haus ist gleich da vorn, die Straße rein und dann rechts. Gleich das Zweite.“

„Hör mal, Carrie…“, vernehme ich die etwas weinerliche Stimme meiner mittlerweile wohl etwas unfreiwilligen Begleitung. „Warum stellen wir uns nicht einfach? Wer weiß was wir für Probleme bekommen, wenn das so weiter geht. Und dann dieser Tote… ich habe ihn kurz gesehen. Es war der Polizist von zuvor, nicht wahr? Ich bin doch nicht blöd.“

Ich nicke, während wir weiter laufen – wir sind fast da. „Ja, das war er. Aber ich kann mich jetzt nicht aufhalten lassen, verstehst du das nicht? Es tut mir Leid, dass du da mit hineingezogen wurdest – wirklich, ich dachte nicht, dass so etwas geschehen würde. Jedoch muss ich das jetzt tun und ich kann keine Zeit damit verschwenden, dass ich wegen des Selbstmordes einer geistig Verwirrten gesucht werde!“

Hinter mir kann ich nur ein aufgebrachtes Kopfschütteln wahrnehmen, doch achte nicht weiter darauf. Sie übersteht das schon – sie ist stark.

An der Ecke des Hauses, das so langsam immer näher rückt und dessen Erinnerungen in mir gleichzeitig freudige Wärme, wie eisige Kälte auslösen, bemerke ich einen seltsamen, etwas auffälligen Schatten.

Doch ehe ich Angst bekommen kann, erkenne ich im fahlen Licht der Straßenlaterne, wie sich meine ehemals beste Freundin Susanne aufmerksam umsieht und mich schließlich ebenfalls zu erkennen scheint.

Zumindest tritt sie einige Schritte nach vorn, auf uns zu, und wartet dann ab, bis wir sie erreichen. Ich selbst bin scheinbar so voller Adrenalin, dass ich kaum merke wie schnell ich renne, während Chris mir mit ihren schweren Atemzügen die Wahrheit vor Augen hält.

Komplett fertig geht sie hinter mir in die Knie. „Ich kann nicht mehr…“

„Das musst du auch nicht“, versichere ich daher und lege eine Hand auf eine der schlaff hängenden Schultern, zur linken Seite ihres Kopfes. „Wir sind ja angekommen.“

In dem Moment wird mir klar, dass ich Sue nicht einmal gegrüßt habe. „Wir haben uns lange nicht gesehen“, hole ich es aus diesem Grund freudig nach und will meine Arme nach ihr ausstrecken, um sie – wie früher als Kinder – in die Arme zu schließen.

Doch sie weicht zurück. „Lass das bitte“, lautet ihre kühle Entgegnung, welche ich jedoch nicht ganz verstehe.

So sehe ich sie nur etwas perplex an. „Ich verstehe nicht… Warum?“

„Weil wir heute nun einmal keine Kinder mehr sind – und keine besten Freundinnen“, sagt sie und klingt dabei hart, jedoch entspannen sich ihre Gesichtszüge sofort und sie seufzt. „Versteh doch… Du bist heute ein anderer Mensch und klar, am Telefon war das wirklich ein sehr schönes erstes Gespräch nach zehn Jahren – mal abgesehen von dem holprigen Start –, aber sieh dich doch einmal um. Was tun wir hier eigentlich?“ In einer ausschweifenden Bewegung mit den Armen, zeigt sie auf unsere gesamte Umgebung.  „Wir stehen hier, praktisch noch mitten in der Nacht – ich stehe hier – nur weil du mich angerufen und eine unrealistische Bitte geäußert hast. Und ich weiß nicht einmal, weshalb ich das hier tue – vielleicht um der alten Zeiten Willen, vielleicht, weil ich noch einmal deine Freundin sein wollte – um es endgültig abzuschließen, möglicherweise. Wer weiß das schon? Jedenfalls ist hier das Limit, bitte verhalte dich also nicht, als seien wir noch immer beste Freundinnen – oder so, als würden wir uns überhaupt noch kennen.“

Ich habe… ganz ehrlich keine Ahnung, was ich dazu noch sagen soll. „Okay… verstehe. Du musstest nicht gleich so überdeutlich sein – wenn du nicht wieder  an den Punkt gelangen möchtest, an dem wir einmal waren, dann verstehe ich das…“

Doch sie winkt ab. „Weißt du was? Es tut mir leid. Aber… ich werde nicht warten. Tut, was auch immer ihr tun müsst, und dann geht einfach wieder. Vielleicht telefonieren wir ja mal wieder, aber ich möchte mir erst über in paar Dinge klar werden. Du hast mich damals ziemlich verletzt und ich dachte, das geht nach all der Zeit wieder, doch irgendwie…“ Zwar sieht sie mich entschuldigend an, doch scheint sie jedes Wort zu meinen, wie sie es sagt.

Es versetzt mir einen Stich, was ich jedoch nicht zu zeigen versuche. „Okay…“, wiederhole ich mich, wie eine kaputte Platte. „Dann vielen Dank für deine Hilfe. Ich werde deinen Wunsch respektieren.“  In dem Moment wendet sie sich nickend ab und nuschelt noch ein, zwei Worte des Abschieds, als sie zum Gehen ansetzt – es kann jedoch nicht so schnell gehen. „Aber… warte kurz einen Moment! Ich hätte noch eine Frage, wenn du mir das zumindest erlaubst…“

Sie dreht sich um und hebt eine Augenbraue. „Wenn es nicht um Mathe geht, sollte es kein Problem darstellen. Schieß los.“

„Dieser Baum…“, beginne ich und zeige auf eine Pflanze hier im Garten. Derselbe steht auch beim Haus meiner Großmutter, so wie im Garten meiner Tante. Und irgendwie habe ich immer das Gefühl, dass etwas damit nicht stimmt. Weshalb steht hier nun ebenfalls einer? „Was ist das für einer? Und seit wann steht er hier? Falls du es denn weißt, meine ich.“

Doch der Blick den sie mir nun zuwirft verwirrt mich – sie hebt eine Augenbraue, noch ein bisschen mehr als zuvor, und sieht mich an als sei ich nun völlig plemplem. „Dieser Baum? Es ist eine irische Eibe und er war der Stolz deiner Mutter. Sie steht schon seit bestimmt fünfzehn Jahren in diesem Garten.“

„Oh…“ Mehr kann ich nicht sagen, denn es ist einer dieser Momente in meinem Leben, in denen ich sehnlichst wünschte, ich hätte einfach nicht gefragt.

Wieder eine irreführende Erinnerung? Vielleicht konnte ich mich nur nicht erinnern, weil... naja, wegen irgendetwas eben. Den Kopf schüttelnd, reibe ich mir mit einer Hand die Stirn.

Das ergibt doch alles keinen Sinn.

„Okay, vielen Dank, Sue... Susanne. Danke für alles.“

Hinter mir kommt Chris scheinbar wieder zu Atem und damit auch endlich wieder auf die Beine, während Susanne nur nickt und sich dann langsam von uns beiden abwendet.

Das war’s dann. Einfach so vorbei.

„Gute Freundin, die du da hast“, höre ich es von hinten, noch immer etwas aus der Puste. Jedenfalls holt sie für ihre folgenden Worte erst einmal tief Luft. „Aber was ich dich gerne fragen würde, hat damit leider gar nichts zu tun. Ich möchte gern wissen, ob du vorhin eigentlich die ganze Zeit an derselben Stelle standst, von dem Moment an dem du dich schlecht fühltest, bis ich dich geholt habe.“

Kurz überlege ich, komme aber auf eine klare Antwort, eigentlich bereits ohne lange nachdenken zu müssen. „Ja, wieso?“

Zu dieser Antwort zieht sie jedoch irritiert die Stirn kraus und sieht dann kurz zu Boden, ehe sie wieder zu mir sieht. „Aber wie kann das sein?“

Kurz lache ich auf, ehe ich meine Gegenfrage stelle, „Wieso sollte es nicht sein können?“

Kopfschüttelnd ändert sich ihr Blick von verwirrt, zu einem der mir klar sagen soll, dass ich ein Idiot bin. „Na, weil es dann keinen Sinn macht – denn falls du es nicht gemerkt haben solltest: Du standst direkt neben der Tür zur Toilette und der Wagon war im Grunde leer, wodurch jedes Geräusch hätte auffällig sein müssen. Also ganz egal wie stark Kopfschmerzen und Schwindel sind, oder wie sehr du in Gedanken bist… einen Mord musst du doch wohl bemerkt haben, oder etwa nicht?

 

Glücklicherweise haben auch die neuen Bewohner des Hauses, wie die meisten Menschen in dieser Straße, einen Ersatzschlüssel irgendwo in der Nähe ihrer Haustür versteckt – und ihn zu finden war nicht einmal schwer.

So sind wir nun zusammen in unserem – meinem – alten Haus und sehen uns erst einmal um. Die Familie die nun hier lebt, scheint sehr glücklich zu sein.

Doch wenn ich es sehe, sehe ich nur Polizisten. Polizisten, die unsere Tür aufgebrochen und das Haus gestürmt haben.

Polizisten die danach feststellten, dass es keinerlei Anzeichen für einen Einbruch – ja, für ein Eindringen überhaupt gab. Als wäre der Täter schon den ganzen Tag im Haus gewesen, als es noch nicht versperrt und für die Nacht gesichert war, und auf seine Chance gewartet hätte.

Oder aber keine Tür zu nutzen brauchte.

Ich sehe das Schlafzimmer meiner Eltern, in dem sich angeblich das Geheimfach befinden soll und sehe nur wieder das zerstörte Fenster. Das Fenster, durch das der Einbrecher angeblich geflohen ist, nachdem das Regal es ohnehin zerstört hatte. Obwohl niemand gehört hatte, wie jemand auf dem Wellblechdach der Garage darunter gelandet war.

Diesen Lärm hätte man hören müssen.

Mich etwas schüttelnd, als würde es die Bilder ebenfalls abschütteln, versuche ich meine Gedanken umzulenken doch alles an das ich ansonsten denken kann, ist die Anmerkung von Chris. Die Anmerkung darüber, dass ich den Mord hätte sehen müssen – doch zumindest irgendetwas bemerken hätte müssen.

Zumindest dann, wenn jemand die Kabine betreten hat. Und das musste einfach sein. Auch der Polizist hat sie betreten müssen.

Doch ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht war er vorher schon in der Kabine.

Und wurde dann getötet. Doch wie kam der Mörder wieder heraus, ohne dass ich ihn bemerkt habe?

Außerdem kann er auch vorher nicht in der Kabine gewesen sein, denn ich selbst war schließlich direkt vor ihm darin.

Ein unmögliches Verbrechen. Es sei denn, der Mörder… nutzte keine Tür um hinein zu gelangen.

Ich seufze und öffne den in die Wand integrierten, großen Kleiderschrank.

Der Geruch ist anders, die Kleidung ist ein anderes Sortiment und die Anordnung wurde ebenfalls geändert, doch alles hieran ist mir noch immer so schmerzlich vertraut, dass ich den Schrank am liebsten einfach wieder schließen und verschwinden würde, auf dass ich nie wieder zurückkehre. Doch das kann ich nicht tun.

Ich bin so weit gekommen…

„Hey“, unterbricht die Stimme der Horror-Fanatikerin neben mir die widersprüchlichen Gedanken in meinem Kopf. „Und wo ist nun dieses geheime Fach?“

„Äh…“, lasse ich kurz verlauten und bücke mich dann, um am Boden des Schrankes eine Blende zu entfernen. „Ich habe meine Tante danach ausgefragt, nachdem sie es das erste Mal erwähnt hat. Ich denke, ich bekomme das hin…“

Wie in ihrer Erzählung, lässt sich die Blende einfach abheben, obwohl sie fest wirkt. Dahinter kommt zuerst nichts zum Vorschein – jedoch muss man nur genau hinsehen, um zwei feine Linien an einer kleinen Stelle zu entdecken. Diese Linien sind stellen, an denen das Holz unterbrochen ist.

Nur ein wenig Druck gegen diese Stelle reicht aus, um einen Mechanismus in Gang zu setzen, welcher ein Fach öffnet – wirklich kein Wunder, das mein Vater hierauf so stolz war. Die Luke öffnet sich am Boden und ich sehe grinsend zu meiner erstaunten Freundin auf.

Es ist staubig und alt. Die Dinge darin sind nicht wertvoll – zumindest nicht für Einbrecher. Es sind hauptsächlich Andenken, aber auch eine Kette meiner Großmutter väterlicherseits. Meine Mutter wollte sie nie tragen, weil sie wusste, wie wichtig sie Dad war.

Am Ende landete sie zur Verwahrung offensichtlich hier und ich hatte mich immer gewundert, warum sie nicht mehr aufgetaucht war.

Das nächste was ich zur Hand nehme, ist eine kleine Schatulle aus Holz. Unverschlossen.

In ihrem Inneren befindet sich jedoch nur seltsamer Kram – unter anderem zum Beispiel eine Ampulle mit einem nicht eindeutigen Inhalt. Das Zeug ist wohl – bereits? – hart und irgendwie schwarz. Mehr kann ich zwar nicht erkennen, doch ein gutes Gefühl habe ich dabei auch nicht.

Ansonsten sehe ich ebenfalls nichts, das ich wirklich zuordnen könnte, dennoch erscheint es mir, als hätte ich das alles bereits gesehen.

Es sind nur vertrocknete Zweige eines Nadelbaumes. Asche. Schwarze Kreide.

Und ein kleines Büchlein mit ein bisschen Gekritzel, welches ich ohnehin nicht zu entziffern vermag.

Als ich ein bisschen durch die Sachen krame, dauert es nicht lange, ehe ich genau das in der Hand halte, nachdem ich suche. „Hier!“, rufe ich aus und zeige triumphierend den Brief nach oben, auf dem in großen Lettern mein Name steht.

Und scheinbar genau zur richtigen Zeit, denn plötzlich höre ich von draußen die Sirenen. Ich kann nicht sagen, wieso – immerhin waren vorhin Unmengen an Polizeiwagen am Bahnhof, welcher nur wenige Minuten zu Fuß von hier ist. Doch das hier ist anders.

Sie müssen nicht durch diese Straße, doch fahren sie genau hier her.

Ich realisiere es nicht einmal richtig, da stehe ich bereits instinktiv auf und greife nach dem Arm der perplexen Christine, während ich schon wieder los renne – jedoch zum Hintereingang des Hauses. Es ist kühl draußen und der Wind pfeift uns leicht um die Ohren.

Doch als ich so draußen stehe und um die Ecke sehe, höre und sehe ich dennoch genau, was los ist.

Es ist Susanne. Welche mit einem Polizisten spricht. „…ja, sie sind im Haus. Die beiden aus den Nachrichten“, höre ich sie noch sagen.

„Verräter…“, rutscht es mir heraus, ehe ich es verhindern kann und Chris greift von hinten nach mir, um mich zu ihr, weiter hinter das Haus zu zerren. „Hey, was sollen wir jetzt tun? Ich bin mitgekommen, weil ich dachte, es wäre ein kleines Abenteuer – und morgen ist nicht einmal Schule. Doch was tun wir hier? Und was meinte sie eben mit ‚die beiden aus den Nachrichten‘, hä? Werden wir jetzt zu Flüchtigen? Warum stellen wir uns nicht einfach? Und wie kann es sein, dass deine Freundin da drüben bitte die Polizei gerufen hat? Wir sind jetzt Einbrecher, verstehst du?! Sie suchen uns wegen Einbruchs – einer Straftat, die wir sehr wohl begangen haben! Wir können uns nicht herausreden, also bitte – stell dich mit mir!“, redet sie auf mich ein. Wieder.

„Okay, warte! Wir sollten erst einmal Ruhe bewahren, okay?“ Beruhigend lege ich ihr meine Hände auf die Schultern. „Einfach tief durchatmen, alles klar?“

Scheiße…“, flucht sie kurz, tut jedoch wie ihr geheißen. „Also schön. Dann zögern wir es eben noch ein wenig hinaus. Rosen sind Rot; Der Himmel ist blau; Wiesen sind grün…“

„Was redest du da?“

„Nichts, ist nur so eine Art Mantra. Zur Beruhigung. Wie… wenn ich den Baum von vorhin sehe. Das war eine Eibe. Ich wollte eigentlich einen Witz daraus machen und beim nächsten Clubtreffen ein bisschen über Mythologie sprechen, also hab ich über irische, bzw. gälische Mythologien recherchiert. Die irische Eibe ist irgendwie total heilig und wichtig in vielen Ritualen für beispielsweise Druiden – also, sowas wie Magier, nur etwas anders. Meist sind sie sowas wie Wahrsager; Heiler. Jedenfalls stehen Eiben bei ihnen für… Erinnerungen. Die Verbindung zwischen dem Reich der Toten und dem der Lebenden. Sowas eben… Wenn ich das tue, bin ich nicht so nervös, weißt du?“

Ich nicke nur, bin jedoch ehrlich beeindruckt. Ich dachte eher, sie hört nicht auf mich und rastet gleich komplett aus. Zur selben Zeit habe ich aber ebenfalls das Gefühl, dass dieser Trick nicht noch einmal funktionieren wird – dass sie ausrasten wird, sollte sie noch einmal, vielleicht noch näher, mit der Polizei konfrontiert werden.

Schnell sehe ich mich um und merke, dass gerade niemand vor dem Haus steht.

„Gut, komm mit – ich kenne einen schnellen Weg von hier aus zum Stadtrand. Hinter den Häuserreihen. Früher bin ich so vom Haus meiner Großmutter, unbemerkt hier hergekommen. Heute versuchen wir es umgekehrt.“

Kaum auf ihr nicken wartend, greife ich wieder einmal nach ihrem Arm und wir stürmen los. Den Weg entlang, der sich damals in mein Gedächtnis gebrannt hat.

Denn er war immer mein Ausweg.

 

„Das ist das Haus, in dem du all die Jahre gelebt hast?“, kommt die ungemein schockierte Frage, als wir beide vor dem alten, stark verwitterten Holzhaus stehen.

„Jap. Bevor ich mit einzog, stand es lange leer – meine Großmutter lebte allein in Denver. Sie zog nur für mich zurück nach Black Hawk.“

„Okay… Also, ich wäre an eurer Stelle lieber in die Stadt gezogen, wenn du mich fragst…“, meint sie noch, während ich sie bereits in das Haus ziehe. Zwar ist die Tür mit einem Absperrband versiegelt, doch abgeschlossen ist sie nicht. Wirklich sorglos.

Erst als wir sicher im Haus sind, ziehe ich den Brief aus meiner Tasche, wegen dem wir all das auf uns genommen haben und halte ihn nach oben. Draußen geht langsam die Sonne auf, deren Licht hinter mir durch die schmutzigen Fensterscheiben fällt und das Papier bescheint, welches ich dem Umschlag entnehme, nachdem ich ihn grob aufreiße.

Ich würde gerne sagen, dass meine Großmutter ein völlig normaler Mensch war. Vielleicht etwas exzentrisch.

Doch als ich den Inhalt des Briefes lese – ihn wirklich studiere und meine Augen immer wieder über den Text gleiten lasse – steigt meine Verwirrung ins Unermessliche.

‚Liebe Carrie,

ich weiß nicht, ob du diesen Brief jemals sehen wirst, da mir deine Eltern den Kontakt zu dir untersagten. Auch kann ich nicht sagen, wann wir uns das nächste Mal sehen, doch muss ich dir dringend etwas sagen.

Wenn du bereits älter bist – älter als sieben Jahre – dann wird es schon vorüber sein.

Ich muss dir einige Dinge erzählen – Dinge, über unsere Familie. Und es muss schnell gehen.

Ich kann dir nun nicht alles erklären, meine Liebe, doch du musst wissen, wir sind verflucht. Und es war unsere Schuld.

Wir haben in der Vergangenheit einen schrecklichen Fehler begangen.‘

Einen Fehler?Wie waren einst ein mächtiges Volk – eine Familie. Druiden. Weise.

Doch nun sind wir verflucht, da wir mehr Macht wollten – und nun holt diese Macht uns wieder ein. Aber deine Eltern wollen es nicht wahrhaben.

Du hast dich verändert. Doch sie sagen, es sei etwas anderes. Sagen, du leidest an einer Art ‚Dissotiativen Störung‘, sie meinten auch, es sei vielleicht sogar eine Form von Schizophrenie, oder irgendeine andere Krankheit. Doch sie haben keine Ahnung. Können nicht sagen, was es wirklich ist, das dich so verändert.

Im Gegensatz zu mir, denn ich weiß, es ist Blödsinn was sie sagen.‘

Moment, eine dissotiative Störung? Schizophrenie? Was zum Teufel?

Ich weiß genau, was das ist – und es ist alles andere als gut; schon gar kein Blödsinn!

Einmal schließe ich kurz die Augen. Meine Großmutter war also tatsächlich verrückt, ja?

Nicht nur, dass sie von Druiden und Flüchen erzählt – dieser ganze Brief wäre für jeden klar denkenden Menschen, das reinste Hirngespinst.

So überfliege ich den Rest nur noch. Alles was ich noch richtig lese und an dem ich hängen bleibe, ist ein einziger Absatz.

‚Wir mussten dich retten und es ist wichtig, dass du es weißt. Wir haben dich von ihm getrennt. Von allem, was dich stark machte. Von deinen Kräften. Von deiner dunklen Seite. […]

Du wirfst zwar vielleicht noch einen Schatten, doch du hast keinen Schatten mehr.‘

Nun ja… es ist wirklich das reinste Hirngespinst. Jedenfalls für jeden Menschen, außer mir. Ich weiß nicht wieso, doch was hier steht, ergibt einen Sinn für mich.

Einen unerklärlichen Sinn, welchen ich nicht zu verstehen vermag.                      

Also ignoriere ich ihn einfach.

Denn wenn Wahnsinn zur Realität wird, verliert sich die Welt höchstens im Chaos.

„Das ist doch Abstrus…“, seufze ich und gehe in die Knie, womit ich mir erneut die Aufmerksamkeit meine Freundin sichere, die mir direkt über die Schulter sieht, um den Brief ebenfalls zu lesen.

Wie aus Reflex jedoch, entziehe ich ihn ihrem Blick – wobei ich allerdings auch noch einen blöden Winkel am Rand des Blattes erwische, und mir in den Finger schneide.

„Verdammt… auch das noch!“, zische ich genervt und sehe auf meinen Finger.

Für einen Augenblick denke ich, das Licht ist einfach schlecht, als ich auf den Tropfen Blut sehe, welcher langsam meinen Finger hinab sickert.

Der Schnitt mag nicht tief sein, doch blutet er stärker als man denken würde – das ist denke ich an solchen Stellen normal und daher auch weniger mein Problem.

Nein, nicht nur, dass ich mich nicht erinnern kann, wann ich das letzte Mal in meinem Leben geblutet habe – nicht einmal, als die Scheibe neben mir eingeschlagen wurde und ich mein Haar mit einer Scherbe Abschnitt, obwohl ich weiß, dass ich geblutet habe – nein, ich kann mich auch nicht daran erinnern, überhaupt jemals schwarzes Blut in den Adern gehabt zu haben. Vielleicht ist es wirklich nur das Licht?

Nein, das macht keinen Sinn.

Es ist genug Licht da.

Es ist schwarz – schwarz und widerlich. Die Flüssigkeit erinnert mich sofort an das vertrocknete Zeug aus der Ampulle. Im Haus – das Kästchen mit dem seltsamen Kleinkram.

Und es macht mir Angst. Alles hier. Was geschieht.

Weil ich es nicht verstehe, macht es mir Angst.

Angst, als ich plötzlich zu zittern beginne und die Hand von Chris auf meinem Rücken spüre. „Ist alles okay? Was ist los?“ Sie sieht den Schnitt an und ich befürchte das Schlimmste. „Hast du dich geschnitten? Wie?“

„Kannst du es nicht sehen?“, frage ich mit wackeliger Stimme und halte ihr meinen Finger vor die Nase, was sie jedoch eher zum Zurückweichen bewegt.

 Und als ich dann plötzlich dieselben Geräusche wahrnehme, wie kurz zuvor in meinem alten Haus, sehe ich mich um.

Alles über den Schnitt ist auf einen Schlag verschwunden, als wir uns erneut mit einem Problem konfrontiert sehen, welches nicht so einfach zu lösen, oder gar zu vergessen ist.

 

Wir werden noch immer gesucht…

Chapter 16: Darkest Shadows

 

„Der Zeitpunkt des Todes gibt,

wie das Ende einer Geschichte,

allem, was voranging,

eine neue Bedeutung.“

- Mary Catherine Bateson

 

 

Okay, meine Zeit läuft ab.

Aber ich hatte einen Plan – ich hatte etwas zu erledigen. Und das werde ich auch noch.

Ich muss noch in den Keller. Ich will wissen, was meine Großmutter gewollt hat – was wollte sie nur an jenem Abend in diesem Keller?

Was wollte sie, das so wichtig war, dass sie nachts hier herunter ging?

Ich muss es herausfinden, ehe ich es nicht mehr kann. Wenn der Brief mir allein nicht, hilft, dann das vielleicht.

Vorher darf ich mich nicht schnappen lassen. Ich muss es tun. Jetzt.

„Chris, ich werde in den Keller gehen“, stelle ich geradeheraus fest. Die Sirenen auf der Straße werden derweil immer lauter; kommen unaufhaltsam näher. „Komm schon – du gehst entweder mit mir, oder du bleibst zurück“ Mir ist klar, dass ich sie damit gerade etwas dränge – sie zu einer möglicherweise überstürzten Handlung zwinge –, als sie nicht zu einer Antwort bereit scheint und nur ängstlich in Richtung der Geräuschkulisse starrt, doch es geht jetzt nicht mehr viel anders.

Sie muss sich entscheiden.

Mein Blick ist fest auf sie gerichtet, während sie sich langsam in dem alten Holzhaus umsieht und in ihrem Gesicht kann ich einen Anflug von Panik und neuerliche Hysterie erkennen. Doch als ich nach ihren Händen greife, schüttelt sie den Kopf, als wisse sie nicht so recht wohin damit, ehe sie mich fahrig ansieht. Diesmal kann ich sie scheinbar nicht noch einmal so leicht beruhigen.

„Verdammt, Carrie!“, schreit sie plötzlich und ihr Gesicht verzerrt sich leicht, als sie scheinbar versucht einen Ausraster zu unterdrücken. „Ich kenne dich nicht einmal, aber du ziehst mich mit in diesen Schlamassel hinein. Es sind Menschen gestorben, Carrie – sie sind tot. Wir sollten uns einfach stellen, wenn wir nichts getan haben – bis jetzt sind wir jedoch in ein Haus eingebrochen und werden scheinbar sogar über die Nachrichten gesucht. Deine Antworten kannst du doch auch später noch finden, oder nicht?!“ Ihre Stimme wird immer lauter und sie erinnert mich zunehmend an mich selbst, noch vor einer Weile.

Sie hat einen Nervenzusammenbruch – dem ist nichts hinzuzufügen.

So lasse ich von ihren Händen ab. „Stimmt, ich kenne dich nicht, dennoch bist du mit mir gekommen, aber ich nehme an, bis hier ist es weit genug.“ Mit diesen Worten wende ich mich um und gehe auf die Tür zur Kellertreppe zu, welche früher immer verschlossen war, doch nun offen steht.

„Warte!“, vernehme ich eine aufgebrachte Stimme. „Du kannst da jetzt nicht runter gehen, was ist denn mit deinem Schattenmonster?“

Ich sehe mich um und lächle. „Aber du meintest doch, du hättest es noch nie gesehen, oder?“ Kurz lache ich auf. „Keine Sorge, mir wird schon nichts passieren. Mir ist der Zusammenhang erst durch den Brief klar geworden und die Stimme meiner Großmutter, was sie mir all die Jahre beigebracht hat – ‚Du darfst keine Schwäche zeigen‘, hat sie immer gesagt. Nun weiß ich, was sie gemeint hat und wieso.“

Ja, der Zusammenhang wird mir jetzt bewusst. Es ist mir so klar wie nichts zuvor.

Immer wenn ich unsicher oder sehr schwach war, ist etwas geschehen.

Dann sind Menschen gestorben.

In der Schule. Im Zug. Ja, sogar bei mir zu Hause.

Einen Moment nach unten blickend, überlege ich, wie ich es ihr am besten sage. „Es ist etwas geschehen, wenn ich schwach war. Aber jetzt bin ich das nicht mehr. Ich bin nicht schwach und auch nicht unsicher. Ich bin völlig wach und entschlossen, verstehst du? Ich werde es schaffen. Mir kann nichts geschehen.“

Während meiner gesamten Ansprache, starrt sie mich nur mit weit aufgerissenen Augen an. „Du bist verrückt…“, sind ihre letzten Worte die ich vernehme, ehe ich einfach die Treppen hinabsteige.

Ja, vielleicht brauche ich ja doch keine Freunde. Obwohl ich immer welche wollte.

Aber vielleicht war das ja nur so eine Art Phänomen – wie wenn man unbedingt ein tolles neues Smartphone will, nur weil man es nicht hat und wenn man es dann hat, ist es sehr schnell nichts mehr Besonderes.

Zugegeben… sie war toll. So wie Sue es damals gewesen ist. Doch nun… es gibt immer den Abschied. Er kommt immer – manchmal früher, und dann mal wieder später. Aber er kommt.

Und heute war er eben da.

Ich knipse die Taschenlampe an, welche eben noch neben der Tür an der Treppenwand hing und siehe da – sie funktioniert auch noch. Nur der Strom wurde bereits abgestellt.

Mit der Lampe in der Hand, gehe ich Schritt für Schritt. Und mit jedem Schritt den ich gehe, wird ein seltsames Gefühl in meiner Magengrube deutlicher.

Es ist keine Angst. Auch keine Unsicherheit. Nein…

Es ist das unheimliche Gefühl, hier schon einmal gewesen zu sein.

 

Dicke, alte Bücher. Angebrannte Kerzen. Etwas, das wie eine Badewanne aussieht und anderer Kram, den ich nicht identifizieren kann, will und werde. Dieser Keller sieht nicht aus, wie ein Keller aussehen sollte – ich meine, nicht dass ich schon viele gesehen hätte, doch so weit reicht zumindest mein Allgemeinwissen aus.

Es ist unmöglich, dass ich hier schon einmal gewesen bin. Wer würde sich an so etwas nicht erinnern.

Dass das, was Chris vorher sagte. Mit der Eibe. Den Druiden.

Dass das irgendwie Sinn machen würde, würde ich ihn mit mir und diesem Ort in Verbindung bringen, daran will ich am liebsten gar nicht denken.

Denn der Gedanke macht mich unruhig. Verwirrt mich. Macht mich unsicher.

Ich kann das leichte Pochen in meinem Hinterkopf bereits spüren, so wie sonst. So wie immer.

Es tut weh und fühlt sich an, als würde jemand versuchen meinen Schädel zu öffnen – oder etwas von innen versuchen, daraus zu entkommen.

Aber es ist gut. Solange ich ruhig und gelassen bleibe, ist alles gut.

Die Angst also in den letzten Winkel meines Geistes verschiebend, ignoriere ich das Pochen und den Schmerz, während ich mich weiter umsehe. Das Gefühl hier schon gewesen zu sein, lässt jedoch keinen Deut nach.

Im Gegenteil – es wird immer stärker.

Wieder ruft es mir den Brief ins Gedächtnis. ‚Ich kann dir nicht alles erklären, meine Liebe, doch du musst wissen, wir sind verflucht. Und es war unsere Schuld.‘

Verflucht? Ja, wenn ihr hier das getan habt, was ich denke das ihr getan habt, dann ist das kein Wunder. Und es ist wirklich eure Schuld.

Nur warum ausgerechnet ich? Wenn sie etwas verbrochen haben, hätten sie mich ja außen vor lassen können. Und was für ein ‚Fluch‘, soll das überhaupt gewesen sein, hä?

Achtlos werfe ich Dinge aus den Regalen. Suche nach etwas. Irgendetwas.

Ich weiß nicht einmal was. Jedenfalls nicht, bis ich es plötzlich in der Hand halte.

Es ist ein Buch – irgendeines, so wie die anderen. Dieses hier hat keine Aufschrift. Keinen Druck.

Es ist einfach in einem dunklen Leder eingebunden, dessen Farbe ich in diesem Licht schwer definieren kann. Doch trotz allem, ist es das Buch, das mich am meisten in seinen Bann zieht.

Denn dieses Buch… ich bin mir absolut sicher, dass ich bereits Kontakt mit diesem Buch hatte.

Ich lege es auf einen Bücherständer in der Nähe, nachdem ich den Wälzer der noch darauf liegt, achtlos herunterwerfe und einige Spinnweben abwische, um mich ordentlich davor stellen zu können.

Es ist in einer seltsamen Sprache gehalten – irgendetwas Altes.

Latein? Aber kein Gewöhnliches, würde ich sagen.

Nun, es ist auch unwichtig, denn als ich nur wenige Seiten umblättere, fällt mir ein weißes Stück Papier auf, das an einem Ende hervorsteht, je weiter ich blättere. Es ist neuer als das Buch und als ich es herausziehe, wird mir auch klar, wieso.

Es ist ein weiterer Brief. Doch diesmal an meine Eltern, bzw. an meine Mutter. Dort steht eindeutig Tara, nicht Tara und Gideon. Und er ist bereits geöffnet – das Siegel gebrochen.

Ich weiß nicht, ob ich Mut brauche, diesen Brief zu öffnen, oder etwas anderes. Aber ich versuche jede Unze davon zusammen zu  kratzen, als ich den Umschlag etwas aufstemme und das Papier dazwischen herausziehe.

„Meine liebe Tara,

ich weiß, du und dein Mann, ihr seid glücklich. In einer gewöhnlichen Familie, in der Stadt und mit gewöhnlichen Jobs. Doch du weißt genau was geschehen wird, wenn dieses Kind über das siebente Lebensjahr hinaustritt. Es wird sich offenbaren…“, lese ich, mehr oder weniger vorsichtig und halte inne.

„Kind?“ Die Frage ist eigentlich an niemanden gerichtet, schon allein, weil klar ist wer gemeint sein muss – doch verstehe ich eigentlich kein Wort von dem, was gesagt wird. Hat das hier etwas auch mit diesem ominösen Fluch zu tun?

„Sie wird Kräfte entwickeln, die ihr nicht bändigen könnt und das Böse in ihr wird stetig mit wachsen. Das Kind das ihr kanntet, wird dann verloren sein. Lasst mich ihr helfen!“ Wow, sie hat wirklich gebettelt… Das passt gar nicht zu ihr.

„Ich weiß, ihr würdet mich dieses Kind nicht einmal sehen lassen, doch ihr wisst in Wahrheit genau, dass es nur zu ihrem eigenen Besten ist.“

Zu meinem eigenen Besten? Diesen Satz kenne ich nur von Erwachsenen, die wollen, dass die Kinder genau das tun, was sie wollen und rechtfertigen es dann damit, dass es das Beste für sie sei. Ja, klar doch.

Ich will nicht mehr weiter lesen, doch kann ich es auch nicht lassen, also hebe ich den Zettel wieder an, den ich nach dem letzten Satz habe sinken lassen, ohne es wirklich zu merken, und richte den Schein meiner Lampe erneut auf die Zeilen. „Wir müssen sie vom Bösen trennen. Ihr den Schatten…nehmen…“ Mit den letzten Worten, geht mein Tatendrang plötzlich und die Rädchen in meinem Kopf, kommen zu einem jähen Halt.

Den Brief auf dem Buch vor mir niederlegend, muss ich ein weiteres Mal an ihren Brief an mich denken. Den Brief, der mich nie erreichte und den meine Eltern vor mir versteckten. Von meiner Großmutter die ich – wie mir jetzt erst klar wird – nie kannte, bevor ich zu ihr gebracht wurde. Die eigentlich nur als Notlösung verzeichnet war, wenn ich sonst niemanden hatte, der mich im Falle des Verlustes meiner Eltern aufnehmen würde.

Was der Fall war, nachdem auch Onkel Kelvin starb und Saoirse ins Koma fiel.

‚Wir mussten dich retten und es ist wichtig, dass du es weißt. Wir haben dich von ihm getrennt. Von allem, was dich stark machte. Von deinen Kräften. Von deiner dunklen Seite.‘ Und dann dieses, ‘Du wirfst zwar vielleicht noch einen Schatten, doch du hast keinen Schatten mehr.‘

Wenn ich es so betrachte, ergibt es beinahe einen Sinn. Und dann dieser Baum. Diese Eibe, die angeblich die Welt der Toten mit der der Lebenden Verbindet – oder was hatte Chris vorhin noch erwähnt? Die Erinnerung.

Klar, soll das nun heißen, ich bin irgendeine Art Hexe? Eine Druidin ohne Kräfte?

Weil sich meine Fähigkeiten verselbstständigt haben um zu einem Schattenmonster zu werden, welches Menschen tötet und mir das Leben absichtlich zur Hölle macht?

Mit einem wütenden Schrei, der sich über meine Lippen schleicht, als ich nicht aufpasse, wische ich den Brief in einem Schwung zur Seite, zusammen mit dem seltsamen Buch.

Was auch immer sie mit mir gemacht haben, ich kann mich nicht erinnern. Meine Großmutter durfte mich nicht sehen und hat mich irgendwann dennoch geholt.

Um mich zu retten? Vor mir selbst?

Meine Familie die mir damals vor meinen Augen genommen wurde?

Die Leute die alle starben, wenn ich unsicher war? Wenn ich Kopfschmerzen hatte?

Das schwarze Blut, das ich durch meine Adern habe fließen sehen und Christine nicht?

So wie die Hand an meinem Knöchel? Die Hand die immer wieder auftauchte? Die Stimme des Monsters und die Augen in der Dunkelheit? Die Paranoia?

Ich blicke nicht mehr durch. Es klingt so schwachsinnig… und doch ist es die logischste Erklärung, die mir in meinem ganzen Leben bisher geboten wurde, und zwar für alles was bisher geschehen war. Das ist so armselig…

Wieder fühle ich mich schwach. Die Sicherheit die ich zuvor noch hatte, löst sich einfach in Luft auf und dann spüre ich den Schmerz.

Den Schmerz, den ich die ganze Zeit ignoriert hatte. Den Schmerz, der mich dazu bringt meine einzige Lichtquelle fallen zu lassen und in einer verzweifelten Geste nach meinem Kopf zu greifen, als würde das irgendetwas besser machen.

Und plötzlich ist die Dunkelheit überall.

Und die Stimmen ebenfalls.

Die Stimmen, die ich immer ignoriert habe. Die ich eigentlich schon viel früher gehört hatte.

Immer wenn die Kopfschmerzen einsetzten. Die Stimme, die ich ignorierte zu hören – zu verstehen.

Die eine Stimme die ich höre, die mir die Wahrheit sagte. In diesem Moment, als ich für eine Sekunde sehe, wie es wirklich ist.

Ein Bild, welches mir die Augen öffnet.

Und ich kann nicht anders, als zu lachen.

Selbst als ich nebenbei vernehme, wie einige Männer die Kellertreppe zu mir hinabstürmen. Polizisten. Hat schließlich lange genug gedauert, bis sie hier endlich ankamen.

Doch was sie zu hören kriegen, kein fröhliches Lachen – kein Glückliches; Vergnügtes.

Nein, eher ein hysterisches Lachen. Ein Unkontrolliertes.

Dieses Bild des geschockten Polizisten, als er erwürgt wird, ohne darauf vorbereitet zu sein. Während der Fahrt durch einen dunklen Tunnel.

Dieses Bild von der dummen Ella, als sie ohne Vorwarnung von hinten mit einem Strick erdrosselt wird. In den Schatten der Schule.

Das Glas das plötzlich neben mir eingeschlagen wurde, nur durch einen einzigen Hieb…

All diese Taten, die ich nicht begangen habe. Die dieses Monster begangen hat.

Die einzige Wahrheit, die ich kenne – die ich immer kannte.

Sie und nicht ich. Es war nicht ich, sondern sie.

Und dann diese Stimme, die immerzu nur drei Worte wiederholt…

 

„Ich bin du“

Epilogue

 

Wer bin ich?

Was bin ich?

Und woher komme ich?

Aber vielleicht sind das die falschen Fragen für mich. Vielleicht ist das alles unwichtig.

Vielleicht ist alles, was wirklich für mich zählt, diese eine Frage…

Wohin gehe ich?

 

Ich denke nicht, dass ich mich je so frei gefühlt habe. Und all die Zeit, als ich allein war – keine Freunde hatte – da hat etwas gefehlt.

Nicht einfach nur ein Freund. Nein, etwas ganz Bestimmtes.

Etwas Unersetzliches. Doch etwas, das ich einfach nicht ausmachen konnte.

Nun ist es da und ich weiß, was es ist.

Es ist wohl wirklich so, wie Sara es mir erzählt hat – das, was ihre Mutter an sie Weiter gab.

Wir sind wirklich Wanderer. Wir wandern von einem Ort zum Nächsten.

Und wir wandern immer allein – nur laufen uns auf dem Weg hin und wieder ein paar Menschen über den Weg.

Manche bleiben. Manche gehen.

Aber doch ist man nie allein, auch wenn einem eine Weile lang kein Permanenter Weggefährte begegnet.

Denn egal wo ich hingehe, ich habe noch immer meinen eigenen Schatten.

 

 

Unklar ist es, wie es für sie „beide“ nun weitergeht,

doch eines gibt es dennoch, klar zu verstehen.

 

Ängste sind nichts, über das man lacht,

denn die Schatten einer Seele…

 

Sieht man nicht nur bei Nacht.

 

 

 

 

-Der französische Philosoph, Voltaire, meinte einst, Gott wäre ein Komödiant – ein Komödiant, der vor einem Publikum spiele, welches zu ängstlich zum Lachen sei.-

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 10.01.2015

Alle Rechte vorbehalten

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