Ich hielt ihre Hand.
„Bitte geht nicht. Bitte!“ schrie ich.
Ich klammerte mich um ihre Hüfte und schrie. Sie befreite sich aus meinen Armen und ich fiel zu Boden. Ich schlug mit meinen Fäusten auf die Holzbarren und weinte und schluchzte.
Sie öffnete die Tür und ging mit meinem Vater heraus. Es brannte. Große Stichflammen formten eine graue Rauchwolke am Himmel. Sie gaben sich einen Kuss und legte sich in Mitten der Flammen. Ich rannte hinaus und sah Eric weinend neben ihnen sitzen. Er hatte Ruß im Gesicht und Verletzungen an seinen Armen.
„Warum hast du nichts gemacht?“ fragte er mich.
Warum habe ich nichts gemacht?
Ich denke ein grundlegendes Problem von uns Menschen ist, dass wir erst dann die gewohnten Dinge schätzen, wenn sie nicht mehr da sind. Dass alles so selbstverständlich ist, dass wir noch nicht einmal darüber nachdenken. Ich habe mich nie für das bedankt, dass sie mir gegeben haben, oder für das, was sie für mich taten. Und jetzt ist es zu spät. Zu spät, um noch irgendetwas zu sagen.
Ich wohnte nun schon seit vier Monaten bei meiner Schwester Caroline. In einer kleinen Stadt in Südamerika. Es war ungefähr neun Monate im Jahr Sommer und an den restlichen drei regnete es nur, erklärte sie mir. Schon jetzt vermisste ich den Winter, welchen ich aus Kanada kannte. Hier war alles so neu. So ungewohnt. Ich hatte hier mein eigenes großes Zimmer und musste es nicht, wie damals, mit jemandem teilen. Die Stadt war so klein, dass ich alles, ohne Probleme, zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen konnte. Außer der Schule. Diese lag ganz oben auf dem Berg. Aber zum Glück fing Carolines Arbeit immer kurz nach Schulbeginn an, so konnte sie mich dort hinfahren.
Die ersten Monate hatte ich genutzt, um mit allem vertraut zu werden und jetzt nach den Sommerferien sollte ich das letzte Jahr auf der neue Schule besuchen. Ich hatte Angst vor Fragen. Vor Antworten. Aber trotzdem. Ein Wenig freute mich schon darauf, neue Leute kennenzulernen.
Schnappatmend wachte ich auf und zog meine Beine nah an meinen Körper. Ich schwitzte und meine Haare klebten zerzaust an meinem Gesicht. Ich versuchte mich zu beruhigen und ging in das Bad, gleich neben meinem Zimmer. Normalerweise duschte ich immer glühend heiß, aber heute brauchte ich kühles Wasser. Der leicht süße Duft meines Shampoos beruhigte mich. Beim Waschen meiner Haare hörte ich meine Schwester Caroline rufen.
„Nina, bist du schon wach?“
„Ja bin ich.“ rief ich aus der Dusche heraus und schäumte dann weiter meine Haare ein.
Ich zog eine Jeans an und ein weißes Top an, bei dem der Kragen erst in Schulterhöhe aufhörte. Ich wickelte meine Haare aus dem Handtuch. Sie waren nass etwas gewellt und hörten ungefähr knapp über der Brust auf. Sie hatten diese Farbe die man einfach als braun bezeichnete. Kein dunkles, oder helles. Ohne irgendeinen Rotstich und ohne Strähnen. Einfach nur braun. Nicht wie meine Augen. Außen hatten sie einen dunkelgrünen Ring. Zur Mitte hin waren sie einfach grün und um die Pupille herum befand sich eine braune Umrandung. Um mich zu beschreiben nahm ich immer das Wort „normal“. Etwas anderes war ich auch nicht. Einfach nur normal.
Ich ging hinunter zur Küche. Caroline aß, wie jeden Morgen, ihr Marmeladenbrot und trank einen Kaffee, mit so viel Milch, dass man ihn eigentlich schon nicht mehr als Kaffee bezeichnen konnte.
„Wie geht’s dir?“ fragte sie mich.
„Na ja, wie soll es mir schon gehen. Ich bin aufgeregt.“
„Du brauchst keine Angst zu haben.“ beruhigte sie mich.
„Ja ich weiß.“
„Du musst auch mit niemandem darüber reden.“
„Ja…“ sagte ich leise.
Ich goss mir Orangensaft in ein Glass und trank alles in einem Schluck aus.
Nachdem ich meine Tasche gepackt und eine Strähne meiner Haare, mit einer dünnen Spange an die Seite gesteckt hatte, rief sie mich:
„Können wir?“
„Ja ich komme.“ antwortete ich und schlüpfte in die Ballerinas, mit der kleinen Schleife auf der Spitze.
Es war nun schon fast ein Jahr vergangen, seit dem meine Eltern bei einem Flug in den Süden verunglückt sind. Das Flugzeug hatte einen Fehler und ist bei der Hälfte der Strecke abgestürzt. Nur mein Bruder hatte von den drei überlebt. Seit dem litt er unter Entwicklungsstörungen und ist nun körperlich auf dem Stand eines zehnjährigen und psychisch eher noch jünger. Er hatte Gedächtnislücken und konnte sich nur kaum an unsere alte Familie und das Leben vor dem Tod erinnern. Außerdem hatte er Sprachfehler und stottert stark, auch nach vielen Besuchen bei unterschiedlichen Logopäden. Die Ärzte meinten es sei Autismus, aber so wirklich beweisen konnte sie es noch nicht. Ich ging ein halbes Jahr lang zu einer Psychologin, bis ich es nicht mehr aushielt. Sie tun so als hätten sie von alldem dass mir passiert ist, Ahnung. Aber eigentlich können sie es, auch wenn sie es studiert haben, nicht nachvollziehen. Das kann niemand, der nicht in der Situation ist. Genauso kann ich nicht das Leid verstehen, unter dem Krebskranke leiden. Man kann es einfach nicht. Caroline war nun Psychologin. Der Unfall unserer Eltern hatte sie nicht davon abgehalten. Sie meinte jetzt, sie könne Menschen mit ihren Erlebnissen helfen, da sie wüsste wie es wäre. Aber mich ließ sie mit ihrem Kram in Ruhe. Sie versuchte nicht, mich in jeder Situation zu therapieren. Das war eindeutig besser so. Wir sind schon ziemlich verschieden mit unseren Ansichten, aber trotzdem verstanden wir uns sehr gut und ich fühlte mich wohl bei ihr.
Ich habe mir selbst geholfen in dem ich gegangen bin. Aus Kanada. Das alles, die Umgebung, die Psychologin, das Gewohnte und unser Haus, hat mich noch depressiver gemacht. Und ich wusste, dass meine Eltern nicht wollen würden, dass wir unser ganzes Leben darunter leiden. Zwar kann man das nicht ausschließen, aber man kann versuchen doch noch irgendwie in der Trauer glücklich zu sein und es zu akzeptieren und das versuchte ich gerade.
Das was ich mit meinen Eltern verloren habe, war der Glaube. Der Glaube an egal was. An Gott, an das Schicksal, an Engel. Für mich war klar, dass es sowas nicht geben konnte. Zu mindestens nicht für mich. Caroline hat darin ihre Klarheit gefunden. Im Glauben. Damit konnte sie sich aus den Depressionen, der Trauer, der Verzweiflung und der Wut auf sich retten. Und mit Brandon, ihrem Freund, dem Altenpfleger mit dem großen Herz und der liebevollen Art, so wie sie ihn beschrieb. Ich meine, jeder konnte sich ganz eigen helfen und somit auch auf verschiedene Arten.
Als ich die große Schultür öffnete, traf mich eine Wolke aus verschiedenen Gerüchen. Parfüm, Bücher, Holz und Schweiß. Eine unangenehm stickige Mischung, die mich für einen Augenblick das Gesicht verziehen ließ. Der Unterricht hatte schon seit zwei Minuten angefangen, das Problem war aber, dass ich weder wusste wo das Sekretariat, noch mein Klassenraum war. Ein paar Schüler standen an ihren Spinten und holten ihre Bücher, Mappen und Hefte heraus. Andere fielen sich in die Arme, da sie sich wahrscheinlich in den Ferien gar nicht oder kaum gesehen hatten. Keiner beachtete mich, oder schaute mich schräg an, im Sinne von „das ist die Neue“. Es fiel anscheinend gar nicht auf, wenn jemand neu auf die Schule kam, da es schon so viele Schüler gab. Besser für mich. Sonst würde ich mich noch unwohler fühlen. Mittlerweile war so gut wie jeder von dem Gang verschwunden und ich irrte trotzdem noch herum. Ich ging fast bis ganz hinten, um mich zu versichern, dass dort auch kein Raum dreihundertdrei war. Als ich mich umdrehte rempelte ich einen Jungen an. Groß. Hellblonde Haare, fast Weiß, jedoch dunkle buschige Augenbrauen, so als wären sie gefärbt und braune Wimpern und eisblaue Augen.
Genau so, wie ich es nicht mochte.
„Ach sorry, hab dich irgendwie übersehen.“ meinte er und lachte kurz auf.
„Nicht schlimm.“ antwortete ich knapp.
„Du siehst aus als würdest du deinen Raum suchen.“ sagte er, lächelte und verzog seine großen Augenbrauen.
„Ja ich suche Raum dreihundertdrei, der sollte hier unten sein.“ erklärte ich und klemmte zwei Bücher zwischen Hände und Brust.
„Da hat wohl jemand keine Ahnung, der ist nämlich oben. Also haben wir Mathe zusammen. Bei Mister Peter?“ fragte der muskulöse Junge, dessen Name ich noch nicht wusste, aber wahrscheinlich so ein klischeehafter wie Jacob, Lucas oder vielleicht auch Tyler. So ein Name den jeder zweite amerikanische, reiche Typ trug.
Ich nickte und gab ein leises „Ja“ von mir.
Ich war noch nie eine Person gewesen, die ausgiebige Gespräche mit Fremden mochte, lieber antwortete ich kurz und versuchte so gut es ging Blickkontakt zu vermeiden.
„Dann bist du Nina oder? Ich bin Phil.“
„Ja bin ich. Ach so, okay.“
Phil, nicht ganz so klischeehaft wie ich erwartet hatte, aber trotzdem noch ein „beliebter- Typ- der-Football-spielt“ Name. Man konnte kaum übersehen, dass er Football spielt, da er sein Trikot trug und in seiner Tasche Sportsachen mit sich rumschleppte.
„Hallo, danke Phil, dass du sie zu dem Raum gebracht hast. Such dir einfach einen Platz aus.“ erklärte Mister Peter.
„Dankeschön.“ antwortete ich mit einem höflichen Lächeln.
Ich schaute durch die Reihen und entdeckte einen freien Platz neben einem rothaarigen Mädchen. Sie kaute provokant auf einem Kaugummi, so als wäre es ihr egal, wenn sie es gleich in Mister Peters Hand spucken müsste. Ich fragte ob der Platz neben ihr noch frei sei, sie schaute nach hinten zu Phil mit einem fragenden Blick, er machte eine gleichgültige Handbewegung und sie nickte mir zu. Ich legte meine Tasche zu meinen Füßen und holte einen Block und Stifte heraus. Ich legte alles ordentlich vor mich und schaute rüber zu dem Mädchen mit den wilden roten Locken, die unter dem Tisch auf ihrem Handy tippte. Sie trug ein Kleid, welches gerade so die Mitte ihrer Oberschenkel bedeckte. Aus dem Ausschnitt quellten hochgepuschte Brüste heraus und dazwischen befand sich eine Kette, mit einem kleinen goldenen Anhänger.
„Anna?“ rief mein Lehrer durch den Klassenraum.
„Hier.“ antwortete eine Stimme, die von zwei Plätzen weiter links kam.
Da ich mich nicht komplett über den Tisch legen wollte, um zu sehen wie sie aussah, lehnte ich mich etwas zurück und sah einen hellbraunen Pferdeschwanz, der fast so lang wie die Stuhllehne war. Ihre Stimme war, obwohl ich nur ein Wort gehört hatte, hell und klang eher wie die einer zwölfjährigen, hatte jedoch trotzdem etwas Sympathisches.
„Phil?“
„Ja.“
Ich drehte mich zu ihm um und könnte schwören er hatte mich angelächelt, kein „Ich-mag-dich“ Lächeln, eher ein „Hi“. Fast wie ein Reflex, nahm ich all meine langen Haare und legte sie über eine Schulter. Mister Peter rief einen nach dem anderen Namen auf.
„Natt?“
„Der ist krank glaub ich.“ antwortete Phil.
Mister Peter guckte genervt und atmete laut aus.
„Na dann. Nina möchtest du dich vielleicht kurz vorstellen?“ fragte er mich, mit einem breiten, schon etwas gespielt wirkenden Lächeln.
Ich spürte die drückenden Blicke auf mir und hörte das erwartungsvoll laute Kauen links von mir. Ich legte meine Hände zusammen.
„Hi. Ich bin Nina, ich bin sechszehn Jahre alt. Eigentlich bin ich hier in Amerika aufgewachsen, ich hab nur die letzten fünf Jahre in Kanada gelebt. Joa…“ sagte ich und merkte wie meine Stimme immer leise wurde.
„Was sind denn deine Hobbys?“ fragte mein Lehrer.
„Ähm…Ich spiele Klavier und schwimme gerne.“
Ich hatte nur zwei Hobbys genannt. Die zwei die mir am besten vorkamen. Bei denen keiner dumme Fragen stellen würde. Hätte ich gesagt, dass ich gerne lese, hätten sie vielleicht noch gefragt was für Bücher ich mag und ich müsste mir irgendwelche ausdenken, da meine diese typischen, peinlichen Fantasy-Romane waren. Hätte ich gesagt, dass ich gerne Fahrrad fahre, alleine, damit ich nachdenken kann, würden sie denken ich wäre total introvertiert. Und würde ich nur erwähnen, gerne zu singen, würden sie mich andauernd fragen ob ich ihnen nicht vorsingen könnte. Deshalb reicht ‚Ich spiele Klavier und schwimme‘. Normale Tätigkeiten, die jedes zweite Mädchen gerne macht.
„Okay, schön dich hier in der Klasse begrüßen zu können.“ sagte Mister Peter.
Nach ein paar Minuten, schob das Mädchen neben mir, einen Zettel zu mir rüber.
Hey, ich bin Sophie. Ich haasssee Mister Peter!! Du wirst hier nichts verstehen, außer du bist so ein Streber wie Anna und Josh, das ist echt krank!
Ich fragte mich wer Josh sei. Ich glaubte zu wissen, dass die Stimme die auf den Namen antwortete, den unser Lehrer aufrief, von hinten rechts kam. Ich drehte mich um und sah drei Jungen in einer Reihe sitzen. Der eine trug eine Brille, hatte schmale Schultern und kurzes schwarzes Haar. Der andere war fast doppelt so breit, trug ein Muskelshirt und guckte auf seinen Schoß. Er war anscheinend an seinem Handy und schrieb vielleicht mit Sophie, die auch andauernd mit jemandem chattete. Als kam sie ausversehen an den Lautstärkeregler und stellte ihr Handy, dann ganz schnell wieder stumm. Ich hatte andauernd Angst, dass sie genau in dem Moment eine Naricht bekommen würde und ihr Handy ein lautes Klingeln von sich gäbe.
Der Junge, welcher ganz rechts saß, war Phil. Er hatte seinen Kopf auf seine Faust gestützt und wirkte ziemlich gelangweilt. Er hatte relativ dicke Lippen. Er presste sie aufeinander und leckte sich dann rasch über die Oberlippe. Der „Muskelshirt-Junge“ neben ihm riss seinen Mund auf und lachte, aber nicht so laut, dass es Mister Peter hören konnte. Er deutete auf sein Handy und tippte sich an den Kopf. Phil hielt sich eine Hand gegen die Stirn und lachte ebenfalls. Als er mich anschaute, drehte ich mich schnell um. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie lange ich sie beobachtete hatte.
Na gut, dann werde ich wohl nichts verstehen. Ich war noch nie gut in Mathe.
Ich schob den Zettel zurück. Eigentlich war ich wohl mal gut in Mathe gewesen. In der Zweiten. Eine Eins in jeder Arbeit und schließlich auch auf dem Zeugnis. Was eine Leistung. Ich war so stolz auf mich gewesen, besser als der Klassenbeste und das soll schon was heißen.
Sophie lächelte und kaute lauter, so dass sich jetzt auch Mister Peter umdrehte und sie mit schiefgelegtem Kopf anschaute. Ohne etwas zu sagen stand sie auf und ließ ihr Kaugummi in den Mülleimer fallen. Sie war relativ klein, obwohl sie hohe Schuhe trug. In etwa ein Meter sechzig. Dagegen wirkte sogar ich, mit zehn Zentimetern Unterschied, groß.
Nachdem nun auch die letzten Minuten des Unterrichts um waren, packte ich den Block und die Stifte, die ich gar nicht gebraucht hatte, wieder in meine Tasche, stand auf und schob den Stuhl an den Tisch. Jemand tippte mir auf die Schulter.
„Willst du mit in die Cafeteria kommen?“ fragte mich Phil und fuhr mit seiner Hand du die blonden Haare.
„Ja gerne.“ antwortete ich und legte schon wieder meine Haare auf eine Seite.
Ich ging hinter Phil her, welcher ungefähr einen ganzen Kopf größer war und fühlte mich etwas schwach, neben seinem Kreuz, das fast so breit war, wie das des Muskelshirt-Jungen.
„Warum bist du hier her gezogen?“
Ich guckte ihn kurz an, merkte dann aber, dass er mir genau in die Augen schaute, also wandte ich meinen Blick wieder ab.
„Es gab so ein paar Probleme mit meiner Familie.“ antwortete ich, in der Hoffnung er würde nicht weiter nachhaken.
„Ja ich kenn das, wenn die Eltern nerven und man wünscht sich einfach nur, endlich ausziehen zu können. Bist du alleine weggezogen? Nein, oder?“
Er kennt es. Genau. Er weiß wie sich das anfühlt, die Eltern aus dem Leben gerissen zu bekommen. Wie man plötzlich alleine da steht und damit klar kommen muss. Und wie man sich nichts mehr wünscht, als dass die Eltern endlich wieder bei einem sind. Ich würde alles dafür geben, mit ihnen reden zu können, zu lachen und auch zu streiten. Zu heulen, weil die Mutter einem verbietet auf einen Geburtstag zu gehen. Der Vater einen jedes Mal wieder auffordern muss, sein Zimmer in Ordnung zu halten. Ich würde noch nicht ein Mal in Erwägung ziehen, auszuziehen. Er hatte es so selbstverständlich gesagt. Als würde er für die Allgemeinheit sprechen.
„Doch. Alleine, zu meiner Schwester.“ entgegnete ich.
„Hast du’s gut.“ äußerte er und grinste.
Andererseits hatte er auch keinen blassen Schimmer. Von mir. Von dem was meine ‚Familien Probleme‘ waren. Also durfte ich ihm auch nichts vorwerfen.
Die Cafeteria war groß. Und voll. Überall standen Schüler herum, oder saßen an Tischen und aßen.
„Komm, wir setzten uns darüber zu Josh und Peter.“
Phil zeigte auf seine beiden Sitznachbarn. Der Muskelshirt Junge und der schmale, mit der Brille und den dunklen Haaren. Einer hieß also Josh und der andere Peter. Ich musste nur noch herausfinden, wem der jeweilige Name gehörte. Ich quetschte mich auf die Bank neben Phil und saß genau gegenüber von Sophie und Anna. Ich glaubte es sei Anna, da sie lange hellbraune Haare in einem Pferdeschwanz trug.
„Hi, ich bin Josh.“ sagte der Muskelshirt Junge, der neben Anna saß und winkte mir kurz zu.
Ich lächelte ihn an. Hätte ich wetten müssen, hätte ich gesagt er würde Peter heißen. Aber andererseits passt der Name Josh auch besser zu ihm. Ein klischeehafter-beliebter-Typ-spielt-Football Name. Ein Mädchen, knappe schwarze Shorts, ein weißes T-Shirt und blonde Haare, zu einem Dutt gebunden, setzte sich etwas gehetzt zu uns an den Tisch.
„Hattest du die ersten beiden frei?“ fragte Josh das Mädchen.
„Ja und ich bin gerade hierher gesprintet.“ erklärte sie und nahm ohne zu fragen einen Schluck von Phils Wasserflasche.
Ihr Blick wanderte über jeden der an dem Tisch saß. Als sie mich entdeckte formte sie ihre Lippen zu einem O und riss die Augen etwas auf.
„Die kenn ich ja gar nicht.“ sagte sie, lachte und schloss die Flasche.
Bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte, sagte Phil: „Das ist Nina. Die Neue, von der Mister P vor den Ferien geredet hat.“
Über zwei Sachen musste ich aus seiner Aussage nachdenken. Erstens nannten sie Mister Peter, nur noch Mister P. Das war aber eher unwichtig. Und zweitens war ich nun doch „Die Neue“.
Ich grinste und winkte ihr genauso kurz zu, wie es Josh bei mir getan hatte.
„Dann herzlich Willkommen, Nina. Ich bin Lilly.“ stellte sie sich vor.
Sie holte aus ihrer Tasche eine Schachtel Zigaretten heraus und fuchtelte damit vor ihr rum.
„Kommt jemand mit eine rauchen?“ fragte sie in die Runde und zog eine Augenbraue hoch.
Josh schüttelte den Kopf, als ihr Blick ihn traf und Phil sagte: „Ich hab euch ja gesagt, was ich von Zigaretten und Sport halte.“
Sophie und Anna schauten ununterbrochen auf eins ihrer Handys und lästerten über irgendwelche Leute, die sich ebenfalls in der Cafeteria aufhielten. Sie sagten zum Beispiel etwas wie: „Die hat aber in den Ferien zugenommen“, oder „Die hat echt auf jeder Party, mit irgendwem anders rumgemacht. Was für eine Schlampe“. Als Lilly mich fragend anguckte, schüttelte ich auch den Kopf.
„Leute wo ist eigentlich schon wieder Natt? Der wäre auf jeden Fall mitgekommen.“ meckerte sie und war in Anbetracht alleine rauchen zu gehen.
„Der kommt dann sowieso später zum Training, nur keinen Bock auf Schule.“ sagte Phil und Lilly ging genervt aus dem Saal.
Anscheinend schwänzte dieser Natt öfter, nach dem was sie über ihn sagten. Phil tippte mir auf die Schulter, genauso wie vorhin in der Klasse. Ich drehte meinen Kopf zur Seite und sah wie er mir eine Banane genau vor die Nase hielt.
„Hast du Hunger?“
Es kam mir so vor, als würde er sie mir, ob ich nun wollte oder nicht, gleich in Mund stecken und mich wie ein Kleinkind füttern. Ich überlegte ob ich sie annehmen, oder lieber nett ablehnen sollte.
„Oh, danke.“ sagte ich und nahm die Banane entgegen.
Er war ja nett, aber irgendwie wirkte alles was er tat so aufdringlich. Ich beobachtete seine Finger, wie sie sanft etwas auf seinem Bildschirm tippten. Wie sie leicht von unten bis oben strichen. Seine Nägel waren abgekaut und seine Finger etwas zu knochig, keine besonders schönen Männerhände, viel zu schmal.
„Was hast du als nächstes?“ fragte Josh.
Da ich mir nicht genau sicher war, wen er gefragt hatte, zeigte ich auf mich und fragte: „Ich?“. Er nickte. Ich hob kurz den Zeigefinger, was so viel bedeuten sollte wie: „Warte kurz“ und kramte einen Zettel aus meiner Tasche.
„Ich hab als nächstes Englisch.“ antwortete ich.
„Ne ich nicht.“ sagte Phil und lachte, was ich an dieser Stelle ziemlich übertrieben fand.
Josh und Peter schüttelten den Kopf. Anna und Sophie hatten ebenfalls nicht mit mir zusammen Unterricht. Also war ich alleine. Was heißt alleine. Ich kannte nur wahrscheinlich niemanden im Kurs. In den anderen Kursen waren ebenfalls viele nette Leute. Ich hätte nicht erwartet, dass man eine Kanadierin so gut aufnimmt. Na gut, eigentlich war ich ja Amerikanerin, aber trotzdem hätte ich das nicht gedacht.
Die erste Schulwoche lief ziemlich gleich ab. Morgens wartete Phil an dem Haupteingang, um mich zu meinen Kursen zu bringen, was echt ziemlich nett war und ich hatte ihn noch nicht einmal darum gebeten. Danach hatte ich Unterricht. Manchmal mochte ich die Lehrer. Jung, lustig, ein bisschen streng, aber sie hatten irgendetwas das sie sympathisch machte. Andere waren alt, langweilig und man dachte sie würden jede Sekunde einschlafen. Die Pausen verbrachte ich an dem „Stammtisch der Coolen“, nach dem was Josh behauptete. Eigentlich war es schon gerade dadurch, dass sie sich die „Coolen“ nannten, nicht mehr so cool. Ich hatte mich schon ziemlich schnell an die neue Situation gewöhnt und freute mich nun auch schon auf die nächste Woche, was eigentlich etwas komisch für mich war.
Nach der Schule musste ich den ganzen Weg zurückgehen, den mich Caroline vorhin mit dem Auto gefahren hatte. Sie arbeitete bis spät Nachmittags und konnte mich somit nur zur Schule bringen und den Rückweg musste ich zu Fuß gehen. Sie arbeitete als Psychologin in einer Praxis, in der Nähe unserer Stadt. Da sie aber gerade erst ihr Studium abgeschlossen hatte, konnte sie ja noch nicht lange in der Praxis arbeiten und ihr Lohn war dementsprechend auch noch gering. Zum Glück hatte sie das Haus in der „Old Surrency Road“ von unseren Großeltern vererbt bekommen und musste somit nicht noch die Miete finanzieren. Es war allein schon schwierig, dass ich nun auch mit in dem Haus wohnte. Aber ich versuchte so gut es ging, ihr nicht zu sehr auf die Kosten zu fallen und spielte außerdem mit dem Gedanken mir einen kleinen Job zu suchen, um ihr eine kleine Miete zu zahlen.
Zum Glück ging es nur bergab. Auf der linken Seite des Bürgersteigs befand sich die Hauptstraße und auf der Rechten ein kleiner Wald. Eigentlich war Baxley von einem Wald umschlossen. Egal wo man war, es dauerte nicht länger als zwei Minuten und man befand sich in Mitten Gestrüpp und Bäumen. Als ich Zuhause ankam, warf ich meine Tasche in eine Ecke und stürmte zum Kühlschrank, da ich am Verhungern war. Außer Aufstrich und Obstsäften befand sich nichts darin. Und genug Zutaten zum Kochen hatten wir auch nicht. Ich nahm mir einen Apfel und setzte mich an den Esstisch. Ich holte mein Handy aus meiner Hosentasche und legte es auf den Tisch. Eine neue Naricht. Das hätte mir eigentlich klar sein müssen. Ich gab Phil heute meine Nummer, da er mich danach gefragt hatte und er wirkte nicht wie jemand, der, nachdem man Nummern ausgetauscht hatte, drei Tage wartete um sich zu melden.
„Kommst du mit ins Café in der Stadt?“
„Gerne. Wann willst du denn gehen?“
„Gegen vier Uhr.“
Wir hatten schon halb vier, also räumte ich schnell meine Schulsachen aus der Tasche und legte nur mein Portemonnaie und mein Handy hinein. Wenigstens konnte ich dort eine Kleinigkeit essen. Der Weg von meinem Haus bis in die Stadt dauerte nur zehn Minuten, also kam ich ziemlich pünktlich.
Erst als ich Phil alleine an dem Tisch sitzen saß, realisierte ich, dass ich ihn gar nicht gefragt hatte, ob noch Andere kommen und dass ich jetzt vielleicht mit ihm alleine die Zeit verbringen muss, also dass er mich nach einem Date gefragt hatte.
„Nina, warte mal.“
Lilly rief mich. Zum Glück. Zum Glück musste ich nicht die ganze Zeit alleine mit ihm sein. Sie trug eine kurzärmelige Bluse in einem blau. Baby blau würde ich behaupten. Ihre blonden Haare liefen ihr in einem Pferdeschwanz den Rücken hinunter. Und tief braune Augen.
Ich blieb stehen. Hinter ihr kam schon Josh angerannt, welcher sie hastig von hinten umarmte und einen Arm um ihre Hüfte legte, woraufhin sie erschrocken zusammen zuckte. Irgendwie kam mir die Umarmung nicht nur freundschaftlich vor. Seine Hand lag immer noch auf ihrer Hüfte, bis Lilly sich etwas verwundert aus seinem Arm löste. Ich hörte wie er ihr ins Ohr flüsterte, doch so laut, dass ich es auch verstehen konnte.
„Das Oberteil sieht ziemlich hübsch aus, hast du das neu?“
Sie schaute ihn genervt an.
„Josh.“
Beim Aussprechen seines Namens rollte sie die Augen.
Phil saß an einem der vielen runden Tische in dem Café. Er nahm seine Jacke von einem der Stühle und gab mir ein Zeichen, dass ich mich dort neben ihn setzen solle.
„Hey.“
„Hey.“ antwortete ich.
„Was hat Josh sie gefragt?“ flüsterte er mir ins Ohr. Aber diesmal wirklich flüsternd.
„Nur ob sie ein neues Oberteil hat und dass er es sehr schön findet.“ erzählte ich ihm.
Unsere Köpfe waren sehr nah aneinander und er berührte fast mein Ohr, als er mir etwas zurückflüsterte.
„Du musst wissen, er steht auf und hat es vor kurzem geschenkt.“
Er gab mir ausversehen einen Atemstoß direkt in mein Ohr, so dass ich meinen Kopf in meinen Nacken legte und anfangen musste zu lachen.
„Sorry.“ sagte er lachend und klopfte auf meinen Oberschenkel unter dem Tisch, so dass seine Hand genau auf meiner liegen blieb.
Ich zog sie schnell unter seiner heraus und tat so als müsste ich mich an der Nase kratzen.
Ein Junge kam herein und setzte sich zu uns an den Tisch.
Phil gab ihm einen Handschlag und lachte: „Schön, dass du dich auch mal wieder blicken lässt.“
„Joa, hab noch ein bisschen geschlafen.“ erklärte er und ein Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus.
Seine Stimme war tief und ruhig. Sehr angenehm meiner Meinung nach.
„Wo sind Anna und Sophie?“ fragte ihn Josh, nachdem er und Lilly ebenfalls einen Handschlag mit ihm gemacht hatten.
„Keine Ahnung, sie haben nichts gesagt“, antwortete er, „und wer bist du?“ fügte er hinzu.
Langsam legte er seinen Kopf etwas schräg und schaute mich erwartungsvoll an.
„Ich bin Nina. Ich bin neu auf eure Schule gekommen.“ erklärte ich und sah wie sich eine Kellnerin durch die engen Tische schlängelte. Schon etwas angepisst guckte sie die Kinder an, die ihr im Weg standen.
Er guckte mich an. Musterte mich wahrscheinlich gerade. Ich fühlte mich schon etwas unwohl bei dem Gedanken, was wohl gerade in seinem Kopf vorging. Vielleicht machte er sich gerade innerlich über mich lustig. Aber er sah auch nicht gerade perfekt aus mit seinen zerzausten Haaren. Na gut obwohl, irgendwie sah es gewollt aus und doch, ja, es sah gut aus. Ich guckte ihn verwirrt und gleichzeitig fragend an.
„Sorry, ich hab dich nur angeguckt.“ sagte er und guckte verschmitzt auf den Tisch.
„Was bekommen sie?“ fragte die Kellnerin.
„Einen Latte Macchiato, bitte.“ bestellte Lilly.
„Für mich einen Ice Kaffee.“ sagte Josh.
„Für mich einen Ice Caramel Kaffee.“
Phil legte die Betonung auf „Caramel“.
„Ich hätte gerne einen Latte Macchiato.“ sagte ich.
„Und einen Espresso für mich.“
Ich wusste seinen Namen gar nicht. Jetzt wäre es aber komisch ihn noch zu fragen, deshalb lehnte ich mich zu Phil herüber.
„Wie heißt er?“ flüsterte ich ihm ins Ohr.
„Natt.“
Achso, Natt. Der Schwänzer. Hätte ich mir eigentlich denken müssen.
„Und Natt, du trinkst deinen Kaffee schwarz?“ fragte Phil etwas abfällig.
„Und du deinen mit Milch und Karamell?“ gab er genauso abwertend zurück.
Irgendwie hatte Natt Recht. So ein Kaffee mit Milch und Karamell war nicht besonders männlich. Ich musste bei seiner Antwort etwas lachen, versuchte es mir dann aber zu verkneifen, als ich Phils drückenden Blick sah.
Lilly war mit Josh beschäftigt. Sie redeten über etwas. Aber ich bekam nur Bruchstücke mit. So etwas wie: „Heute Abend.“, oder „aber warum nicht?“
„Nina wie kommst du nach Hause?“
Phil wirkte etwas genervt, von was wusste ich aber nicht.
„Meine Schwester holt mich ab, aber wie können dich bestimmt mitnehmen.“ bot ich ihm an.
„Nein, nein, ich hab ein Auto. Ich hätte dich sonst nach Hause gebracht, dann hätte deine Schwester nicht extra fahren müssen.“ erklärte er.
„Sie kommt eh von der Arbeit, also passt das.“
„Könnt ihr mich mitnehmen?“ fragte Natt.
„Wo wohnst du?“
„Lanes Bridge Road“
„Das ist die Straße genau unter meiner.“ sagte ich, etwas zu euphorisch. Ich wusste auch nicht was ich daran so toll fand.
„Also geht’s?“ fragte er trocken.
Etwas beschämt antwortete ich: „Ja klar, ist in Ordnung.
Noch mehr als eine Stunde saßen wir in dem Café und unterhielten uns über verschiedene Sachen. Ich hatte andauernd das Gefühl, dass Phil innerlich mit sich kämpfte, ob es angebracht wäre, seine Hand wieder auf meinen Oberschenkel zu legen. Aber er tat es nicht. Besser so. Ich hatte schon überlegt, was ich machen würde, oder ob ich es einfach hätte aushalten müssen.
Also brachten wir Natt, den ich heute zum ersten Mal gesehen hatte, nach Hause. Er setzte sich auf den Beifahrersitz und ich konnte ihn durch den Seitenspiegel beobachten. Wie er gebannt aus dem Fenster schaute als wäre er zum ersten Mal in der Stadt.
„Halt, hier wohne ich.“
Wir standen vor einem großen Haus, welches ziemlich modern aussah. So kalt und hart. In einem kühlen Weiß, soweit weiß überhaupt in warm oder kalt eingeteilt werden konnte. Aber irgendwie war es kalt. In der Garage standen zwei Autos. Da ich mich nicht besonders gut mit Autos auskannte, konnte ich nicht sagen welche es waren, aber sie sahen teuer aus. Anscheinend hatte dieser Natt viel Geld, beziehungsweise seine Eltern.
„Gut, danke dass Sie mich nach Hause gefahren haben.“ bedankte er sich.
„Gerne.“ antwortete Caroline und lächelte breit an, als er uns den Rücken zu drehte.
„Na wer ist das?“ fragte sie mich neugierig.
„Fahr jetzt erst mal los.“ drängte ich sie und sah ihren gespannten Blick im Rückspiegel.
„Also?“ fragte sie, als wir gerade aus seiner Straße herausgefahren waren.
„Das ist nur einer von meiner Schule.“ gab ich gleichgültig zurück.
„Der sah aber schon ziemlich gut aus, muss ich sagen.“ schwärmte sie.
Ich hatte zwar darauf geachtet wie er aussah, aber irgendwie war ich mir nicht sicher gewesen, ob ich ihn nun attraktiv fand oder eben nicht. Ich brauchte immer die Bestätigung von anderen, sogar bei solchen Entscheidungen. Und ja, jetzt fiel es mir auch auf, er sah echt gut aus. Etwas anders als solche Klischeehaften Traumjungen, aber genau das machte ihn so attraktiv. Warum musste Caroline mich darauf aufmerksam machen? Jetzt konnte ich ihn nicht mehr angucken, ohne rot zu werden. Man.
„Joa kann schon sein.“ antwortete ich, um besonders zu cool zu wirken.
Carolines Blick im Rückspiegel sagte alles. Es war ja nicht so als kenne sie mich nun schon sechszehn, fast siebzehn, Jahre. Ich konnte ihr nichts mehr vormachen. Ich stützte meinen Kopf in meine Handfläche und beobachtete die, schnell an uns vorbeiziehenden, Häuser.
Ich stürmte hinauf in mein Zimmer, schmiss meine Klamotten auf den Schreibtischstuhl und schlüpfte hastig in eine blaue Jogginghose, ein weites Oberteil und dicke, kuschelige Socken. Meine Haare band ich in meinem Nacken zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammen. Ich war glücklich. Keine Ahnung warum. Und brauchte jetzt Platz und konnte mich nicht in einer engen Jeans in mein Bett kuscheln.
Ich schaute nach neuen Narichten auf meinem Handy und sah, dass ich eine Gruppe hinzugefügt wurde. „Geburtstag“ hieß sie. Wer hatte denn Geburtstag?
„Hey, ich lade euch alle zu meinem Geburtstag ein. Nächste Woche Freitag ab acht Uhr. Sagt mir Bescheid ob ihr kommen könnt. Lilly.“
Ich war zu Lillys Geburtstag eingeladen worden. Irgendwie freute mich das total. So konnte ich alle noch besser kennenlernen. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu lächeln.
„Wollen wir Lilly ‘was zusammen schenken?“ schrieb mir Phil.
„Ja können wir machen.“ antwortete ich.
Ich ging die Mitglieder der Gruppe durch und kannte ungefähr mehr als die Hälfte gar nicht, oder nur vom Sehen. Natt war auch eingeladen. Ich schaute mir sein Bild an. Er mit einem Mädchen. Er hatte den Arm um sie gelegt. Okay. Er hatte wohl eine Freundin. Rote Haare in einem Zopf. Sie war schon hübsch. Sah älter aus. Zu mindestens älter als er. Also stand er auf ältere, rothaarige Frauen. Na gut.
Sein Status lautete: „We all get what we deserve“.
Also war er so ein philosophischer, depressiver Schwänzer. Vielleicht sogar ein kleiner Dramatiker. Ich kam mir selbst ziemlich albern vor, bei dem was ich versuchte in diesem einen einfachen Satz, zu interpretieren. Vielleicht war es auch einfach nur der Titel eines Liedes.
Es war Montag. Endlich. Phil wartete diesmal nicht am Haupteingang, das hatte ich aber auch nicht erwartet. Ich ging die Wendeltreppe hinauf, an den Klassenräumen der älteren Schüler und dem Lehrerzimmer vorbei. Ich setzte mich neben Sophie und war überrascht wie einfach sie heute aussah. Ohne die ganze Schminke und den vielen Schmuck sah sie viel besser aus.
„Schönes Oberteil.“ sagte sie zu mir und deutete auf meine rosa Bluse.
„Danke.“ lächelte ich sie an.
Mister Peter und Natt kamen ungefähr gleichzeitig in den Klassenraum herein, so als hätten sie eben noch ein Gespräch gehabt. Da war er. Der Junge, der doch eigentlich ganz gut aussah. Er blieb vor meinem Platz stehen und schaute Sophie verwirrt an. Diese zuckte nur mit den Schultern und er setzte sich genervt zu einem Mädchen, das weiter hinten saß.
„Das ist eigentlich sein Platz, aber egal.“ erklärte sie mir und ich bekam sofort ein schlechtes Gewissen.
„Ich kann mich auch umsetzen.“ sagte ich schnell und schaute zu ihm nach hinten.
Natt schüttelte sanft den Kopf und wendete dann den Blick ab.
„Schön, dass wir jetzt endlich wieder vollständig sind.“ sagte Mister Peter etwas lauter, um Ruhe in den Klassenraum zu bringen.
Ich wusste, dass er damit Natt gemeint hatte. Den Schwänzer. Und dass Natt jetzt wahrscheinlich total angepisst die Augen verdrehte. Aber ich traute mich nicht, mich nochmal zu ihm umzudrehen.
In der Pause setzte ich mich wie immer an den „Stammtisch“, den Rest ließ ich lieber weg. Es war nun mittlerweile auch mein Stammtisch geworden. Ich gehörte zu ihnen. Ich war nie ein Mensch gewesen, der gerne zu irgendwelchen Gruppen gehört hätte, aber komischerweise kam das hier alles von selbst. Ohne dass ich es richtig beeinflussen konnte.
„Warum bist du eigentlich hier her gezogen?“ fragte mich Sophie und nahm ihren Blick endlich von dem Handy.
„Es gab da so ein paar Probleme mit meiner Familie.“ erklärte ich knapp und wusste, dass es niemand so hinnehmen würde. Dass ich nicht an Nachfragen vorbei käme.
„Ah okay.“ antwortete Sophie und starrte wieder gebannt auf ihr Handy.
Sie hatte echt nichts mehr dazu gesagt. Nicht noch einmal nachgefragt. Verstanden, dass ich nicht darüber reden wollte.
„Natt, eine rauchen?“
Lilly fuchtelte, wie immer wenn sie fragte, mit der Zigarettenschachtel vor ihrem Gesicht herum.
„Aber sicher.“ antwortete er bereit.
„Oh gut endlich. Ich hatte schon Entzugserscheinungen.“ lachte sie und beide verließen den Saal.
Jetzt saß ich nur noch mit Sophie, Anna – mit der ich noch nie ein Wort gewechselt hatte, geschweige denn, hatte ich sie mal Sprechen gehört – und Josh an dem Tisch.
„Wo ist Phil?“ fragte ich sie.
„Der ist bei einer Besprechung mit unserem Coach.“ antwortete Josh, mit vollem Mund.
„Und warum bist du nicht da?“
„Coach wollte nur mit dem Captain sprechen.“ erklärte er leicht sarkastisch und stopfte sich eine nach der anderen Nudel in den Mund.
Phil war also der Captain. Ich hätte nicht erwartet, dass er so gut spiele. Andererseits war er ziemlich groß und trainiert. Aber nicht so sehr wie Josh. Wahrscheinlich war das der Grund warum Josh so genervt davon war, zu sagen dass Phil der Captain ist und nicht er. Vor kurzem hatte ich zudem noch erfahren, dass Phil vor mehreren Monaten mit Lilly zusammen gewesen war und Josh, na ja, er gibt sein Bestes, aber irgendwie wird es nichts.
Als nächstes hatte ich Englisch. Ich mochte den Lehrer echt gerne, er war halb Afrikaner, halb Engländer und locker, für einen Erwachsenen Mitte dreißig. Irgendwie hatte er so etwas entspanntes, dass der Unterricht richtig Spaß machte. Rechts von mir saß ein Mädchen, Julia. Sie hatte hellbraun bis blonde Haare. In jedem Licht sahen sie anders aus. Links neben mich setzte sich Natt. Ganz plötzlich wurde ich nervös und mein Gesicht fing an zu glühen.
„Ist doch okay, dass ich hier sitze, oder?“ fragte er mich und hatte, wie immer, diesen verschmitzten Blick in seinen Augen und auf seinen Lippen.
„Ja klar.“
Etwas anderes hätte man auch nicht auf die Frage antworten können.
„So, ich hoffe ihr habt alle fleißig das Buch gelesen, da ihr heute dieses Arbeitsblatt zu dem Buch, das ich gleich rumgeben werde, in Partnerarbeit bearbeitet. Alles klar?“ erklärte Mister Miller.
„Sind wir Partner?“ fragte mich Natt.
„Ja okay.“
„Du bist nicht so gesprächig oder?“
„Manchmal.“ sagte ich verschämt.
Wir sollten Charakter analysieren, des Buchs, welches die Klasse in den Ferien lesen sollte, aber da ich davon nichts wusste, kannte ich es nun auch nicht.
„Ich hab das Buch nicht gelesen.“ sagte ich zu ihm und presste meine Lippen aufeinander.
„Zum Glück hast du mich.“
Ich hätte niemals gedacht, dass er es gelesen hat. So ein Schwänzer nimmt sich doch nicht die Zeit ein langweiliges Schulbuch zu lesen, oder?
„Von was handelt es denn?“ „Es geht um einen Jungen der im zweiten Weltkrieg lebt und der Sohn eines SS-Offiziers ist…“
Ich starrte ununterbrochen auf seine Lippen, welche immer leicht lächelten. Dieses verführerische Lächeln. Und seine Augen. Sie waren grün. Aber nicht so ein helles grün, sondern eher dunkel. So dass man aus der Ferne denkt, sie wären braun. Eine schöne Augenfarbe. Eigentlich sah er auch nicht besser aus als die anderen. Sein Blick war das, was ihn so attraktiv machte.
„Spielst du eigentlich auch Football?“ unterbrach ich ihn.
„Ja tue ich.“ sagte er und lachte kurz auf, da er wahrscheinlich nun gemerkt hatte, dass ich ihm gar nicht zuhörte.
„Okay, cool.“
„Und du, was machst du so?“ fragte er mich und ich verfiel sofort in einen Schock. Warum hatte ich ihn nicht einfach ausreden lassen? Was machte ich denn so?
„Ähm…ich spiele Klavier und so.“ erklärte ich.
„Und so?“
Er verzog eine Augenbraue.
„Ja und noch so ein paar normale Sachen eben.“ versuchte ich der Frage aus dem Weg zu gehen.
„Ach und was sind so ein paar normale Sachen für dich?“
Bei „normalen Sachen“ tat er so, als wären seine Zeige- und Mittelfingern, Anführungszeichen.
„ Na ja, singen und so weiter.“
Toll er hatte es geschafft, mein gutes Konzept kaputt zu machen.
„Du kannst mir ja mal was vorsingen.“ sagte er etwas schnippisch.
„Ich weiß nicht.“ erklärte ich und schaute verschämt auf meinen Schoß.
„Ich komm einfach mal bei dir vorbei, ich weiß ja jetzt wo du wohnst und dann überlegst du’s dir nochmal. Ich bin auch kein Kritiker oder so, also keine Angst.“ schmunzelte er.
„Okay, dann musst du mir aber auch noch etwas von dir zeigen.“
„Da gibt’s aber leider nichts.“ lachte er.
„Überleg dir was.“ sagte ich schlagfertig.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass das eine Art flirten war, war mir aber nicht sicher.
„Okay. Sorry übrigens wegen vorhin, ich war etwas angepisst von Mister Peter, weil er mit mir über letzte Woche geredet hatte.“ entschuldigte er sich.
„Weil du nicht da warst?“ fragte ich ihn.
Er nickte. Ich fragte mich warum er nicht da gewesen ist, aber traute mich auch nicht zu fragen. Vielleicht waren es persönliche Ursachen. Oder halt einfach Schwänzen. Wie die Anderen meinten.
„Du bist doch gesprächiger, als ich dachte.“ sagte Natt und legte eine Hand auf meine Schulter.
„Tja.“
Ich schaute ihm direkt in die Augen und er in meine. Bis es etwas komisch wurde und ich verschämt grinsend meinen Blick abwendete.
„Ich glaube, ihr seid mit etwas Anderem beschäftigt, als mit dem Arbeitsblatt, stimmt‘s?“ sagte Mister Miller und stützte sich mit einem Arm auf unserem Tisch ab.
„Ich habe ihr nur gerade erklärt von was es handelt, weil sie es ja nicht lesen konnte.“ erklärte Natt.
„Oh stimmt, hättest du mal ein Wort gesagt Nina. Du kannst es dir in der Schulbibliothek ausleihen.“
Mister Miller nahm unsere Arbeitsblätter, welche falsch herum auf dem Tisch lagen, drehte sie um und tippte auf die Blätter.
„Und jetzt weniger übers Singen reden, sondern mehr über den Zweiten Weltkrieg, okay?“ ermahnte er uns und zwinkerte mir zu. Sympathisch.
„Ay ay sir.“ sagte Natt salutierend, worauf Miller nur die Augen verdrehte.
Nach der Schule ging ich in die Schulbibliothek und schaute nach dem Buch. In der Abteilung „Historik“, fand ich es dann schließlich und lieh es aus.
Als ich aus dem hinteren Ausgang heraus ging – weil ich so nicht durch die ganze Schule laufen musste – sah ich Lilly und Natt rauchen.
„Ah Nina, sehen wir uns Freitag?“ fragte mich Lilly.
„Ja ich bin da.“ antwortete ich und versuchte irgendwie noch das Buch in meine volle Tasche stecken zu können.
„Cool.“ Sie nahm einen Zug.
„Läufst du?“
Natt ließ die Zigarette auf den Boden fallen und zerdrückte sie mit seinem Fuß.
„Ja.“
„Dann komm ich mit.“
„Also fährst du nicht mit mir?“ fragte ihn Lilly.
„Ne. Tschau.“ antwortete er schnell und drehte sich zu mir um.
Hatte er sich jetzt echt dazu entschieden, die zwanzig Minuten nach Hause zu laufen, anstatt mit Lilly zu fahren? Wegen mir?
„Hast du eigentlich kein Auto?“ fragte ich ihn.
„Doch, aber ich fahre nicht.“ sagte er und ich ließ es einfach mal so im Raum stehen.
Er trug eine schwarze, engere Hose, ein weißes T-Shirt und darüber eine beige Jacke. Und braune Schuhe, etwas edler.
Ich trug meine Lieblingshose: eine einfache dunkelblaue Jeans. Die rosa Bluse, Ballerinas und offene, gewellte Haare.
Bei jedem Schritt schaute ich abwechselnd zu seinen, dann wieder zu meinen Schuhen.
„Und was schenkst du Lilly?“ fragte er mich, nach ein paar Sekunden Stille.
„Phil und ich wollen ihr ‘was zusammen schenken, aber noch keine Ahnung was“, antwortete ich, „und du?“
„Ich glaube die neue Staffel von so einer Serie, die wir immer zusammen gucken.“
„Darüber wird sie sich bestimmt freuen.“ sagte ich und lächelte ihn an.
„Wann hast du Geburtstag?“ fragte er mich.
„Am zwanzigsten September und du?“
„Das ist ja schon bald. Am zwölften März.“
„Okay.“
Ich persönlich fand, dass siebzehn werden so etwas Unbedeutendes ist. Generell Geburtstag haben. Das ist unnötig. Es wiederholt sich jedes Jahr und man freut sich immer weniger darüber. Für einen Tag bekommt man die ganze Aufmerksamkeit und dann ist alles wieder vorbei. Könnte man sich auch sparen.
„Hast du Geschwister?“
Ich fühlte mich wie eine Orange die man ausquetschte. Mir fielen gar keine Fragen ein, die ich ihm stellen könnte.
„Ja eine ältere Schwester und einen kleinen Bruder und du?“
Na gut, indirekt stellte ich ihm ja Fragen. Immer die Gegenfrage zu seinen. Super.
„Nur eine ältere Schwester, aber wir sehen uns kaum.“ antwortete er.
„Wohnt sie nicht bei dir?“
„Nein, sie wohnt ganz weit weg. Und deine Geschwister, wohnen die bei dir?“
„Nur meine Schwester. Also ich wohne ja bei ihr. Aber mein Bruder wohnt noch in Kanada.“ erklärte ich ihm.
„Hast du dein altes Leben hinter dir gelassen? Also so, wie ein Neuanfang?“
„Ja genau. Genau das habe ich.“
Besser hätte er es nicht ausdrücken können.
Jetzt musste ich ihn auch etwas fragen, nicht nur um vom Thema abzulenken, sondern auch, um „gesprächiger“ zu wirken und irgendwie Interesse zu zeigen.
„Wie lange rauchst du schon?“
Eine dümmere Frage hätte mir nicht einfallen können.
„Zu lange.“ gab er zu und schmunzelte.
„Findest du das gut?“
Jetzt tat ich auch noch so als wäre ich eine Psychologin und müsste ihn selbst herausfinden lassen, dass das nicht gut ist und dass er besser damit aufhören sollte.
„Weißt du, was kaputt ist, kann man eh nicht noch mehr kaputt machen. Also was soll’s.“
„Was kaputt ist, kann man eh nicht noch mehr kaputt machen.“ wiederholte ich dem Satz im Kopf und dachte darüber nach.
Nach mehr als einer halben Stunde standen wir endlich vor meiner Haustür. Der Weg dauerte mehr als zehn Minuten länger, wenn ich mit ihm zusammen ging. Er hielt seine Arme hinter seinem Rücken zusammen und sagte:
„Schönes Haus.“
„Deins ist schöner.“
„Ansichtssache.“
„Dann sehen wir uns morgen.“ verabschiedete ich mich.
„Vergiss nicht das Buch zu lesen.“ erinnerte Natt mich und hob den Zeigefinger.
„Tu ich nicht.“
„Ja, dann sehen wir uns morgen.“
Verschmitzt lächelte er und winkte mir zu, als er in Richtung Straße ging.
Auf dem Herd standen Nudeln und Soße, die Caroline am Abend vorgekocht hatte. Ich erwärmte das Essen und setzte mich an den kleinen Tisch, welcher an der Wand stand.
Mein Handy gab ein leises Klingeln von sich.
„Willst du heute Abend mit mir in einem Restaurant essen gehen?“ schrieb Natt.
Ich starrte auf die Nudeln und überlegte, ob es schlau wäre mich jetzt schon vollzustopfen, wenn ich heute Abend ein Date hatte. Ich hatte ein Date. Ein Date. Mit dem Jungen, den ich erst seit Freitag kannte. Dem Jungen mit dem verschmitzten Blick und den edlen Schuhen. Dem Schwänzer.
„Ja gerne.“ antwortete ich, zerdrückte das Handy fast in meiner Hand und zappelte wild mit meinen Beinen herum.
„Cool. Dann bis um halb acht.“
„Ja, bis dann.“
Was sollte ich anziehen? Was zog man denn in ein Restaurant an? Erst einmal sprang ich unter die Dusche und kuschelte mich dann, wie gewohnt, für ein paar Minuten, mit meinem Bademantel in mein Bett.
„Ist das ein sehr edles Restaurant?“ schrieb ich ihm.
Zu schick, aber auch zu einfach, wäre peinlich, deshalb wollte ich mich vorher versichern.
„Keine Ahnung, war da noch nie.“ antwortete er.
Kurz darauf kam eine weiter Nachricht: „Du wirst schon gut aussehen.“
Es beantwortete zwar nicht meiner Frage, aber er hatte mir soeben ein Kompliment gemacht.
Also entschied ich mich für ein schwarzes Oberteil mit Spitze am Dekolletee und eine Jeans.
Ich flocht meine Haare an den Seiten und verband alles in einem tiefen Dutt. Nur zwei kleine Strähne ließ ich vorne herausfallen.
„Komm raus.“ leuchtete es auf meinem Bildschirm auf. Schnell schnappte ich meine Tasche, schmiss mir den dunkelblauen Mantel über und eilte die Treppen hinunter. So hastig, dass ich rasch nach dem Geländer greifen musste, um nicht zu stürzen.
Vor der Tür blieb ich einige Sekunden stehen, um meinen Puls wieder unter Kontrolle zu bekommen. Dann öffnete ich sie.
Ich konnte seine Silhouette im schwachen Licht der untergehenden Sonne erkennen. Je näher ich ihm kam, desto klarer wurden seine Gesichtszüge.
Musternd arbeitete sich sein Blick von meinen Füßen, bis zu meinem Scheitel hinauf.
Er hob eine Augenbraue, nahm einen letzten Zug seiner Zigarette und hauchte mir den Rauch ins Gesicht. „Hey.“
Ich blinzelte verwirrt und ein Kratzen legte sich in meine Augen.
„Hallo.“ sagte ich und lächelte etwas angewidert.
Er warf den Zigarettenstummel vor sich und zertrat ihn mit seiner Fußspitze.
„Ja, das sieht echt gut aus.“
„Danke.“ gab ich knapp zurück.
Er trug ein weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt und einem hellblau-kariertes Hemd darüber. Die Ärmel locker hochgekrempelt und seine Haare, na ja wie immer eben, nicht gestylt, aber irgendwie sah es trotzdem gut und gewollt aus.
„Wollen wir los?“ fragte Natt und nickte in Richtung Straße.
„Okay.“ legte ich eine süße Stimme auf.
Sein Portemonnaie steckte in seiner hinteren Hosentasche. Bei jedem Schritt bewegte es sich mit der Hose. Warum machen das immer alle Jungen? Nervt das nicht? Hat man dann nicht Angst, dass es geklaut werden kann? Na gut, eine Handtasche an ihm fände ich jetzt auch nicht besser. Ich musste bei der Vorstellung kichern. Er guckte mich fragend an und ich machte eine Handbewegung, die so viel bedeuten sollte wie: „Ist egal.“
„Geschlossen.“ sagte er, als wir ein paar Minuten später direkt vor dem Restaurant standen.
„Warum machen sie ausgerechnet jetzt Urlaub?“
Empört gab ich ein Stöhnen von mir.
„Joa keine Ahnung“, sagte er schulterzuckend, „was wollen wir jetzt machen?“
Ich presste nachdenklich die Lippen aufeinander.
„Wollen wir nen Döner essen?“ fragte er trocken.
Ich lachte. „Warum nicht.“
Wir machten uns auf den Weg zu dem Imbiss, wo es „die geilsten Döner“ geben soll, nach Natt.
„Mach dich aber nicht über mich lustig, ich kann das nicht essen.“ kicherte ich und spürte, wie er einen Arm um meine Schulter legte.
„Weißt du, hätte ich das vorher gewusst, hätte ich auch kein weißes Oberteil angezogen.“
Ich lachte und er ließ seinen Arm einfach weiter auf meiner Schulter weilen.
„Aber ich hab bis jetzt auch erst einmal einen gegessen. Kann sein, dass ich jetzt besser bin.“
Ich lächelte breit und presste dabei meine Zähne aufeinander.
„Bestimmt.“ sagte er ironisch und daraufhin bekam er von mir einen leichten Klaps an den Oberarm.
Sein Arm wanderte weiter nach unten, bis er sich schließlich um meine Taille schmiegte. Mir schoss mein ganzes Blut ins Gesicht. Zum Glück war es aber schon etwas dunkler und er konnte meine feuerroten Wangen nicht erkennen. Eigentlich wollte ich mich schon längst wieder der Nähe zu ihm entziehen, aber irgendwie wirkte er so stark neben mir, dass ich mich gar nicht traute.
Dann saßen wir da. Mit beiden Händen umfassten wir das Fladenbrot und schauten uns etwas unsicher an. Keiner von uns wollte als erstes reinbeißen.
„Auf drei, okay?“
„Dann kleckere ich mich eh voll.“ sagte ich.
„Eins, zwei, drei.“
Ich nahm hastig einen Biss und spürte, wie die Soße aus der Seite des Döners, langsam über meinen Handrücken lief. Natt nahm eine Serviette und wischte sie mir sauber. „Danke.“
„Findest du auch, dass Josh und Lilly zusammen kommen sollten?“ fragte er mich und kaute dann weiter.
„Ja, ich finde die sind schon ganz süß zusammen.“ beantwortete ich die Frage und lächelte anschließend bestätigend.
„Aber ich glaube Lilly hat momentan nicht so Bock auf ne Beziehung.“
„Warum?“
„Hat dir Phil von dieser Sachen zwischen ihnen erzählt?“ erkundigte er sich.
„Waren sie nicht mal zusammen?“
„Ne, sie hatten öfter mal was auf Partys und Lilly dachte es wäre etwas Ernstes, bis sie dann erfahren hat, dass Phil an zwei Abenden auch noch mit einer anderen rumgemacht hat.“ erklärte er und verdrehte am Ende des Satzes die Augen.
„Echt? Das passt gar nicht zu ihm.“
Ich strich mir um den Mund, da ich Angst hatte, dass sich ein Film Soße auf meine Lippen gelegt hatte.
„Ich meine sie haben es mittlerweile geklärt und verstehen sich eigentlich wieder ganz gut, aber trotzdem Phil kann manchmal so ein Arschloch sein.“
„Wie lange hat Lilly gedacht, dass er es ernst meinen würde?“ hakte ich nach.
„Mehr als eine Woche.“
„Und er hat nichts gesagt?“ fragte ich schockiert.
„Ne, ich denke er wollte sie sich warm halten und hätte auch so erstmal nichts gesagt. Ich musste sie dann aufklären.“
„Das tut mir voll leid für sie.“
„Ja.“ sagte Natt und widmete sich wieder seinem Döner.
Nach ein paar Sekunden Stille fragte er dann: „Hattest du eigentlich schon mal nen Freund?“
„Ich hatte mal einen Freund im Kindergarten.“ sagte ich und rätselte auf was diese Frage wohl hinauslaufen würde.
„Wie alt bist du nochmal?“ erkundigte er sich verwundert.
„Siebzehn.“
„Du bist siebzehn und deinen letzten Freund hattest du im Kindergarten? Ist das dein Ernst?“
Er schüttelte neckend den Kopf und nahm einen großen Biss von dem Döner.
„Ja was weiß ich“ sagte ich und zog die Schultern hoch, „wie viele Freundinnen hattest du denn schon?“ fragte ich und guckte ihn herausfordernd an.
„Tja, das wüsstest du jetzt wohl gerne.“ sagte er und hatte den gleichen herausfordernden Blick, wie ich zuvor, aufgesetzt.
„Ey ich hab es dir auch gesagt!“
Ich schlug ihm leicht gegen den Oberarm und zog meine Augenbrauen zusammen, sodass dabei ein böser Gesichtsausdruck, der gerade versuchte ein Lachen zu unterdrücken, entstand.
„Ich war erst in ein Mädchen verliebt.“
Warum auch immer beeindruckte mich seine Antwort, ich war von mehr als fünf ausgegangen, aber nur eine Beziehung hätte ich nicht erwartet.
Er zerknüllte das Papier und warf es in Richtung eines Mülleimers, verfehlte diesen jedoch. Ich machte es ihm nach und traf. Ich lachte und zeigte spöttisch mit dem Zeigefinger auf ihn. Natt äffte mich nach und stach mir in die Taille.
„Du hast den Jungen allen einen Korb gegeben, oder?“ fragte er ernst.
„Ich weiß nicht.“
„Jetzt mal ehrlich, ich kann die Typen, die nicht auf dich stehen nicht verstehen.“ er schaute mir tief in die Augen.
Hatte er mir soeben gestanden, dass er auf mich steht oder versteht er sich etwa selbst nicht?
„Hast du denn den Mädchen einen Korb gegeben?“
„Könnte man so sagen.“ sagte er und küsste mich.
Er drückte mir eine Kette in die Hand.
„Was ist das?“ fragte ich.
„Das ist für dich.“ antwortete er und presste seine Lippen wieder auf meine.
Dienstag kam er direkt nach der Schule zu mir. Diesmal brauchten wir für den Schulweg nur knappe zwanzig Minuten, da wir beiden in Aufregung den Weg entlang hasteten. Er rauchte nicht. In meiner Anwesenheit versuchte er es generell zu vermeiden, wahrscheinlich weil er längst gemerkt hatte, dass ich es nicht gerade genoss den Rauch ins Gesicht gepustet zu bekommen. Mit schwitzenden Händen suchte ich verzweifelt nach dem Schlüssel in meiner Tasche, bis ich feststellen musste, dass ich ihn in meine Hose gesteckt hatte. Ich betrat zuerst die Wohnung und bekam daraufhin einen leichten Klaps auf meinen Hintern.
„Die Treppe hoch und das Zimmer rechts. Ich gehe nur kurz aufs Klo.“ erklärte ich Natt, welcher in einer Rekordgeschwindigkeit Jacke und Schuhe ausgezogen hatte.
Es war verständlich, dass wir so schnell wie möglich in mein Bett wollten, wenn uns gerade mal eine Stunde blieb bis Caro von der Arbeit kam. Gestern konnten wir gar nicht genug von einander kriegen und hätten, wenn heute keine Schule gewesen wäre, noch die ganze Nacht zusammen verbracht. Ich würde seine Hände am liebsten immer auf meinen Oberschenkel spüren und seine intensiven Küsse auf meinem Hals.
Ich lief hinauf zu meinem Zimmer und sah ihn schon bereit im Bett liegen. Wir machten da weiter, wo wir gestern Abend aufgehört hatten. Er fasste unter mein Oberteil und strich meinen Bauch bis zu meinen Brüsten hoch. Umschließend setzten sich seine Hände dort fest. Als ich seine Oberschenkel langsam hochfuhr, griff er nach meinem Po.
Wir hatten nicht darüber geredet. Sein warmer Körper schmiegte sich wie eine Decke um meinen und ein Kribbeln legte sich in alle meine Gliedmaßen. Im Rhythmus der Bewegungen unserer Zungen, drückte er mich an meinem Hintern zu sich ran.
„Willst du mit mir schlafen?“ fragte er und legte seinen Kopf ganz nah neben mein Ohr.
„Ich bin mir nicht sicher.“ antwortete ich und drehte mich zu ihm.
„Nein du hast schon Recht. Deine Schwester kommt ja auch schon gleich.“
Etwas enttäuscht richtete er sich auf und guckte sich in meinem Zimmer um.
„Wo ist das Amulett, das ich dir geschenkt habe?“ fragte Natt.
„In meiner Tasche, warum?“
„Hatte schon Angst, dass du‘s verloren hast.“ spottete er und bezog sich wahrscheinlich auf meine Unordnung, eine meiner Eigenschaften von der ich ihm erzählt hatte.
„Ne, ich pass schon darauf auf.“ erklärte ich ihm beruhigend.
Als ich dort lag schaute ich immer im Wechsel auf die Zimmerdecke und ihn. Wie seine Haarfarbe mit der des Holzes harmonierte. Natt war ordentlich, dass vermutete ich zumindest, da sein T-Shirt nie einen Falte aufwies, das Hemd immer perfekt hochgekrempelt war und auch seine Hände sehr gepflegt aussahen. Keine Eigenschaft die wir teilten, aber in der wir uns ergänzten. Wenn wir mal zusammen ziehen, würde ich eben alles unordentlich machen und er es wieder aufräumen.
Ab diesem Zeitpunkt an kam nur noch ab und zu ein leises Räuspern von ihm, aber ich traute mich auch nicht die Stille zu unterbrechen. Ein paar Minuten lagen wir noch so auf meinem Bett, bis Caro die unangenehme Zweisamkeit unterbrach.
„Hi Natt.“ sagte sie und winkte ins Zimmer herein.
„Guten Abend.“ antwortete er und seine Stimme klang tiefer als normalerweise. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, dass ich ihn zum letzten Mal sprechen gehört hatte.
„Ich gehe jetzt mal.“
Er beugte sich zu mir rüber und gab mir einen kurzen Kuss auf die Wange. Geschmeichelt stand ich auf und brachte ihn zur Tür.
„Bis morgen.“ verabschiedete ich mich von ihm.
„Ja.“ sagte er und ging.
Ich schloss die Tür hinter ihm und ballte meine Hand zu einer Faust zusammen. Warum war er so komisch zu mir? Ist er jetzt ernsthaft sauer, weil ich nicht mit ihm schlafen wollte? Was denkt der sich eigentlich, wir kennen uns doch erst seit ein paar Tagen! Andererseits hat er mir einen Kuss gegeben. Ich verstehe diesen Typen nicht.
„Da ist er gleich abgehauen als ich kam.“ lächelte Caro verschmitzt und umarmte mich von hinten.
„Nerv mich jetzt nicht.“ wies ich sie verärgert ab.
„Erzähl deiner großen Schwester doch ein bisschen was über deinen Lover.“
„Er ist nicht mein Lover und du erzählt mir ja auch nichts über Jonah.“
Jonah war ihre Jugendliebe mit dem sie bis heute zusammen war, ich glaube schon seit sechs Jahren oder so.
„Was soll ich dir denn auch darüber erzählen? Du fragst doch auch nie.“ sagte sie etwas spöttisch und mir fiel auf wie albern mein Argument war.
„Ist jetzt auch egal.“
Ich wandte mich von ihr ab und ging die Treppen zu meinem Zimmer hoch.
„Zicke.“ hörte ich sie von unten noch herauf rufen.
Die ganze Zeit, bis ich endlich einschlief, verbrachte mein Körper damit einen andauernden Kampf zu führen zwischen meinem Kopf und meinem Bauch. Mein Bauch wollte Natt unbedingt schreiben und fragen was los sei und mein Kopf machte ihn die ganze Zeit fertig, wie unabhängig und nervig er sei. Letztendlich gewann die Müdigkeit.
Am nächsten Tag musste Caro schon um sieben Uhr auf einem Meeting sein und ich musste eine halbe Stunde früher aufstehen. Mit doppelter Geschwindigkeit machte ich mich fertig und fühlte mich auch völlig „in Time“, bis ich unerwarteter Weise feststellen musste, dass alles andere als pünktlich war, sondern nur noch fünfzehn Minuten hatte, bis die Schule anfing.
Außer Atem (ich war nicht besonders sportlich) hetzte ich den Schulweg entlang, bis ein kleiner grüner Wagen neben mir hielt.
„Willst du mitfahren?“ fragte Phil.
„Oh ja, das wäre nett.“ antwortete ich und stieg ein.
„Verschlafen?“
Phil legte nur eine Hand auf das Lenkrad, wahrscheinlich um besonders cool zu wirken.
„Ne ich bin nur daran gewöhnt, dass meine Schwester mich fährt und heute konnte sie nicht.“ erklärte ich, etwas eingeschüchtert von seiner rasanten Fahrweise.
„Du kannst immer mit mir fahren.“ sagte er und schenkte mir ein breites Lächeln.
Tag der Veröffentlichung: 13.07.2015
Alle Rechte vorbehalten