Flora von Bistram
Das Dorf der Toten
„Schatz, ich gehe jetzt los, bin in einer Stunde zurück!“
Jochen wollte noch schnell zum Friseur und etwas einkaufen, wie er es gerne sonnabends machte.
„Ich komme!“
Wie immer verabschiedeten wir uns in der Diele mit einem Kuss und er verließ das Haus. Ich sah ihm nach und fühlte die streichelnden Strahlen der Frühlingssonne auf meinem Gesicht. Dankbar nach dem langen Winter legte ich den Kopf in den Nacken, lehnte mich an den Türrahmen und schloss die Augen, das feine Prickeln genießend, mit dem die Wärme jede Pore wachküsste.
Ach, ich muss ja noch 2 Dosen Bohnen aus dem Vorratskeller holen, schoss es mir durch den Kopf und wunderte mich im gleichen Moment, dass ich mich, wie aus tiefem Schlaf erwachend, im kleinen Flur vor dem Kellerraum liegend vorfand.
Alle Türen waren geschlossen und seltsamerweise lagen neben mir die Dosen, die geholt zu haben ich mich nicht erinnern konnte.
Ich muss wohl ohnmächtig geworden sein, dachte ich verwundert, stieg die Treppe zur Wohnung wieder hinauf und begann das Mittagessen zu bereiten.
Eine merkwürdige Stille war um mich herum und ich erschrak heftig, als ich mit einem Blick auf die Uhr feststellte, wie spät es geworden war und dass mein Mann noch nicht wieder zurück gekommen war. 14 Uhr, das konnte doch nicht sein, was war denn nur los?
Voller Sorge, dass ihm etwas passiert sein könne, zog ich Schuhe und eine Jacke an, schnappte meinen Schlüssel und verließ das Haus, um ihn zu suchen, denn es war nicht seine Art, von seinem Zeitschema abzuweichen.
Unser Dorf ist nicht groß, sehr ländlich gelegen, doch die Stille, die jetzt auch hier draußen herrschte, war geradezu beängstigend. Kein Mensch begegnete mir, kein Auto fuhr, ich hörte keinen Vogel, keine Geräusche, die summend und schwirrend die Lebendigkeit des Tages anzeigten.
Mit beklemmendem Einsamkeitsempfinden stiegen verwirrende Ahnungen in mir auf.
Ich lief schneller und entdeckte plötzlich in einem auf der Straße quer stehenden Auto eine zusammengesunkene Frau auf dem Fahrersitz.
„Hallo, hallo!“ Ich klopfte an die Scheibe, sie rührte sich nicht, also riss ich die Fahrertür auf, um ihr zu helfen, spürte aber keinen Puls mehr, sie war tot.
Ich verließ unsere Sackgasse rennend, erreichte etwas atemlos die kleine Haupt- und Geschäftsstraße. Mein Herz begann zu rasen, mit erschrockenem Blick sah ich hier mehrere regungslos daliegende Gestalten, auf der Straße, auf dem Gehweg, selbst in dem Geschäft, das ich dann hektisch betrat, um Hilfe zu holen, lagen mehrere Tote.
Ich hastete weiter, erreichte die Drogerie, in der mein Mann einkaufen wollte und fand ihn vor der Kasse liegend, dahinter die Drogistin, zwischen den Regalen meine Nachbarin, unseren Postboten – alle tot.
„Neiiiiin, Hilfeeee!“ Die Schreie entrangen sich mir, kamen mir aber viel zu leise vor, hilflos irrte ich weiter, sank wieder vor den Leichen nieder, fühlte zum hundertsten Mal die Pulse, gab auch meine sinnlosen Wiederbelebungsversuche auf, um zu schauen, ob ich nicht doch noch Hilfe finden konnte, doch grausiges Entsetzen bemächtigte sich meiner, als ich in offene Häuser schaute, viele leer fand, andere übersät mit Toten, ganze Familien, die ausradiert waren.
In einem Haus fand ich endlich ein Telefon, um Notrufnummern, meine Kinder, Freunde, Verwandte, anzurufen, dass sie Hilfe organisierten, doch ich bekam keine Verbindung, nur ein unerträgliches Tuten erklang aus dem eiskalt in meiner Hand liegenden Hörer.
Ich lief so schnell ich konnte nach Hause, holte mein Auto, um an den Ortsrand zu Freunden zu fahren. Sie lebten ein wenig außerhalb, sie mussten überlebt haben, wie ich, doch als ich dort ankam, lagen alle zusammen im Garten, selbst der Hund lag vor dem Teich.
Ich wendete mein Auto in der engen Einfahrt und fuhr zum nächsten Ort, doch an der Ortsgrenze blieb der Wagen einfach stehen, obwohl ich immer wieder Gas gab, rückwärts fuhr, um dann wieder vorwärts zu stoßen, doch umsonst, es ging nicht weiter.
Auch an anderen weiterführenden Straßen endete meine Fahrt an dem unsichtbaren Wall, der unser Dorf zu umgeben schien.
Nun spürte ich, nein ich war mir sicher, dass etwas Fürchterliches passiert war, von dem ich in meiner langen Ohnmacht wohl nichts mitbekommen hatte, vor dem ich unbegreiflicherweise dort in meinem Keller verschont geblieben war.
Es erschien unerträglich, doch ich konnte nicht weinen, aber alles in mir brannte vor Kummer, Trauer und Schmerz.
Ich fuhr nach Hause, ging wie abwesend in mein Schlafzimmer und legte mich auf mein Bett.
„Oh Gott, lass mich auch sterben, das ist so furchtbar, ich kann doch nicht alleine weiter leben!“
Doch ich starb nicht, ein kleiner Funken regte sich in mir, ich betete um Kraft, jetzt das Richtige tun zu können, erkennen zu dürfen, was passiert war und Hilfe zu finden.
Plötzlich gestärkt stand ich auf, kochte mir einen Kaffee und überlegte. Ich konnte diese Menschen nicht so liegen lassen, ich konnte nicht untätig warten, denn das war nie mein Fall gewesen.
Mir fiel die große Plane ein, mit der wir die Garage geschützt hatten, als deren Dach neu gedeckt werden sollte und ein schwerer Sturm mit Regen die Arbeiten verzögert hatte. Auch die Stricke lagen noch sauber zusammengerollt in der Garage, dank der pingeligen Ordnungsliebe und der großen Sparsamkeit meines Mannes nicht entsorgt oder verschenkt.
Also breitete ich die Plane aus, befestigte sie an der Stoßstange meines Autos, fuhr durch das Dorf und sammelte zunächst alle meine Lieben ein, die ich zum Friedhof transportierte. Dort suchte ich nach frischen Gräbern, die ich leicht mit der mitgebrachten Schaufel öffnen konnte und legte immer zwei meiner Familienangehörigen in diese Gräber, die ich wieder schloss.
Völlig erschöpft fuhr ich nach Hause und ging schlafen.
Gestärkt erwachte ich am folgenden Tag und überlegte, denn mir war nach der Anstrengung des Vortages klar geworden, dass ich so nicht Alle unter die Erde bringen konnte, bevor in der warmen Maisonne die Zersetzung der Leichen eintrat, und plötzlich hatte ich einen Einfall.
So fuhr ich zu der Baufirma des Ortes, ja, ich hatte Glück und fand einen LKW, in dem der Schlüssel steckte, der Fahrer lag neben seinem Fahrzeug. Ich legte ihn auf die Ladefläche und fuhr straßauf und straßab, holte die Toten aus den Häusern und Geschäften, aus den Gärten und von der Straße. Viele Male fuhr ich zu der zum Ort gehörenden Sandgrube und rollte alle Verstorbenen den niedrigen Abhang hinunter. Mit einem dort stehenden Bagger, den ich seltsamerweise bedienen konnte, überdeckte ich die Toten mit Bergen von Sand.
Eine stille Wut leitete nun mein ganzes Unternehmen, geboren aus meiner Ohnmacht, nicht herausfinden zu können, was da um mich passiert war und verlieh mir ungeahnte Kräfte.
Als alle Häuser leer waren, die letzte Fuhre Sand platziert war, fuhr ich noch einmal durch die Straßen, suchte in den Häusern und Geschäften nach Kerzen und Streichhölzern, legte eine Lichterkette durch alle Straßen und Gassen, ging zur Kirche und stellte die Glocken an, deren automatischen Antrieb ich bei einer Besichtigung kennengelernt hatte.
Wieder zu Hause versuchte ich, wie so oft in den letzten zwei Tagen, über Telefon, Radio, Fernsehen irgendetwas zu erfahren, doch war nach wie vor keinerlei Verbindung möglich, obwohl Strom vorhanden war, klappte aber kein Kontaktversuch zur Außenwelt.
Nach einigen Stunden tiefsten Erschöpfungsschlafs erwachte ich gestärkt von den stetig läutenden Glocken.
Ich überlegte und schrieb mir Listen, was geschehen musste, denn meine Vorräte würden nicht ewig reichen und auch nicht die aus den Häusern und Geschäften, ob Tiefkühlkost, Eingemachtes oder Dosen, denn ich konnte nicht wissen, wann Hilfe kommen würde, ob ich überhaupt jemals wieder ein menschliches Wesen sehen würde.
Als erstes fuhr ich zu dem einzigen Bauernhof, den wir noch im Ort hatten, konnte aber nur noch das tote Federvieh vergraben, die Kühe waren auf der Weide außerhalb des Dorfes, also hinter dem unsichtbaren Wall, die konnte ich nicht erreichen.
Es war Frühling und ich musste mir aus der nahen Gärtnerei Samen holen, um Gemüse anbauen zu können.
Ich begann in meinem Garten, der schon seine Einsaat hinter sich hatte, ich hackte und harkte, ging dann weiter in den Nachbargarten, arbeitete dort die Beete durch, nur unterbrochen von wenigen kurzen Pausen, in denen ich etwas Kaffee trank- wie lange da der Dorfvorrat wohl reichen würde - aß wahllos, was ich so greifen konnte, um dann gleich weiter zu arbeiten.
Völlig verschmutzt und erschöpft, den immer noch alles zerreißenden Schmerz des Verlusts, der Trauer und mit Hilflosigkeit in der Frage „Was nun?“, setzte ich mich vor meine Haustür, um auszuruhen.
Die Abendsonne spiegelte sich im Nachbarfenster und gab einen warmen Widerschein, mir fielen die Augen zu und ich schlief ein.
Völlig elektrisiert, doch auch total benommen schreckte ich hoch, als eine Hand mich an der Schulter rüttelte, mir durch die Haare fuhr: „Schatz, was machst du denn hier am hellichten Tag?“ und ich den vor mir stehenden Mann als den meinen erkennen konnte, der mich aus dem für mich heute unbegreiflichen Traum geholt hatte.
Oder verstehe ich ihn vielleicht doch?
Flora von Bistram 1978
Tag der Veröffentlichung: 19.10.2016
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme dieses Buch der Person, die mich immer sehr im Schreiben bestärkte, meiner lieben Lilo v.R.