Die Sonne war längst schon hinter dem Gipfel des Erebor untergegangen und noch immer lief Balin, nach Atem ringend, durch die Katakomben des Berges. Der alte Zwerg hatte ihn überall gesucht, in der Schmiede, in der Halle der Ahnen und in der Braustube. Ja sogar in die Grüfte war er hinabgestiegen, doch er hatte seinen König nicht finden können und auch keiner der Zwerge, die er unterwegs gefragt hatte, konnte ihm eine zufriedenstellende Antwort geben.
Balin schnaufte und musste sich abstützen. Der Schweiß rann ihm in kleinen Bächen über das Gesicht, sodass sogar der Ansatz seines weißen Bartes feucht glitzerte. Wenn er ihn jetzt nicht antraf, würde er für heute aufgeben. Er war zu alt für soetwas, zumal er auch noch andere Dinge zu erledigen hatte, als dem Freund hinterherzulaufen.
Wieder Luft bekommend und ohne anzuklopfen, öffnete er die schwere Eichentür zu den privaten Gemächern des Zwergenkönigs. Balin fühlte sich genötigt, mit diesem über dieses eine Thema zu sprechen, sah er sich doch mit der zunehmenden Angst des Volkes konfrontiert. Er befürchtete, dass die Unterhaltung unangenehm werden würde und sehr wahrscheinlich auch laut. Doch sie konnten das leidige Thema auch nicht ohne weiteres übergehen, dafür war es zu wichtig.
Der Zwerg schloss die Tür und wendete sich um. Wie ein schwarzer Schatten saß Thorin auf einem Holzschemel vor dem Kamin, den Schürhaken sacht in der Hand wippend und schien wie verloren, gedankenversunken und weit entfernt. Seine schwarzen Haare fielen ihm schwer über die breiten Schultern. Erste Silberfäden waren sichtbar, die gleich Spinnenweben in der Sonne, im warmen Schein des Feuers glänzten. Eine braune Tunika mit weinroter Stickerei am Saum spannte sich über den von Muskeln gestählten Oberkörper, um die Beine trug er eine schwarze Hose und die Füsse waren nackt.
Der Alte schmunzelte, kannte er ihn doch zu gut, um zu wissen, dass Thorin nicht viel von Prunk und Protz hielt, schon gar nicht, wenn er in seinen Privaträumen verweilte.
“Ich weiß, du hast mich den ganzen Tag gesucht, Freund”, klang des Königs Stimme dunkel und leise, doch er sah nicht auf.
Balin nickte dennoch: “Ja. Das habe ich. Und es war nicht gerade nett, einen alten Mann dich nicht finden zu lassen”, näherte sich der Zwerg dem Kamin, griff sich ebenfalls einen Schemel und nahm neben dem Älteren Platz. Das Feuer prasselte leise und die Wärme kroch wohlig in seine alten Knochen.
Thorin sah weiterhin nicht auf, richtete starr seinen Blick in die Flammen und wippte unablässig den Schürhaken. Seine Wangenmuskeln tanzten angespannt unter der Haut, erste Falten hatten sich in sein Gesicht gegraben, die im Licht des Feuers noch tiefer erschienen.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte Balin ihn eine Weile, dann fragte er leise: “Sie kommen, nicht wahr? Die Träume. Sie suchen dich heim.”
Thorin sog scharf die Luft ein, als er seinen Oberkörper spannte und langsam die Augen auf den Krieger richtete: “Ja, und es sind nicht die schönsten”, flüsterte er und sah den Alten ernst an, um den Kopf gleich wieder zu senken, beschämt von der eigenen Angst. “Sie werden von Nacht zu Nacht schlimmer. Dunkle Kreaturen ohne wirkliche Gestalt. Es riecht nach Moder und Verwesung”, sah er gequält wieder auf. “Sie rufen, Balin. Nach Erlösung.”
Erschüttert und in den blauen Augen des Königs suchend, nickte der Zwergenkrieger leicht: “Du weißt, was sie wollen. Und du weißt, was du tun mußt.” Er schloss die Augen. Er wollte den Hass in des Kriegers Gesicht nicht sehen, reichte ihm doch, was er zu hören befürchtete.
“Bei Mahal, ich gehe nicht zu den Elben!”, donnerte es grollend aus Thorins Kehle. Ruckartig sprang er auf, sodass der Schemel durch die Wucht in die nächste Ecke geschleudert wurde. Bebend wendete sich der Schwarzhaarige ab vom Feuer und verschränkte die Arme demonstrativ vor der Brust. Wellen des Zorns durchfluteten ihn und trieben die Hitze der Wut durch seinen Körper.
Obwohl er sich darauf vorbereitet hatte, war der Zwergengreis im ersten Moment zusammengezuckt ob des Ausbruch seines Freundes, doch schließlich seufzte er und nickte: “Dann werden sie dich heimsuchen, bis du dem Wahnsinn anheimfällst”, stand er schnaufend auf, lehnte sich mit einer Hand gegen den Kamin und blickte in das Spiel der Flammen. Er musste Thorin ins Gewissen reden und gab nicht auf: “Es ist die Pflicht eines Königs, alle zweihundert Jahre das 'Fest der Seelen' stattfinden zu lassen. Und dieses Fest wirst du ohne diesen einen Elb nicht bewerkstelligen können.”
Thorin knurrte: “Ich weiß.” Alles in ihm sträubte sich gegen die Vorstellung, jemals wieder in die Nähe eines dieser Spitzohren zu gelangen, denn zu viel Groll lag zwischen ihm und dem Elbenfürsten Thranduil. Allein der Name fachte unbändige Wut und Widerwillen in ihm an. Und jetzt sollte er sich an einen dieser Sippe wenden, nur um dieses Fest geben zu können? Hilflos ballte er die Fäuste.
“Dein Vater und auch dein Großvater haben das Volk Durins nicht im Stich gelassen", fuhr Balin nun energischer fort. "Und du solltest das auch nicht, Thorin. Die Zwerge brauchen dieses Fest, sonst wird es unruhig. Es ist nicht wichtig, ob ein König Hass im Herzen trägt. Es zählt nur die Liebe zu seinem Volk. Und ist diese groß genug, dann überwindet er seinen Unmut”, trat Balin nun hinter den älteren Zwerg und legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter. Er spürte dessen Anspannung, doch er sagte nichts. Es war Thorins Kampf. Er war es, der die Entscheidung treffen musste, ob er dies nun wollte oder nicht.
Langsam ließ der Schwarzhaarige die Arme sinken, legte seufzend den Kopf in den Nacken und schaute hinauf zur Steindecke, welche warm und flackernd vom Kaminfeuer angeleuchtet wurde. Nach einer Antwort suchend verfolgte sein Blick das Schattenspiel, doch schließlich gab er auf und vergrub sein Gesicht in beiden Händen. “Du warst immer an meiner Seite, Freund. Wirst du mich auch dieses Mal begleiten?”, kam es dunkel dahinter hervor.
“Ja, Junge. Ich werde an deiner Seite sein”, räumte Balin des Königs Zweifel aus und spürte, wie dessen Anspannung etwas nachließ.
Thorin sah den Alten nicht an. Er nickte nur dankbar.
**
Haledan richtete seinen Blick geradewegs 'gen Osten. Der Morgen schickte seine ersten zaghaften Boten über die Eisenberge hinweg. Seestadt, welche nach der Zerstörung durch Smaug mühevoll von den Menschen wieder aufgebaut worden war, lag noch im Dunkel, Nebelschwaden bedeckten den Langen See. Das Rauschen des Waldflusses war als leises Wispern zu vernehmen und die Waldelben, das Volk Thranduils, dachten noch nicht einmal an die Jagd.
Es war friedlich in den Bergen des Düsterwaldes und dennoch war Haledan inmitten der Nacht unruhig geworden und hatte ihn nicht wieder einschlafen lassen. Der Mond stand noch nicht im Zenit, als der hochgewachsene Elb sich eilig aber leise auf den Weg in die Berge begeben hatte. Ein leichter Wind war unterwegs aufgekommen und spielte mit seinem samtbraunen glatten Haar, welches ihm bis zur Hüfte reichte. Ein schlichter silberner Reif hielt es zusammen.
Jetzt war es windstill. Kein Laut drang an sein Ohr und nichts bewegte sich. Dennoch spürte der Elb ein Grollen, welches er versuchte, mit seinen Sinnen zu greifen. Es kam nicht von außerhalb, sein Innerstes war in Wallung geraten und ließ seine Gedanken in wirrem Zustand zurück. Zu viel strömte auf ihn ein, sammelte sich in einem Geflecht aus Emotionen, ballte sich mit aller Macht zusammen und ließ ihm keine Möglichkeit, dagegen anzukommen.
Der Wächter schloss die Augen und zwang sich zur Ruhe. Er spürte dem Gefühl nach, welches ihn mitten in der Nacht hatte hochschrecken lassen. Und in jenem Moment, als er begriff, entrang sich ein tiefes gequältes Stöhnen seiner Brust. Er riss die Augen auf und sein Blick war verwirrt und suchend. Als er das Chaos im Inneren etwas geordnet hatte, schaute er nach Nordosten, wo bereits die Spitze des Erebors im rotgoldenen Licht der Sonne zu erkennen war. Der Rest des gewaltigen Berges lag noch im Dunkel.
Er hat sich entschieden. Er bricht auf, überrollte ihn die Erkenntnis und ließ seinen Körper erzittern. Haledans Schultern sackten nach vorn und er senkte seinen Blick: Der Zwergenkönig wird kommen.
Und Thorins Entscheidung würde sie alle auf eine neue Zeit einstellen. Der König unter dem Berge war der letzte Stein, welcher ins Rollen gebracht werden musste, um die Weichen für die Zukunft der Wächter zu stellen. Sie hatten nur warten müssen, denn es war absehbar gewesen. Und auch wenn sich Thorin Zeit gelassen hatte, so waren sich alle sicher, dass er sich für den Willen seines Volkes entscheiden würde.
Langsam wendete sich der Elb vom Berg ab und folgte dem schmalen Pfad, welchen er in die Berge genommen hatte, wieder hinunter ins Tal. Ruhig und friedlich lag es vor ihm und er hoffte, dass ihm nicht gleich bei seiner Ankunft jemand begegnete, obwohl er bereits jetzt schon ahnte, dass ihm noch einige Augenblicke allein mit den eigenen Gedanken nicht vergönnt sein würden. Er spürte die Kälte, welche seinen Rücken hinaufzog, zwischen die Schulterblätter kroch und seine Nackenhaare aufstellen ließ. Jeder Schritt hin zu seinem Anwesen wurde schwerer. Wie Blei an den Füßen fühlte es sich an und die Übelkeit, die ihn langsam überkam, ließ seinen Magen zusammenkrampfen. Die Enge in seiner Brust wurde schier unerträglich.
Und dann hörte er es. Das brummende und doch herzliche Lachen des einzigen Wesens, welches ihm das Leben leicht machte. Tag für Tag, Jahr um Jahr.
"Ada!" Ein fröhliches Gesicht strahlte ihm entgegen und Haledan kam nicht umhin, ein kleines Lächeln zu zeigen, auch wenn es ihn tief im Herzen schmerzte. Er blieb stehen und beobachtete, wie die junge Frau auf ihn zukam und es schien ihm, als wäre es das letzte Mal, dass er sie so unbeschwert sah. Die Enge aus der Brust stieg weiter hinauf in die Kehle: "Farasar...", brach seine Stimme und in diesem Augenblick nahm er das Gesicht seiner Tochter in beide Hände, um ihr einen langen Moment in die dunkelbraunen Augen zu sehen.
Wieviel weißt du, Kind?, wollte Haledan in Gedanken wissen. Er war auf der Suche nach einem Anzeichen, dass sie vielleicht ahnte, was geschehen wird. Hatte sie auch den Traum? Hatte sie dasselbe Gefühl letzte Nacht, dass sich etwas tat? Wusste sie, dass seine Zeit des Gehens angebrochen war? Dass das letzte Teil des Puzzles nun endlich zu einem großen ganzen Bild zusammengefügt werden konnte, wenn das dritte Fest der Seelen vollbracht war? Und welche Entscheidung sie danach zu treffen hatte?
"Dein Blick ist betrübt und dein Gesicht trägt Sorge, Ada. Was ist geschehen?", wollte die junge Frau mit dunkler Stimme wissen, welche so ungewöhnlich tief und rau für ein weibliches Wesen war. Farasar hatte ihren Vater schon oft grübelnd aus den Bergen kommen sehen. Meist ging es um die großen und kleinen Dinge im Geschehen der Welt. Zu mancher Zeit bereitete er sich nach einem Berggang auf eine Reise vor oder sie empfingen Gäste im Heiligen Hain. Doch dieses Mal war etwas anders. Sie spürte, es ging nicht um Krieg und Macht in Mittelerde. Es ging nicht um schwarze Seelen, welche die Lebenden heimsuchten. Und der Wächter sorgte sich auch nicht um Zauberer, die vom rechten Pfad abgekommen waren. Nein. Haledans Blick verriet, es ging um sie, auch wenn er angestrengt versuchte, dies vor ihr zu verbergen.
Mit dunklen, beinahe schwarzen Augen sah sie ihn eindringlich an und jäh durchfuhr es den Elb, als er die lodernde Flamme sah. Nur für einen kurzen Moment war sie aufgeflackert, doch dieses glühende dunkle Rot war ihm nicht verborgen geblieben. Dharag, der Fürst der Seelen war bereit. Bereit, die erbärmlichen Reste der Gestorbenen freizulassen und auf den Pfad der Wächter wandeln zu lassen.
Farasar strich leicht über die Wange des Vaters, welcher sie an Größe um einiges überragte. Sein Erschrecken war ihr nicht entgangen. denn zu offensichtlich hatte sie ihm ohne Worte mitgeteilt, dass der Rote ein Band zu ihr geknüpft hatte.
"Komm, lass uns hineingehen”, flüsterte sie, drehte sich um und schritt langsam voraus, den Blick ihres Vaters im Rücken spürend. An die tägliche Arbeit brauchte sie heute nicht zu denken, Haledan benötigte jetzt ihre Nähe. Und auch ihre Zuversicht, dass alles seinen rechten Gang gehen würde.
Der alte Elb straffte sich und atmete tief durch: Ich werde nichts ändern können. Alles liegt nun in deiner Hand, mein Kind.
**
Die Zwerge bereiten sich vor. Ihr König hat eine Entscheidung getroffen, drangen Galadriels Worte gleich einem zarten Raunen in sein Bewusstsein.
“Ja. In der Tat und dennoch hatte ich meine Zweifel. Zu groß ist Thorins Hass auf die Elben”, holte Gandalf tief Luft und stützte sich schwer auf seinen Stab. Der ewig schwärende Zwist zwischen Thranduil und dem Zwergenkönig bedrückte den Zauberer und ließ ihn ahnen, dass dieser Zustand noch eine erhebliche Rolle spielen würde bei den Dingen, die soeben in Gang gebracht worden waren. Dennoch brummte er zufrieden: “Thorin hatte keine Wahl. Ein guter König folgt dem Willen seines Volkes, um es nicht gegen sich aufzubringen.”
“Er weiß um die Seelen, die nicht hinübergehen. Sie manifestieren sich zu greifbaren Kreaturen. Ich befürchte, er hat schon zu lange gewartet und bereits Bekanntschaft gemacht mit denen, die nicht dürfen. Könnte er die Heimsuchung seines Volkes durch jene verantworten?’, neigte Galadriel den Kopf leicht zur Seite und sah Gandalf mit dem Hauch eines Schmunzelns an.
“Nein”, erwiderte der Graue lächelnd, doch schon verdunkelte sich sein Mienenspiel. Vielmehr trage ich Sorge um Haledans Tochter im Herzen, befiel ihn eine innere Unruhe und langsamen Schrittes wendete er sich von der Noldor ab. Wie wird sie sich entscheiden?
“Sorgt Euch nicht, Mithrandir. Farasar wird behutsam abwägen. Ich vertraue ihr, auch wenn ich um ihren Unmut auf die Zwerge weiß. Es ist ihre Pflicht als Wächterin, die Seelen wandeln zu lassen, welches Volk jedoch sie erwählen wird, liegt ganz bei ihr”, hatte die Elbendame seine Gedanken vernommen und versuchte, den Zauberer zu beruhigen.
Unwillkürlich war Gandalf zusammengezuckt und mit gedankenvollem Blick schaute er in die Ferne. Allzu deutlich sah er Haledans Tochter vor sich. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie noch ein halbes Kind. Recht klein für ein Elbenkind, kräftig und robust. Die fast schwarzen Locken tanzten um ihr hübsches Gesicht und die dunkelbraunen Augen leuchteten vor Begeisterung, wenn er ihr seine Zauberei vorführte. Sie hatte kein Elbengesicht, nicht perfekt und nicht makellos. Nicht kalt, erbarmungslos und Gefühle versteckend. Farasar hatte das Antlitz und die Gefühlswelt eines Menschen. Nur die ansatzweise gespitzten Ohren verrieten, dass mehr in ihr steckte. Die Magie der Elben - und das Wissen um die schwarzen Seelen.
Und dann war da noch etwas, was man nicht sah - die Runen auf ihrem Körper. Am Tag, als sich ihre Geburt das erste Mal jährte, war er im Heiligen Hain gewesen. Er hatte geahnt, das Dinge passieren würden. Dinge, von denen sie vorher nichts wissen konnten. Gandalf hörte noch jetzt das bitterliche Weinen des Kindes, als sich die ersten Runen in die Haut brannten. Zwergenrunen. Tief und schwarz. Er sah noch immer die Verzweiflung in den Augen von Farasars Mutter und fühlte Haledans Verbitterung.
“Er wusste, was er tat, als er sich mit einem Wesen, halb Mensch halb Zwerg, vereinte, auch wenn dessen Ergebnis so nicht absehbar war. Er allein trägt die Verantwortung dafür, was seine Tochter nun ist und was sie in Zukunft sein wird”, vibrierte Galadriels Stimme eisig. Sie hatte Haledans Ansinnen nicht gut geheißen und dennoch reizte es sie, diesem Experiment weiter zuzuschauen. Es war zudem seine letzte Chance gewesen, einen machtvollen Nachfolger zu zeugen, welcher seinen Platz einnahm, wenn er selbst seine Reise in die Unsterblichen Lande antrat.
Eine Nachfolgerin war ihm geboren worden, eine mächtigere, als sie sich jemals hätte vorstellen können. Das Kind, welches nach dem ersten Atemzug auf dieser Welt losschrie und selbst Galadriel die Erschütterung der Magie vernommen hatte, trug die Flamme der Va’ari in sich - eine Mischung aus drei verschiedenen Völkern vereint mit der Macht des Roten. Die Noldor hatte dem Säugling nur ein einziges Mal in die Augen gesehen. Fast schwarz waren diese gewesen und in ihnen brannte das lodernde Feuer Dharags. Dieses Kind stand jetzt, als junge Frau und Wächterin, kurz davor, die Pfade neu zu legen. Und keiner konnte nur ansatzweise erahnen, in welche Richtung sich Farasar entscheiden würe.
“Können wir ihm vorwerfen, dass sein Herz größer war als der Verstand der Elben?”, riss der Zauberer Galadriel aus ihren Gedanken und sah sie freundlich an. Ihm schien, der Elbin mondesgleichen Blässe wich für einen Wimpernschlag dem zarten Rosa eines erwachenden Frühlingsmorgens. Ihre sternenklaren Augen leuchteten für einen Moment wissend auf und sie sah schöner aus als jemals zuvor. Für Gandalf war dies Antwort genug. Er fühlte die innere Wärme, welche die Noldor ausstrahlte, in seinem alten Herzen.
“Ihr werdet ihnen helfen, Mithrandir?”, wollte die Elbendame wissen, obwohl sie die Antwort längst kannte.
Brummend nickte der Graue: “Ja, Frau Galadriel. So gut ich kann.”
“Dann geht jetzt. Thorin und seine Männer reiten los. Ohne Euch werden sie den Hain nicht finden und öffnen können. Auch solltet Ihr ein Auge auf Thranduil haben. Ich vermute, er wird die Zwerge nicht ungehindert ziehen lassen”, wendete sich Galadriel mit einem von Sorge getragenen Lächeln von ihm ab.
Gandalf umschloss seinen Stab fester, nickte und schritt langsam davon. Den Heiligen Hain zu öffnen wird die leichteste Aufgabe sein, knurrte er innerlich, kannte der Graue doch die Zwerge nur zu gut. Stolze Sturköpfe waren sie, welche man zu gegebener Zeit mit etwas Nachdruck wieder zurechtrücken musste.
**
“Mein Herr Thranduil”, schob sich der Elb fast unwirsch und leicht außer Atem vorbei an den Leibwachen des Königs in den Thronsaal. Ohne die Aufforderung zum Sprechen abzuwarten und die zurückhaltende Art eines Elb vergessend, platzte es aus Finros heraus: “Zwerge sind gesichtet worden, Herr! Fünf Stück an der Zahl.”
Der Fürst des Waldlandreiches hatte ihm in diesem Moment den Rücken zugekehrt und verharrte augenblicklich in seiner Bewegung, ein kunstvoll geschliffenes Gefäß abzustellen, ob der Worte, die er vernommen hatte. Jetzt erst wurde Finros bewußt, dass er sich vor Aufregung nicht an die Etikette gehalten hatte und beugte unverzüglich das Knie vor dem Silberhaarigen.
Langsam wendete sich Thranduil herum und sah missbilligend und von oben herab auf den Rothaarigen. Dies mußte als Rüge reichen, war doch die überbrachte Neuigkeit von größerer Bedeutung. “Ihr seid aus der Gruppe der Jäger, welche heute morgen aufgebrochen ist?”, wollte Thranduil wissen.
“Ja, Herr”, flüsterte Finros.
“Steht auf und seht mich an”, mahnte der Elb mit schneidender Stimme. “Erkennt Ihr einen unter den Zwergen?”
Augenblicklich kam Finros der Aufforderung nach, doch sogleich senkte er schuldbewusst den Blick: “Nein, Herr, dafür waren sie zu weit weg.”
Thranduil zog verächtlich eine Augenbraue nach oben und war im Begriff, etwas zu erwidern, als er einen jungen Elb über die schmale Brücke eilen sah. Der Blick des Fürsten wurde umgehend milder: “Legolas!”
Mit zügigen Schritten überbrückte der Blonde die Entfernung bis zum Thron. “Vater, es ist Thorin!”, konnte auch er seine Aufgeregtheit nicht ganz verbergen, noch bevor er den Älteren begrüßte. Dieser Umstand veranlasste wiederum Finros zu einem unterdrückten Grinsen, schien die Herrscherfamilie doch nicht so kalt und unnahbar zu sein.
Des Fürsten Gesicht gefror binnen eines Lidschlages zu einer Maske und der auch sonst sehr blasse Teint seiner Haut wurde noch eine Spur bleicher. Gedankenversunken stellte er nun doch endlich sein Glas auf einen kleinen Tisch neben sich und starrte grübelnd auf den Boden: ‘Thorin. Du hast dich also auf den Weg gemacht. Nun denn. Möge das Spiel beginnen.’
“Vater?”, schreckte Legolas den Silberhaarigen auf.
“Begleite mich, Legolas. Und sage Feren, wir treffen uns vor den Toren. Zehn Männer soll er mit sich nehmen”, ordnete dieser überlegend an.
“Wo willst du hin?”
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, rauschte Thranduil in Richtung Ausgang, dem verdutzten Finros unwirsch mit der Hand deutend, dass dieser sich nun wieder entfernen möge.
*
“Wir werden beobachtet”, brummte Dwalin leise, als er zu dem Zwergenkrieger, welcher die Gruppe seit Aufbruch anführte, aufgerückt war. Die Ponys hielten sie seit Erreichen des Waldes am Zügel, da es zu Fuß momentan leichter voranging. Die Gruppe der Zwerge war stehengeblieben und mit halb geschlossenen Augen beobachteten sie den gegenüberliegenden Rand der kleinen Lichtung, an der sie gerade angekommen waren.
“Elben?”, flüsterte Thorin.
“Mit Sicherheit”, knurrte der Glatzköpfige und umfasste seine Axt fester.
“Wir gehen weiter. Es hat keinen Sinn, hier einfach stehenzubleiben. Entdeckt haben sie uns jedenfalls”, nickte Thorin und mit düsterer Miene schritten sie weiter. Es gab keinen anderen Weg als diesen, entlang am Waldfluss und geradewegs an den Hallen Thranduils vorbei, auch wenn sich der Zwergenkönig etwas anderes gewünscht hätte. Er konnte auf eine Begegnung mit dem Herrn des Waldlandreiches gut verzichten.
“Thorin Eichenschild!”, tönte es mit einem Male über die Lichtung. Das augenblickliche Rascheln und die Bewegungen des Blattwerkes an mehreren Stellen verrieten die Positionen der Elbengarde. Das Geräusch der Bögen, welche gespannt wurden, war deutlich zu vernehmen und ließ die Zwerge schlagartig in ihrem Lauf verharren. Flankiert von Legolas und Feren war Thranduil ein Stück weit auf die Lichtung getreten und schaute nun herablassend auf die Gruppe der Kleingewachsenen hinab. Sein weisses Haar glänzte in der Sonne mit dem silbernen Reif auf seiner Stirn um die Wette. Das Gewand, welches in zartem Grün erstrahlte, taugte gut zur Deckung, jedoch war es eine Spur zu fein, um im Gebüsch den Langbärten aufzulauern. Er hatte sich keine Zeit mehr dafür genommen, sich vor dem Aufbruch neu einzukleiden, umso deutlicher zeigte ihm die Reaktion der Zwerge, welchen Eindruck er auf sie machte.
“Thranduil”, grollte Thorin, “seid Ihr gekommen, um uns wieder in Eure Kerker zu sperren?”, sah der Schwarzhaarige breitbeinig und erhobenen Hauptes den verhassten Mann an. Nie wieder würde er sich von dieser elbischen Ratte festsetzen lassen, eher noch würde er sterben.
“Nun, Herr Zwerg, dies hatte ich nicht vor. Allerdings, gebt mir nur einen Grund und ich lasse Euch in Eisen schlagen”, lächelte der Elb süffisant.
“Wagt es nur annähernd, mich anzufassen…”, senkte der Zwergenkönig den Kopf, den drohenden Blick dennoch erhoben und vor Wut flackernd.
“...dann was?”, hob Thranduil herausfordernd seine Stimme. “Mir scheint, Ihr habt aus unserem letzten Zusammentreffen nicht viel gelernt? Vielleicht sollte ich Euch dies noch einmal in Erinnerung rufen und Euch spüren lassen, was es heisst, sich mit mir anzulegen.”
Argwöhnisch sah Thorin, wie der Hochgewachsene mit stolzem Schritt auf ihn zukam und schon konnte er den zarten Duft von Blüten wahrnehmen, welcher sich wie eine leichte Wolke um ihn legte und Thorin an eine Blumenwiese im Sommer erinnerte. Es widerte den Krieger an und wie damals konnte er nicht begreifen, dass ein Mann, auch wenn dieser ein Elb war, so weiblich wirken konnte. Dies passte einfach nicht zum Verständnis der Zwerge, welche im Schweiße ihres Angesichts tagtäglich tief in den Berg gingen oder aber in der Schmiede standen. Ein abendliches Bad im Zuber mit heißem Wasser und Lauge reichte für Sauberkeit und Wohlbefinden.
“Wohl an, Ihr seid auf dem Pfad zum Heiligen Hain. Ist das so?”, hauchte Thranduil dem Zwerg ins Gesicht und sah das Zucken um Thorins Mundwinkel, die unterdrückte Wut und das wilde Verlangen, den Fürsten einen Kopf kürzer zu machen. Er liebte es, den Krieger zur Raserei zu bringen, um dass sich vielleicht doch noch eine Gelegenheit bieten würde, diesem elenden Zwergenleben ein Ende zu bereiten, doch Thorin blieb ihm eine Antwort schuldig. “Nun, ich werde Euch ziehen lassen”, zog sich Thranduil gönnerhaft zurück. “Ich kann es mir nicht leisten, den Ärger des Wächters auf mich zu ziehen, zumal sich seine Tochter sehr bald entscheiden wird.”
Der Schwarzhaarige zog die Augenbrauen zusammen, denn so ganz verstand er nicht. Was hatte dieses Fest mit der Tochter des Wächters zu tun? Das Lächeln in den Augen des Elbs wurde gehässig und der Zwerg wurde das ungute Gefühl nicht los, dass Thranduil ein Spiel mit ihm trieb, dessen Ausgang schon längst vorherbestimmt war. Unbändiger Zorn kroch in ihm hoch, seine Muskeln spannten sich und er war sich bewußt, sollte dieses Spitzohr noch einen Ton von sich geben, würde er ihn angreifen.
“Thorin nicht!”, hörte er Dwalin neben sich flüsternd warnen. “Es hat keinen Sinn”, legte der Kamerad besänftigend eine Hand auf seine Schulter und blickte ihm flehend in die Augen. Der König nickte kaum merklich.
“Ihr solltet auf den Kahlkopf hören”, handelte sich der Fürst einen hasserfüllten Blick des alten Kriegers ein. “Egal, was Ihr auch gedenkt zu tun - es hat keinen Sinn. Feiert Euer ‘Fest der Seelen’! Das ‘Fest der Liebe’ wird garantiert ohne Euch stattfinden”, wendete sich der Silberhaarige um und verschwand mit seinen Mannen wieder zwischen den Bäumen.
Verdutzt schauten die Zwerge den Elben einige Augenblicke hinterher, als Dwalin schließlich als erster die Stille durchbrach: “Liebe? Welches 'Fest der Liebe'? Seit wann faseln denn diese Elben von Liebe?”, fuhr er sich irritiert mit der Hand über den kahlen Schädel.
Thorin verkniff sich jegliche Bemerkung, sah zu den anderen und mit einem leichten Kopfnicken bedeutete er, dass die Reise nun endlich weiterging.
**
Das Feuer prasselte leise vor sich hin am Rande der kleinen Waldlichtung und goldene Funken stoben ‘gen Himmel. Thorin hatte kein größeres erlaubt, denn noch mehr Aufregung und Aufmerksamkeit, wie wenige Zeit zuvor, wollte er auf jeden Fall vermeiden. Die Begegnung zwischen ihnen und dem Fürsten des Waldlandreiches war vorerst glimpflich, aber sehr unangenehm ausgefallen. Dwalin hatte Thorin glücklicherweise zurückhalten können, damit dieser Thranduil nicht an die Gurgel sprang.
Zu fünft waren sie vor knapp zwei Tagen vom Erebor aus losgezogen, nachdem sie die Ponys mit brauchbaren Utensilien und Nahrungsmitteln bepackt hatten. Zuerst wollte der Zwergenkönig seinen jüngeren Neffen nicht mit auf die Reise nehmen. Er konnte keinen Heißsporn gebrauchen, schon gar nicht, wenn es in die Nähe der Waldelben ging. Doch er hatte nicht mit der Sturheit dessen älteren Bruders Fili gerechnet, welcher Kili um jeden Preis mit dabei haben wollte.
Die Reise war bis dahin ganz angenehm gewesen, abgesehen von dem Vorfall im Waldlandreich, und nun saßen sie um das Feuer herum, die Ponys waren versorgt und Dwalin bewachte das Lager. Unruhig schritt Thorin umher, da die Stelle des Rastplatzes ihm missfiel. Viel zu nah an Thranduils Hallen hatten sie sich niedergelassen, doch sie mussten eine Pause einlegen. An einer Gabelung des Flusses hatten sie ihr Lager für die Nacht aufgeschlagen.
“Was glaubst du? Wird sie da sein?”, fragte Thorins jüngerer Neffe und drehte gedankenverloren die kleine Holzfigur in seiner Hand, an der er nun schon seit einigen Tagen am abendlichen Feuer schnitzte. Sie wollte einfach nicht fertig werden, da ihm die Vorstellung eines Gesichtes fehlte.
“Wen meinst du?”, brummte Fili mit geschlossenen Augen. Er hatte sich gemütlich nach hinten an einen kleinen Felsen gelehnt und die Hände hinter dem Kopf verschränkt.
“Na sie!”, entgegnete Kili etwas zerknirscht.
“Bruder, sprich klar, dann kann ich dir auch eine gescheite Antwort geben”, öffnete der Krieger seine Augen und schielte, ohne den Kopf zu heben, nach seinem Gesprächspartner. Dieser drehte sich gerade zu ihm um und schwärmte mit verklärtem Blick: “Na, die Tochter des Wächters. Man sagt, sie sei wunderschön.”
Fili runzelte die Stirn, schürzte die Lippen und musste dennoch schmunzeln. Er kannte seinen Bruder, konnte dieser doch nur selten einer holden Maid widerstehen und diese ihm noch viel weniger. Er war ein hübscher Kerl, immer gut gelaunt und seine dunklen Augen funkelten vor Spaß und Lebensfreude. Manchmal sorgte er sich schon um Kili und fragte sich, ob dieser es nicht doch ab und an übertrieb. Und nun dachte er schon wieder an ein weibliches Geschöpf, noch dazu an eines, welches er noch nicht einmal kannte. Zudem war sie ein Elbenweib. Dies würde dem Onkel bestimmt nicht gefallen.
Als hätte Kili die Gedanken erraten: “Gab es das schon einmal? Eine Elbenfrau und einen Zwerg? Ich meine zusammen?”
“Daran solltest du nicht einmal im Traum denken, junger Mann!”, kam es mahnend von der anderen Seite des Feuers. Der alte Balin hatte sich schwerfällig aufgerichtet, der lange Ritt auf den Ponys machte sich in seinen Knochen bemerkbar, sodass jeder das Knacken in ihnen überdeutlich vernahm. Eigentlich hatte er gehofft, etwas Ruhe zu finden, aber bei diesem Gespräch zweier junger Zwerge war dies einfach unmöglich, zumal ihm die Richtung der Unterhaltung nicht gefiel. Kurz schaute er auf zu Thorin, welcher unentwegt durch das kleine Lager wanderte und ihm nun dankbar zunickte, hatte dieser doch selbst nicht das Verlangen danach, über das Balzverhalten seiner Neffen zu sprechen.
Fili setzte sich kerzengerade auf und schaute zusammen mit seinem Bruder den Zwergengreis fragend an. Noch bevor einer der beiden etwas sagen konnte, sprach Balin weiter: “Ausgeschlossen! Die Elben und Zwerge können wohl ganz gut nebeneinander, aber nicht miteinander leben. Zu groß sind die Unterschiede und zu viel ist geschehen. Ich denke, die Begegnung im Waldlandreich heute hat dies noch einmal deutlich gezeigt”, legte er eine kleine Pause ein, strich sich durch den langen weißen Bart und räusperte sich, dann wendete er sich direkt an Kili: “Junge, jedes Volk hat hübsche Mädchen. Du kannst nicht jede besteigen. Und das solltest du auch nicht”, sprach er leise und obwohl der Alte schelmisch dabei zwinkerte, stieg Kili doch die Schamesröte ins Gesicht und senkte schuldbewusst den Kopf. Sein älterer Bruder hingegen lachte still in sich hinein und tätschelte freundschaftlich den Rücken des Jüngeren, welcher sich, unwirsch die Hand abschüttelnd, wieder der Holzfigur in seiner Hand zuwendete.
Balin schüttelte den Kopf und seufzte in Gedanken: Junge Zwerge! Nur Unsinn im Kopf!, bettete er sich wieder auf sein Nachtlager und drehte sich fort vom Feuer als ein Zeichen, welches klarmachen sollte, dass er jetzt zu ruhen gedachte. Müde schloss er die Augen und vernahm noch das Niederlegen der Zwergenbrüder, welche sich in ihre Wolldecken einwickelten. Selbst der Zwergenkönig hatte sich nun endlich entschlossen, das ruhelose Umherwandern einzustellen.
Stille legte sich über das Lager.
“Übrigens”, platzte Balins Stimme in die Dunkelheit, “sie soll uns Zwerge hassen wie kaum etwas anderes. Es wäre wohl ratsam, in ihrer Gegenwart vorsichtig zu sein.”
Bei seinen Worten waren alle leicht zusammengezuckt und schlugen gleichzeitig die Augen auf, doch eine Antwort gab keiner. Wenige Augenblicke später schliefen die drei Durins, während Dwalin wachsam in die Nacht lauschte und den Männern Sicherheit bot. Nur Balin starrte schlaflos in den Sternenhimmel und hing in Gedanken dem Gesicht hinterher, welches ihm in den letzten Nächten erschienen war. Er kannte dieses Antlitz. Das Gesicht einer jungen Frau mischte sich in seine Gedanken, welches ihm eine innere Traurigkeit bescherte und doch war er immer wieder verblüfft, wie ähnlich sie ihrer Mutter doch sah.
Thorgunn, dachte der alte Mann und endlich fand auch er seine verdiente Ruhe.
*
Leise, ganz leise war es zu vernehmen. Ein Wispern.
Thorin rührte sich nicht, schlug die Augen nicht auf und nur sein Atem wurde flach. Er kannte dieses Säuseln, suchte es ihn doch seit vielen Nächten schon heim. Schier endlose Stunden, in denen er sich herumgewälzt hatte, vom inneren Schmerz gepeinigt. Nun wartete er auf den Geruch, der kurz nach dem Beginnen der Stimmen folgte. Fäulnis. Am Anfang war es nur ein Hauch, der sich beständig intensivierte und schlussendlich unerträglich wurde. Zugleich wurde auch das Flüstern lauter.
‘Seht. Der König… Er ist auf dem Weg… Er weiss es nicht… Er weiss es nicht’, säuselte es von allen Seiten, doch nur der Zwerg schien es zu vernehmen, denn Dwalin blieb ruhig auf seinem Wachposten. ‘Es ist zu spät!’, mischte sich ein Zischen unter das Gewirr von leisen Stimmen. Ein Geräusch, welches Thorin noch nie zuvor vernommen hatte, und schlagartig öffnete er die Augen. Hauchzarte grüne Nebelschwaden zogen über sein Gesicht und zum erste Mal fühlte er sie auch. Roch sie. Noch hielt er den Gestank aus.
‘Er ist feige… Feige… Feige… Feige...’, wurde das widerliche Summen lauter. ‘Versteckt sich hinter den anderen… Kann nichts allein.’
Mit einem Ruck drehte sich der Zwergenkönig um: “Die anderen!”, keuchte er erschrocken. Bisher war er nachts allein in seinen Räumen gewesen, da er dankend Balins Angebot abgelehnt hatte, bei ihm zu bleiben. “Ich muss sie warnen!”
Ein grausiges dunkles Lachen klang durch die Nacht und ließ die Luft vibrieren.
Thorin wollte aufstehen und nach seinen Männern sehen, doch er konnte sich nicht mehr rühren, nicht einmal den kleinen Finger, geschweigedenn den Kopf anheben. Der Nebel um ihm herum wurde dichter und blaue fingerdicke Stränge gesellten sich mit dazu, welche lautlos über des Königs Körper glitten und sich langsam dessen bemächtigten.
‘Hast du Angst, Zwerg?’, grollte das unbekannte Zischen.
Angst! Dieses eine Wort hämmerte unablässig in Thorins Kopf. Er spürte, wie sich Schweißtropfen auf seiner Stirn bildeten und der Atem hektisch wurde. Kein Muskel gehorchte ihm mehr und ohne Unterlass zogen sich die Fesseln enger, umwaberten ihn, bedeckten sein Gesicht und krochen unter die Kleidung. Der Gestank steigerte sich unaufhörlich und ließ Übelkeit in ihm aufsteigen. Der Zwerg fühlte seinen Herzschlag im Hals, hämmernd und schmerzend. Krampfhaft versuchte er, gegen diese aufsteigende Panik anzukommen, die ihn nun mit aller Härte befiel.
‘Du hast zu lange gewartet. Du kannst nicht entrinnen’, schwoll das dumpfe Zischen an, wurde drohender, dunkler, und verwandelte sich schließlich in ein tiefes vibrierendes Dröhnen. Thorin fühlte es in jedem Knochen, jede Faser seines zum Zerbersten angespannten Körpers erzitterte vor Anstrengung.
‘Wir nehmen dich mit… In die Dunkelheit… Der König kommt in die Dunkelheit!’, kicherte es grässlich von allen Seiten.
Der Dunst bildete nun eine einzige wabernde Masse. Wie eiskalter Schlamm umspülte es den Krieger, welcher hilflos am Boden lag und wie abertausende Nadelstiche überzog es seine Haut. Thorin hatte die Augen weit aufgerissen, in denen schiere Angst und blankes Entsetzen standen. Seine schwarzen Locken klebten ihm wirr in Gesicht und Nacken und er fühlte, wie sich die Nässe des Schweißes unter seiner Kleidung sammelte und sich in kleinen Rinnsalen den Weg am Körper bahnte. Diese Hilflosigkeit machte ihn rasend.
“Thorin!”, rief ihn jemand. “Thorin, verdammt!” Das war Dwalins Stimme, welcher nach dem Kameraden schrie, doch der Zwergenkrieger war für den König nicht zu sehen. Zu dicht hüllte ihn die gurgelnde Masse des Gestankes ein. Braune längliche Bündel gleich Fangarmen durchzogen das Grün und Blau.
Plötzlich zuckten Blitze durch das Gewirr. Dwalin schlug, rasend vor Wut und Angst um den Freund, mit der Axt gegen das Gefängnis desselbigen. Auch Balin, Fili und Kili droschen mit ihren Waffen gegen die gallertartige Hülle, nachdem sie sich aus der Schockstarre über das Geschehen gelöst hatten. Voller Verzweiflung und heißer Raserei riefen sie nach ihrem König, den sie nur in der zuckenden Dunstwolke vermuten konnten, und fluchten.
‘Sie werden es nicht schaffen. Du bist gefangen. Sag ‘Lebe wohl’ zu ihnen. Der König verlässt sie…Jetzt!’, schoss die riesige dunkelrote Fratze eines Dämons durch die von Einschlägen zuckenende Wand direkt auf den Krieger zu.
Der Schwarzhaarige schrie, sein Herz setzte für einen Moment aus und der schmerzende Brustkorb schien auseinanderzureißen. Der Zwerg wollte sich aufbäumen und sich mit aller Macht wehren, doch er hatte keine Chance. Den Krieger langsam erstickend, drückte sich das Gallert in seinen Mund, drang durch die Nase, bedeckte das gesamte Gesicht und entzog ihm die Luft zum Atmen.
Zufriedenes Grollen betäubte des Kriegers Sinne und zog ihn in die Dunkelheit.
**
Gleißendes Licht - Nur einen Wimpernschlag kurz, dann rollte eine Druckwelle über die Zwerge hinweg und fegte die Schatten des Grauens hinfort.
Stille.
Rasselnd und gierig sog Thorin die frische Luft in seine schmerzenden Lungen. Er brauchte einen Moment lang, um seine Sinne zu schärfen und sich zu vergewissern, dass der Nebel sich wirklich verzogen hatte. Der Versuch scheiterte kläglich unter einem dumpfen Husten, welcher seinen Körper unnachgiebig schüttelte. Noch immer sah er das Abbild des Roten vor sich und noch immer hing ihm der Gestank des Todes in der Nase.
“Thorin Eichenschild”, brummte eine gutmütige Stimme durch das aufatmende Keuchen der Zwergenmänner und das Gesicht eines Mannes beugte sich zu dem König hinunter. Der Alte lächelte freundlich und strafend gleichermaßen. Dankbar nahm der Schwarzhaarige die dargebotene Hand an, setzte sich auf und blickte in die Runde. Erleichterte Gesichter sahen ihm entgegen, die letzten Funken Angst und Entsetzen wichen aus den Augen seiner Kameraden. Beruhigt atmete Thorin auf, als er sah, dass keiner verletzt war.
“Ich möchte mich vorstellen. Ich bin Gandalf, Gandalf der Graue. Und mir scheint, ich bin zur rechten Zeit gekommen”, schmunzelte der Zauberer.
Ungläubig sah der Krieger dem Mann in die Augen und erinnerte sich: “Ich weiß, wer Ihr seid. Wie könnte ich Euch jemals vergessen, brachtet Ihr mir doch den Halbling einst in den Berg.”
Vor sich hinnickend ließ sich Gandalf nieder: “Nun, es freut mich zu hören, dass ich noch immer in Euren Gedanken verweile”, knurrte er, holte seine Pfeife heraus und fing ohne Eile an, diese zu stopfen und den wohlduftenden Tabak zu entzünden.
Ein gequältes Lächeln huschte über des Königs Gesicht, während er sich von Dwalin das Wasser reichen ließ, um den faden Geschmack aus der Kehle zu spülen.
"Ihr seid auf dem Weg zum Heiligen Hain”, brummte Gandalf nachdenklich, sog genüsslich den Rauch in seine Lungen und schaute wohlwollend in die Gesichter der anderen.
“Woher wisst Ihr, was unser Ziel ist?”, fragte Thorin den Alten und zog die Augenbrauen zusammen.
Endlich sah der Zauberer ihn an: “Es sind nun zweihundert Jahre vergangen, seit Durins Volk das ‘Fest der Seelen’ gefeiert hat. Nun, sagen wir es einmal so, ich hatte erwartet, dass Ihr Euch auf den Weg begeben werdet, um den Wächter zu rufen. Doch den Heiligen Hain werdet Ihr ohne Hilfe nicht finden, eher werden Euch die Waldelben noch einmal abfangen, doch dies dürfte nicht in Eurem Interesse liegen.”
Thorin senkte den Kopf: “Ihr wisst davon?”, flüsterte er und fühlte sich beschämt. Sie waren einfach losgezogen, ohne daran zu denken, dass der Heilige Hain von niemandem entdeckt oder gar geöffnet werden konnte, außer von Zauberern oder dem Wächter selbst. Zu viele Gedanken und die schlaflosen Nächte hatten ihren Tribut gefordert und ihn das Wichtigste übersehen lassen. Der Schwarzhaarige biss sich auf die Lippe und kam nicht umhin, sich in diesem Moment wie ein kleiner dummer Zwergenjunge zu fühlen.
“Was waren das für Kreaturen?”, half Balin schnell ablenkend, um diese peinliche Situation zu beenden. Die Kameraden saßen nun mit noch leicht verstörten und erhitzten Gesichtern um das neu entfachte Feuer und hatten ebenfalls ihre Pfeifen entzündet.
“Das, Meister Zwerg, waren schwarze Seelen”, erklärte Gandalf. “Solche, die nicht den direkten Weg auf die andere Seite nehmen. Seelen von armen Wichten, welche das Leben verließ, noch ehe sie ihre Aufgabe in dieser Welt erfüllen konnten”, erwähnte der Alte den Roten nicht. Noch zu unscharf war die Bedeutung dessen Auftauchens in dieser Welt. Wie eine Wand, schimmernd und glänzend gleich Mithril, stellte sich eine Macht zwischen Gandalfs Bemühen um Erkenntnis und das entgültige Hervordringen des Dunklen. Nur der Hauch einer Ahnung ließ den Grauen ruhelos und besorgt zurück. SIE war hier gewesen. Allein hätte er den Fürsten nicht zurückhalten können.
“Ich habe soetwas noch nie zuvor gesehen”, flüsterte Kili geschockt und dennoch neugierig.
Gandalf lachte bitter auf: “Das konntet Ihr auch nicht, denn einerseits seid Ihr noch zu jung und andererseits kamen Eures Königs Ahnen ihrer Pflicht gewissenhaft nach.”
Vier Augenpaare richteten sich fragend auf Thorin und eine beklemmende Stille trat ein. Das Schattenspiel des Feuers verdeckte die Schamesröte in dessen Gesicht.
“Nun denn, ich habe Euch gefunden”, räusperte sich Gandalf, “und werde Euch helfen. Doch sagt mir eines…”, beugte sich der Graue zu dem Zwergenmann und nahm diesen mit seinem Blick gefangen. “Seit wann habt Ihr diese Träume? Seit wann kommen sie und wollen Euch mitnehmen? Sagt es mir!”, wurde Gandalfs Stimme stechend.
Der König zuckte innerlich zusammen, doch er schwieg.
“Ihr habt zu lange gewartet. Euer Hass auf die Elben hat euch zögerlich gemacht. Seit wann ist Thorin Eichenschild, Sohn von Thrain, sein eigenens Befinden wichtiger als das Bedürfnis seines Volkes?”, grollte der Graue vorwurfsvoll.
Jedes Wort schlug in das Herz des Kriegers wie ein Peitschenhieb. Er war sich seiner Schuld sehr wohl bewusst, hatte er die Entscheidung doch Tag für Tag vor sich her geschoben, bis Balin ihn regelrecht unter Druck gesetzt und ihn mit den Folgen konfrontiert hatte. Jetzt jedoch brodelte es in ihm ob dieser Dreistigkeit des Alten, ihn vor seinen Männern bloßzustellen und dies nun schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Augenblicke. Dunkel funkelten seine Augen unter den Lidern hervor und sahen den Zauberer wütend an.
Gandalfs Blick jedoch wurde wieder gutmütiger. Er benötigte des Zwerges Antwort nicht und nickte wissend:
“Wenn wir jetzt aufbrechen, erreichen wir den Wächter noch vor Sonnenuntergang. Doch sollten wir uns sputen. Erst wenn wir uns im Inneren des Heiligen Hains befinden, sind wir sicher”, stand er mühevoll auf als Zeichen zum Aufbrechen und fügte mahnend hinzu: “Auch sicher vor Thranduil und seinen Mannen!”
Die Blicke der beiden Männer trafen sich und noch immer hatte der Graue das Empfinden, dass SIE in der Nähe war.
**
Unentschlossen stand sie vor dem großen Torbogen, durch den der Weg hinauf zur Terrasse des Anwesens führte und hin zu den Männern, welche sich leise unterhielten. Die Ranken des blutroten Rhimdolin, eine nur im Hain wachsende Pflanze, schlängelten sich fingerdick und doch grazil um das helle Holz, geschlagen aus Damirie, dem ‘Baum der vergessenen Lichtung’. Rhimdolins handtellergroße Blüten selbst verströmten einen sinnlich betörenden Duft. Das warme Licht des Feuers, welches in vier kleinen gusseisernen Schalen am Ende des leicht ansteigenden Weges leise vor sich hin prasselte, und diesen in einem wohligen Schattenspiel tänzeln ließ, fiel zu ihr hinab.
Langsam und mit Bedacht, jedes Geräusch vermeidend, setzte sie ihre Schritte einen nach dem anderen. Schon konnte sie das leise Stimmengemurmel deutlicher vernehmen, welche zu der Gruppe gehörte, die sich, noch ehe die Sonne untergangen war, bei ihrem Vater eingefunden hatte. Farasar hatte sie vom Rande des Waldes aus beobachtet, geschützt durch einen kleinen einfachen Zauber, um unentdeckt zu bleiben.
Wenige Zeit zuvor hatte sie den Zorn ihres Vaters auf sich gezogen, als sie ihm erklärte, dass sie zur Begrüßung der Ankömmlinge nicht anwesend sein würde. Haledan war aufbrausend gewesen, ganz im Gegensatz zu sonst, zumal es sich für einen Elb nicht anschickte, derart in eine Gefühlsbekundung auszubrechen. Gäste zu empfangen und zu bewirten, war für den Wächter ein Grundstein für Anstand und Respekt. Und um genau dieses Fehlen zu vermitteln, hatte Farasar sich gegen des Vaters Grundregeln gewendet. Sie wollte keine Gelegenheit auslassen, den Kurzgewachsenen zu zeigen, welch tiefen Hass sie für das Volk Durins empfand.
Ihre Erscheinung hatte sie ihrem Verhalten angepasst. Auch wenn sie sich an normalen Tagen gern in einfacher Hose und Tunika kleidete, um ihrer täglichen Arbeit nachzugehen, hatte sie sich für ein glutrotes Gewand aus Seide entschieden, welches hochgeschlossen war und bis auf den Boden hinabfiel. An den Armen lag es eng an und weitete sich in Richtung Hand wie ein Trichter. Feinste Bronzefäden zierten den Saum.
Die junge Frau lächelte still und strich mit einer Hand liebevoll über den kühlen glatten Stoff, der so angenehm und ohne eine Falte ihren Körper einhüllte. Der zarte Duft des Silberhaarigen haftete fortwährend in dem Gewand, welches ein Geschenk an sie war, als sie den Schritt vom Mädchen zur Frau hinter sich gelassen hatte. Seit diesem Tage hatte der stolze Elb sie mit anderen Augen angesehen und das eisblaue Funkeln bekam ein jedes Mal in den Momenten ihrer Anwesenheit ein warmes Leuchten.
Lautes dunkles Lachen riss Farasar aus ihren Gedanken. Sie straffte sich und holte tief Luft. Dabei rauschte leise ihr langes dunkelbraunes Haar über den Stoff, welches sich in großen Locken bis über ihre Hüften ergoss. Einen feinen Bronzereif hatte sie auf ihrem Kopf befestigt. In der Mitte funkelte in tiefem Rot Xaddar, der Stein des Seelenfürsten, und zierte ihre Stirn.
Wieder hörte sie das dunkle Lachen, welches einen ihr unbekannten Schauer bescherte. Sie nahm sich zusammen, schritt das letzte Stück Weg entlang zur Terrasse und in jenem Augenblick, als sie diese betrat, verstummte abrupt jegliche Art von Gespräch. Sieben Augenpaare ruhten auf ihr, sieben unterschiedliche Gefühlsregungen stürmten auf sie ein. Farasar hatte Mühe, dagegen anzukommen, so stark waren diese, und sie bereute es augenblicklich, ihre Gabe eingesetzt zu haben. Sie spürte, wie ihr Vater und auch Gandalf sich redlich bemühten, ihre Gefühle im Zaume zu halten, wussten sie doch um ihre Fähigkeit. Dennoch spürte sie Haledans inneren Zorn auf sie einerseits und die Freude Gandalfs, sie nach so langer Zeit wiederzusehen, andererseits.
Und dann waren da diese Zwerge! Langsam, bei jedem einzelnen verweilend, glitt ihr Blick über die Langbärte. Zwei von ihnen, die augenscheinlich jüngsten, strahlten einfach nur Verwirrtheit und Erregung aus. Was hatte sie auch anderes erwartet? Plump und einfach waren diese Kleingewachsenen. Mit großen Augen starrten sie Farasar an und der Dunkelhaarige fuhr sich mit der Hand über den Mund.
Der große glatzköpfige Krieger versuchte ruhig zu bleiben, jedoch konnte sein grimmiges Gesicht sein Erstaunen nicht verbergen. Er fühlte sich unwohl in ihrer Gegenwart und wusste nicht, was er von ihr halten sollte. Ganz im Gegenteil zu dem Weißhaarigen. Farasar beschlich das Gefühl, dass er gewusst hatte, was ihn hier erwarten würde. Sicherlich, das Erstaunen in seinen Augen war deutlich zu erkennen, doch sie schob das ihrem Äußeren zu. Als ihre Blicke sich jedoch trafen, spürte sie, dass da mehr war und nur er und sie davon wussten. Sie hatten sich schon einmal gesehen, vor vielen Jahren. Der Ausdruck in seinen Augen war offen und ehrlich. Und traurig. Er berührte sie tief im Herzen, doch es breitete sich keine Wärme aus. Schmerzliche Erinnerungen bahnten sich den Weg in ihre Gedanken und wurden durch feuchtes Glitzern in ihren Augen sichtbar. Ergriffen sah sie zu Boden und schluckte hart.
Noch ehe sie ihre Aufmerksamkeit auf den letzten der Fünf richten konnte, trat Haledan neben sie und ergriff das Wort: “Farasar. Komm, ich möchte dir unsere Gäste vorstellen. Dies sind Balin und Dwalin, Fili und Kili. Tapfere Krieger aus dem Erebor”, deutete er auf den jeweiligen Zwerg, während er die einzelnen Namen aufzählte. Bevor er weitersprach, hielt er einen Moment inne: “Und das, meine liebe Tochter, das ist Thorin. Der König unter dem Berge.”
Mit eiskalter Miene konnte Farasar endlich dem Manne ins Angesicht sehen, den sie seit dem Tod ihrer Mutter so hasste. Wie ein Blitz durchfuhr es sie, als sich ihre Blicke trafen. Mit Augen, so blau wie wilde Gletscherseen, über denen ein Unwetter tobte, sah der Zwerg sie mit demselben Zorn an, wie Farasar diesen für ihn empfand. Sie standen im scharfen Kontrast zu seinem dunklen gepflegten Bart und den langen schwarzen Haaren, die gleich einer Mähne sein Haupt zierten, geschmückt mit wenigen Perlen. Seine Kleidung aus Leinen und Leder war schlicht gehalten und die einzige Zierde war die kunstvolle in blau gehaltene Stickerei. Und dennoch war seine Erscheinung königlich. Stolz hielt er den Kopf, herausfordernd.
Mit erstarrter Miene und dunkler Stimme begrüßte die junge Frau die Gäste auf ihre Weise: “Nun, es gibt manche Wesen, auf die ich mich freue, und hoffe, sie mögen sehr lange bleiben”, kniff sie die Augen einen kurzen Moment kaum merklich zusammen und knurrte etwas leiser: “Und dann gibt es jene, welche ich nicht einlassen möchte. Und wenn ich es doch erlaube, im Stillen mir wünsche, sie mögen ihren Weg sehr schnell weitergehen.”
Haledan neben ihr straffte sich merklich und ein Raunen ging wie eine Welle durch die Gruppe. Der graue Zauberer schloss leicht kopfschüttelnd und brummend die Augen, doch zum Erstaunen aller reagierte der König sehr ruhig und bedacht. Ja, er lächelte sogar milde, doch seine tiefe Stimme vibrierte vor unterdrückter Wut: “Nun, Wächterin, da wir einer Meinung sind und keine weiteren Gastgeber erwarten, sollten wir zum Grund unserer Anwesenheit übergehen”, ging er zwei Schritte auf Farasar zu und raunte: “Es wird Euch freuen zu hören, dass wir bei Sonnenaufgang wieder aufbrechen”, schaute er ihr dabei fest in die Augen und ein überlegenes Funkeln war in den seinen zu erkennen.
Farasar hielt den Blick, auch wenn er sie beschämt hatte, und obwohl der König unter dem Berge gerade einmal eine Hand breit kleiner war als sie, so hatte er vor ihr an Größe gewonnen. Mit seinen einfachen Worten hatte er ihrem Hass die Stirn geboten.
“Wohl an, Wächter der Seelen, ich ersuche Euch, dem Volke Durins den Wunsch nach dem ‘Fest der Seelen’ beizukommen und den Gepeinigten nun ihren Platz in den Hallen ihrer Ahnen zu gestatten”, wendete sich Thorin mit fester Stimme an Haledan und auch seine zwergischen Begleiter standen während der Worte respektvoll auf.
Dankbar um den glimpflichen Ausgang des kleinen Gespräches zwischen seiner Tochter und dem Schwarzhaarigen, sprach Haledan zu diesem: “Die Seelen Eures Volkes werden wandeln auf dem Pfad der Wächter.”
Stumm blickte Farasar auf den Boden und fühlte noch immer den Blick des weißhaarigen Zwerges auf sich.
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“Was hast du dir nur dabei gedacht? Du kannst doch nicht dem Zwergenkönig so unverhohlen zeigen, dass er bei dir nicht willkommen ist! Farasar! Er hätte dich umbringen können!”, fauchte Gandalf wütend und ließ die junge Frau seinen Unmut spüren, welche schuldbewusst und mit gesenktem Kopf einfach nur dastand und den Wortschwall über sich ergehen ließ. Kein anderer hätte in diesem Ton mit ihr reden dürfen außer noch ihr Vater.
Sie befanden sich im Innenhof des Hauses Haledan und in dieser milden Nacht schien der volle Mond von einem sternenklaren Himmel herab. Nervös schritt der Graue von einer Seite auf die andere, ungehalten und fahrig.
“Warum?”, wirbelte er blitzartig zu ihr herum und kam auf sie zu. Fragend blickte er in ihre Augen: “Ist dein Hass auf die Zwerge wirklich so gewachsen, dass du nicht einmal einen offenen Streit scheust?”
“Gandalf, ich…”, stotterte Farasar, außerstande, etwas Sinnvolles darauf zu antworten. Sie hatte sich vor Thorin gehenlassen und war besessen gewesen von der Vorstellung, den König zu demütigen. Ihr feindseliges Verhalten war unnötig gewesen und diese Blöße hätte sie sich nicht geben zu brauchen. Das ‘Fest der Seelen’ hätte einfach stattfinden können, danach wäre sie wieder in den Heiligen Hain zurückgekehrt, um sich zu entscheiden und die Zwerge für die nächsten zweihundert Jahre nicht wiederzusehen.
Der Alte sah sie noch immer an, suchte in ihren dunklen Augen und flüsterte: “Du kannst ihm nicht die Schuld geben, Kind. Deine Mutter ist aus freien Stücken in den Zwergenkrieg gezogen. Sie hatte keine Wahl.”
Obwohl Gandalfs Bezeichnung für sie einen wohligen Schauer über ihre Haut jagte, konnte sie ihr Entsetzen nicht unterdrücken: “Keine Wahl? Du sagst, es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich für eine Horde wildgewordener Zwerge abschlachten zu lassen, während sie zu Haus ihr Kind zurückließ? Das kann nicht dein Ernst sein, Gandalf!”, rief Farasar erschüttert, während eine heiße Welle der Wut sie durchflutete.
“Das Blut der Zwerge strömte durch ihre Adern und ihr Herz schlug für den Prinzen. Gegen diese Macht konnte sie nichts ausrichten”, versuchte sich der Alte nun in sanfterem Ton.
“Aber ich bin ihre Tochter, Gandalf! Zählt das denn gar nicht?”, erwiderte sie. Tränen der Verzweiflung stiegen in ihr auf und sie senkte den Kopf.
Liebevoll umschloss der Graue die Wangen der jungen Frau mit beiden Händen und sah sie bedrückt an: “Du hast ja Recht, Kind. Der Instikt einer Mutter sollte stärker sein als alles andere, doch das Erbe der Zwerge in ihr war stärker. Sie wusste, dass du sie zum Überleben nicht brauchst. Du bist eine Va’ari! Nichts hätte dir schaden können und dennoch bricht das Herz eines Kindes, wenn die Mutter geht.” Das Erkennen der Tränen, die ihr heiß über die Wangen rannen, ließen den alten Mann hilflos werden. Sein Antlitz ergraute und schwere Vorwürfe peinigten ihn: “Ich hätte öfter in deiner Nähe weilen sollen und deinem aufkommenden Hass Einhalt gebieten. Du hättest eine Stütze gut gebrauchen können.”
Stur wich sich vor dem Mann zurück und blickte ihn von unten herauf zornig an: “Es hätte nichts daran geändert. Die Linie der Durins hat mir meine Mutter genommen. Sie opferte ihr Leben genau diesen Zwergen, welche ihr das Herz gebrochen und die Hoffnung genommen hatten. Warum sollte ich ihn nicht hassen dürfen?”, wendete sie sich bebend von Gandalf ab und ballte die Fäuste. Ihr Blick glitt hinauf in den Sternenhimmel und unter der leichten Brise, welche aufgekommen war und ihr gleich einer sanften Berührung über das erhitzte Gesicht strich, schloß sie die Augen.
“Du wirst das 'Fest der Seelen' zusammen mit deinem Vater abhalten?”, trat der Graue leise hinter sie.
“Ja. Das werde ich”, hauchte die Va’ari.
“Und du weißt, welche Entscheidung du treffen musst?”, hakte Gandalf nach.
“Ja....”, brach ihre Stimme.
“Dein Vater wird diese Welt danach verlassen und du wirst die alleinige Wächterin sein. Es liegt in deiner Hand, einen geeigneten Nachfolger zur Welt zu bringen, von welchem Volk auch immer”, stellte er schlußendlich fest, nur um sicher zu gehen, dass Farasar sich ihrer Pflicht bewusst war.
Die junge Frau sagte nichts. Der Gedanke an den bevorstehenden Verlust zwang sie zum Schweigen. Sie nickte nur leicht und ohne sich noch einmal umzudrehen, ließ sie den Grauen im Hofe des Anwesens stehen, welcher ihr verzweifelt nachblickte.
Gandalf sah nicht den Zwerg, welcher in der oberen Etage des Hauses hinter einem Fenster im Dunkel stand. Thorin hatte sie gut von seinem Posten aus beobachten können und auch wenn er nichts von dem Gesagten verstanden hatte, so war er wie gefesselt von der Gestik und Mimik dieser jungen Frau, welche ihm so fremd und doch vertraut schien. Ihr helles Antlitz im Mondschein war atemberaubend und das Gesicht stand im starken Kontrast zu den dunklen Haaren. Auch als er ihren blanken Hass einige Zeit zuvor in ihren Augen hatte erkennen können, so war er für einen kurzen Moment darin gefangen gewesen. Die Wächterin hatte eine kräftige Statur und war nur wenig größer als er selbst. Die Zartheit der Elben suchte man vergeblich bei ihr, doch ein Mensch war sie auch nicht. Der Schwarzhaarige konnte das Empfindenl nicht beschreiben, welches sich kaum fühlbar in seinem Inneren ausbreitete, sobald er nur darüber nachdachte. Er hatte sehr wohl das Fernbleiben bei der Begrüßung und das darauffolgende verspätete Auftauchen auf der Terasse als Abneigung und Missgunst gedeutet. Ihre offen gezeigte Aggressivität hatte ihn bis zum Zerbersten gereizt und dennoch war das sanfte Vibrieren, welches ihm einen wohligen Schauer über die Haut jagte, zwischen ihnen zu spüren gewesen.
Doch darüber wollte er sich in dieser Nacht keine weiteren Gedanken machen. Wichtig war, dass dieses Fest stattfand und ihn diese schwarzen Heimsuchungen endlich wieder schlafen und atmen ließen. Leise zog er sich in das dunkle Zimmer zurück.
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Er war hier. Sie fühlte ihn. Unweigerlich kroch dieses feine Kribbeln über ihre Haut, fraß sich hinein in ihr Fleisch, um sich tief in ihren Eingeweiden auszubreiten. Starr blieb Farasar sitzen und wartete auf seine Berührung, welche die Glut in ihr entfachen würde. Kein Lidschlag störte ihren leeren Blick ins Dunkel und der Schlag ihres Herzens war kaum noch zu vernehmen, so endlos langsam war dieser geworden auf der Ebene zwischen Leben und Tod.
Leise trat er hinter die junge Frau und sog sehnsüchtig ihren Duft in sich ein. Sanft strich er ihr über das kräftige dunkle Haar, schob es am Hals zur Seite und noch ehe er sich hinunterbeugen und seine Lippen auf ihre warme Haut pressen konnte, spürte er ihr erwartendes Vibrieren.
“Ich hatte Sehnsucht nach dir”, knurrte er mit tiefer Stimme und hinterließ mit seiner Zungenspitze eine feine nasse Spur auf ihrem Hals, doch Farasar rührte sich nicht. Sie wartete darauf, dass er vor sie trat, sie ansah und spürte schon in diesem Moment, wie er sich in Bewegung setzte.
“Dharag”, hauchte sie, “du solltest nicht hier sein”, suchte sie mit noch immer kaltem Blick das Rot seiner Augen, mit dem er sie gefangennahm und in Flammen setzte. Hörbar keuchte sie auf, als er sie endlich lautlos rief.
“Der Zwerg hat dich aufgesucht?”, brummte der hühnenhafte Mann vor ihr, dessen Muskelstränge an den Armen pure Stärke versprachen. Der Fürst hatte eine menschliche Gestalt angenommen in dieser Welt zwischen Licht und Dunkel, übergroß und kräftiger als jeder Sterbliche. Glutrote Haare fielen ihm schwer über den breiten Rücken und schimmerten bei jeder seiner Bewegungen wie tanzendes Feuer in einem Sturm.
“Warum fragst du? Du selbst bist bei ihm gewesen”, erwiderte Farasar ungewöhnlich trotzig mit zusammengezogenen Augenbrauen. Sie ließ sich nicht von der wilden Schönheit des Mannes blenden, kannte sie ihn doch auch in anderer Erscheinung. Jene, die nicht dazu einlud, in Lust und Leidenschaft zu entbrennen, um sich zügellos der heißen Begierde hinzugeben.
Ein leises Lächeln legte sich um die schmalen Lippen des Roten: “Er hatte Angst. Süße qualvolle Angst. Und ich habe es genossen.”
“Noch ist er nicht dein, Dharag”, schüttelte Farasar leise fauchend den Kopf. “Wir haben eine Abmachung. “
“Und ich werde mich daran halten”, ging der Fürst vor ihr in die Knie. “Seine Seele für die Seelen seiner Väter. Und du wirst sie mir bringen”, sah er eindringlich in die dunklen Augen der Va’ari, erblickte seine glutrote Flamme in ihnen und lächelte still. Der Duft der jungen Frau raubte ihm schier den Atem und der Anblick ihrer seidigen Haut löste kribbelndes Verlangen in ihm aus.
“Das werde ich, doch bis dahin läßt du ihn in Frieden. Er wird seine Strafe früh genug erhalten. Soll er sich ruhig noch ein bißchen quälen und ängstigen. Es ist nichts zu dem, was du ihm bieten wirst”, erwiderte sie ernst und senkte den Blick. Sie hatte hautnah miterlebt, wie der Fürst der Seelen, gefolgt von körperlosen Kreaturen, dem Zwergenkönig die Furcht vor dem Sterben beigebracht hatte. Sie hatte schweigend beobachtet, wie sie ihn festhielten und quälten. Sie hatte das Leid in Thorins Augen gesehen und die Schmerzen seines Leibes gefühlt.
“Du hast dem Zauberer geholfen”, grollte der Fürst lauernd und fuhr langsam mit den Fingern über ihre Wange, strich zärtlich mit dem Daumen über die geschwungenen Lippen, um blitzschnell ihr Kinn zu packen und sie nah an sich zu ziehen: “Sie mich an!”
Glühend traf ihr Blick den seinigen, stark und fest. Er konnte keine Furcht in ihren Augen entdecken und keine Angst vor ihm, an der er sich so gern bei seinen Opfern labte. Die junge Frau, geboren aus drei Völkern, war mächtig. Die Magie hatte sich bereits in dem Moment ihrer Geburt gebündelt und wuchs stetig, je älter die Va’ari wurde. Auch ohne seine glutrote Flamme war Farasar stärker als er.
Zerrissen zwischen Wut und Verlangen wandelte er scheinbar endlose Zeiten auf seinen schwarzen Pfaden und peinigte wahllos die körperlosen Schemen, deren Leid auch ohne sein Zutun unerträglich war. Er begehrte Farasar und buhlte um ihre Gunst. Ihren Hunger auf Rache an den Zwergen sollte sie mit seiner Hilfe stillen und so hatte der Rote ihr diesen einen Handel angeboten. Er wusste, dass die Zeit für die Seelen des alten Zwergenkönigs und seinen Sohn gekommen war, um endlich in die Halle ihrer Ahnen einzukehren. Ein Hohn in Farasars Augen, waren diese beiden Männer doch der Grund dafür, dass ihre Mutter qualvoll gestorben war. Dharag mußte die Zwerge gehenlassen, darum verlangte er den jungen König - Thorin. Die Va’ari hatte nicht lange überlegt und zugestimmt. Das auszurichtende Fest war der einzige Zeitpunkt, an dem sie den letzten der drei Durins, welcher mit ihrem Schicksal verknüpft war, in sein Verderben schicken konnte.
Des Fürstens Blick wurde weich und glitt hinunter zu ihrem Mund, welcher sich zitternd öffnete, und hauchte einen sanften Kuss darüber. Bereitwillig umschlossen ihre Lippen die seinen, auffordernd tänzelte ihre Zungenspitze darüber hinweg. Aufkeuchend gewährte er Einlass und füllte ihren verlangenden Mund mit derselben Begierde. Er spürte das Knistern zwischen sich und der Va’ari. Er konnte es sogar hören, war ihm diese Berührung doch nicht gestattet in dieser Welt. Das Verlangen, mehr von ihr zu nehmen, trieb heiße Wellen durch seine Lenden.
“Du solltest gehen, Dharag. Deine Zeit wird kommen”, flüsterte Farasar mit lustverhangenen Augen, in denen sein Feuer hell erstrahlte.
Widerwillig ließ der Rote von ihr ab und stand auf. Unentschlossen und noch immer flach atmend blickte er auf die Frau hinab, die ihm allein mit ihrer Anwesenheit den Verstand zu rauben schien. Sein Willen, sie einfach in Besitz zu nehmen, war unter der leichten Hose immer noch zu sehen, und er spürte ihren Blick darauf, welcher mehr versprach.
“Sehen wir uns vor dem Fest noch einmal?”, fragte Dharag mit belegter Stimme, obwohl er versuchte, das leichte Vibrieren zu unterdrücken.
Farasar stand auf und strich ihm leicht über die Brust: “Nein. Ich möchte nicht. Das Fest wird unser Triumph sein, dann gehöre ich dir”, löste sie sacht ihren Blick von dem Fürsten und wendete sich ab. Sie spürte die nahende Kälte, als die Flamme in ihr erlosch und Dharag sich wie ein Nebelschleier bei einer leichten Brise auflöste und verschwand.
“Lass Thorin in Frieden”, hauchte sie leise und schloss die Augen. Krampfhaft versuchte sie die Bilder jener Nacht zu unterdrücken, als der Rote ihn heimsuchte. Sie holte sich mit festem Willen die Erinnerung an ihre Mutter zurück, an die Schlacht und das Leid, welches sie zu ersticken drohte. Tief atmete sie durch und das Grollen aus ihrer Kehle glich dem eines Dämons: “Er wird leiden!”
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“Thrain hat Eure Mutter nie vergessen, Farasar”, sprach Balin mit leiser Stimme. “Sein Herz gehörte immer nur ihr, doch er durfte sie nicht lieben”, sah er mit freundlichen dunklen Augen die junge Frau an, welche ungläubig den Blick auf ihn richtete, doch sie erwiderte nichts. Lässig lehnte sie mit dem Rücken an der Wand des Hauses und hatte bis eben den Aufbruch der Zwerge beobachtet.
Der Weißhaarige seufzte: “Ich sah Euch damals auf dem Schlachtfeld, als alles vorbei war. Ihr wisst es. Eure Mutter starb in Euren Armen.”
Hörbar sog Farasar die Luft ein. Bilder der damaligen Nacht kamen ihr augenblicklich in den Sinn. Wohin sie auch gesehen hatte, überall lagen Leichen, abgetrennte Körperteile und das Blut färbte den Boden in dunkles Rot. Die Schreie und das Klagen der Verletzten klangen ihr noch heute in den Ohren. Der Geruch von Tod und Verwesung hatte in der rauchgeschwängerten Luft gehangen und förmlich gedroht, die Überlebenden zu ersticken. Und mittendrin hatte sie gesessen, ihre sterbende Mutter wiegend im Arm und das Gesicht tränenüberströmt.
“Balin, wir brechen auf”, riss Thorins Stimme sie aus ihren Gedanken. Fassungslos und innerlich bebend starrte sie den Zwergenkönig an, welcher ihr einen Blick schenkte, den sie nicht einordnen konnte. Sein Hass vom vorangegangenen Tag war verschwunden und hatte einer blauen Melancholie den Platz überlassen.
“Ich komme”, wollte sich der Alte schon abwenden, doch dann entschloss er sich anders und trat näher an die Wächterin heran. Er sah ihren von Leid und Qual getrübten Blick, welcher immer noch auf Thorin ruhte und flüsterte: “Tut dem Jungen nicht Unrecht. Er hat keine Ahnung von den Dingen, die damals geschehen sind. Er weiß nicht, das ihr Thorgunns Tochter seid. Und auch nicht um die Liebe seines Vaters zu ihr”, hatte Balins Stimme etwas Flehendes an sich.
Nun endlich wendete Farasar sich wieder dem vor ihr stehenden Zwerg zu. Kalt und erbarmungslos sah sie ihn an: “An wem sollte ich sonst Rache nehmen? Keiner der anderen Beteiligten ist noch am Leben. Wen sonst kann ich das Leid und den Schmerz der letzten Jahre spüren lassen, wenn nicht ihn?”, war ihre Stimme dunkel und rau geworden, ja regelrecht grollend.
Balin zitterte: “Das dürft ihr nicht tun. Bitte. Ihr…”, wich alle Farbe aus seinem Gesicht und sein Brustkorb bebte vor Entsetzen.
“Balin! Komm endlich!”, dröhnte es von der Gruppe herüber.
“Ihr solltet jetzt besser gehen, Meister Zwerg”, richtete die Va’ari ihren Blick stur an dem Krieger vorbei. Sie wollte nicht das nasse Glitzern in seinen Augen sehen und auch nicht seine Verzweiflung. Es reichte ihr, was sie fühlen konnte. Obwohl sie ihre Gabe in diesem Augenblick nicht einsetzte, war Balins Gram so überwältigend, dass sie diesen auch so wahrnahm.
Haledan trat leise hinter sie und legte Farasar beruhigend eine Hand auf die Schulter: “Meine Tochter hat recht, Ihr solltet aufbrechen”, hatte er ihr innerliches Beben gespürt und versuchte durch seine ruhige Art, seinem Kind Halt zu geben.
Resigniert nickte Balin, drehte sich um und schloss sich den Reitern an. In Gedanken versunken blickte ihm der Elb nach. Auch für ihn würde dieses Fest nicht leicht werden, war die Trauer um seine Frau doch nie ganz versiegt. Jeden Tag wurde er an sie erinnert, brauchte er doch nur seine Tochter anzusehen, welche ihr so ähnlich sah.
Die Va’ari erwiderte den Gruß der Zwerge zum Abschied nicht. Auch den traurig lächelnden Blick Gandalfs ignorierte sie. Nur einem der Männer sah Farasar noch einmal in die Augen und entdeckte in diesem tiefen Blau die stumme Frage nach dem Warum. Sie spürte die zarte Verbindung zu dem Zwerg, welche sich schleichend aufbaute - gegen ihren Willen. Betreten sah sie Boden.
*
Farasar hatte nicht lange gebraucht, um an den Ort zu gelangen, den sie aufsuchte, um ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. Noch ehe die Zwerge die Grenze des Hains erreicht hatten, war sie aufgebrochen, nicht fähig, nach den aufwühlenden Ereignissen auch nur in der Nähe ihres Vaters zu bleiben. Sie wollte den königlichen Zwerg einfach nur vergessen. Noch immer hatte sie seinen Duft aus Feuer und Gestein in der Nase, sah das schimmernde Blau seiner Augen vor sich und hörte die tief vibrierende Stimme im Kopf.
Keuchend schloss sie die Augen und sog den Geruch des Waldes ein. Dieser Ort, gelegen an einer kleinen Flußmündung mitten im Düsterwald, gab ihr seit jeher Ruhe und Frieden. Und hier traf sie sich seit unzähligen Jahren mit dem Einen. Viele Gespräche hatten sie bisher geführt, ernste Themen besprochen, aber auch viel gelacht. Niemand kannte den Herrn des Waldlandreiches so wie sie. Hier, in ihrer Gegenwart, konnte er sein Innerstes nach außen kehren, ohne dabei Angst haben zu müssen, sein Ansehen zu verlieren. In ihrer Nähe konnte er so sein wie er war - Thranduil.
Seit dem ersten Tag, als sie sich zufällig bei einem der vielen Elbenfeste trafen, hatte sich eine tiefe Freundschaft zwischen ihnen entwickelt. Farasar hatte zu diesem Zeitpunkt kurz davor gestanden, den Schritt vom Kind zur Frau zu absolvieren. Ihre frische natürliche Art, ihre Missachtung von Stand und Macht des anderen, die offene und ehrliche Weise waren es, die den Elb immer wieder in ihre Nähe gezogen hatten. Über die Zeit hinweg hatten sie ein Gespür dafür entwickelt, wann der eine die Gesellschaft und Nähe des anderen suchte, und so war es noch nie vorgekommen, dass einer von beiden vergeblich warten musste.
Vorsichtig beugte sich die junge Frau hinunter zum Wasser, um eine Handvoll zu schöpfen, als sie mit jeder Faser ihres Körpers spürte, dass er in ihrer Nähe war. Ein Schmunzeln huschte über ihr Gesicht, während sie sich langsam erhob und dem Elb zuwendete. Keine sechs Fuß von ihr entfernt stand er einfach da, so hochgewachsen, schlank und stolz. Er hatte sich in einem hellen Braunton gekleidet, nicht wie sonst in glänzende Seide und Taft, und doch war sein Anblick würdevoll, auch ohne Silberreif auf dem Haupt.
Langsam ging die Va’ari auf ihn zu und kaum hörbar sog er tief die Luft ein, als sie nur zwei Handbreit vor ihm stehenblieb und zu ihm aufschaute. Thranduil versank in diesen dunklen Augen und glaubte zu ertrinken. Sein Blick glitt hinab zu der feinen Nase, weiter zu den vollen geschwungenen Lippen und der Duft ihrer Haut betörte ihn. Nicht zum ersten Mal, seit sie sich kannten, spürte er diese längst vergessen geglaubte Sehnsucht. Von Mal zu Mal war diese stärker geworden und zog ihn regelrecht in die Nähe dieser jungen Frau, welche ihm oftmals so geheimnisvoll erschien. Nie zuvor war es ihm in den Sinn gekommen, dass er sich jemals anders als nur freundschaftlich zu ihr hingezogen fühlen könnte. Dieses Gefühl hatte ihn überrannt und Unsicherheit durchdrang ihn.
“Du bist so schweigsam heute, Mellon”, begann Farasar das Gespräch. Sie hatte sehr wohl bemerkt, dass in dem Silberhaarigen etwas vor sich ging, bei dem er selbst noch nicht sicher war, was da gerade passierte.
“Ich habe nachgedacht”, antwortete er leicht irritiert und senkte den Blick.
“Oh. Darf ich auch erfahren worüber?”, lächelte sie ihn an.
“Ich bin mir nicht sicher, ob…”, brach er mitten im Satz ab, doch er hatte sich zumindest aus seiner Starre befreien können. Langsam wendete er sich von Farasar ab und ließ seinen Blick über den Waldfluss gleiten. Eine leichte Brise spielte mit seinem langen glatten Haar und trieb dessen Duft geradewegs in die Nase der jungen Frau, welche unter dieser Wahrnehmung erschauerte. So bewusst hatte sie solche Dinge noch nie an Thranduil wahrgenommen. Auch als sie die Silhouette seines feinen Elbengesichtes, welches im Licht des Vollmondes geradezu weiß erstrahlte, betrachtete, hatte sie das Empfinden, als sehe sie dies zum ersten Mal. Etwas geschah, lautlos und unsichtbar.
“Du hattest Besuch?”, fragte der Elb unerwartet in die Stille hinein und riss Farasar jäh aus ihren Gedanken.
“Ja. Der Zwergenkönig”, antwortete sie mit dunkler Stimme.
“Ich weiß”, verzog Thranduil geringschätzig den Mund, als er sich an die Begegnung mit den Langbärten erinnerte.
“Woher…?”, flüsterte Farasar erstaunt.
“Lass es mich so sagen”, begann der Elb gehässig, “er lief mir über den Weg und es hat ihm nicht gefallen.”
“Du hast ihn erzürnt?”, wollte die Wächterin gespielt vorwurfsvoll wissen.
Thranduil lachte leise: “Erzürnt? Ja, so könnte man es nennen. Nun, ich habe ihn etwas verärgert”, drehte er sich zu ihr um und sah das Lodern in ihren Augen. Er wusste um ihren Hass auf alles, was mit Zwergen zu tun hatte, und er genoss es, konnte er sich doch sicher sein, dass Thorin Eichenschild keine Gelegenheit bei ihr bekommen würde. Und nun, da er mehr fühlte als…
Der Silberhaarige hielt die Luft an. Seine Gedanken ließen seinen Körper erbeben, wie Feuer durchzog es ihn und doch wusste er, dass die Zeit noch nicht gekommen war. Es galt als unheilvoll, wenn man den Geschehnissen vorauseilte. Und die entgültige Entscheidung traf noch immer diese junge Frau, welche da vor ihm stand und ihn beinahe unschuldig ansah. Verstört und ohne Ziel flackerte sein Blick, wie das Feuer des Kerzenscheins bei einem sanften Hauch. Thranduils Lippen bebten unter seinem flachen Atem.
Farasar sah diese Gefühlsregungen an dem Elbenmann zum ersten Mal, sodass sie nicht umhin kam, ihn fasziniert zu betrachten und in seinem Gesicht zu lesen. Seine Hilflosigkeit überwältigte sie und langsam hob sie die rechte Hand. Sanft fuhr sie mit den Fingerspitzen vom Anfang seiner linken Augenbraue über die Wange bis hinunter zum Kinn und sah ihm dabei in die eisblauen Augen. Sie spürte, wie der Elb die Luft anhielt, fühlte seine Fassungslosigkeit und den Unwillen, sich ihrer Berührung zu entziehen. Behutsam lehnte sie ihre Stirn an seine Brust, schloss die Augen und spürte nach seinem Herzschlag. Hämmernd schlug es gegen die Rippen und pumpte das Blut kochend durch seine Adern. Eng schmiegte sie sich an ihn, fühlte unter ihren Fingerspitzen seine Erregung, als sie sanft mit diesen über seine Brust glitt.
Thranduil keuchte auf und ließ den Kopf auf ihr Haupt sinken. Fest und doch zärtlich zugleich bedeckte er ihr Haar mit sanften Küssen, fühlte, wie die junge Frau das Gesicht zur Seite neigte und glitt weiter hinunter. Sein heißer Atem verhielt für einen kurzen Moment an ihrem Ohr und trieb wohlige Schauer über ihre Haut, um schließlich an ihrem Hals zu verweilen. Der Elb zögerte unsicher, doch er spürte auch das vibrierende Erwarten der Va’ari. Sie würde es geschehen lassen. Kostend berührte er ihre Haut und wartete wieder auf Widerstand, doch sie ließ es zu.
Ungestüm jagte die Welle durch seine Lenden, suchte sich mit aller Macht den Weg durch seinen Bauch und kam mit unerträglicher Hitze in seinem Kopf an. Berauscht von diesem Gefühl biss er ihr in den Hals, ohne weiter nachzudenken.
“Thranduil!“, stöhnte Farasar gurrend auf und sofort ließ der Elb von ihr ab.
“Verzeih mir! Es war nicht meine Absicht… Ich…”, sah er sie entsetzt an und wäre am liebsten davongelaufen, doch schon spürte er ihre Hand in seinem Nacken, welche ihn sanft hinunterzog. Noch einmal sah er das Feuer in ihren Augen, um sich dann den weichen Lippen hinzugeben, welche ihm den Atem nahmen. Leidenschaftlich legte er seine Arme um die junge Frau und presste sie fest an sich. Sie musste seinen Willen in diesem Moment spüren, dessen war er sich wohl bewusst, doch er kam nicht gegen das Verlangen an, auch auf die Gefahr hin, dass Farasar vor ihm floh…
Die Va’ari blieb.
**
Er hatte genug gesehen. Genug, um eine innere Raserei in Gang zu setzen, die einem Sturm gleichkam. Gleichzeitig war er überrascht, warum ihn dieser Anblick so aufwühlte, wenn nicht sogar schmerzte. Zunächst wollte es Thorin auf die Begegnung mit Thranduil zwei Tage zuvor schieben, als ihn das Gefühl beschlichen hatte, dass dieser ein dreckiges Spiel mit ihm trieb. Doch ein nicht erklärbares Kribbeln hatte den Zwergenmann befallen. Sanft erst, welches in ihm stetig wuchs und deutlicher wurde, auch wenn er es mit allen Mitteln bekämpfte.
Eng umschlungen standen der Elb und die Va'ari am Waldfluss im Mondlicht und genossen sichtlich die Zweisamkeit. Elben!, spie Thorin das Wort in Gedanken aus, um im nächsten Moment noch einmal hinüber zu blicken. Sie ist kein Elb. Aber was ist sie dann?, konnte er sich keinen Reim darauf machen, welchem Volke er die Wächterin zuschreiben sollte. Sie bewegte sich wie ein Elb und sprach auch so, jedoch mit einer Stimme, die dem Knurren und Brummen eines Zwerges gleichkam. Die junge Frau war kaum größer als Thorin selbst und wäre in der Menschenwelt eher als klein bezeichnet worden. Jedoch bei den Zwergen hätte sich jeder Krieger danach gesehnt, diese stattliche Größe zu erlangen. Das Gesicht konnte eindeutig den Menschen zugeordnet werden. Diese grossen braunen Augen gleich dunklen unergründbaren Seen, die feine zarte Nase und die weichen geschwungenen Lippen…
Es war zu verwirrend und aufwühlend. Thorin rieb sich mit der Hand über die Stirn, bevor er mit derselben über die Augen und das gesamte Gesicht glitt, als könne er somit die Erinnerung wegwischen. Denn trotz des Hasses in Farasars Blick und seinem Unwohlsein in Gesellschaft der beiden Gastgeber, war er gefesselt von ihrer Erscheinung. Jedoch, als er ihr die Stirn geboten hatte und sie beschämt zu Boden sah, hatte er den Moment seiner Stärke und Überlegenheit genossen. Verwirrung und auch Verletzlichkeit waren nur für einen kurzen Moment in ihren Augen aufgeblitzt, bevor sie sich seinem Blick entzog.
Und nun standen sie hier…
Er hätte auf Gandalf hören sollen, welcher ihm geraten hatte, das Lager nicht allein zu verlassen, doch er brauchte Abstand und diese Momente der Stille. Er hatte kein bestimmtes Ziel verfolgt, war einfach nur gelaufen und an der Flussmündung hatte er sich niedergelassen. Nach einiger Zeit war er endlich innerlich zur Ruhe gekommen, welche durch das Entdecken der beiden augenblicklich zunichte gemacht wurde. Er konnte nur noch fasziniert und gleichzeitig angewidert zusehen.
Leise erhob er sich und kämpfte sich durch den halbdunklen Wald zum Lager hin. Die Zwerge und der Zauberer hatten sich dieselbe Stelle ausgesucht, welche sie auf dem Hinweg schon genutzt hatten. Ohne ein Wort setzte er sich an das Feuer und starrte grübelnd in die Flammen, während er die Stirn in beide Hände stützte.
“Dich beschäftigt etwas, Junge?”, fragte Balin, der zu seiner Rechten saß, väterlich besorgt.
Thorin schüttelte abwehrend den Kopf und knurrte, doch dann sah er auf und antwortete leise: “Ich habe sie gesehen. Die Wächterin mit…”, stockte er, “...Thranduil!”
Keiner der Zwerge bemerkte das Zucken in Gandalfs Gesicht bei diesen Worten und um seine eigene Verwirrtheit über Thorins Worte zu verbergen und diese in den Griff zu bekommen, begann er damit, umständlich seine Pfeife neu zu stopfen.
“Was will sie denn mit dem?”, fragte Kili in jugendlichem Zwergenleichtsinn und wurde sogleich mit einem Stoß in die Seite durch seinen Bruder und Dwalins grimmigen Blick bestraft.
“Er ist ein Elb”, räusperte sich Gandalf und hielt einen Moment inne. “Die Elben tragen die Magie und eine unsagbare Lebensdauer von ihrer Geburt an in sich. Diese Voraussetzungen sind natürlich von Vorteil, steigern sie doch die Macht des neuen Wächters.”
Balin lachte leise: “Das meinte Thranduil also mit dem ‘Fest der Liebe’.”
“Hm?”, runzelte der Zauberer die Stirn. “Welches ‘Fest der Liebe’?”, hakte er nach.
Balin zuckte mit den Schultern: “Ja, so sprach er bei unserer Begegnung. Und dass es in seinen Hallen stattfinden würde.”
“Das ist doch noch gar nicht entschieden!”, rief Gandalf überrascht und lauter aus, als er eigentlich wollte, und schon bereute er seine Worte, als er den erstaunten Blick des Zwergenkönigs sah.
“Was ist noch nicht entschieden?”, fragte nun dieser grollend und fordernd.
“Nunja…”, brummte der Alte zerknirscht und wich dem Blick des Kriegers aus, um eilig die Pfeife weiterzustopfen.
Thorin stand auf, ging langsam auf den Grauen zu und stellte sich breitbeinig mit verschränkten Armen vor diesen hin: “Sagt mir, was Ihr wisst!”
Gandalf konnte sich nicht mehr um eine Antwort drücken und erklärte widerwillig: “Die Wächter müssen drei ‘Feste der Seelen’ durchführen, jeweils eines bei den Menschen, Elben und bei den Zwergen. Erst danach darf und muss Farasar sich entscheiden, aus welchem Volk der neue Wächter hervorgehen soll. Sie bringt für alle drei Völker die Voraussetzungen mit und durch den Vertreter des bevorzugten Volkes, wird gleichzeitig die Macht dessen im neuen Wächter gestärkt”, schaute Gandalf in jedes einzelne Zwergengesicht, um die Wirkung seiner Worte zu beobachten. Schließlich nahm ihn Thorins eiserner Blick gefangen und er erwartete stoisch die nächste Frage, die er vermutete, schon zu kennen.
“Voraussetzungen? Aller drei Völker? Wie ist so etwas möglich?”, fragte Thorin und konnte dabei Balins Blick nicht sehen, welcher zusammengezuckt war und nun zähnemahlend in das Feuer starrte.
Gandalf schluckte und sah vor seinem inneren Auge das Abbild Farasars. Leise antwortete er: “Ihre Mutter war die Tochter eines Zwerges und einer Menschenfrau. Ihr Vater ist ein Elb”, blickte er abwartend in des Königs Augen, um den Zeitpunkt der Erkenntnis darin zu sehen. “Schon jetzt ist das Erbe der Elben in ihr sehr stark und man kann es ihr nicht verdenken, wenn sie sich zu Thranduil hingezogen fühlt, zumal sich ihre Liebe zu den Zwergen stark in Grenzen hält, wie wir ja alle bemerkt haben.”
Es hatte selten Fälle gegeben, in denen sich die Völker untereinander mischten, doch es war bereits vorgekommen. Doch dass ein Elb sich mit einem Wesen aus Zwerg und Mensch vereinen könnte, wie es Haledan augenscheinlich getan hatte, schien dem König schwer vorstellbar. Und doch war es Wirklichkeit. Die Wächterin verkörperte alle drei Völker gleichzeitig.
“Nun, werter Gandalf, auch wenn sie das, nach Euren Worten zu urteilen, noch gar nicht kann und darf, so hat sie sich wohl doch schon entschieden. Oder sollte sie nur aus Spaß in den Armen Thranduils gelegen haben?”, fragte Thorin eisig und mit dunklem Blick. “Und selbst wenn sie das Volk Durins erwählen würde, wäre ich mir an ihrer Stelle nicht so sicher, dass sich nur einer von uns zu ihr legen würde!”, zischte er verächtlich.
Nicht irgendeiner, Thorin, dachte Gandalf, sondern du. Nachdenklich und wortlos sah er dem König hinterher, welcher sich störrisch umgewendet und auf seiner Schlafstatt niedergelassen hatte. Des Zauberers Blick fiel wie zufällig auf Balin und verweilte einen Moment, als der Krieger fragend aufschaute und die Augen zusammenkniff. Kaum merklich nickten sie sich zu, wissend und fürchtend.
**
Fünf Tage nach Abreise der Zwerge waren sie aufgebrochen, nachdem Haledan und Farasar die Zwillingsrappen bepackt hatten mit etwas Proviant und Wechselkleidung. Auch die feinen Gewänder für die Zeremonie waren gut verstaut, ebenso einige heilige Gegenstände.
Gemächlich schritten die Hengste mit ihren Reitern den langen Weg hinauf vor die Tore des Erebor. Zu beiden Seiten beobachteten diese das geschäftige Treiben der Kleingewachsenen. Die meisten von ihnen waren mit den Vorbereitungen des Festes beschäftigt und blickten oftmals gar nicht erst auf, um sich nicht von ihrer Arbeit ablenken zu lassen. Doch jene, die einen Blick hinauf zu den Ankömmlingen wagten, erstarrten und folgten ihnen mit neugierigen Blicken. Man konnte den Zwergen ansehen, dass sie über das ungleiche Paar staunten, vermochten sie es doch nicht, die junge Frau ihrem Aussehen nach zu beurteilen, während Haledan eindeutig als Elb zu erkennen war.
Fasziniert nahm Farasar dieses Schauspiel in sich auf. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viele Zwerge in friedlichen Zeiten gesehen, lachend und schwatzend, aber auch schimpfend und fluchend. Ihr gefielen die stattlichen Männer mit den verschiedenen Arten von Frisuren und Bärten, welche oftmals wild und furchteinflössend ihre Träger zierten. Doch erblickte sie auch feine Kunstwerke, sauber geflochtene Zöpfe, die gehalten wurden von edlen Perlen. Die Grundfarben der Kleidung waren meist in schwarz, rot und grün gehalten, wobei auch die unterschiedlichsten Brauntöne auszumachen waren.
Doch das Verwirrende für Farasar war, dass sie die wenigen Frauen in dieser Gemeinschaft nur an deren langen Röcke erkennen konnte. Die derben aber freundlichen Gesichter der Zwergendamen erschienen ihr im ersten Moment alle gleich - langes kräftiges Haar auf dem Kopf und Bartwuchs im Gesicht von dezent bis ungestüm wuchernd. Stirnrunzelnd rief sie sich das Antlitz ihrer Mutter ins Gedächtnis. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass diese nur ansatzweise Behaarung darin besessen hätte.
Ein ungutes Gefühl zog in ihr auf. Sollten damals auch Frauen gekämpft haben? Farasar war selbst noch ein halbes Kind gewesen, als sie ihre Mutter auf dem Schlachtfeld fand, und sie hätte nicht sagen können, ob die vielen Leichen um sie herum männlich oder weiblich gewesen waren. Die Erkenntnis überrollte die Va'ari schlagartig. Thorgunn wäre also nicht die einzige Frau gewesen, welche den Männern im Krieg zur Seite stand. Beschämt blickte sie auf ihre Hände, welche die Zügel hielten.
Während sie ihren Gedanken nachhing, hatten sie das Ende des Weges erreicht und überquerten nun die breite Brücke, welche von zwei übergroßen steinernen Zwergenstatuen flankiert wurde, und stiegen ab. Zu Ihrer Überraschung wurden sie bereits erwartet.
“Willkommen im Erebor”, begrüßte der Zwergengreis die Wächter erfreut und dennoch konnte er seine Verlegenheit nicht verbergen. Sein Gesicht erstrahlte in demselben Rot wie seine Kleidung.
“Balin, es freut mich, Euch wiederzusehen”, umarmte Haledan den Mann, sämtliche elbische Zurückhaltung vergessend, verband ihn doch mit dem Zwerg etwas, das keiner wußte. Es war lange her, dass er den Berg der Zwerge aufgesucht hatte, da die Grüfte tief im Erdreich ein trauriges Geheimnis bargen.
Auch Farasar war von ihrem Hengst abgestiegen und überließ die Zügel einem rothaarigen Zwerg, welcher sich sogleich um das Abladen und Versorgen kümmerte. Unschlüssig blieb sie stehen und verschränkte wartend die Hände hinter ihrem Rücken.
“Ich hoffe, Eure Reise war angenehm”, wendete sich Balin nun an beide Wächter und lächelte zufrieden, als diese nickten. “Verzeiht mir”, sprach er leise weiter, “wenn ich Euch hier vor den Toren abfange, doch es gibt da etwas, das Ihr wissen solltet.” Peinlich berührt und sich innerlich windend strich sich der Alte durch den Bart.
“Ihr tragt Sorge in Euch, Meister Zwerg. Sagt, was ist geschehen?”, wollte Haledan mit zusammengezogenen Augenbrauen wissen.
Betrübt schaute Balin auf: “Thorin. Er hat sich verändert.”
Augenblicklich sahen Vater und Tochter sich an: “Die Seelen.”
“Seit wann suchen Sie ihn auf, Balin?”, beugte sich der Elb zu dem Weißhaarigen hinunter und legte eindringlich die Hand auf dessen Schulter.
Der Greis seufzte auf: “Seit geraumer Zeit. Sie kamen schon, noch bevor wir Euch aufgesucht hatten.”
Fassungslos starrte Haledan zu der Va’ari, welche schuldbewusst den Kopf senkte. Sie brauchte nichts zu sagen, ihr Vater erkannte umgehend, dass sie davon wusste. Enttäuscht von ihr wendete er sich wieder an Balin: “Bringt uns zu ihm. Vielleicht können wir helfen.”
Gequält lächelnd nickte der Zwergenmann und ging voraus: “Kommt!”
Gemeinsam schritten sie durch das große steinerne Tor, durchquerten die Eingangshalle und nahmen die Stufen hinauf zum Thronsaal. Kribbelnde Wellen schoben sich über Farasars Haut, spürte sie doch ein tiefes wohliges Gefühl, welches sich bei dem Anblick des Berginneren in ihr ausbreitete. Obwohl sie den Erebor noch nie besucht hatte, konnte sie keine Fremdheit empfinden. Eher noch, dass sie nach langer Zeit nach Hause kam. Das Gestein schien sie regelrecht zu empfangen nach einer Ewigkeit der Abwesenheit.
Schon von weitem erkannte Haledan den Grauen Zauberer und Dwalin. Thorin jedoch saß zusammengesunken auf seinem Thron und starrte mit Wahnsinn in den Augen vor sich hin. Der Elb nahm die Aura des Königs bereits in einiger Entfernung war und sah hilfesuchend zu seiner Tochter, denn er selbst würde dem Zwerg nicht helfen können. Die Macht, welche von diesem Besitz ergriffen hatte, war für ihn nicht fassbar. Zugang zu ihr hatte nur die Va’ari.
“Endlich, mein Herr Haledan”, eilte Gandalf auf den Elb zu, “Ihr seid da.” Höflich verneigte sich der Alte, während der Wächter sogleich wissen wollte, was geschehen war.
Farasar hörte nicht hin und starrte gebannt auf den Zwergenkönig, zu dessen linker Seite der glatzköpfige Krieger mit besorgter Miene stand. Vorsichtig lief sie auf Thorin zu und hörte nicht, wie ihr Vater sie leise rief und Balin die Luft anhielt. Sie bemerkte nicht, wie der Graue noch eine Hand nach ihr ausstreckte, um sie zurückzuhalten. Sah nicht den grimmigen Gesichtsausdruck in Dwalins Gesicht.
Sie fühlte. Alles in ihr war darauf ausgerichtet, die Schwingungen um den Schwarzhaarigen aufzunehmen. Schlieren in dunklem Gelb und dreckigem Grün umflossen ihn und fadenähnliches Blau mischte sich mit hinzu.
Langsam hob Thorin den Kopf. Irr und blutunterlaufen blickte dieses sonst glänzende Blau seiner Augen die junge Frau an. Angewidert und wie durch einen leichten Schleier nahm er sie wahr und trotzdem noch klar genug, um ihre Erscheinung genau zu erkennen, welche dieses Mal so anders war als noch im Hain. Sie trug eine Hose aus hellbraunem weichen Leder und dunkle, beinah zwergentypische globige Stiefel. Die beigefarbene Tunika fiel lässig über ihre Hüften, jedoch war sie hochgeschlossen und ohne Verzierungen. Ihm fiel auf, dass Farasar keinen Schmuck trug, nur das lange braune Haar hatte sie locker zu einem Zopf gebunden, dessen Ende ihr über Schulter und Brust hing und bei jeder Bewegung leicht über ihrem Bauch pendelte.
Zögernd blieb die Wächterin stehen und streckte sacht einen Arm nach Thorin aus. Das Gewirr der Schlieren wurde schlagartig schneller, zuckte zurück und stieß wieder hervor.
“Fasst mich nicht an!”, zischte grollend der Zwerg und straffte sich. Er wollte nicht, dass dieselbe Hand, welche den Waldlandelb gestreichelt hatte, ihn berührte. Zufrieden und mit einem gehässigen Grinsen bemerkte er, wie Farasar erschrocken zurückwich.
Endlich sah er der Va’ari direkt in die Augen, welche erkennen mußte, dass Thorin seit einigen Nächten nicht mehr geschlafen haben konnte. Die Ringe unter seinen Augen waren tiefschwarz und die sonst so samten anmutende Haut erschien aschfal. Auch sein kurzer Bart war kraus und ungepflegt. Die einfache Kleidung, welche er am Körper trug, benötigte dringend eine Reinigung.
Der Anblick des einst so stolzen Königs wühlte Farasar tief im Inneren auf. Das Gefühl des Mitleids wuchs in ihr, auch wenn sie versuchte, es mit aller Gewalt niederzuringen. Fest sah sie dem Mann in die Augen und zwang ihn regelrecht, nicht vor ihr zu weichen. Sie sah IHN! In seinen Augen. Es waren nicht nur die Seelen, welche den König peinigten. Dharag hatte ihn heimgesucht und gequält. Zum wiederholten Male und Farasar ergriff eine unsägliche Wut, hatte sich doch der Rote gegen ihre Abmachung erneut an dem Zwerg vergriffen.
Sie versuchte ein zweites Mal, den Schwarzhaarigen zu berühren und flüsterte: “Ich will Euch helfen, Thorin.”
“Ich will keine Hilfe!”, brüllte dieser und stand auf. Krampfhaft hielt er sich am Thron fest und kämpfte um sein Gleichgewicht. Mit tief gesenktem Kopf kam er ihr wankend entgegen. Augenblicklich wichen die Seelen vor ihr zurück, ließen jedoch nicht von dem König ab. Herausfordernd nun und mit erhobenem Kopf sah der Zwergenmann Farasar an.
“Lasst mich Euch helfen. Bitte!”, verlangte die Va’ari leise und eindringlich. Sie musste ihn berühren, um ihn von den Schlieren zu befreien. Musste ihre Magie direkt an ihn weitergeben, um Dharags Bann zu lösen.
“Ihr…sollt…mir…nicht…helfen”, keuchte Thorin und feinste Tropfen Speichel flogen von seinen Lippen. Direkt vor Farasar brach er mit flehendem Blick zusammen. Blitzschnell war sie zur Stelle und fing den Schwarzhaarigen auf. Farasar schrie. Der Moment, in dem sie Thorin berührte, brach den Zauber, welcher in befallen hatte. Augenblicklich fühlte sie den Schmerz der Körperlosen und die Wut des Roten. Stöhnend gingen sie gemeinsam zu Boden.
Doch noch etwas brach sich Bahn. Das Erbe der Zwerge erwachte in ihr, begleitet von einem grauenvollen Wehklagen aus den Tiefen des Berges. Es waren die Zwergenrunen, welche sich tiefer eingruben, verformten oder neu eingemeisselt wurden. Wie Feuer brannten sie auf ihrer Haut und ließen sie erbeben. Keuchend und dennoch den König stützend, hockte sie mit ihm auf dem harten Gestein. Sie spürte, wie Thorin in ihren Armen ruhiger wurde, fühlte das Zittern seines muskulösen Körpers und die Hitze seiner Haut. Krampfhaft hielt er sich an einem ihrer Ärmel fest und rang nach Luft.
Endlich konnte er wieder frei atmen und das Erste, was er wahrnahm, war dieser sinnliche Duft des Rhimdolin, welcher in Hülle und Fülle überall im Hain wuchs und an Farasar regelrecht zu haften schien. Wohlige Wärme breitete sich in seinem Körper aus und die Sehnsucht nach Schlaf ließ ihn ergeben werden. Die Wärme und Stärke der jungen Frau taten ihm gut und tief im Inneren gab er sich einen kurzen Moment dieser Wohltat hin.
“Ihr solltet Euch ausruhen”, flüsterte Farasar. “Die Seelen werden Euren Schlaf nicht mehr stören.”
Langsam hob Thorin den Kopf und wollte ihr in die Augen sehen, als er mit seinem Blick an ihrem Arm hängenblieb. Dort, wo er zugepackt und sich festgehalten hatte, war der Ärmel ihrer Tunika ein Stück weit nach oben gerutscht und hatte ihren Unterarm freigelegt. Entsetzt blickte er auf die sonnengebräunte Haut. Er sah sie. Die Runen. Zumindest einen Teil davon. Fassungslos starrte er die schwarzen Zeichen an, um an manchen Stellen frische Spuren zu entdecken und auch wenige Tropfen Blut konnte Thorin erkennen. Ruckartig riss er den Kopf nach oben und sah Farasar ungläubig in die Augen: “Wer seid Ihr?”
Die Va’ari schwieg. Nur seinen Blick konnte sie erwidern. Traurig und dunkel. Sie kämpfte gegen den Schmerz und den Knoten in ihren Eingeweiden, welcher wuchs, je länger sie sich in diesem tiefen Blau verlor. Sie kämpfte gegen das Gefühl, welches sie zu überrollen drohte, war doch das eigentliche Ziel des Seelenwandelns ein ganz anderes. Und Farasar würde sich an die Abmachung halten. Abrupt riss sie sich von Thorin los und erhob sich, um sich auffordernd an Dwalin zu wenden: “Ihr solltet ihn stützen und in seine Gemächer bringen. Allein wird er es nicht schaffen”, sah sie zufrieden, dass der Krieger ohne zu zögern reagierte, sich seines Königs annahm und dennoch besorgt fragte: “Wird er Ruhe finden?”
“Ja”, nickte Farasar, “er hat nichts mehr zu befürchten”, senkte sie gerührt von dieser Fürsorge des Zwergenmannes den Kopf, doch noch einmal kreuzte sich ihr Blick mit dem von Thorin, welcher ihr kraftlos und dankbar zunickte. Das Blau seiner Augen funkelte wieder und kein Hass war in ihm auszumachen. Nur unendlich viele Fragen schienen den Mann aufzuwühlen und auch die Zweifel, ob er wirklich die Antworten darauf hören wollte.
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Das Blitzen ihrer dunklen Augen sah er nur kurz, aber überdeutlich. Die Welle, welche prompt durch seinen Körper jagte, ließ ihn erschauern und gleichwohl fühlte er den Schub an Kraft, den seine Muskeln erhielten. Diese junge Frau gab ihm ein Gefühl des Friedens und der inneren Ruhe, auch wenn er sich das in diesem Moment noch nicht eingestehen wollte. Doch er fühlte es. Und dieses Empfinden, welches so warm und zufrieden sein Herz ausfüllte, wollte er mitnehmen in den Schlaf.
Gedankenversunken, die Stirn in leichte Falten gelegt, sah Farasar den beiden Zwergen hinterher: Schlaf gut, Thorin. Du wirst deine Kraft noch brauchen.
**
Aufgewühlt lief der Elb in seinem Gemach umher, in welchem ihn die Zwerge untergebracht hatten. Es war ein stattlich eingerichteter Raum mit viel Platz und jedem nur erdenklichen Komfort für dessen Gast. Haledan hatte keinen Blick dafür, beschäftigen ihn doch ganz andere trübe Gedanken und ließen ihn nicht zur Ruhe kommen.
“Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, Gandalf. Sobald sich Thorin von den Strapazen erholt hat, werden wir die Seelen wandeln lassen”, blieb der Wächter plötzlich stehen und sah den Grauen an.
“Was ist mit Eurer Tochter?”, fragte dieser zweifelnd. “Wird Farasar sich so gut unter Kontrolle haben, dass sie sich darauf konzentrieren kann?”
Haledan lachte verbittert auf: “Um ihre Konzentration mache ich mir keine Sorgen. Diese wird besser sein, als wir uns das wünschen.”
“Wie meint Ihr das?”, wollte Gandalf wissen. Die Furcht vor der Antwort ließ ihn seinen Stab fester umkrallen.
“Es waren nicht nur die Seelen, die den Zwerg befallen haben”, flüsterte Haledan erschüttert. “Eine viel größere Macht hat sich offenbart. Eine Macht, zu der nur Farasar Zugang hat. Und dass dies so ist, beunruhigt mich zutiefst. Es dürfte nicht sein.”
“Was dürfte nicht sein?”, hakte der Zauberer mit zusammengekniffenen Augen nach.
“Dass der Rote den Weg zu Thorin gefunden hat”, rief der Elb bebend aus und schritt auf Gandalf zu. “Dass der König zu lange gewartet hat, ist unbestritten und dies können wir auch nicht ändern, doch Dharag dürfte nicht in dieser Welt sein. Er muss einen Weg gefunden haben, hierher zu gelangen.”
“Ihr glaubt…?”, beendete Gandalf den Satz nicht und schaute dem Wächter nur suchend in die Augen.
“Ich weiß es nicht”, seufzte der Elb auf, ließ die Schultern hängen und wendete sich ab, um seinen Weg durch den Raum wieder aufzunehmen. “Doch”, flüsterte er, “etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen. Farasar hat etwas in Bewegung gesetzt und ich kann nicht ergründen, wann und warum sie dies getan hat.”
Der Graue überlegte und er spürte die Furcht vor der in ihm aufkommenden Frage, welche einer Unterstellung gleichkam: “Sollte ihr Hass wirklich so groß sein, dass sie dem Roten in die Hände spielen würde? Das kann ich mir nicht vorstellen”, schüttelte Gandalf den Kopf. “Ihre Entscheidung scheint sie doch schon längst getroffen zu haben”, fügte er leise hinzu und senkte den Kopf.
“Was sagt Ihr da?”, fuhr Haledan aufbrausend herum und wieder einmal ließ seine elbische Beherrschtheit zu wünschen übrig.
Windend unter dem Blick des Elbs antworte der Graue: “Auf unserer Rückreise zum Erebor hat Thorin sie beobachtet. Farasar traf sich mit Thranduil des Nachts und gewisse Berührungen”, stockte er und schluckte, “waren wohl recht eindeutig.”
“Mithrandir! Ist sich der König da wirklich sicher? Könnte er sich nicht getäuscht haben?”, kam der Wächter entsetzt auf den alten Mann zu und fasste diesen bei den Schultern.
“Mellon, warum sollte sich Thorin so etwas ausdenken? Dazu hat er keinen Grund. Zumal er in dem Moment noch nicht einmal die Kenntnis davon hatte, welche Entscheidung Eure Tochter treffen muss.”
“Um vielleicht Thranduil zu ärgern?”, fragte Haledan leise und schon schalt er sich selbst einen Narren ob diesem Einfallsreichtum.
Gandalf schüttelte gequält lächelnd den Kopf: “Der Zwerg mag zwar stur und verbohrt sein, aber für diese Art und Weise ist selbst er sich zu fein. Wenn Thorin gegen den Elb angehen wollte, dann würde er dies direkt und mit scharfer Klinge erledigen.”
Haledan nickte nachdenklich vor sich hin. Krampfhaft rieb er die Handflächen gegeneinander und schritt erneut eilig in dem Gemach auf und ab. Schließlich blieb er stehen und sah den Grauen hilfesuchend an: “Was soll ich tun? Wenn Farasar wirklich etwas planen sollte, dann wird dies zum Fest geschehen. Wenn Dharag wirklich…ich meine…Gandalf, ich habe keine Macht gegen ihn! Und auch mit Euch zusammen werde ich es nicht schaffen, ihm Einhalt zu gebieten.”
“Frau Galadriel?”, fragte der Zauberer vorsichtig und sah das Entsetzen in des Elbs Augen. “Zu dritt könnten wir es bewerkstelligen.”
Verzweifelt schüttelte Haledan den Kopf: “Auch wenn sie mir ihren Segen damals gab, so bin ich mir dennoch bewusst, dass sie meine Verbindung zu Thorgunn nicht guthieß. Und nun habe ich die Konsequenzen zu tragen. Ich habe eine Va’ari gezeugt, welche mir entglitten ist auf ihrem Weg des Hasses. Und ich habe es nicht bemerkt. Gandalf, Galadriel wird mir nicht helfen.”
“Oh”, knurrte der Alte leise vor sich hin, “da wäre ich mir nicht so sicher. Frau Galadriel wird es kaum zulassen wollen, dass Farasar eine Verbindung mit dem roten Fürsten eingehen wird. Haledan, Ihr selbst seid bereits auf dem Weg des Abschieds und diese Welt braucht eine freie Wächterin.”
“Würdet Ihr…?”
“Ja. Ich helfe Euch und werde Frau Galadriel aufsuchen. Und Ihr”, räusperte sich Gandalf verlegen, “Ihr versucht, Eure Tochter doch noch zur Vernunft zu bringen, wenn es denn wirklich so sein sollte, wie Ihr befürchtet.”
Haledan nickte: “Dann kommt. Ich werde Euch ein Stück begleiten und Farasar eben aufsuchen. Je eher ich mit ihr rede, umso größer ist vielleicht meine Chance, sie doch noch umzustimmen.”
Gemeinsam verließen die Männer den Raum und begaben sich in Richtung Ausgang. Vor Farasars Gemach sahen sie sich noch einmal lange und fest in die Augen, die Sorgen des anderen erkennend und gleichzeitig mit einem Lächeln aufmunternd, um sich schließlich wortlos zu verabschieden.
Leise öffnete Haledan die Tür und sah sich im Halbdunkel um. Nur eine Kerze erhellte den ebenfalls komfortabel eingerichteten Raum und der Elb brauchte eine Weile, um seine Tochter zu entdecken. “Farasar”, keuchte er auf, als er sie endlich sah, und eilte auf sie zu.
Zusammengesunken hockte die junge Frau in einer Ecke und hielt die angezogenen Knie fest umschlungen, auf denen ihr Kopf ruhte. Lose und wild hingen die dunklen Locken an den Seiten herunter.
“Du zweifelst?”, flüsterte Haledan und sank vor seiner Tochter auf den Boden, doch sie sah nicht auf. “Noch kannst du es verhindern.”
“Nein, Vater, es ist zu spät. Dharag wird Thorin holen und keine Macht wird ihn aufhalten können”, kam es dunkel zur Antwort.
Der Elb stöhnte entsetzt auf: “Also doch! Ich hatte es richtig vermutet”, ließ er kraftlos die Schultern hängen und schwieg. Was hätte er auch sonst sagen sollen?
Langsam blickte Farasar auf: “Ich habe dem Roten mein Wort gegeben, dass ich ihm Thorin überlasse. Wenn ich dieses breche, wird er des Königs Väter nicht ziehen lassen. Und du weißt, was das bedeutet.”
Fassungslos starrte Haledan seine Tochter an: “Du wolltest alles in deiner Macht stehende tun, um Rache zu nehmen. Egal, wie du dich jetzt entscheidest, dieser fragliche Genuss wird dir zuteil. Entweder opferst du Thorin oder seine Ahnen”, stand der Elb entrüstet auf und ging einige Schritte rückwärts. Wütend sah er die Va’ari an: “Glaubst du, dies macht deine Mutter wieder lebendig? Glaubst du, sie wäre einverstanden damit, was du den Zwergen antust? Das Blut dieses Volkes floss durch ihre Adern. Thorgunn ist für die Zwerge gestorben aus Liebe und nicht, weil sie sich verpflichtet fühlte. Du trittst ihre Liebe mit Füßen, Farasar!”
Wutentbrannt sprang die Va’ari auf und rief: “Liebe? Wo war Thrains Liebe, als Mutter diese am meisten gebraucht hat? Wo war sein starker Arm, als sie fiel? Diese Zwerge haben ihr nichts als Schmerz und Qual gebracht!”, stand sie mit zu Fäusten geballten Händen vor ihrem Vater und funkelte ihn mit tiefschwarzen Augen hasserfüllt hat.
“Bei allen Valar, Kind! Sie wusste von Beginn an, dass sie ihre Liebe nicht leben durfte. Sie wusste, als sie sich mit Thrain einließ, dass sie keine gemeinsame Zukunft haben werden. Und sie hat ihren Frieden damit geschlossen. Ihr Herz gehörte all die Jahre diesem Mann, auch als ich längst in ihr Leben getreten war. Ich wusste es und ich habe es akzeptiert. Als du geboren wurdest, sah deine Mutter, was in dir steckt. Du gehörst ebenso zu diesem Volk wie sie. Das versöhnte Thorgunn mit dem Verzicht auf Thrain und sie erbrachte dir alle nur erdenkliche Liebe, die sie mir nur teilweise geben konnte. Ich wußte, dass der Tag kommen würde, an dem der Ruf der Zwerge stärker werden würde. Ich ließ sie gehen…”, brach Haledan schließlich bebend zusammen. Heftiges Weinen schüttelte den alten Elb, brachen sich doch Gefühle in ihm Bahn, die er all die Zeit unterdrückt hatte.
Erschrocken blickte die junge Frau auf das Schauspiel, welches sich ihr bot. So hatte sie ihren Vater noch nie erlebt, kniete sich vorsichtig neben diesen nieder und nahm ihn in die Arme, welcher mit tränenüberströmten Gesicht zu ihr aufsah. Suchend blickte Haledan in die Augen seiner Tochter. Feuchtes Glitzern entdeckte er darin. Das kalte Schwarz war gewichen und hatte dem lebendigen Braun den Platz überlassen. Kaum hörbar hauchte er: “Ich konnte nicht ahnen, dass du ihr folgen würdest. Alles, was ich noch tun konnte, war, dich dort fortzuholen. Nach Hause.”
“Wir haben nie darüber gesprochen, Ada. Warum?”, schüttelte Farasar betroffen den Kopf und versuchte, die Bilder von damals zu unterdrücken, welche sich schlagartig in ihrem Kopf ausbreiteten.
“Ich konnte es nicht. Ich hatte gehofft, du würdest vergessen, was du gesehen hast. Du warst noch so jung, Kind”, legte er zitternd seine Hände in den Schoß und atmete tief durch. “Farasar, ich weiß, dass Thorin bei deiner Entscheidung keine Rolle mehr spielt, fühlst du dich doch in Thranduils Armen wohler. Dennoch, nimm dem Zwerg nicht sein Recht auf Leben. Er kann am allerwenigsten etwas dafür, dass deine Mutter für sein und auch ihr Volk in den Tod gegangen ist.”
“Thranduil? Woher….”, keuchte die Va’ari erstaunt auf.
“Du wurdest beobachtet in jener Nacht. Und auch wenn ich wütend deswegen bin, so kann ich dich dennoch gut verstehen. Ich wünschte nur, du hättest bis nach dem Fest mit diesem Schritt gewartet", sah Haledan betreten auf den Boden. Das Wissen darum, in welchen Armen seine Tochter lag, war ihm unangenehm. Es ging ihn nichts an und er fühlte sich unwohl dabei, dieses Thema überhaupt angesprochen zu haben.
“Vater”, legte Farasar beruhigend eine Hand auf des Elbs Schulter, “der letzte Schritt steht mir noch bevor. Niemals hätte ich mich mit Thranduil vereint, noch bevor meine Aufgabe abgeschlossen ist.”
“Thorin denkt, du hast…”, warf Haledan ein.
“Thorin? Er war es also, der mich beobachtet hat?”, lachte Farasar verbittert auf. “Nein. Da denkt er falsch. Er hat nicht alles gesehen", erhob sie sich seufzend und reichte dem Vater die Hand, um ihm auf die Beine zu helfen. Liebevoll wischte sie ihm die Tränen aus dem Gesicht und sah ihn ernst an: “Es war ein Kuss, Vater, das gebe ich zu. Eine Berührung. Vielleicht auch zwei. Doch mehr ist nicht geschehen.”
Haledan nickte langsam: “Es ist deine Sache. Ich mische mich in deine Entscheidung nicht ein, bin ich doch froh, dass nicht noch ein Mensch um deine Gunst kämpfen muss”, lächelte er gequält und war erleichtert, als dieses von seiner Tochter genauso verkrampft erwidert wurde.
“Du solltest jetzt gehen und dich ausruhen, Ada. Ich muss nachdenken”, bat Farasar leise.
Fest sahen sich die Wächter in die Augen und sacht strich der alte Elb der Va’ari über die Wange: “Lass Thorin leben. Bitte!”
Farasar schwieg.
**
Langsam, ganz langsam wurde er wach. Träge sammelten sich seine Gedanken und versuchten sich zu ordnen. Nur mühsam kam die Erinnerung wieder, was geschehen war.
Sie hatte ihn befreit. Befreit von dem Übel, welches ihn befallen hatte. Als sie ihm Halt gab, konnte er seine Wut nicht mehr aufrechterhalten. Als sie bedingungslos an seiner Seite war, im Moment seiner Schwäche. Aller Ekel vor ihrer Berührung, welche auch Thranduil bereits gespürt hatte, war in dem Moment verschwunden, als er ihre Wärme wahrgenommen hatte.
Thorin hing dem Gedanken nach und holte sich jeden Augenblick des Geschehens ins Gedächtnis zurück. Selbst ihr Geruch war allgegenwärtig…
Er roch sie! Hier. Jetzt. Das war keine Erinnerung. Es geschah in diesem Moment und in diesem Raum. Er musste sehen, was vor sich ging und wollte den Kopf anheben. Mit eisigem Entsetzen erkannte er seine Hilflosigkeit, denn weder konnte er die Augen öffnen noch sich bewegen. Zu oft in letzter Zeit wurde er von diesem Zauber befallen, lähmte ihn und machte ihn rasend vor Angst. Sie sagte, es wäre vorbei. Dass sie nicht wiederkommen, schrie es in Thorins Kopf und die Enttäuschung über ihre Lüge vermischte sich mit der aufkommenden Panik zu einem heißen Knoten tief in seinem Inneren.
"Ich habe Euch nicht belogen, Thorin", knurrte wohlig Farasars Stimme durch den Raum.
Der Schwarzhaarige hielt die Luft an, als er sie wie durch einen dichten Nebelschleier hörte, welcher weit entfernt und doch so nah war. Er konnte sie nicht sehen und wusste nicht, was um ihn herum geschah. Nur der Duft des Rhimdolin wurde stetig stärker und Thorin fühlte, wie sich jemand näherte und seinen nackten Körper mit intensivem Blick betrachtete. Ein leises Rascheln vernahm er neben dem Bett, Stoff fiel zu Boden und noch eh er begriff, fühlte er warme Fingerspitzen, welche über seine Brust strichen, die Konturen seiner Muskeln nachzogen und bis zum Bauchnabel hinabglitten. Keuchend sog er die Luft ein und spürte, wie sich seine Haut unter diesen Berührungen zusammenzog. Die Panik wich aus seinen Gliedern, jedoch das Gefühl der Unsicherheit blieb. Er war ihr ausgeliefert und dieses Wissen darum trieb ihn allmählich an den Rande des Wahnsinns, welcher sich aus Angst und Erregung mischte.
"Habt keine Furcht", raunte sie sacht über Thorins zitternde Lippen, die sich leicht öffneten, als er ihren sanften Atem über seinem Gesicht spürte.
“Farasar”, keuchte er und fieberte der Berührung ihres Mundes entgegen. Das plötzliche Spüren dieser weichen Wärme, welche sich liebevoll festsaugte, war tausendfach intensiver, konnte er sich doch nur auf seine Wahrnehmung verlassen. Zärtlich stieß ihre Zungenspitze an die seine und spielte auffordernd mit ihr. Hungrig öffnete Thorin den Mund und stöhnte atemlos in dieses nasse Verlangen.
Das Bett unter ihm bewegte sich und sacht wurde die Decke, welche seine Beine bedeckte, hinfortgezogen. Heiße Haut berührte die seine und nahm ihn gefangen, während zärtliche Bisse seinen Hals hinabwanderten. Thorin spürte die feste Erregung Farasars über seine Brust gleiten. Wie Feuer hinterließ diese eine sengende Spur auf seiner Haut. Zu gerne hätte er sie in seinen Händen gehalten, gestreichelt und gekostet, doch der unsichtbare Bann hielt ihn weiterhin fest. Er konnte nur warten, während jede Faser seines Körpers zum Zerreisen gespannt war.
"Lasst Euch fallen, Thorin. Fühlt und genießt”, hauchte Farasar und zog nasse Spuren über die feinen schwarzen Haare auf seiner Brust. Knurrend zuckte er zusammen, als er das Knabbern ihrer Zähne an seinen Brustwarzen spürte, welches schlagartig heiße Wogen der Lust durch seinen Körper ziehen ließ. Sich windend drückte er den Kopf in das Kissen und reckte sich den feuchten Liebkosungen entgegen.
Farasars Hitze schob sich weiter hinunter, rieb sich an seiner erwachten Macht und ließ ihn unruhig aufwimmern. Er wollte es. Egal, was auch war, er wollte endlich eintauchen in dieses glühende Begehren, welches die ersehnte Erlösung versprach.
Das dunkle genüssliche Brummen der beiden vermischte sich, als Farasar den Schwarzhaarigen in ihren Besitz nahm. Tief nahm sie ihn in sich auf, beugte sich zu ihm hinunter und nahm ihm fordernd die Luft zum Atmen. Wild hingen ihre Haare auf Thorin herab und setzten streichelnd seine Haut in Flammen bei den schneller werdenden Bewegungen ihres Körpers. Keuchend gab er sich ihrem Vibrieren hin, trieb mit rasender Geschwindigkeit stöhnend dem Beben entgegen. Kehlig knurrte er auf, als der süße Schmerz durch seine Lenden fuhr, krallte seine Finger in die Kissen und bäumte sich nach oben - er konnte sich wieder bewegen. Im selben Moment riß Thorin die Augen auf, fühlte die nasse Wärme, die sich ergoss, und erstarrte.
Er war allein. Nach Luft ringend und mit hämmerndem Herzen richtete er sich auf. Fassungslos sah er sich mit verhangenem Blick in seinem Gemach um, bevor dieser an ihm hinunterglitt. Noch immer hatte er dieselben Sachen an, mit denen Dwalin ihn ins Bett gelegt hatte. Thorin war zu schwach gewesen, um den Rest des Weges selbständig zu gehen. Noch immer war er ungewaschen und stank erbärmlich. Der Duft der Va’ari war nicht einmal ansatzweise zu erahnen.
Stöhnend legte er das Gesicht in seine Hände und war entsetzt über sich und das soeben Geschehene. Er hatte geträumt, so intensiv, dass er die Spuren nicht verheimlichen zu konnte, welche von Hose und Tunika langsam aufgesogen wurden.
Thorin zuckte zusammen beim Hören des Klopfens an der Tür und einen Augenblick später schob sich Balin leise in den Raum.
“Oh”, rief der Greis überrascht aus, “ich wollte dich nicht wecken, nur nach dir sehen”.
Der Schwarzhaarige schmunzelte: “Du hast mich nicht geweckt, ich war bereits munter.”
“Aber erst kurz, wenn ich dich nach deinem Aussehen beurteile”, lächelte Balin freundlich und setzte sich auf die Bettkante. Eindringlich sah er den Freund an: “Du hast geträumt. Waren sie wieder da?”
“Nein”, schüttelte der Zwerg den Kopf und rutschte neben den Alten. “Nur geträumt”, räusperte er sich verlegen und spürte Balins Blick, welcher sich langsam senkte.
“Sie scheint dir zu gefallen?”, fragte der Krieger leise und konnte sich ein wissendes Grinsen nicht verkneifen.
“Freund, ich mag zwar alt sein, aber noch nicht tot”, knurrte Thorin.
“Sicher”, kicherte Balin verschmitzt auf, “vor allem er noch nicht”, und nickte augenzwinkernd nach des Schwarzhaarigen Mitte. Erleichtert sah er Thorins breites Lachen auf dessen Gesicht und atmete befreit auf: “Es tut gut, dich so zu sehen. In letzter Zeit war es unerträglich, dich so leidend zu erleben. Das hält mein altes Herz nicht mehr aus.”
Ernst und schweigend sahen sich die Männer lange an. Sie wussten beide, dass die nächsten Tage nicht viel fröhlicher werden würden. Etwas lag in der Luft, das konnten sie fühlen, und viele Fragen waren noch unbeantwortet.
“Na komm, Junge, iss erst. In der Zwischenzeit kümmere ich mich um heißes Wasser. Du musst unbedingt in den Zuber. Das hält kein Zwerg aus in deiner Nähe”, stand Balin naserümpfend auf, holte das mitgebrachte Bündel hervor und drückte es Thorin in die Hände. Wenige Augenblicke später hörte er diesen leise schmatzen und befüllte den Bottich mit dampfendem Wasser. Gedankenversunken ging Balin seiner Arbeit nach und schaute auch nicht auf, als der Schwarzhaarige sich entkleidete und tief brummend in die Wohltat des Bades abtauchte.
Grübelnd lehnte sich der Zwergenkönig zurück und beobachtete die leichten Wellen auf den Wasser. Eine Frage ließ ihn nicht los und er hatte das Gefühl, Balin wartete regelrecht darauf, diese gestellt zu bekommen. Zweimal öffnete Thorin den Mund und klappte ihn wieder zu, bevor er schließlich beim dritten Mal endlich einen Ton hervorbrachte: “Was hat sie gegen uns Zwerge, Balin? Warum hasst sie mich? Welche Verbindung besteht zwischen ihr und unserem Volk und was ist geschehen, dass es im Hass geendet ist?”
“Ohohoh”, hob der alte Mann abwehrend die Hände, “so viele Fragen auf einmal, Thorin”, stand Balin kopfschüttelnd vor dem Zuber und sah den Freund nachdenklich an.
“Du weißt mehr als ich. Du kennst die Geschichte. Erzähl sie mir”, bat der Schwarzhaarige leise.
“Die ganze Wahrheit?”, fragte der Krieger unsicher und blickte betreten zu Boden.
“Ja”, nickte Thorin und ahnte, etwas zu erfahren, was ihm nicht gefallen würde.
“Also gut”, nahm sich der Weißhaarige einen Schemel, stellte ihn neben den Zuber und setzte sich. Tief atmete er durch und begann leise: “Noch bevor Thrain deine Mutter kennenlernte, liebte er eine andere Frau und wollte diese auch heiraten, doch Thror verweigerte ihm das Einverständnis. Und das aus gutem Grund, war die junge Dame doch eine Mischung aus Zwerg und Mensch. Niemals hätte Thror einer Verbindung dieser beiden zustimmen können. Dies wussten beide, doch ihr brach es das Herz und sie floh in die Wälder. Thrain nahm deine Mutter zur Frau, welche er innig liebte, daran besteht kein Zweifel. Doch er konnte Thorgunn nicht vergessen. Ein Stück seines Herzens gehörte immer nur ihr…”
“Thorgunn?”, zog der König die Augenbrauen zusammen. “Du meinst die Kriegerin, welche in den Grüften des Erebor ihre letzte Ruhe gefunden hat?”
“Ja, Thorin. Diese Thorgunn. Welche dem Ruf der Zwerge in die Schlacht gefolgt ist, obwohl sie dem nicht verpflichtet war”, strich sich Balin verlegen durch den Bart. “Sie ließ ihr Kind zurück, um deinem Vater zu Hilfe zu eilen und für ihn zu sterben. Thrain kämpfte noch und konnte sie nicht halten, als das Licht in ihren Augen erlosch. Ihre Tochter hielt sie, war sie Thorgunn doch heimlich gefolgt…”, schloss Balin die Augen, doch die Bilder gingen ihm nicht aus dem Kopf. Tief durchatmend sammelte er sich: “Ich habe sie gesehen, Thorin. Den Blick in Farasars Augen habe ich nie vergessen. Sie muss damals blutjung gewesen sein und ich glaube, ab diesen Tag hat sie begonnen, die Zwerge zu hassen. Seitdem ist dieser stetig gewachsen und dessen Ergebnis spürst du nun in diesen Tagen.”
Nachdenkliches Schweigen trat zwischen die Männer. Thorin hatte die Knie angezogen und seine Arme um sie gelegt. Verbissen presste er sein Kinn darauf und rieb mit den Zähnen aufeinander, sodass sein Muskelspiel unter den Wangen deutlich zu erkennen war. “Woher weißt du das alles? Ich habe nie etwas über eine verlorene Liebe meines Vaters erfahren”, flüsterte er schließlich und sah dem Zwerg fragend in die Augen.
“Thorgunn stammt aus meiner Sippe”, hauchte Balin und wischte sich mit der Hand fahrig über die Augen, doch der Schwarzhaarige sah noch das feuchte Glitzern darin. Erschüttert und doch gleichzeitig erleichtert darüber, endlich Wissen über die Vergangenheit erlangt zu haben, fragte er: “Wie konnte Farasar das Schlachtfeld unbeschadet verlassen?”
Bebend holte Balin Luft: “Ihr Vater hat sie geholt. Geschützt durch einen Zauber, den er wob. Thorgunn ließen sie zurück. Ich sah die Bitte in Haledans Augen, seine Frau anständig zu begraben. Das haben wir getan.”
“Ja”, nickte Thorin, “erst in Moria und dann holten wir sie hierher. Du hattest mich einst darum gebeten.”
“Ich wollte sie in meiner Nähe haben. Es tut mir leid, Freund, dir nicht eher die ganze Wahrheit gesagt zu haben”, bereute Balin sein bisheriges Schweigen.
Abrupt reckte sich der König empor und griff über den Rand des Zubers nach des Kriegers Hand: “Nein! Dies bedarf keiner Entschuldigung. Ich kann es dir nachempfinden. Jedoch wünschte ich, es eher gewusst zu haben, vielleicht hätte ich ihrem Hass entgegenwirken können.”
“Du?”, lachte Balin gequält auf. “Ausgerechnet du, welcher die Elben scheut wie nichts anderes? Welcher es vor sich hergeschoben hat, den Wächter aufzusuchen und nun mit der Heimsuchung der Seelen leben muss?”
Demütig senkte Thorin den Blick und nickte: “Du hast ja recht. Ich hätte es vielleicht sogar schlimmer gemacht.”
Seufzend stand der Weißhaarige auf und strich sich geschäftig über den Bauch: “Nun weißt du es. Falls du noch Fragen haben solltest, ich stehe dir zur Verfügung, doch jetzt solltest du zusehen, dass du fertig wirst. Das Wasser dürfte langsam kalt werden”, wendete sich Balin augenzwinkernd und innerlich erleichtert ab. Er musste hier raus. Raus an die frische Luft, um wieder Herr seiner Gedanken und Gefühle zu werden.
Nachdenklich und aufgewühlt blieb Thorin zurück.
**
Wie es dem Wunsch der Zwerge entsprach, wurde das Fest bei Anbruch der Dunkelheit vor den Toren des Erebor abgehalten. Hell erhoben sich die Flammen in den wagenradgroßen gusseisernen Schalen ‘gen Himmel und viele kleine Stände waren errichtet worden, an denen geschmaust und getrunken wurde. Lachend und palavernd saß man zusammen und genoss gemeinsam feinsten Tabak.
Die Lautstärke der feiernden Zwerge war bis hinter die dicken Mauern des Berges zu hören, an dessen Eingang die beiden Wächter noch geduldig warteten. Der Ablauf der Zeremonie war im Vornherein besprochen worden und der erste Akt stand unmittelbar bevor, da Gelächter und Gemurmel bereits abebbten und Thorin sich auf einen der umliegenden Felsen gestellt hatte, um eine kleine Ansprache zu halten.
Von weitem konnte Farasar den Schwarzhaarigen sehen, doch sie verstand keines seiner Worte. Nur das dunkle Vibrieren seiner tiefe Stimme drang herüber und löste ein wohliges Gefühl in ihr aus. Stolz stand er auf dem Gestein. Zufrieden und liebevoll sah Thorin auf sein Volk hinab, breitete beim Sprechen die Arme weit aus, um jedem der Kurzgewachsenen das Gefühl zu vermitteln, dass jeder zu dieser großen Zwergenfamilie gehörte. Andächtig sahen die Männer, Frauen und Kinder zu ihrem König auf, nicht ergeben, doch voller Respekt. Sie liebten Thorin auf ihre Art, aufrichtig und stark schlugen ihre Herzen für den einen Mann, welcher sie Jahrzehnte durch Kummer und Leid begleitet und geführt hatte, um schlussendlich wieder in Frieden und Wohlstand leben zu können.
Und wieder einmal schaffte er es, sich ein kleines Stück Sympathie der Va’ari zu ergattern, indem er eben nicht in seiner protzigen Königsrüstung erschienen war. Nicht einmal eine Krone zierte sein Haupt und dennoch war Thorins Anblick edel in der schwarzen Hose und der tiefblauen Tunika, verziert mit feinster silberfarbener Stickerei. Noch vor wenigen Augenblicken war er an ihr vorbeigeschritten und sie hatte seinen Duft aufnehmen können, welcher ihr für einen kurzen Moment die Sinne raubte. Nie zuvor war der Geruch von Gestein und Feuer, gemischt mit dem typisch herben Duft eines Mannes, so verführerisch, um sie genüsslich erschauern zu lassen. Nur flüchtig hatte er sie im Vorbeigehen angesehen und versucht, seine Unsicherheit zu verbergen. Farasar befiel das Gefühl, dass Thorin Angst hatte. Als ob er ahnte, dass in dieser Nacht etwas geschehen würde, was er noch nicht abschätzen konnte.
Wie Feuer zog es durch ihren Körper, als sie sich dessen bewusst wurde, dass des Kriegers letzte Zeit in dieser Welt angebrochen war. Er würde das Aufgehen der Sonne am nächsten Morgen nicht mehr erleben und das Zwergenvolk wäre gezwungen, sich einen neuen König zu erwählen. Die Linie der alten Durins würde noch heute endlich ausgelöscht und der Tod ihrer Mutter nach all der langen Zeit gerächt werden.
“Kind”, hauchte es leise neben ihr, “bitte nicht!”, hatte Haledan seine Tochter aufmerksam von der Seite betrachtet und ihr Mienenspiel beobachtet. Er fühlte die Zweifel in ihr und den heftigen Kampf, den sie ausfocht. Schließlich hatte er das Versteinern ihres Gesichtes gesehen und zitternd brach er innerlich zusammen.
“Es wird geschehen, was geschehen muss, Vater. Ich habe mein Wort gegeben und dies werde ich auch halten”, kam es dunkel und grollend aus Farasars Kehle. “Keine Macht wird mich aufhalten können”, fügte sie drohend hinzu, wendete sich langsam zu dem Elb und sah ihn mit Feuer in den Augen an. Die Va’ari lächelte kalt, als sie Haledans Entsetzen entdeckte, und das Wissen um seine Hilflosigkeit ließ sie zufrieden aufknurren.
“Wir…müssen…gehen”, stotterte der Wächter leise, als Thorins dröhnende Stimme verklungen war, und setzte sich langsam in Bewegung. Am liebsten hätte er das Fest sofort beendet, doch dies konnte er nicht tun, würde es doch schlagartig einen Tumult auslösen und auch das eigentliche Problem wäre dadurch nicht gelöst. Wie ein Tier, welches zur Schlachtbank geführt wurde, fühlte er sich. Besser noch - er lief freiwillig dahin. Und nirgends war Gandalf zu sehen, welcher aufgebrochen war, um Hilfe zu holen.
An einem festgelegten Punkt auf dem Weg blieb die Wächterin stehen und sah ihrem Vater hinterher, welcher sich weiter von ihr und dem Erebor entfernte. Links und rechts des Pfades drängten sich die Zwerge, noch leicht schiebend und dennoch ruhig und friedlich. Nach ungefähr einhundert Fuß blieb der Elb stehen und wendete sich dem Berg zu. Auf ein Zeichen wartend sah er zu Thorin, welcher ihm in diesem Moment zunickte und auch das Gemurmel der Anwesenden nun völlig erstarb.
Auch Farasar bekam dieses Zeichen und augenblicklich senkte sie, leise in fremder Sprache vor sich hinmurmelnd, den Kopf. Fest presste sie ihre Hände, welche sie mit dem geweihten Geschmeide des Hains geschmückt hatte, vor der Brust gegeneinander, bis dieses leise sirrte und in hellem Rot zu glühen begann. Haledan praktizierte dasselbe, jedoch glühten seine Handflächen in zartem Blau. Der Elb zitterte vor Anstrengung, fühlte er doch, dass seine Konzentration nicht die Beste war. Zu viele Sorgen plagten ihn und die Angst schien ihn zu lähmen. Keuchend starrte er auf seine Hände, welche im flackernden Schein des blauen Feuers beinah nicht mehr zu sehen waren, wuchs die lodernde Lichtkugel doch stetig an.
Endlich hatte er es geschafft, dass das Licht tiefblau glühte und ruckartig riss der Elb die Arme auseinander, um diese links und rechts weit von sich zu strecken. Im selben Moment bildete sich zischend ein großer lodernder Lichtbogen über ihm aus, welcher sich torgleich auf dem Boden manifestierte und das Innere wie Wellen auf einem See in der Sonne glitzerte. Gleichzeitig woben sich feinste Schlieren und wuchsen tunnelbildend in Richtung Farasar, an deren Stelle dasselbe Schauspiel zu beobachten war, nur dass das Licht ihres Tores wie heißes Gestein glühte und ebenfalls sich windende Fäden aussendete, welche sich mit dem Lichtspiel der anderen Seite in der Mitte knisternd trafen.
Beeindruckt hielten die Zwerge den Atem an, denn nur wenige von ihnen hatten diesem Fest schon einmal in ihrem Leben beigewohnt. Die meisten kannten den Ablauf nur aus den Erzählungen der Alten, welche selbst schon über zweihundert Jahre alt waren, und somit ging ein tiefes Raunen durch die Menge, als sich die Tore plötzlich öffneten. Augenblicke vergingen, in denen nichts geschah, doch dann, zögerlich noch, schritten die ersten grauen Zwergenschemen aus Farasars glühendem Bogen, welche zunehmend Gestalt annahmen, je näher sie Haledans Licht kamen.
Ein spitzer Schrei zerriss die angespannte Stille, auf den ein weiterer folgte. Zwei Zwergenfrauen gingen an der Seite des flimmernden Tunnels in die Knie und schlugen sich die Hände vor die Münder. Besorgt sprang Thorin von dem kleinen Felsen und trat näher heran, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Er erkannte Sigurd, die alte Weißhaarige, welche ihren Mann Tidun vor vielen Jahren in der Schlacht verloren hatte. Und dieser lief in diesem Moment direkt an ihnen vorbei, lächelte und hob leicht die Hand zum Gruß, bevor er in das verheißungsvolle Blau eintauchte, gefolgt von vielen anderen Zwergen, welches zur Folge hatte, dass sich erfreutes Gemurmel vernehmen ließ.
Thorin sah sich zufrieden um und betrachtete die fröhlichen Gesichter seines Volkes, als dieses die Ahnen ein letztes Mal wiedersah und sich sicher sein konnte, dass sie den langersehnten Frieden finden würden. Tief im Inneren schalt er sich einen Narren, dass er so lange gewartet hatte, ehe er Haledan aufsuchte. Er mochte den alten Elb, in dessen Augen keine Abneigung gegen die Zwerge zu erkennen war. Er bewunderte dessen ruhige Art, den Dingen ihren Lauf zu lassen, ohne persönliches Befinden einfließen zu lassen. Und er war jener Elb, welcher einer Tochter aus Balins Sippe Zuflucht und Sicherheit geboten hatte, aus denen sich schlussendlich Liebe entwickelte.
Ohne es bewusst zu steuern, glitt Thorins Blick zu der Va’ari. Ruhig stand sie da und mit ausgestreckten Armen, das Tor regelrecht in den Händen haltend, aus dem sich Schemen um Schemen hervordrängte. Und wieder fiel ihm die schlichte Schönheit der jungen Frau auf, welche zum wiederholten Male auf jeglichen Schmuck verzichtet hatte. Schwer vielen die dicken dunklen Locken über Rücken und Brust und standen im starken Kontrast zu dem silberfarbenem Elbenkleid aus Seide, so hauchzart und einfach gehalten. Dennoch strahlte sie eine wohltuende Eleganz aus, welche ihm ein leichtes Schmunzeln auf die Lippen zauberte.
Langsam trieb es ihn in Richtung des roten Tores. Tief im Inneren spürte der Schwarzhaarige das Verlangen, in Farasars Nähe sein zu wollen, und konnte sich nicht dagegen wehren. Das Wandeln der Seelen blendete er zunehmend aus, um sich mit allen Sinnen auf die junge Frau zu konzentrieren, welche ihn mehr und mehr mit ihrem Blick gefangen nahm. Schließlich blieb Thorin außerhalb des Tunnels stehen, jedoch nahe genug, um die leichten Schwingungen der Schlieren zu spüren. Er hörte das leise Knistern, welches ihm prickelnde Wellen über die Haut schob und die feinen Haare aufstellen ließ. Er sah nicht, dass die Masse der Seelen abnahm und bemerkte auch nicht das glühende Rot, welches sich hinter Farasar aufbaute. Er konnte nur in ihre Augen sehen und sich dem Drang ergeben, zu ihr zu kommen.
Geht nicht weiter, Thorin Eichenschild, mahnte ihn eine unbekannte Stimme leise. Es wird Euer Tod sein, hörte er nah und eindringlich diese Worte, dass der Bann brach, welcher ihn zu der Wächterin zog. Stirnrunzelnd blickte er sich um, doch er konnte niemanden erkennen. Nur die Zwerge um ihn herum blickten panisch in Richtung des Tores, aus dem niemand mehr hervortrat.
Zwei dunkle Schatten waren hinter dem roten Schleier auszumachen, unkenntlich, aber dennoch zu sehen. Fragend sah Thorin in Farasars Gesicht und konnte nur noch fassungslos in eine hässlich verzogene Fratze starren, deren Augen lichterloh brannten. Nun erblickte er auch den Dämon hinter ihr, welcher ihm bereits in einigen Nächten zuvor erschienen war und ihm unerträgliche Schmerzen zugefügt hatte. Entsetzt wollte der Zwerg zurückweichen, war jedoch nicht imstande, sich nur einen Fingerbreit zu bewegen. Der Krieger spürte die Kraft, welche ihn in den Tunnel hineinzog, um sich, von eisigem Gelächter begleitet, hinter ihm zu schließen. Mit vor Angst aufgerissenen Augen starrte er den zwei Schatten entgegen, die sich durch das rote pulsierende Licht schoben.
“Vater!”, keuchte der Schwarzhaarige erschrocken auf und blickte von der einen Gestalt zur anderen. “Großvater”, presste er nur noch flüsternd über seine Lippen und je näher die Zwerge ihm kamen, umso stärker wurde Thorin zum Tor hingezogen. Der Krieger begriff augenblicklich - sein Leben für die Seelen seiner Väter! Niemals würde er mit ihnen vereint sein, wenn seine Seele ihn nicht verlassen würde, sondern sein Körper ebenfalls in das Dunkel ginge. Eiskalter Schweiß bildete sich auf Thorins Stirn und wie Nadelstiche kroch die Panik an seinem Rücken hinauf.
Und es trieb ihn weiter. Langsam und quälend. Er hörte nicht die fremde Stimme, welche Haledan befahl, das blaue Tor zu schließen und somit den Weg für Thror und Thrain zu versperren. Er nahm keine Kenntnis von der Unruhe und Angst seines Volkes, welches furchtsam zurückgewichen war. Er sah nur noch in die brennenden Augen der jungen Frau und hielt stur und wütend deren Blick. Grollend dröhnte das Lachen des roten Fürsten durch Thorins Glieder, doch dieser ließ nicht von Farasar ab. Sie wollte ihn opfern, doch diese Genugtuung würde er ihr nicht geben. Für seine Väter ging er freiwillig und…
Das Feuer erlosch. Schlagartig war es verschwunden und zurück blieben zwei schwarze Höhlen, bei dessen Anblick Thorin hart schluckte. Er konnte nicht sagen, was schlimmer war - die brennenden Augen oder die toten Löcher in dem einst wunderschönen Gesicht. Bis auf das leise Summen der Schlieren war nichts mehr zu hören. Alle standen wie erstarrt - etwas veränderte sich. Schleichend. Lautlos. Zwischen Thorin und seinen Ahnen begann die Luft zu flimmern und eine leichte Wand gleich flüssigem Metall baute sich auf, um wie Mithril zu schimmern. Und dieses Mal hörte auch Thorin es - das Wehklagen aus den Tiefen des Erebor. Dumpf und gequält klang es in seinen Ohren und schwoll schriller werdend an, sodass es unerträglich in seinem Kopf hämmerte. Der Sog hinein in das Tor hatte nachgelassen, doch Thorins Väter näherten sich diesem wieder. Mit versteinerten Mienen sahen sie ihn vorwurfsvoll und traurig an.
“Nein”, jaulte der Schwarzhaarige kläglich auf und griff nach der Wand. Angenehm kühl und weich fühlte diese sich an, doch er gelangte nicht hindurch. Zitternd und rufend schlug er dagegen: “Geht nicht! Bitte!”, wanderte sein Blick entsetzt zu dem Roten, welcher wutentbrannt tobte, jedoch scheinbar selbst keine Möglichkeit hatte, in das Geschehen einzugreifen. Alles lag in Farasars Hand.
Und sie handelte. Sie schützte Thorin vor dem Zugriff durch Dharag. Sie bewahrte ihn davor, bei lebendigem Leibe hineingezogen zu werden, und auch wenn sie seine Ahnen dafür zurückschicken musste, so hatte sie wenigstens sein Leben gerettet. Des Kriegers Liebe zu seinen Vätern, welche sie so eindringlich in ihrem Inneren gespürt hatte, erschütterte sie zutiefst. Das Flehen und der Schmerz in seinen aufgerissenen Augen trafen sie mitten ins Herz und sie konnte seine Qual am eigenen Leib fühlen.
Die schwarzen Schatten verschwanden lautlos und auch wenn sich der Rote noch wehrte und brüllte, ließ die Va’ari das Tor in sich zusammenfallen. Nur die Wand stand noch wie zum Schutz da und wurde stetig durchscheinender, bis sie sich schließlich ganz auflöste.
Eisiges Schweigen herrschte vor dem Erebor. Still und kraftlos stand die Wächterin da, hielt den Kopf gesenkt und blickte beschämt zu Boden. Sie wartete - auf die geballte Wut des Zwerges und auf seine hemmungslose Rache.
Doch Thorin rührte sich nicht, spürte er doch in diesem Augenblick eine Hand auf seiner Schulter, welche ihn zurückhielt und davor bewahrte, etwas Unüberlegtes zu tun. Fragend sah er auf und in das Gesicht einer blonden Elbenfrau, welche ihn freundlich und beruhigend anlächelte: “Sie hat Euch vor dem Tod bewahrt. Sie allein war es schlussendlich, welche dem Roten Euer Leben verwehrte, auch wenn der Preis dafür sehr hoch ist.”
Verzweifelt und verwirrt schaute Thorin zu der Wächterin, welche langsam den Kopf hob und scheu seinen Blick suchte. Aus großen braunen Augen sah sie ihn schuldbewusst an und auch ihre Haut war wieder makellos, als hätte es das Feuer in ihrem Gesicht nie gegeben. Von der grauenvollen Fratze fehlte jede Spur.
Thorin hätte schreien mögen, so zerriss es ihn innerlich. Er fühlte diesen unsäglichen Druck in seiner Brust, dass diese zu bersten schien. Gepeinigt und stöhnend ging er in die Knie, jegliche Kraft entwich seinen Gliedern und mit hängenden Armen setzte er sich auf seine Fersen. Noch immer war kein Laut von den Umstehenden zu vernehmen und nur das Prasseln der Flammen in den Schalen war zu hören. Keuchend rang der Schwarzhaarige nach Luft, legte den Kopf in den Nacken und sah in den sternenklaren Himmel. Schmerzhaft stieg der Kloß in seiner Kehle auf, schien ihn zu ersticken und mit ungeahnter Heftigkeit brachen sich heiße Tränen Bahn. Thorin wollte nicht glauben, was geschehen war, zu unwirklich erschien ihm alles und der Wut, die er fühlte, konnte er keinen freien Lauf lassen, würde sie doch das Wesen treffen, welches er meinte zu…
Ruckartig warf er seinen Kopf nach vorn bei diesem letzten Gedanken und sah nur noch, wie sich Farasar abwendete und in Richtung des Berges ging. Langsam, wankend und mit hängendem Kopf.
Erneut ertönte das Wehklagen aus den Grüften.
**
Das Fest war von den Zwergen still und bedrückt aufgelöst worden und nun strömten auch die letzten Besucher durch das Tor des Erebor. Keiner von ihnen hatte nach dem Vorfall beim Seelenwandeln das Bedürfnis, weiterhin zu feiern. Kein Lachen war mehr zu vernehmen und auch Holz wurde nicht mehr in die großen Schalen gelegt, sodass das Feuer langsam herunterbrannnte.
Nachdenklich sah Thorin zu den drei Männern, welche sich etwas abseits auf die Felsen gesetzt hatten und schweigend vor sich hin starrten. Balin und Gandalf hatten den Tabak in ihren Pfeifen entzündet, während der Elb zusammengesunken zwischen ihnen saß und das Gesicht in seinen Händen vergraben hatte.
“Zürnt ihm nicht, Thorin. Er hätte es nicht verhindern können”, sprach die Elbenfrau leise, welche neben dem Zwerg stand und seinem Blick gefolgt war. “Keiner von uns hat die Macht, einer Va’ari Einhalt zu gebieten.”
Fragend schaute der König auf: “Ihr habt Haledan das Tor schließen lassen? Warum? Sie hätten ihre Ruhe finden können.”
Ernst sah Galadriel den König in die traurig blickenden Augen. Bleich und müde wirkte dessen Gesicht nach all den quälenden Ereignissen der letzten Zeit und sie wünschte dem kleinen Mann nichts mehr, als dass er endlich wieder Ruhe und Frieden finden würde in den steinernen Hallen seines Reiches. Sie wusste, dass ihre Worte keine Entschuldigung darstellen konnten: “Wenn Eure Väter hinübergegangen wären, hätte Farasar ihr Versprechen gehalten und Euch dem Roten geopfert. So allerdings sah sie sich gezwungen, Thror und Thrain zurückzuschicken, sollten sie doch nicht auf Ewig verloren gehen.”
Der Krieger senkte den Kopf: “Also hat sie sich nicht freiwillig dazu durchgerungen, mich leben zu lassen”, stellte er brummend fest und ertappte sich dabei, wie leichte Verbitterung in ihm aufstieg und schalt sich zum wiederholten Male in dieser Nacht einen Narren. Wie konnte er nur so dumm wie ein Jungzwerg sein und seinen leisen Wunsch, welcher gleich einer zarten Pflanze in ihm wuchs, mit der Wirklichkeit vermischen.
Galadriel wendete sich ab, um ihr feines Lächeln vor dem Zwerg zu verbergen. Sie spürte, dass in Thorin etwas erwacht war, doch auch dessen Kampf darum, ob er es zulassen sollte oder nicht. Selbst seine Wut auf das Verhalten der Va’ari konnte seine Gefühle für eben diese junge Frau nicht ersticken.
“Sie hätte mich opfern sollen, so wäre ich wenigstens bei meinen Vätern”, ballte der Schwarzhaarige grimmig seine Hände zu Fäusten und starrte trotzig über den weiten Platz in die Ferne.
“Sagt dies nicht, Zwergenkönig, Euer Volk braucht Euch. Mehr als Ihr Eure Ahnen”, erwiderte Galadriel vorsichtig mahnend.
So bitter es auch war, die Elbenfrau sprach die Wahrheit. Wieder einmal stieg es heiß in Thorin auf, als er sich dessen bewusst wurde, dass er seine persönlichen Wünsche als gewichtiger erachtete als jene der Männer, Frauen und Kinder, für welche er als König die Verantwortung trug. Zweifel stiegen in ihm auf, ob er seiner Sache wirklich gerecht wurde und wie ein schwerer Felsblock legte sich dieses Empfinden auf seine gepeinigte Seele und nahm ihm schier die Luft zum Atmen. “Nun, ganz gleich, was auch geschehen ist, das Fest ist vollbracht und auf die nächsten zweihundert Jahre werden die Zwerge dem Hain fernbleiben”, wendete sich Thorin entschlossen um und wollte zu den Männern gehen, als ihn Galadriels Stimme zurückhielt: “Auch dies ist so nicht richtig”, schmunzelte sie, “und das wisst Ihr. Werdet Ihr bereit sein, wenn Farasars Wahl auf Euch fällt?”
Thorin sah die Noldor nicht an und knurrte nur leise: “Das wird sie nicht”, und ging nun entgültig auf Haledan zu. Der alte Elb tat ihm innerlich leid, dennoch musste er seine Gedanken in Worte fassen: “Ich fordere Euch auf, noch in dieser Nacht den Erebor zu verlassen. Für einen weiteren Aufenthalt besteht kein Grund.”
Erschrocken blickte Haledan in des Königs Augen und meinte für einen kurzen Moment, ein leichtes Aufflackern des Bedauerns darin erkennen zu können, dennoch sprach er leise: “Ja. Ich verstehe”, stand er kraftlos auf, straffte sich und atmete tief durch. “Ich werde es ihr sagen”
“Nein!”, grollte Thorin tief. “Nicht Ihr. Das werde ich selbst erledigen.”
“Dann lasst uns zusammen gehen”, bat Haledan leise flehend.
“Vertraut Ihr mir nicht? Glaubt Ihr denn, ich würde ihr etwas antun?”, fragte der Schwarzhaarige lauernd von unten herauf.
“Euch vertraue ich. Jedoch nicht meiner Tochter”, schüttelte der Elb den Kopf und erkannte das Begreifen seiner Worte in des Kriegers Gesicht, welcher in diesem Moment leicht nickte.
Gemeinsam schritten sie auf den Berg zu und hörten noch Galadriels Worte: “Ihr werdet sie in den Grüften finden!” Das sorgenvolle Gesicht der Elbenfrau sahen sie nicht mehr. Schweigend gingen die Männer nebeneinander her und Thorin bemerkte das leichte Zittern des Wächters, je tiefer sie hinabstiegen, wusste er doch darum, wer in den Grabeshallen des Erebor die letzte Ruhe gefunden hatte. Der Schwarzhaarige rang innerlich mit sich, um dann unvermittelt stehenzubleiben: “Haledan…”, rief er und sah, wie der Elb sich mit fragendem Blick zu ihm umwendete. “Thorgunn, Euer Weib, war wahrlich eine gute Kriegerin, tapfer und stark. Die Zwerge haben ihr einiges zu verdanken und es war Balins Wunsch, dass sie hier begraben liegt”, sprach er eindringlich. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er dem Elb diese Worte sagen musste, spürte er doch, dass dieser unter der Schuld seiner Tochter fast zusammenbrach.
Verlegen sah der Hochgewachsene zu Boden und schluckte hart, bevor es gequält über seine Lippen drang: “Manchmal wünsche ich mir, ich hätte meine Frau zurückgehalten. Farasar hat sie so gebraucht. Wie sehr, sehe ich erst jetzt. Ich konnte ihren Hass nicht verhindern”, blickte er mit Tränen in den Augen auf und in des Zwerges Gesicht. Der Elbenmann schämte sich nicht, vor dem Schwarzhaarigen seine Schwäche zu zeigen, fühlte er sich dem Krieger doch in gewisser Weise verbunden. Als Elb hatte Haledan sich in eine halbe Zwergin verliebt und die Art und Weise der Kurzgewachsenen zu schätzen gelernt. Ihre wilde Schönheit, die Kraft und die Sturheit, aber auch das große Herz, welches so viel Liebe geben konnte.
Peinlich berührt fasste Thorin den Wächter am Arm und drückte ihn leicht: “Nehmt Eure Tochter und geht mit ihr zurück in den Hain. Findet dort Euren Frieden. Das Geschehene könnt auch Ihr nicht mehr rückgängig machen, genauso wenig, wie ich Farasars Mutter wieder lebendig werden lassen kann.”
Haledan sah die Gutmütigkeit in Thorins blauen Augen und nickte dankbar: “Dann lasst uns weitergehen”, doch noch ehe sie sich in Bewegung setzen konnten, hielten sie abrupt inne und lauschten dem sich einsetztenden Wehklagen, welches so oft in letzter Zeit durch den Berg gehallt war und denen, die es vernehmen konnten, einen eisigen Schauer über die Haut jagte.
Schleunigst eilten die Männer den Grüften entgegen und die steinernen Gänge dahin wurden düsterer, je näher sie den Grabkammern kamen. Haledan, welcher allein durch seine Größe den weiteren Schritt hatte, lief dem Zwerg voraus und stockte, den Arm zur Seite ausstreckend, um Thorin am Weiterlaufen zu hindern. Fassungslos und den Atem anhaltend blickten sie in die kleine Halle, in deren Mitte ein schlichter Sakopharg stand. Auf diesem jedoch war das Abbild jener Szene in Stein gehauen, welche Balin und auch Haledan seit jenem Geschehen vor vielen Jahren verfolgt hatte. Ein Kind, welches eine sterbende Kriegerin in den Armen hielt.
Sich die Hand vor den Mund schlagend, wich der Elb aufheulend zurück und wäre in seinem Entsetzen beinahe gestürzt, hätte Thorin ihn nicht gehalten. Langsam ließ dieser Haledan an seiner Seite zu Boden gleiten und sah nur noch zu der Va’ari, welche vor dem Grab ihrer Mutter stand und zitternd vor sich hinstarrte.
Der Schwarzhaarige ahnte, dass Farasar um seine Anwesenheit wusste. Schon im nächsten Moment drehte sie ihren Kopf zu ihm und sah ihn mit dunklen Augen an. Er konnte nicht beschreiben, was er darin sah, und tief im Inneren spürte er ihren Schmerz, welcher dem seinigen gleichkam, als seine Väter wieder in das Tor des Fürsten hineingezogen worden waren. Jeglicher Zorn ihn ihm verschwand und Mitleid breitete sich in dem Zwerg aus. Das Erstaunen über sein eigenes Empfinden, dass er vielleicht genauso gehandelt hätte, wenn er an ihrer Stelle gewesen wäre, ließ ihn tief aufseufzen. Er begriff, welch Trauer und Wut in der jungen Frau gegärt haben mussten und gefangen waren in jahrelangem Schmerz über den Verlust.
Das Wehklagen ebbte ab und verwandelte sich in ein leises Wimmern. Farasar wendete sich mit versteinerter Miene wieder dem Sakopharg zu und hob beide Hände, sodass Thorin jäh aufkeuchte, befürchtete er doch, sie wolle die schwere Grabplatte hinfortschieben. Liebevoll legte die junge Frau ihre Hände auf das kühle Gestein und schloss die Augen. Das Wimmern verstummte gänzlich, doch breitete sich augenblicklich ein leises vibrierendes Grollen in der Gruft aus. Thorin sah das Beben des Frauenkörpers, welcher Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten…
Entsetzt erblickte der Schwarzhaarige das Blut auf Farasars weißem Gewand. Unzählige Runen schienen glühend durch den feinen Stoff, welche über den ganzen Leib der Va’ari zu erkennen waren und das Kleid Stück für Stück in Flammen setzten. Mit irrem Blick starrte Thorin auf diese lebendige Fackel vor sich, von der kein Laut des Schmerzes zu hören war. Nur das krampfhafte Festhalten des Elbs an seinem Bein spürte er noch und vernahm wie ein Rauschen dessen Worte: “Kalt! Das Feuer ist kalt.”
Das dumpfe Grollen verstärkte sich und drang tief in des Zwerges Knochen. Er hatte Farasar schon einmal brennen sehen und es quälte ihn, dies erneut erleben zu müssen, dennoch konnte er seinen Blick nicht von der Va’ari abwenden. Noch immer hielt sie sich zitternd am Grab ihrer Mutter fest. Ihre Hände schienen mit dem Gestein zu verschmelzen und in Thorins Wahrnehmung drang das Erbeben des Sakophargs, welcher durch die anwesende Macht, in Vibrationen geraten war.
“Wir müssen ihr helfen, Haledan”, rief der Zwerg brüllend gegen das dämonische Dröhnen an, welches zunehmend in den Ohren schmerzte und packte den Mann fest an der Schulter.
“Das können wir nicht”, erwiderte der Elb verzweifelt und krallte sich an dem Zwerg fest, um sich nach oben zu ziehen. “Es sind die Runen, Thorin. Es ist ihr Erbe, welches zum Vorschein kommt. Zu lange hat sie sich dagegen gewehrt.”
Hilflos standen die Männer nebeneinander und konnten nur noch zusehen, wie das Feuer auf Farasars Haut langsam erlosch, während diese leise stöhnend zu Boden ging. Nur an wenigen Stellen züngelte noch vereinzelt eine Flamme und als auch das letzte Glühen erloschen war, kehrte Stille in den Raum ein. Mit dem Kopf an den Sakopharg gelehnt und den Armen vor der nackten Brust verschränkt, hockte die junge Frau auf ihren Knien. Die Luft stank ekelerregend nach verbranntem Fleisch und noch stieg schwarzer Rauch von dem Körper auf, als sich der Schwarzhaarige dazu durchrang, zu der Va’ari zu gehen.
“Thorin! Nicht!”, flüsterte Haledan entsetzt, welcher nicht in der Lage war, sich zu bewegen. Mit Angst in den Augen musste er zusehen, wie sich der Zwerg neben seine Tochter kniete und langsam eine Hand hob.
Tief atmete der König durch und kämpfte gegen den Kloß in seinem Hals an. Farasar so zu sehen, war für ihn unerträglich, und scheu legte er seine Hand auf ihre Schulter. Ängstlich achtete er auf die Reaktion der jungen Frau, wollte er ihr doch keine weiteren Schmerzen zufügen, doch sie regte sich nicht. Gleichmäßig ging ihr Atem und Thorin erhöhte leicht den Druck seiner Berührung, um augenblicklich erschrocken zurückzuweichen, hatte er doch das Kribbeln unter seinen Fingerspitzen gefühlt und das Aufbrechen der verkohlten Haut, welches sich mit leisem Knistern über den ganzen Körper der Wächterin zog. Flimmernd schien feines Licht durch die Bruchstellen, die sich weiter ausbreiteten.
Farasar stöhnte tief auf und durch die leichte Bewegung ihres Körpers bröckelte die verkohlte Schicht, fiel von ihr ab und gab Stück für Stück zart leuchtende Linien und Muster auf ihrer Haut frei. Die einst tiefschwarzen Zeichen erstrahlten in einem leuchtenden Blau, welches sich in Thorins Augen widerspiegelte. Fasziniert betrachtete dieser die Runen und las. Nur einen Bruchteil der Geschichte, welche die Va’ari bisher erlebt hatte, konnte er aufnehmen, spürte er doch in diesem Moment Haledan herantreten und sah beschämt zur Seite. Farasar hockte nackt vor den Männern und der Krieger konnte sich gut vorstellen, dass es dem Elb nicht gefiel, dass Thorin seine Tochter so sah.
“Ist es noch immer Euer Wunsch, dass wir sofort aufbrechen?”, fragte Haledan leise und half Farasar vorsichtig beim Aufstehen.
Der Schwarzhaarige schüttelte den Kopf: “Nein, ruht Euch diese Nacht aus. Doch morgen solltet ihr den Erebor verlassen. Mein Volk wird Eure Anwesenheit nicht lange akzeptieren, nachdem das Fest dieses Ende genommen hat.”
“Danke”, flüsterte eine schwache Stimme und erstaunt sah der Krieger auf. Heiß durchfuhr es ihn bei dem Blick in Farasars Augen und am liebsten wäre er diesem ausgewichen, hatte jedoch die Befürchtung, dass dieser an ihrem Körper hängenblieb, stand sie doch jetzt in voller Pracht vor ihm. Er verfluchte sich in diesem Moment, sprach die Situation doch nicht wirklich dafür, ein Ziehen in der Lendengegend zu spüren. Erregt und mit kratziger Stimme wendete sich Thorin einen Takt zu schnell ab: “So könnt Ihr nicht durch die Hallen zu Eurem Gemach gehen”, räusperte er sich und traf kurzerhand die Entscheidung, der jungen Frau seine Tunika zu überlassen, und zog diese im selben Augenblick über den Kopf. Ohne hinzusehen, reichte er ihr das Kleidungsstück und hörte das Rascheln des Stoffes. Nun endlich wendete er sich den Wächtern wieder zu und bemerkte Farasars dankbares Kopfnicken, welche jedoch seinen Blick floh und über des Kriegers breite Brust glitt.
Es war der jungen Frau peinlich, dass ausgerechnet in diesem unwirklichen Moment der Anblick des Zwergenmannes kribbelnde Wellen durch ihren Körper schickte. Thorins gestählte Muskeln, die schwarzen Haare auf seiner Brust und die nach unten hin schmaler werdende Taille trieben ihr schiere Hitze unter die Haut. Sie fühlte die aufkommende Sehnsucht, in diesen starken Armen zu liegen, gehalten zu werden und sich in den Berührungen der von Arbeit gezeichneten Hände zu verlieren.
“Wir sollten jetzt gehen”, zerriss Haledan die angespannte Stille. “Die Nacht ist bereits fortgeschritten und viel Zeit zur Erholung bleibt nicht mehr.”
Beschämt über die aufgekommenen Gedanken senkten Thorin und Farasar die Köpfe. Schweigend und in Gedanken versunken verließen die Wächter und der Zwergenkönig Thorgunns Grabkammer.
**
Elben vor dem Erebor! Noch während diese von Balin überbrachten Worte in seinem Kopf nachhallten, eilte der König dem großen Tor entgegen. Als wären die letzten Tage nicht aufwühlend genug gewesen, mussten nun auch noch diese Waldlandratten hier auftauchen. Der Schwarzhaarige fluchte innerlich, hatte er doch den Gedanken an Thranduil gänzlich beiseite geschoben seit seinem Traum in jener Nacht. Zu sehr war er mit den Ereignissen beschäftigt, welche vorgefallen waren. Zu oft hatte er die großen braunen Augen der Va’ari vor seinem inneren Auge gesehen und sich in kurzen Momenten so manchem Tagtraum hingegeben.
Doch eben diese Augen hatten auch den Elb verfolgt und diesen unruhig in seinen Hallen umherwandern lassen. Wirr hatte er geträumt und ihre flehende Stimme gehört, welche nach Hilfe rief. Eingehüllt von Gefühlen der Angst um Farasar und der Machtlosigkeit, nicht zu wissen, was dieser Kurzgewachsene mit ihr anstellte, war er rasend geworden und schlussendlich in Begleitung der Elbengarde aufgebrochen, um die Wächterin aus diesem schändlichen Bergloch Erebor zu holen. Er konnte nicht tatenlos zusehen, wie sie unter der Anwesenheit der Zwerge litt, kannte er doch ihren Hass auf dieses Volk. Seine Eifersucht tat ihr übriges, war sich Thranduil eben nicht ganz sicher, ob es der König unter dem Berge nicht doch versuchen würde, das Herz der Va’ari zu erobern.
Erhaben saß der Silberhaarige nun auf seinem Hirsch und schaute gespielt gelangweilt dem Herannahenden entgegen, als dieser vor das Tor seines Reiches trat und schließlich vor dem Elb stehenblieb.
“Thranduil”, knurrte Thorin unwillig von unten herauf, “welch Überraschung, Euch hier anzutreffen. Ich empfinde es nicht als Ehre, dass Ihr mir Eure Aufmerksamkeit schenkt.”
“Glaubt mir, Zwerg, meine Anwesenheit zwischen all dem herumliegenden Gestein betrifft nicht Eure Person. Wäre der Grund nicht ansatzweise so dringend, hätte ich mich nicht so weit herabgelassen, um diesen schmutzigen Boden zu erreichen”, erwiderte der Fürst abfällig und schneidend.
“Warum seid Ihr hier?”, stützte nun der Schwarzhaarige seine Hände in die Seiten und hob herausfordernd den Kopf. Dumpf brodelte der Zorn in seinen Eingeweiden und ließ seinen Körper anspannen.
“Nun, ein Herz, welches liebt, spürt das Leid des anderen. Doch das sind Dinge, von denen die Zwerge einfach nichts verstehen. Und Ihr schon gar nicht! Ich verlange…”, setzte der Fürst gezielt einen weiteren verbalen Seitenhieb.
“Ihr habt in meinem Reich nichts zu verlangen!”, fiel ihm Thorin donnernd ins Wort, obwohl er sich augenblicklich dafür verdammte, vor diesem Mann so die Beherrschung zu verlieren und ihm somit die Genugtuung gab, welche dieser so sehr genoss. Das Verlangen, noch etwas Spitzzüngiges hinzuzufügen, konnte er gerade noch unterdrücken, als er die leichte Berührung eines Windhauches neben sich spürte, welcher diesen unsagbaren Duft des Rhimdolin nach sich zog. Sprachlos sah Thorin der Wächterin hinterher, welche geradewegs auf den Hirsch des Waldlandelben zuging und dem Tier liebevoll eine Hand auf die Nüstern legte. Es schien eine vertraute Geste zu sein und Thorin ahnte, dass ihr die Nähe des riesigen Tieres nicht unbekannt war.
“Farasar”, rief der Elb erleichtert aus und stieg elegant von seinem Reittier. Ohne zu zögern näherte er sich der jungen Frau, nahm ihre Hände in die seinen und führte sie sacht an seine Lippen. Tief sah er ihr in die Augen, welche ihn freundlich anlächelten und vernahm Farasars leise Stimme: “Ihr solltet nicht hier sein, Thranduil. Und dennoch freue ich mich, Euch in meiner Nähe zu wissen.”
“Ich spürte, Ihr seid in Bedrängnis, Wächterin. Ich litt unter dem Gefühl, Euch gehe es nicht gut. Daher hatte ich keine Wahl und musste nach Euch sehen”, rang der Elb um die richtigen Worte, denn all die Dinge, von denen das helle Funkeln in seinen eisblauen Augen ihr erzählte, konnte er so offen nicht aussprechen. Nicht hier. Nicht vor diesem Zwerg, welcher den beiden aus kurzer Entfernung zusah und spürte, wie eine Welle glühenden Zorns durch seinen Körper schlug und seine Zähne aufeinander mahlen ließ.
“Seid unbesorgt, mein Fürst. Wir waren gerade im Aufbruch. Zu lange haben wir die Gastfreundschaft der Zwerge genossen”, lächelte Farasar beruhigend und legte eine Hand auf Thranduils Wange, ohne darauf zu achten, dass die Anwesenden um sie herum für einen kurzen Moment den Atem anhielten, zumal sich der Silberhaarige nicht gegen diese Berührung zu wehren schien. Nur einen Lidschlag kurz blitzte es in des Elbs Augen auf und war für die Va’ari Antwort genug. Doch schon wurde es ihr schlagartig bewusst, welchen Anblick sie den Umstehenden bieten mussten. Die Freude darüber, den Freund zu sehen und dessen Sorge um sie wahrzunehmen, hatte Farasar alles andere vergessen lassen. Errötend wendete sie sich ab und ihr Blick flog schuldbewusst einen Augenblick hinüber zu Thorin.
Auch der Zwerg hatte den Atem angehalten, als er dem Schauspiel zwischen Thranduil und Farasar zusah. Ihre Gestik und Mimik hatte er regelrecht in sich aufgesogen und trieben ihm die Wut bis unter die Schädeldecke. Kurz blitzten Bilder der beiden in seinem Kopf auf, wie sie eng beieinander nachts im Waldlandreich standen und die Nähe des anderen genossen. Angewidert knurrend und fassungslos über sich selbst ballte er die Hände zu Fäusten, war er doch wirklich so dumm gewesen zu meinen, dass dieses Funkeln in ihren Augen mehr bedeuten könnte. Dass ihre manchmal scheue Art eher den Ausdruck von Verlegenheit darstellte, wenn er ihr zu nahe kam und dies sie sichtlich aufwühlte. Augenblicklich holte sich Thorin die Wut auf Farasars Gesicht ins Gedächtnis. Ließ das Gefühl ihres Hasses auf ihn in sich aufsteigen, um dieses zutiefst innige Empfinden, welches so voller Wärme und Leidenschaft war, zu ersticken. Ein Gefühl, dessen Stärke so ungehindert in ihm zunahm und er kaum eine Möglichkeit hatte, dagegen anzukommen.
Schweigend sah der Schwarzhaarige mit an, wie die beiden Rappen der Wächter herangeführt und bepackt wurden. Galadriel und Gandalf hatten sich währenddessen leise zu dem Zwerg gesellt. Beide hatten die vergangene Nacht ebenfalls in dem Berg verbracht. Zur Sicherheit, wie sie gesagt hatten, doch ihre Hilfe war nicht mehr vonnöten gewesen, ging doch keine Gefahr mehr von der Va’ari aus.
Haledan kam auf den König zu, blieb still vor diesem stehen und schaute ihn traurig an. Leise verabschiedete er sich: “Wir werden uns nicht wiedersehen, Thorin Eichenschild. Mein Weg wird mich an einen Ort führen, wohin kein Zwerg folgen kann”, lächelte der alte Elb freundlich und zugleich wehmütig, als er erkannte, dass der Schwarzhaarige den Sinn seiner Worte begriff. Ungläubig und aufrichtig bedauernd funkelte des Zwerges Blau in den Augen, sodass Haledan fortfuhr: “Ich danke Euch. Für alles. Euer Volk kann wahrlich stolz sein auf Euch. Mögen die Valar Eure Wege ebnen, wohin sie Euch auch führen mögen!”, nickte der Elbenmann dem Zwerg kurz zu, welcher in diesem Moment tief gerührt war und mit belegter Stimme antwortete: “Möge Mahal über Euch wachen, Haledan. Ihr seid ein guter Mann”, sah Thorin dem Hochgewachsenen ernst nach und zog leicht die Augenbrauen zusammen. Gern hätte er noch etwas mehr Zeit mit dem Alten verbracht, welcher ihm in gewisser Hinsicht ans Herz gewachsen war, auch wenn dieser aus dem Volk der Elben stammte.
“Er hat seine Aufgabe in dieser Welt erfüllt”, beugte sich Gandalf brummend zu Thorin hinunter. “Er kann mit gutem Gewissen gehen. Alles, was ab jetzt geschehen wird, liegt in der Hand seiner Tochter.”
Das sorgenvolle Gesicht des Zauberers bemerkte der König nicht, blickte er doch umgehend zu der jungen Frau, von welcher Gandalf gesprochen hatte. An der Seite ihres Pferdes stand sie und hatte Thorin den Rücken zugewendet. Heiß brannte sich sein Blick auf ihrem Rücken ein, über welchem das lange Haar, wieder zu einem einfachen Zopf gewunden, pendelte. Farasar hatte dieselbe Kleidung wie bei ihrer Ankunft an und die Bündchen an Ärmeln und Hals waren fest zugezogen, damit kein neugieriger Blick die Zeichnungen auf ihrer Haut erhaschen konnte. Thorin jedoch hatte sie gesehen. Auch wenn es nur ein Bruchteil dessen gewesen war, was sich auf dem Rest des Frauenkörpers befand. Erst waren sie tiefschwarz, um dann in einem leuchtenden Blau zu erstrahlen. Vertraute Zeichen - so tief in der Seele eines Zwerges verankert und doch so faszinierend, Runen auf diese Art und Weise zu sehen und zu lesen. Kurz hatte er Farasars Haut spüren können. Zufällig und bewusst zugleich, doch die Erinnerung an diese Berührung hatte sich in seinem Kopf sofort eingebrannt. Die Wunde in seinem Herzen jedoch würde sich niemals schließen, auch wenn er sein Empfinden für den Rest seines Lebens verdrängte. Die Nächte würden qualvoll werden, da war er sich sicher. Und auch wenn sie sich jetzt nicht von ihm verabschiedete, sich nicht noch einmal zu ihm umdrehte und ihm keinen Blick mehr schenkte, er würde Farasar nie vergessen, auch wenn diese zarte Pflanze der Zuneigung auf dem Boden des Hasses gesät worden und diese leise und unsichtbar gewachsen war.
“Ihr habt sie gesehen. Nicht wahr? Die Runen.”, riss Galadriel den König leise aus seinen Gedanken.
“Ja”, sah Thorin fragend zu ihr auf und versuchte, Klarheit in seine Gedanken zu bringen, doch sie erwiderte seinen Blick nicht und fragte nur: “In welcher Farbe erschienen sie Euch?”
“Blau”, war die knappe Antwort des Kriegers, welcher sein Augenmerk erneut auf Farasar legte und die Erinnerung an das Gesehene in der Gruft wieder in ihm aufstieg.
“Das Blau des Zwergenkönigs”, hauchte die Elbenfrau kaum hörbar und lächelte wissend, als sie die aufkommende Anspannung in Thorin bemerkte, welcher ungewollt aufkeuchte beim Erfassen ihrer Worte. Sie konnte fühlen, wie die Hitze den kleinen Mann augenblicklich überrollte. Galadriel hörte seinen heftigen Herzschlag, welcher hämmernd gegen seine Rippen schlug, doch auf ihre Worte antwortete er nicht. Still nickte die Noldor über Thorins Kopf hinweg zu Gandalf als ein Zeichen, dass sie sich beide zurückziehen sollten. Nur die Elbenfrau wusste in diesem Moment, dass die Wächterin den Erebor nicht einfach so verlassen würde, auch wenn es diesen Anschein hatte.
Allein stand nun der Schwarzhaarige da und beobachtete noch immer die Va’ari, welche an den Schnüren ihres Sattels herumnestelte, während Thranduil und Haledan bereits aufgesessen waren und nun umringt von der Elbengarde auf die junge Frau warteten.
Sie durfte so nicht fortgehen. Durfte ihn nicht einfach so stehenlassen ohne Blick und ohne Wort. Zitternd biss sie sich auf die Lippe und gab noch immer nach außen vor, die Knoten der Bündel an ihrem Sattel festzuzurren, doch ihr Gesicht, welches so niemand sehen konnte, wies eine feine Röte auf und die Innenflächen ihrer Hände wurden feucht. Tief durchatmend und entschlossen drehte sie sich um und ging langsam auf den Schwarzhaarigen zu, um so nah vor ihm stehenzubleiben, dass sie seinen Duft wahrnehmen konnte. “Ich…”, begann Farasar leise, doch Thorins Blick ließ sie umgehend verstummen. Sie sah ihm seine innere Zerrissenheit an, sein Suchen in ihren Augen nach einer klaren Antwort auf so viele ungestellte Fragen. Und noch immer dachte er, sie hätte sich für den Fürsten des Waldlandreiches entschieden, was seine Wut auf den Elb und auch auf sie, stetig steigerte. Scheu blickte sie nach unten, heftete ihr Augenmerk auf des Kriegers Stiefel und versuchte erneut, ihre Gedanken in Worte zu fassen, bei denen ihr nicht ganz wohl war, diese überhaupt auszusprechen: “Ihr hattet einen Traum. Einen bestimmten. Ist das richtig?”
Ein Vibrieren durchlief des Zwerges Körper und sein leises Aufkeuchen war kaum zu vernehmen: “Ihr wisst davon?”, fragte Thorin und sein Gesicht wurde aschfal, als Farasar ihn daraufhin ansah und vorsichtig nickte. “Das könnt Ihr nicht. Ich habe niemandem davon erzählt”, schüttelte er entsetzt den Kopf.
Die junge Frau lächelte gequält und knetete verlegen ihre Hände, doch anstatt zu antworten fragte sie nun ihrerseits: “Hat er Euch gefallen?”
Thorin kniff die Augen zusammen, ratlos darüber, was er erwidern sollte. Auf dieses Gespräch war er nicht vorbereitet und so blieb sein Mund wortlos offen stehen, hoffend, Farasar würde diese Sprachlosigkeit nicht als ein Nein werten.
Kurz nickte sie und richtete ihren Blick hinüber zu der kleinen Gruppe der Reiter, um diesen einen Moment lang auf Thranduil verweilen zu lassen. Ein feines Lächeln legte sich auf ihre Lippen und Farasar flüsterte: “Wenn er Euch gefallen hat, dann bewahrt ihn in Euren Erinnerungen, denn Ihr, Thorin, durftet zumindest träumen. In diesen Genuss wird nicht einmal der Elb kommen, auch wenn er sich das wünscht”, sah sie vielsagend dem Schwarzhaarigen noch einmal in die Augen und verabschiedete sich mit brechender Stimme: “Lebt wohl, Thorin. Möge Mahal seine schützende Hand über Euch und das Volk Durins halten”, wendete sich die Wächterin langsam ab und ging bedrückt zu ihrem Pferd, um nun endlich aufzusteigen. Das Gefühl, so schnell wie möglich von diesem Zwergenmann fortzukommen, hatte sich mit rasanter Geschwindigkeit in ihr ausgebreitet. Schlagartig saß der Kloß in ihrem Hals fest und ließ ihr kaum noch Luft zum Atmen. Doch im selben Augenblick, als sie endlich fest im Sattel saß und nach den Zügeln greifen wollte, packte eine kräftige Hand nach der ihren und tiefblaue glänzende Augen schauten sie von unten herauf an. Farasar verfluchte den Zwerg innerlich, war er ihr doch gefolgt, ohne dass sie es bemerkt hatte, und ließ nicht ab von ihr. Sie wollte nicht, dass Thorin sie so sah, konnte sie ihre heißen Tränen doch kaum noch zurückhalten.
“Bitte sagt mir, woher wisst Ihr von meinem Traum?”, fragte der Krieger leise, aber eindringlich. Eine Ahnung war in ihm aufgekommen, wusste er doch um die Magie der jungen Frau. Und das Erlebte in jener Nacht in seinem Bett war so intensiv, dass es für ihn schwer vorstellbar war, dass er nur geträumt haben sollte.
Farasar sah auf ihre Hand, welche noch immer von Thorin gehalten wurde und strich kaum merklich sanft mit dem Daumen über seine raue warme Haut. Sie fühlte den Schauer, welchen sie mit dieser Berührung dem Krieger bescherte, und hauchte: “Es war mein Traum. Ich schenkte ihn Euch.”
Der Schwarzhaarige senkte fassungslos den Kopf und schluckte hart. Er hatte das Gefühl zu fallen. Alles schien ihm zu entgleiten, sich zu drehen und zu vermischen. Das Gewirr aus Angst, Ungläubigkeit, Hoffnung und ein Funke Erregung ließen ihn innerlich erbeben. “Und Eure Entscheidung?”, platzte es aus Thorin unvermittelt heraus und er biss sich augenblicklich auf die Lippe, da es doch sehr vermessen war, so unverblühmt danach zu fragen. Aus diesem Grunde sah er auch nicht auf, fürchtete er sich zudem vor der Antwort.
“Diese habe ich getroffen”, antwortete Farasar tonlos und ließ den Zwerg nicht aus den Augen, als dieser bei ihren Worten nun doch wieder zu ihr aufsah. Ein letztes Mal tauchte sie in dieses wundervolle Blau ein, prägte sich das Gesicht jenen Mannes ein, den sie noch vor kurzer Zeit abgrundtief hasste und opfern wollte. Nur einmal wollte sie seine weichen warmen Lippen auf den ihrigen spüren, doch sie wusste, dass dieser Wunsch niemals in Erfüllung gehen würde. Langsam aber bestimmt entzog sie dem Zwerg ihre Hand und blickte gedankenversunken in die Ferne. Tief und dunkel klang ihre Stimme, als sie die letzten Worte vor den Toren des Erebor sprach: “Es wird keinen Wächter mehr geben. Nicht in dieser Welt.”
Knurrend gab sie dem Pferd die Sporen, sodass Thorin erschrocken zurückwich. Aufstöhnend blickte er ihr nach, strich sich irritiert durch die Haare und stand noch lange so da. Selbst dann noch, als die Reiter längst aus seinem Blickfeld verschwunden waren.
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Lange stand Haledan schon im Schatten des großen Baumes am Ende der schmalen Brücke und beobachtete den Elb, welcher regungslos hinunter zu der kleiner Insel mitten auf dem zäh dahinfließenden Wasser sah. Ein kleiner Steg vom Ufer aus führte zu dem Eiland, auf dem ein Pavillon Ruhe und Abgeschiedenheit versprach, um den Gedanken hinterherzuhängen oder aber auch tiefsinnige Gespräche zu führen.
Schon zu Beginn der eintägigen Pause, eingeladen vom Fürst des Düsterwaldes, hatte Farasar sich zurückgezogen. Dunkel hatte sie sich gekleidet und die Kapuze ihres Umhangs tief in das Gesicht gezogen, so wandelte sie ohne Wort zwischen dem Blattwerk der Büsche und Sträucher inmitten des Lichtspiels der Sonnenstrahlen, welche durch die hohen Wipfel herabfielen.
Der Wächter war in Sorge um seine Tochter und hoffte innig, dass diese sich der Noldor endlich öffnete, welche in diesem Moment neben Farasar stand und behutsam versuchte, die Gedanken der jungen Frau zu ergründen. Doch die Va’ari schien sich noch immer in Schweigen zu hüllen und saß wie erstarrt auf einem der beiden filigranen Sessel, welche zum Verweilen zwischen den Säulen des Pavillon einluden. Die Wächterin hielt sich seit dem Verlassen des Erebor bedeckt, scheute die Nähe jedes einzelnen und selbst zu den gemeinsamen Mahlzeiten hatte sie sich entschuldigen lassen.
“Ihr solltet sie nicht zu lange anstarren, Thranduil”, ging Haledan langsam und belanglos den Gehrock glattstreichend zu dem Silberhaarigen, um dessen Blick hinunter zu den beiden Frauen zu folgen.
Kurz zuckte der Hochgewachsene zusammen, hatte er das Herannahen des Wächters nicht bemerkt, als er gedankenversunken vor sich hinstarrte, jedoch ließ er nicht den Blick von der Dunkelgewandeten, welche wie ein Schatten neben der in Weiß gekleideten Noldor wirkte. “Ihr meint, ich könnte mich in sie verlieben?”, bemerkte Thranduil übertrieben spitz und räusperte sich leise.
“Habt Ihr das nicht schon längst, mein Herr?”, lächelte Haledan wissend und trat nahe neben den Mann. “So oft schon trafet Ihr Euch mit Farasar heimlich, dass es mir unverständlich wäre, wenn Ihr dieser Tage Eure Liebe zu ihr nicht gestehen würdet.”
“Ihr wisst von diesen Treffen?”, sah der Silberhaarige den Wächter erschrocken von der Seite an und bemühte sich umgehend darum, dass dieser kein falsches Bild von ihm bekam. “Ich versichere Euch, ich habe sie zu nichts überredet.”
“Macht Euch keine Sorgen, mein Fürst”, lachte der alte Elb leise. “Ich weiß, dass meine Tochter ihrer Entscheidung nicht vorausgegriffen hat”, vervollständigte Haledan seine Gedanken, um den Sindar zu beruhigen.
“Sie hat mit Euch darüber gesprochen?”, wollte der Silberhaarige überrascht wissen.
Haledan legte seufzend beide Hände auf das gewundene Geländer der Brücke und blickte, erfüllt von Sehnsucht nach Ruhe, hinauf zu den Baumkronen. “Ja. Das hat sie. Nicht ganz freiwillig, doch hat sie mir auf meine Nachfrage hin ehrlich geantwortet.”
“Darf auch ich Euch um eine ehrliche Antwort bitten?”, wendete sich Thranduil nun dem Wächter zu, welcher ihm augenblicklich mit dem gleichen Respekt begegnete und auffordernd nickte. “Würdet Ihr einer Verbindung zwischen mir und Farasar denn zustimmen?”, zitterte des silberhaarigen Elbs Stimme und rief damit Haledans Erstaunen hervor.
All die Jahre hatte er den Sindar als unterkühlte und abweisende Persönlichkeit wahrgenommen und konnte sich auch nicht daran erinnern, dass Thranduil jemals nach außen hin gezeigt hätte, welch Gefühlswelt er in sich barg. So oft schon hatte sich der Wächter im Stillen gefragt, was seine Tochter wohl faszinierend an dem Elbenmann fand, war sie doch eher ein offenes und fröhliches Wesen. “Seid unbesorgt, mein Herr Thranduil. Ich habe keine Einwände, weiß ich doch, dass sich Farasar zu Euch hingezogen fühlt und Eure Nähe genießt. Jedoch…”, sprach Haledan nicht weiter und blickte sinnend auf seine Hände, welche er nun vor seinem Bauch verschränkt hielt.
“Jedoch was?”, hakte der Hochgewachsene dunkel ahnend nach, doch bekam er nur einen gequälten Blick aus traurigen Augen zur Antwort. Eine leichte Hitze stieg in dem Elbenfürsten auf und gepresst stieß er hervor: “Was ist in dem Berg geschehen? Warum hat Farasar sich so verändert?”, musterte er mit eiskalten Augen den Wächter und sah, wie dieser leidlich nach Worten rang.
“Sie wollte Thorin opfern”, flüsterte Haledan schließlich.
“Opfern?”, rief Thranduil entsetzt aus und riss die Augen weit auf. Seine leicht geöffneten Lippen zitterten und die eben noch sanfte Röte auf seinen Wangen wich augenblicklich.
“Ja”, sprach der alte Elb bedrückt, “Thorin sollte sterben, doch dann entschied Farasar sich dagegen und entriss ihn dem Roten im letzten Moment.”
Fassungslos hielt der Silberhaarige eine Weile die Luft an und ließ seinen Blick unstet über das Wasser gleiten. Er wusste um den Hass, welchen die Wächterin auf die Zwerge hatte, jedoch hätte er ihr diesen barbarischen Schritt niemals zugetraut und schlussendlich war er dankbar dafür, dass sie sich doch noch zurückgehalten hatte. Allerdings gefror ihm das Blut in den Adern bei dem Gedanken daran, dass dieses so wundervolle Wesen, welchem er Vertrauen und Freundschaft schenkte, solch eine Tat geplant hatte.
Der Fürst brauchte eine Weile, um sich in den Griff zu bekommen und konnte dennoch nicht verhindern, dass seine Stimme vibrierte, als er leise fragte: “Wisst ihr den Grund dafür, dass sie sich anders entschied?”
“Nein. Sie hat mit mir nicht darüber gesprochen”, schüttelte Haledan den Kopf und spürte den inneren Kampf des Silberhaarigen, die nächste Frage zu stellen und sich damit zu offenbaren. “Ihr wollt wissen, ob Thorin Gefühle gegenüber meiner Tochter gezeigt hat, welche diese erwiderte?”, fragte er deshalb seinerseits geradeheraus, um Thranduil die Entscheidung abzunehmen.
“Haledan!”, sog der Sindar hörbar die Luft ein und schloss die Augen. Bebend presste er die Hände ineinander und sich gegen die Brust. Verzweiflung stieg in ihm auf bei dem Gedanken daran, die Frau, die er aus tiefstem Herzen liebte, an jenen Zwerg verlieren zu können, welchen er abgrundtief hasste.
“Die Eifersucht plagt Euch, mein Fürst”, lächelte der Wächter still. “Ihr solltet besser mit Farasar sprechen, als einem alten Mann etliche Fragen zu stellen, welcher diese nicht annähernd zu Eurer Zufriedenheit beantworten kann.”
“Oh”, keuchte Thranduil fahrig auf, “bitte verzeiht. Es lag nicht in meiner Absicht, Euch mit meinen Ängsten zu belasten”, sah der Elb betreten zu Boden und befürchtete, sein Gesicht könnte bei jedem weiteren Wort das gleiche tiefe Rot annehmen wie sein Gewand, welches er trug.
Sacht nahm Haledan die Hände des Fürsten und zwang ihn mit dieser unelbischen Geste zum Aufsehen. Geschockt und fragend starrte der Silberhaarige in des Wächters braune Augen.
“Sagt ihr selbst, dass Ihr sie liebt, Thranduil, und sie wird Euch antworten”, klang des Elbs Stimme beruhigend und gleichsam aufmunternd, obwohl er die Antwort darauf bereits kannte. Doch lag es nicht bei ihm, diese dem Elbenmann kundzutun. Kurz schaute er hinunter zu den beiden Frauen, welche sich langsam in Bewegung setzten und den schmalen Steg zum Ufer entlangschritten. Tief wühlte es ihn innerlich auf, als er Farasar sah - so zerbrechlich, kraftlos und schneeweiß im Gesicht. Welch große Bürde sie trug, wurde ihm in diesem Moment wieder einmal schmerzlich bewusst. Ohne Glanz schauten ihn diese großen Augen an, als sie und die Noldor bei den beiden Elben angekommen waren und schweigend verweilten.
Thranduil, welcher neben dem Wächter stand, zitterte leicht, doch war er nicht in der Lage, bei dem Anblick nur einen Ton über die Lippen zu bekommen. Nie zuvor hatte er die junge Frau so gesehen. Das Lachen in ihrem Gesicht war verschwunden und jegliche Unbeschwertheit und Lebensfreude suchte er vergebens in ihrer Ausstrahlung, welche er so sehr liebte.
Dunkel sah Farasar von unten herauf in des Elbs eisblaue Augen und spürte dessen Erwartung, etwas von ihr zu hören, doch sie schaffte es nicht, ihm nur ein Wort zu schenken. Mit gesenktem Kopf ging sie an ihm vorbei und spürte, wie sich der Körper des Mannes vor Kummer verkrampfte. Für einen kurzen Moment zögerte die junge Frau und berührte sanft mit der Hand des Sindars Arm, um weiter hinabzugleiten und schließlich die kalte Haut seiner Finger zu spüren. Doch noch immer sah sie Thranduil nicht an, welcher sichtlich Mühe hatte, seine Fassung zu bewahren, ahnte er doch, dass ihm die Geschehnisse aus der Hand zu gleiten schienen. Nichts war mehr so, wie er es einmal kannte. Das dumpfe Ziehen in seinen Eingeweiden nahm stetig zu und die Angst darum, erneut eine Liebe in seinem Leben verloren zu haben, ließ die Qual tief in seinem Inneren unerträglich werden.
Sie ging. Fort von ihm und ließ ihn zitternd stehen. Starr richtete Thranduil seinen Blick geradeaus, ohne ein wirkliches Ziel zu verfolgen. Hilflos nahm er wahr, wie sich der Abgrund in seinem Herzen öffnete, um jegliches Gefühl, welches an der Oberfläche brodelte, ohne Erbarmen hinabzuziehen. Eiseskälte zog sich durch des Elbs Glieder und endlose Verzweiflung stieg in ihm auf wie sengendes Feuer.
“Ihr solltet ihr folgen, Thranduil”, riss Galadriel den Fürsten aus seiner Lethargie und nickte kaum merklich, als dieser verwirrt zu ihr blickte. Verstört fuhr der Silberhaarige sich mit der Hand über die Stirn und schaute hilfesuchend zu Haledan, welcher ihn aufmunternd ansah.
“Ja…ja, ich…werde ihr folgen”, stotterte der Elb leise und wusste beim besten Willen nicht, über was er als erstes erschüttert sein sollte. Niemals zuvor war es vorgekommen, dass er nach außen hin so fahrig und haltlos wirkte, zumal es sich bei den Anwesenden nicht nur um einfache Elben handelte. Diese Chaos in seinem Inneren war ihm unbekannt und das Gefühl, völlig die Kontrolle über sich zu verlieren, lähmte ihn und ließ ihn schwindelig werden. Leise vor sich hinmurmelnd wendete der Fürst sich ab und folgte den Worten, welche er zuvor ausgesprochen hatte.
Bekümmert sah Haledan dem Mann hinterher und als dieser aus seinem Blickfeld verschwand, hob er zum Sprechen an: “Ihr wisst, dass Farasar sich für das Volk der Zwerge entschieden hat?”
Galadriel sah den alten Elb kurz musternd an, um sich dann dem Geländer zuzuwenden und ihren Blick hinunter auf das Wasser zu lenken: “Ja. So hat sie es mir gesagt und auch der König verriet mir, dass die Runen auf ihrer Haut blau erstrahlten. “
“Und dennoch scheint es mir, dass sie sich dagegen wehrt”, stellte der Wächter ungläubig fest.
Die Elbendame atmete tief durch: “Ihr kennt Eure Tochter, Haledan. Niemals würde sie von Thorin das Geschenk einfordern, ohne zuvor ihre Schuld beglichen zu haben. Sie weiß sehr wohl, was sie ihm angetan hat, und sie wird alles versuchen, um seinen Schmerz zu tilgen. Bevor dies nicht geschehen ist, kann ihr Herz für seine Liebe nicht frei sein.”
“Liebe?”, hauchte der Elb fragend und sah, wie Galadriels Lippen ein Schmunzeln preisgaben. Das Funkeln in ihren sternenklaren Augen verriet ihm die Wahrheit, noch bevor sie diese aussprach: “Habt ihr es denn nicht gespürt, Mellon? Zart noch, aber im Beginn zu wachsen. Stetig. Unaufhörlich.”
Haledan durchzog ein wohliger Schauer bei dem Gedanken daran, Thorin würde das wahr werden lassen, zu dem Thrain nicht in der Lage gewesen war. Könnte der König seiner Tochter wirklich das geben, was Thorgunn verwehrt geblieben ist? Zitternd schloss der Elb die Augen und holte sich die Erinnerung an den stolzen und stattlichen Zwergenkönig zurück. Zugleich kam auch Farasars Auftreten und Benehmen in ihm auf, als Thorin in ihrer Nähe war und sie unruhig wurde. Außerdem hatte Haledan genau beobachtet, wie die beiden sich vor den Toren den Erebor verabschiedet hatten und ja, er konnte sich nicht davor verschließen, dass er die Zuneigung zwischen ihnen gefühlt hatte.
“Ihr sagtet, sie wird ihre Schuld begleichen”, öffnete der Wächter plötzlich die noch leicht verhangenen Augen und hielt sich am Geländer fest. “Was meintet ihr damit?”
Galadriel antwortete nicht sofort, denn diese Neuigkeit, das wusste sie, würde den Elbenmann unwahrscheinlich aufwühlen. Mitfühlend sprach sie: “Farasar wird zu Ende bringen, was sie einst begonnen hat. Thorins Väter sind verloren in der Welt des Roten, wurde Ihnen doch das Hinübergehen verwehrt. Sie wird sie suchen und an den Ort bringen, welcher für sie bestimmt ist”, vernahm die Blonde in diesem Augenblick das Beben des Wächters und griff unvermittelt nach dessen Hand, welche sich krampfhaft um das Geländer gekrallt hatte, sodass die Knöchel der Finger weiß hervorstachen.
“Sie hätte es so einfach haben können”, hauchte Haledan kopfschüttelnd. “Thranduil liebt sie und sie fühlte sich bisher zu ihm hingezogen. Warum jetzt plötzlich der Zwerg? Warum trifft sie diese Entscheidung, welche sie das Leben kosten könnte? Der Rote wird Thror und Thrain nicht ohne weiteres freigeben.”
“Auch ich war bisher der Überzeugung, dass Eure Tochter die Elben vorziehen würde, doch wie mir scheint, fließt das Blut der Zwerge heißer durch ihre Adern. Sie hat das Herz ihrer Mutter, Haledan. Verwundert Euch dies?”, klang Galadriels Stimme mit einem leisen Unterton in des Wächters Ohren. “Und ich erinnere mich an einen Elb, der sein Herz an eben jene Frau verlor, welche nichts davon abbringen konnte, den Zwergen im Kampf zur Seite zu stehen.”
Mit großen Augen schaute Haledan die Noldor an, welche ihm freundlich entgegenblickte, und antwortete: “In der Tat. So ist es, Frau Galadriel. Sie ist wie Thorgunn und auch bei Farasar werden wir keine Macht haben, ihren Willen zu zähmen oder gar zu brechen. Aule hat sich bei dem Erschaffen der Zwerge in Sachen Sturheit und Dickköpfigkeit wahrlich nicht zurückgehalten”, huschte ein ergebenes Lächeln über des Wächters Gesicht, während die Anspannung langsam seine Glieder wieder verließ. Ihm war nur zu bewusst, er würde nichts an den Dingen ändern können, welche geschehen werden. Er konnte nur bereitstehen, wenn Farasar seine Hilfe brauchte.
Doch nach dieser verlangte die junge Frau im Moment nicht. Den schwarzen Umhang hatte sie beim Betreten des Gemaches abgelegt und seitdem stand sie vor dem großen Spiegel und sah sich selbst suchend in die Augen. Farasar wollte niemanden sehen oder gar in ihrer Nähe haben, doch sie hörte die Tür, welche leise geöffnet und ebenso vorsichtig wieder geschlossen wurde. Abwartend beobachtete sie den Silberhaarigen, welcher hinter ihr im Spiegel erschien und sie nicht aus den Augen ließ. Schweigend musterten sie sich gegenseitig, flach ging Thranduils Atem und das feuchte Schimmern in seinen Augen konnte er nicht verbergen: “Ich kann dich nicht so gehenlassen, ohne es wenigstens versucht zu haben”, flüsterte der Elb. “Du warst mir immer so nah, hast mich im Inneren berührt und…Warum Thorin? Warum dieser…”, brach Thranduils Stimme und bebend rang er nach Luft. Der Blick der jungen Frau war gequält auf ihn gerichtet und ihre Augenbrauen im Schmerz zur Nasenwurzel gezogen. Sie litt. Genauso wie er. Konnte er sie umstimmen? “Le melin, Farasar”, hauchte er kaum hörbar und sah, wie die Dunkelhaarige zitternd die Augen schloss. Sanft legte er seine Hände auf ihre Schultern, um ihr das Gefühl zu geben, bei ihm in Sicherheit zu sein. Das Empfinden, hier bei ihm würde sie das Glück und den Frieden finden.
Thranduil hörte augenblicklich das Knistern und spürte das Kribbeln unter seinen Fingern. Aufkeuchend wich er zurück: “Was ist das?” Durch das dunkle Gewand der Wächterin drang ein Leuchten und fasziniert von diesem Anblick konnte der Elb seine Augen nicht von diesem wenden. Neugierig streckte er die Hände aus, um zu fühlen, was er sah, doch jäh durchfuhr es ihn und er bereute, sich dem Licht genähert zu haben. Das zuerst gefühlte Kribbeln verwandelte sich in einen stechenden Schmerz, welcher sich durch die Hände über die Arme ausbreitete und schlussendlich rasend schnell durch seinen gesamten Körper fuhr. Fassungslos starrte Thranduil auf das blaue Leuchten, welches pulsierend unter dem Stoff immer stärker wurde, konnte jedoch seine Hände nicht von der Frau lösen, welche einfach nur dastand und ergeben dem Geschehen zusah.
Blau! Zwergenblau!, brach sich der Gedanke mit ungeahnter Wucht in Thranduils Hirn Bahn. Wellen heißer Wut durchpflügten den Körper des Hochgewachsenen und mit einer Klarheit über Farasars Entscheidung brüllte er: “Du liebst ihn! Das hast du schon immer getan!”, krallte er seine schlanken und vom Schmerz gepeinigten Finger in die Schultern der Wächterin und riss ihr mit unsagbarem Zorn im Herzen das Gewand vom Leibe. Schneidend laut war das Geräusch des entzweigehenden Stoffes, doch Thranduil vergaß jegliches Maß. Ungezügelt ließ er seinem Jähzorn freien Lauf und ruhte erst, als er den Frauenkörper bis auf das letzte Stück des Kleides entblößt hatte.
“Bei allen Valar”, stürzte der Elb rückwärts zu Boden und sein Blick war getrübt hinter dem Schleier der silbernen Haare, welche wirr in seinem Gesicht klebten. Pures Entsetzen stand in seinen weit aufgerissenen Augen, welche nicht glauben wollten, was sie erblickten. “Du hast mir nie davon erzählt, dass…”, brach er seinen Satz vorzeitig ab, denn ihm wurde bewusst, er hatte die junge Frau nie freizügig erlebt. Die Kleidung, welche sie getragen hatte, war stets hochgeschlossen und hatte lange Ärmel. Grübelnd blickte Thranduil zu Boden, doch sein Stirnrunzeln verschwand, als ihm die Erkenntnis kam, warum Farasar bei ihrem letzten gemeinsamen Treffen nicht zu mehr als diesem Kuss bereit war.
Langsam wendete sich die Wächterin um und ging auf den Silberhaarigen zu. Das Leuchten, welches schwächer geworden war, als der Sindar fiel, wurde nun mit jedem Schritt näher zu ihm wieder kräftiger. Ruhig und pulsierend erstrahlte dieses schillernde Blau der Runen und hatte eine faszinierende Anziehungskraft, doch der Elb hob abwehrend die Hände und flehte: “Nicht! Komm mir nicht zu nah.”
Farasar sah die Angst in den eisblauen Augen und blieb erschauernd stehen: “Sie haben dir Schmerzen bereitet?”, wollte sie leise wissen und bemerkte im selben Moment das furchtsame Zurückweichen des Elbenmannes. So wie er einst ihre Nähe suchte, scheute er diese nun. Die Wächterin nickte betrübt: “Ich kann dich nicht lieben, Thranduil. Die Runen zeigen mir den Weg. Meinen Weg!”, zog sie sich leise zurück, um sich ein neues Gewand zu holen und ihre Blößen zu bedecken. Demonstrativ blieb sie weit entfernt von der Tür stehen, um dem Silberhaarigen die Möglichkeit zu geben, diesen Raum ohne Angst vor ihr verlassen zu können. Traurig sah sie ihm zu, wie er sich ächzend erhob und sich vorsichtig dem Ausgang näherte.
“Mellon!”, flehte die junge Frau den Sindar an, doch den Blick, welchen dieser ihr schenkte, konnte sie nicht beschreiben. Zu viel war geschehen, was nicht mehr rückgängig zu machen war. Sie konnten es nur akzeptieren und versuchen, mit dem Wissen zu leben.
**
Glutrot war der Mond über den Wipfeln des Hains aufgestiegen, als sich die Elben nach dem gemeinsamen Mahl zur Ruhe gelegt hatten, um der bedrückenden Stimmung zu entfliehen. Nur vereinzelte Worte waren miteinander gewechselt worden, belangloses Geplänkel, welches von dem dumpfen und dunklen Befinden der Anwesenden ablenken sollte.
Regungslos blieb die junge Frau nun in der Tür stehen und sah sich noch einmal zu dem schlafenden Mann um, welcher selbst in seinen Träumen keine Ruhe fand und die Sorgen in seinem Gesicht deutlich zu sehen waren. Farasars Blick glitt langsam durch das Gemach ihres Vaters, welches sie in allen Einzelheiten kannte wie ihr eigenes. Wie oft war sie als Kind in Haledans Bett gekrochen und unter seine Decke geschlüpft, um seine Nähe und Wärme zu spüren, wenn er dann einen Arm um sie legte und nah an sich heranzog. Sie hatten nie viel gesprochen in solchen Momenten, nur mit dunklen Augen durch das große geöffnete Fenster hinaus in die Nacht gesehen und den Schmerz im Inneren zu bekämpfen versucht. Selbst als Farasar schon eine junge Frau war und es sich eigentlich nicht geziemte, an des Vaters Seite zu liegen, hatte sie sich nicht gescheut, in so mancher Nacht Haledans Geborgenheit zu suchen.
Er war ihr Ada, nicht mehr und auch nicht weniger. Er war der Mann, welcher sie allein großgezogen und in allem gelehrt hatte, was sie wissen und können musste. Und er war der Mann, welcher für Farasar da war und sie auffing, wenn sie fiel und aus ihrer Trauer keinen Weg mehr finden konnte. Nur gesprochen hatten sie nie darüber. Erst im Berg hatte sich Haledan ansatzweise seiner Tochter öffnen können, als er begriff, welch großer Fehler es war, all die Jahre zu schweigen.
“I galad en elenath nadh râd gîn”, hauchte Farasar und schlich aus dem Haus, in welchem sie geboren und großgeworden war. Getrieben von dem schlechten Gewissen, sich nicht richtig von ihrem Vater verabschiedet zu haben, und der Angst davor, gesehen und von ihrem Vorhaben abgehalten zu werden, stürzte sie fluchtartig auf dem schmalen Pfad der Lichtung entgegen, welche nicht weit entfernt auf einer kleinen Anhöhe lag. In der Mitte hatte Damirie vor tausenden von Jahren seine Wurzeln geschlagen und es benötigte allein vierzig Männer, um den Stamm in seinem Umfang zu umfassen. Hell und samtweich erschien die Rinde des Baumes, welcher stets sein breites Blätterdach schützend über die Lichtung hielt. In diesem Ausmaß umspannten lebensgroße Steinblöcke, gehauen aus dem Gebirge des Düsterwaldes und in regelmäßigen Abständen in die Erde getrieben, das Rondell.
Hierher hatte sich Farasar oft zurückgezogen, wenn sie mit ihren Gedanken allein sein wollte. So wie Haledan in das Gebirge ging, um über besondere Dinge zu grübeln, so verweilte sie meist tagelang in dieser Oase des Friedens und der Magie, welche sich an eben diesem Ort verstärkt bündelte und der Va’ari neue Kraft gab. Regungslos saß sie dann in einer Kuhle des Baumes und driftete innerlich in weite Ferne.
Die Wächterin hatte ihr angestrebtes Ziel beinahe erreicht, als sich eine helle Erscheinung auf die Lichtung schob und unweit an einem der Steine verharrte, sodass Farasar ihren zügigen Schritt drosselte und langsam weiterging: “Ihr habt mich erwartet?”, blieb die junge Frau vor der Elbendame stehen, doch sie sah an dieser vorbei.
“Ja. Der Blutmond ließ mich ahnen, dass Ihr diese Nacht erwählt. Dinge werden geschehen, die ich nicht beeinflussen kann”, antworte Galadriel mit ruhigem und freundlichen Ton.
“Und dennoch seid Ihr hier, um es zu versuchen”, senkte die Wächterin den Kopf, um eben jene Antwort zu bekommen, welche sie nicht hören wollte: “Wenn ich Euch von Eurem Vorhaben abhalten kann, dann war es das wert.”
Langsam hob die Va’ari den Kopf und sah der Noldor kalt in die Augen, in deren Blick Unsicherheit zu erkennen war, denn diese hatte zwar unbeschreibliche Macht, jedoch gegen Farasar würde auch sie nicht ankommen.
Leise und mit unterschwelliger Angespanntheit versuchte Galadriel, die junge Frau zu beeinflussen: “Ihr habt etwas vor, zu dem Euch keiner drängt, Farasar.”
“Mein Gewissen zwingt mich”, kam es knurrend über die Lippen der Dunkelhaarigen.
“Ihr seid eine Va’ari. Ein Gewissen ist in dieser Situation unangebracht. Eure Aufgabe besteht darin, einen neuen Wächter hervorzubringen”, entgegnete die Noldor nun etwas schärfer und zwang mit ihrem Blick die Wächterin, diesen zu halten, um darin lesen zu können.
Fassungslos starrte Farasar die Elbendame an und keuchte: “Ihr meint, ich solle den Zwerg einfach zu mir holen und ihn benutzen, als wäre nie etwas geschehen?”
“Ihr würdet Euch nicht an ihm vergehen”, lächelte nun die Elbin im weißen Gewand. ”Dies wisst Ihr. Thorin ist Euch zugetan, auch wenn Ihr ihn habt leiden lassen, so würde er sich Euch nicht verweigern, hat er Euch doch längst verziehen”, beobachtete sie aufmerksam die Reaktion der jungen Frau, welche sich leicht abwendete und die Augen schloss, sich innerlich weigernd, diese Tatsache zu akzeptieren. Sie wollte von Thorins aufkommenden Gefühlen weder etwas hören noch darüber nachdenken. Die Vorstellung, dass der Zwergenkönig mehr für sie empfand, ließ sie erschauern und die Furcht, eben diese Gefühlsregungen könnten sie beeinflussen, ließen sie störrisch werden: “Ich kann mir nicht verzeihen, Frau Galadriel”, hauchte die Wächterin und rang um Fassung.
“Ihr habt Euch doch längst entschieden. Was ist so schwer daran, Eurer Aufgabe gerecht zu werden?”, wollte die Noldor ehrlich gemeint wissen und trat nah an Haledans Tochter heran.
“Nicht ich habe eine Entscheidung getroffen!”, ließ Farasar die Schultern hängen. “Die Runen sind erwacht, ohne dass ich es wollte oder steuern konnte. Nicht ich will den Zwerg!”, bekräftigte sie.
Galadriel schüttelte leicht den Kopf und legte freundschaftlich eine Hand auf den feinen dunkelblauen Stoff, welcher Farasars Schultern umspannte: “Die Runen kennen Euer Wesen, Wächterin. Sie wissen um Eure Gedanken und hören das Rufen Eurer Seele. Sie gaben nur das preis, was sie von Euch wahrnahmen. Warum weigert Ihr Euch, dies anzunehmen? Thorin hat einen Weg zu Eurem Herzen gefunden und Ihr blockiert diesen mit aller Macht, anstatt Euch dem Mann zu öffnen, welcher Euch doch mehr bedeutet, als ihr zugeben wollt.”
“Ich kann nicht”, hauchte Farasar und entfernte sich von der Noldor, um weiter auf den Baum zuzugehen.
“Was ist mit Dharag?”, rief Galadriel der Va’ari hinterher, ohne dieser zu folgen, wusste sie doch, dass das Betreten des Steinkreises ihr verboten war.
“Was soll mit ihm sein?”, entgegnete die Wächterin tonlos und blieb noch einmal stehen.
“Glaubt Ihr wirklich, er wird Thror und Thrain einfach so freigeben?”, zitterte die Stimme der Elbendame. “Jetzt, da er sie nun einmal besitzt, wird der Rote sie nicht gehenlassen.”
“Nein. Das wird er nicht. Dessen bin ich mir wohl bewusst”, stöhnte Farasar leise auf und legte den Kopf in den Nacken. Sie spürte das Kribbeln auf der Haut als ein Zeichen des einsetzenden Zaubers, welchen die Noldor begann zu weben.
“Was seid Ihr bereit zu geben? Wie hoch wird der Preis sein?”, rief Galadriel entsetzt und hob flehend beide Hände, doch sie bekam keine Antwort und musste mit ansehen, wie sich die junge Frau weiterhin von ihr entfernte. “Farasar!”
“Ihr tut gut daran, jetzt zu gehen”, schaute die Va’ari mit Feuer in den Augen und grollender Stimme zurück. Noch im selben Augenblick fühlte sie, wie Galadriel ihre Macht bündelte, um sie zurückzuhalten, doch die Va’ari hatte es vorausgesehen und reagierte umgehend. Blitzschnell erhoben sich Wände gleich flüssigem Mithril zwischen den Steinen und boten dem Baum und der jungen Frau Schutz im Inneren. “Diheno enni”, knurrte es dunkel durch das Lichtspiel, welches sich ruhig schimmernd in leichten gleichmäßigen Wellen bewegte.
Entsetzt schlug sich Galadriel die Hände vor den Mund und sah nur noch die rote Flamme in den Augen der Wächterin. Ungut breitete sich das Gefühl in ihr aus, dass sie eher hätte reagieren müssen, denn die Ahnung, dass Farasar nicht nur ging, um Thorins Ahnen zu befreien, wuchs mit jedem Herzschlag und nahm ihr die Luft zum Atmen. “Ruft mich, wenn Ihr mich braucht”, keuchte die Elbendame mit Tränen in den Augen auf und wendete sich zitternd ab, um hilfesuchend den schmalen Pfad zu Haledans Haus hinabzueilen, welchen sie noch nicht ganz erreicht hatte, als die Druckwelle sie zu Boden schleuderte, deren Ausgangspunkt in der Mitte der Lichtung lag. Gleichzeitig flog krachend die Tür des Anwesens an die Außenseite der Hauswand, aus welcher der Wächter mit angstgeweiteten Augen herausstürmte. Mit nichts als der leichten Hose bekleidet und einem Amulett in der Hand haltend, rannte der Elbenmann zu der Noldor und nahm sie schützend in den Arm.
“Sie ist fort, Galadriel!”, schrie Haledan gegen das Tosen an, welches sich nach der Druckwelle erhoben hatte. “Sie ist einfach gegangen! Warum hieltet Ihr sie nicht zurück…Sie ist…mein…Kind….!”, sah der Elb tränenüberströmt in Richtung Lichtung, aus welcher sich ein in sich selbst drehender Strom silbernen Lichts in den Himmel ergoss und über Meilen hinweg zu sehen war.
“Ich konnte sie nicht umstimmen”, rief die Elbendame bebend zurück und klammerte sich hilfesuchend an den Mann. “Sie wird zurückkommen, Haledan”, versuchte sie, den Wächter zu beruhigen, doch dieser sah sie nur traurig an und kämpfte gegen den kalten Wind, welcher sich über dem Hain erhoben hatte und ihm die langen Haare über das Gesicht peitschte. Verzweifelt schüttelte er den Kopf und hielt der Noldor das Amulett vor Augen, welches in seiner Hand pendelte. “Das, Galadriel”, missachtete er jegliche Höflichkeitsform, “ist ihr Abschiedsgeschenk an mich. Farasars Mutter gab es ihr, als sie starb!”, brach der Mann entgültig zusammen und blieb kraftlos und von Schmerz gepeinigt liegen. Nur die nächste Druckwelle und die Intensität des Sturmes, welcher schlagartig stärker wurde, ließen den Elbenkörper erbeben. Blau spiegelte sich nun das Flirren der Lichtung in Galadriels weit aufgerissenen Augen, welche zu begreifen versuchte, was in diesem Moment wirklich geschah…
…ebenso wie der Elb, dessen eisblauer Blick durch das Dunkel der Nacht zu ergründen suchte, was ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Ein heftiger Windstoß hatte die langen Vorhänge an den Fenstern in Wallung gebracht, sodass deren Enden über den kleinen Tisch gewirbelt und die darauf befindlichen Gläser und Karaffen mit einem lauten Klirren von demselbigen heruntergeschleudert wurden.
Eilig erhob sich Thranduil aus dem Bett und vorsichtig die Scherben auf dem Boden umgehend, näherte er sich dem ausladenden Balkon seines Gemaches und schaute in Richtung Düsterwaldgebirge. Erschauernd nahm er den Anblick in sich auf, zog fröstelnd den leichten Morgenmantel enger und legte die Arme eng auf die Brust. Ahnend zitterte der Fürst des Waldlandreiches und fühlte den eiskalten Wind durch seine silberweißen Haare fahren. Das Sirren in der Luft nahm beständig zu und weit oben unter der Sternendecke des nächtlichen Himmels zuckten grelle Blitze in unregelmäßigen Abständen.
Bebend wollte sich der Hochgewachsene abwenden, als ein tiefes Grollen und ein unheilvolles Vibrieren die Luft erfüllte, und im nächsten Moment fuhr der Wind mit einem unnachgiebigen Druck durch den Düsterwald und tauchte das Land in tiefes leuchtendes Blau…
…dasselbe Blau, welches unter buschigen Augenbrauen gebannt über den Torwall des Erebor in Richtung Südwesten blickte. Es war nicht nur das Vibrieren des Berges gewesen, welches den König hatte aufspringen lassen von dem Sessel, in dem er mit Sehnsucht erfüllt eingeschlafen war. Nein, auch das Wehklagen aus den Grüften hatte wieder eingesetzt und Thorin innerlich alarmiert hinausgetrieben. Nicht einmal die Zeit zum Anziehen hatte er sich genommen und war barfuß und ohne Tunika auf die Mauer gehetzt.
Der Schwarzhaarige spürte nicht den kalten Sturm, welcher ihm mit Macht die Haare aus dem Gesicht trieb und schwer auf seinen Rücken schlagen ließ. Er fühlte nicht den Druck der Welle, als das blaue Leuchten einsetzte, und das dröhnende Tosen drang nicht in sein Bewusstsein. Des Zwerges Gedanken galten nur einer Person - Farasar! Und er spürte, dass etwas geschah, welches er weder greifen noch begreifen konnte. Es war nah bei ihm - in ihm - und doch entglitt es Thorin mit jedem Schlag seines Herzens und überließ den freiwerdenden Platz einem schmerzhaften Empfinden.
Hilflos strich er sich mit beiden Händen durch die Haare und ließ sie zusammengekrallt in seinem Nacken verharren. Unstet irrte sein verzweifelter und tränenverhangener Blick durch die Nacht und er konnte dennoch keine Erklärung für das Geschehen finden. Rasselnd jagte des Zwerges heftiger Atem durch seine bebende Brust, als er unruhig, wie ein gefangenes Tier, den Torwall abschritt und nicht bemerkte, wie sich am Ende der Mauer im Dunkel die Luft veränderte, um flirrend in Gestalt eines Wesens dichter zu werden.
Langsam sammelte sich Farasar, als sie nach dem erneuten Beben des Berges dem hämmernden Herzschlag des einen Zwerges gefolgt war. Dröhnend klang Thorins Lebenstakt ihr entgegen und ließ ihre Erscheinung vibrieren wie feinsten aufgewirbelten Silberstaub. Es war nur ein Teil von ihr, welcher abgedriftet war, bevor sie den Weg ins Dunkel beschritt. Ihren Körper hatte sie zurückgelassen im Schutz des Baumes auf der Lichtung, versiegelt mit flüssigem Mithril zwischen den Steinen.
“Thorin”, flüsterte die Va’ari, obwohl sie wusste, dass der Schwarzhaarige sie nicht hören konnte. Nicht wie damals, als sie ihm den Traum schickte und beruhigend auf ihn einsprach. Auch in jener Nacht konnte er sie nicht sehen, hatte sie seinem Körper doch befohlen, nur zu fühlen. Diesmal war es kein Traum und so blieb sie dem König verborgen, hatten die Zwerge seit jeher keine große Bindung zu Magie in jedweder Form. Und trotz alledem blieb der Krieger einige Schritte von ihr entfernt stehen und starrte in ihre Richtung. Sah er sie? Das konnte nicht sein! Farasar sah ihn langsam auf sich zukommen mit ungläubig zusammengekniffenen Augen und zitternden Lippen. Der Anblick seines freien Oberkörpers ließ sie atemlos werden und das Bemerken der tief und locker sitzenden Hose auf seinen Hüften brachte sie in Aufruhr.
“Nein”, keuchte sie abwehrend und wich ein kleines Stück zurück, als Thorin vor ihr stehenblieb und vorsichtig die Hand nach ihr ausstreckte. Sie hätte nicht noch einmal herkommen dürfen, doch Farasar wollte ihn ein letztes Mal sehen, heimlich sein Gesicht betrachten und vielleicht ihn spüren und…
”Du…bist…hier…”, verzichtete der Schwarzhaarige flüsternd auf sämtliche Höflichkeitsformen und hielt in seiner Bewegung inne, das schillernde Wesen vor sich berühren zu wollen.
Schweigend stand die Va’ari da und traute sich nicht, irgendetwas zu sagen oder sich zu bewegen. Noch immer war sie erschüttert über die Erkenntnis, dass Thorin sie sehen konnte, denn dies war eigentlich nicht möglich. Nur eine Sache würde ihn dazu befähigen, das Unvermögen der Zwerge zu durchbrechen - Liebe!
“Rede mit mir, Farasar. Gib mir nur ein Wort, damit ich weiß, dass ich mir deine Anwesenheit nicht einbilde”, bat Thorin mit flehendem Blick und das Sprechen fiel ihm hörbar schwer.
Doch die Wächterin antwortete nicht. Ergriffen musste sie zusehen, wie sich in des Zwerges traurigen Augen das Wasser sammelte und deren flackerndes Blau ertränkte. Unweigerlich drängten sich Galadriels Worte in ihr Gedächtnis…
Farasar ließ ihrer Begabung freien Lauf und wurde mit Macht von einer Welle überrollt, welche tief aus dem Inneren des Schwarzhaarigen auf sie zukam. So intensiv und gewaltig hatte sie noch nie die Gefühle eines anderen gespürt und in sich aufgenommen. Doch die Signale, welche Thorin unbewusst aussendete, setzten eine Reaktion frei, die bisher nicht vorstellbar war. Knisternd tanzte der Silberstaub immer schneller werdend. Festere Knäuel entstanden, welche sich mit rasender Geschwindigkeit aneinanderhefteten, um sich zu einer funkelnden Masse zu verbinden und damit dem Zwerg einen Anblick auf die junge Frau gaben, als würde sie aus flüssigem Mithril bestehen. Fassungslos sah die Wächterin an sich hinab, hob die Hände und betrachte diese, um sie sich schlussendlich zitternd vor die Brust zu pressen. Fragend schaute sie dem Zwerg in die Augen, welcher sie nur fasziniert ansah und seinen Blick nicht von ihr wenden konnte.
“Thorin….”, flüsterte sie und hoffte auf eine Reaktion des Mannes, doch dieser schüttelte nur den Kopf: “Ich sehe, deine Lippen bewegen sich, jedoch kann ich dich nicht hören”, sah er gequält in die silbernen Augen der Va’ari und keuchte ergeben auf: “Ich kenne deine Stimme. Ich muss diese nicht hören, singt sie doch ein Lied tief in mir”, hob er nun wieder die Hand und näherte sich dem Flimmern, welches ihm nicht unbekannt war, hatte doch eine Wand aus eben dieser Beschaffenheit verhindert, dass er durch das rote Tor gezogen wurde. Angenehm kühl und weich lag Farasars Wange in seiner Hand. Atemlos schaute er zu, wie die junge Frau sich zögerlich hineinschmiegte und die Augen schloss. Obwohl das Schimmern und Flirren den Blick des Mannes irritierte, sah er sie - diese einzelne Träne, welche sich hervorschob, über Farasars Wange glitt und sich unter seiner Hand versteckte.
“Amrâ…”, brach Thorin unvermittelt ab und wich entsetzt zurück, als er das Feuer sah, welches in den schlagartig aufgerissenen Augen der Va’ari ausbrach und der Fluss des Silbers sich auflöste in feinsten Staub. Jetzt spürte er auch den Sturm, welcher das Gemäuer erbeben ließ und sein Körper vibrierte unter dem Dröhnen, welches über die Lande zog. Ruckartig riss er den Kopf herum und sah hinüber zum Düsterwald, welcher in flammendem Rot unter dem nächtlichen Himmel erstrahlte. “Nein…”, keuchte der Zwerg fassungslos auf und lehnte sich über den Torwall. Seine Fingerkuppen platzten blutend auf, als er seine Hände gleich Pranken in das kalte Gestein schlug und die Nägel brechen ließ, doch der sengende Schmerz in seinem Herzen konnte nicht übertroffen werden. Der König tobte. Schrie gegen den wütenden Sturm und die innere Qual an, welche ihn langsam an der Mauer entlangschrammen ließ, bis er mit aufgerissener Haut kraftlos und entmutigt auf den Knien hockenblieb und die Stirn gegen den harten Untergrund presste.
Thorin spürte nicht mehr, wie eine letzte Welle das Land glutrot unter sich begrub, um schließlich in tiefem Schwarz und eisiger Stille zu enden.
**
“Bei meinem Barte, Thorin!”, rief Balin erschrocken, als er den Freund zusammengesunken auf dem Torwall entdeckte und zu ihm eilte. Schützend legte er den Arm um des Kriegers Schultern und zog ihn zu sich heran. Eiskalt fühlte sich Thorins Haut an und in dem Moment, als dieser den Kopf hob, um mit leeren Augen den Weißhaarigen anzublicken, schüttelte es ihn vom Kopf bis zu den Füßen.
“Sag mir, was ist passiert? Warum hockst du hier halbnackt? Und wie lange schon?”, erdrückte der Alte den König mit Fragen und musste doch erkennen, dass dieser zu keiner Antwort fähig war. “Komm mit rein. Ich helfe dir”, packte er ächzend den stämmigen Mann unter den Armen und zog ihn nach oben. Flüchtig sah er die Haut, welche in langen Striemen heruntergerissen war und sich eine blutige Kruste darüber gebildet hatte. Als Balins Blick über Thorins Hände glitt, stöhnte er leise auf und schluckte hart. Was auch immer geschehen sein mochte, es hatte den Krieger in den Tiefen seines Inneren aufgewühlt und gequält.
Nur langsam und schlurfend kamen sie voran, doch durch die Bewegung pulsierte Thorins Blut wieder schneller durch die Adern und trieb die Hitze in seine Haut. Das Zittern vor Kälte wich dem der Anstrengung, Leben kehrte in seinen Körper zurück und ließ sein Hirn auf Hochtouren laufen. Abrupt blieb er stehen und sah Balin grübelnd an: "Sag mir, das Gemach, in dem die Wächterin untergebracht war, hat dies seit ihrer Abreise jemand betreten?"
"Nein", schüttelte der Zwergengreis energisch den Kopf. "Bei allen Bärten, der im Erebor lebenden Zwerge, keiner würde sich dort hineintrauen. Nicht nach alldem, was geschehen ist."
Der König nickte verständnisvoll und drehte den Kopf nach rechts, um festzustellen, dass er bereits vor der richtigen Tür stand. Langsam straffte er sich und atmete tief durch. Balin bekam große Augen, als er begriff, welcher Gedanke in Thorins Kopf herumspuken musste und aus diesem Grund klang seine Stimme auch mahnend: "Glaubst du wirklich, dass dies eine gute Idee ist, Freund? Du solltest dich besser um dich kümmern, dass du dich ankleidest und etwas isst. Zudem wollte Gandalf noch mit dir sprechen. Es schien mir dringlich zu sein."
Der Schwarzhaarige lächelte, doch er genoss auch die Fürsorge des Kriegers und sprach beruhigend: "Gandalf muss noch etwas warten. Und das Essen auch. Ich habe das Gefühl, dass ich nur in diesem Raum eine Antwort auf meine Frage erhalte, welche letzte Nacht in mir aufgekommen ist. Und ich möchte allein hineingehen. Verstehst du?"
Eine Weile sah Balin den Zwergenmann abschätzend in die blauen Augen, welche wieder funkelten vor Tatendrang, und brummte: "Sie gefällt dir nicht nur, nicht wahr? Du machst dir Sorgen um sie, du denkst und fühlst tiefer."
Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah Thorin auf den Boden und sinnierte mit einem leichten Knurren in der Stimme: "Ich habe mich dagegen gewehrt, Balin, doch es wuchs stetig weiter und ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Letzte Nacht", sah der Zwerg auf, "ist etwas geschehen, was tief in mir etwas aufgerissen hat. Es brodelt. Es zerreißt mich. Und ich weiß, dass jeglicher Kampf dagegen sinnlos ist."
"Dann geh hinein", seufzte der Alte. "Ich werde Gandalf vertrösten und ihm sagen, dass du ihn später aufsuchen wirst", nickte er dem Schwarzhaarigen kurz zu und überspielte halbherzig das ungute Gefühl in der Magengegend und dass er nicht einverstanden war mit Thorins Vorhaben, doch er wußte nur zu gut, dass er den Freund nicht davon abbringen konnte.
Einen Moment noch sah der König dem Weißhaarigen hinterher, um sich dann langsam der Tür zu nähern und sie zu öffnen. Kaum hatte er diese einen Spalt weit aufgeschoben, überkam ihn ein wohliger Schauer und tief sog er die Luft ein. Er kannte diesen Duft und war erstaunt, dass dieser noch immer in dem Gemach so stark zu vernehmen war, gerade so, als wenn die darin lebende Person erst kürzlich den Raum verlassen hätte.
Vorsichtig ging Thorin hinein und sah sich um. Auf den ersten Blick war nichts Auffälliges zu entdecken und so näherte er sich dem Tisch, auf dem noch immer Krüge und Gläser standen, welche für den Gast bereitgestellt und mit verschiedenen Getränken befüllt worden waren. Thorin erinnerte sich, dass die Wächterin das Essen hatte wieder hinausschaffen lassen, und war in diesem Moment dankbar dafür, hätten sich die Speisen nach mehreren Tagen offenen Stehens doch wahrlich nicht mehr der anfänglichen Frische erfreut.
Nun sah der Krieger genauer hin. Die Karaffen mit Wasser und Wein waren unberührt und auch die dazugehörigen Gläser. Zögerlich langte der Zwerg nach dem offensichtlich benutzten Krug, hob ihn an die Nase und roch daran. Bier! Farasar hatte tatsächlich das Bier der Zwerge getrunken! Ein kurzer überraschter Laut entrang sich aus des Schwarzhaarigen Kehle und das breite Grinsen in seinem Gesicht konnte er sich nicht verkneifen. Jedoch zog es im selben Moment schmerzlich in seinem Herzen, fachte es doch seine Sehnsucht umso mehr an, je länger er sich mit diesen kleinen und unscheinbaren Dingen befasste, an welche er sich klammerte wie ein Ertrinkender an einem Seil. Wirr rumorte dieses Gefühl in ihm und - Bei Durin! - Thorin war ein Mann und kein Jungzwerg mehr, dennoch kribbelte es in ihm und ließ pure Hitze durch seine Glieder treiben. Die Qual, welche gleichzeitig mit dem Hochgefühl einherging, wuchs ins Unermessliche.
Eilig und mit einem dumpfen Laut stellte er den Krug wieder ab und ließ seinen Blick wandern. Alles war ordentlich und sauber, fast hätte er meinen können, in diesem Raum hatte niemand mehrere Nächte verbracht. Unwillkürlich hielt Thorin den Atem an, als sein Betrachten abrupt beim Bett stoppte und er die blaue Tunika erkannte, welche er in der Nacht des Seelenwandelns getragen und später der Wächterin gegeben hatte. Langsam überbrückte er den Abstand zwischen Tisch und Bett und blieb vor der Schlafstatt stehen. Ohne Falte lag das Kleidungsstück ausgebreitet auf den Kissen und löste in dem Krieger glühende Erinnerungen aus. Erneut sah Thorin vor seinem geistigen Auge die junge Frau brennen und auf die Knie sinken. Selbst das Kribbeln unter seinen Fingerspitzen meinte er, wieder spüren zu können, als er seine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte, bevor die verkohlte Hautschicht zu bröckeln begann und Farasars Runen in einem intensiven Blau erleuchteten. Er hatte sie gesehen - nackt. Zitternd hatte sie vor ihm gestanden und ihr Anblick, als sein Blick kurz und doch intensiv auf ihrem Körper lag, hatte sich sofort in seinem Gedächtnis eingebrannt. So oft hatte er in letzter Zeit an genau diesen Moment denken müssen, auch wenn die Situation zu dem damaligen Zeitpunkt mehr als unangenehm und für sinnliche Gedanken unangebracht gewesen war. Ob Farasars sichtbare Zeichen nur der Kälte zuzuschreiben waren, konnte Thorin nicht genau sagen, beschlich ihn doch damals schon das Gefühl, dass auch die junge Frau um ihre Fassung ringen musste, als schließlich er mit freiem Oberkörper vor ihr stand und ihren heißen Blick genoss, welcher über seine Brust glitt.
Thorin stöhnte leise auf. Seine Erinnerungen ließen ihn innerlich leicht beben und er war froh, dass er allein im Raum war, hätte ein anderer doch ohne Mühe das nach außenhin gut sichtbare Resultat seiner Gedanken erkennen können. Doch das war es nicht allein, was ihn beschäftigte, grübelte er doch unablässig über Farasars Worte. Worte, welche ihn süß in ihren Bann gezogen hatten, um jäh im nächsten Moment Schauer der Kälte über seine Haut zu treiben. Die braunen Augen der Wächterin hatten oftmals deren Sehnsucht und Verletzlichkeit erkennen lassen, doch im nächsten Moment brannte purer Hass in ihnen und sie wünschte seinen Tod.
Welche Wut hatte in Thorin getobt, als der Elb vor dem Berg aufgetaucht war und er sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, Thranduil möge samt seiner Geliebten so schnell wie möglich aus seinem Reich verschwinden. Wie fassungslos hatte er dagestanden, als Galadriel die Farbe der Runen als das Blau des Zwergenkönigs bezeichnete und Hoffnung in ihm aufkeimen ließ. Wie sehr hatte er sich gewünscht, dass die Va’ari sich noch einmal zu ihm umdrehen und von ihm verabschieden möge. Er hätte bersten können, als sie endlich vor ihm gestanden und ihn mit einem Blick angesehen hatte, welcher so intensiv war, dass ihn das Gefühl überrollte, er würde jeden Augenblick in Flammen aufgehen. Und wie sehr war er über sich selbst überrascht, mit welcher Erleichterung er vernommen hatte, dass Farasar dem Elb nicht das gegeben hatte, wovon Thorin selbst träumen durfte.
Hilflos beugte sich der Schwarzhaarige leicht nach vorn und strich beinahe zärtlich über den weichen Stoff, welchen die Wächterin auf ihrer Haut getragen hatte, und Thorin musste an sich halten, die Tunika nicht hochzureißen und sein Gesicht hineinzudrücken, um Farasars Duft in sich aufzusaugen. Bei Durin! Was war nur mit ihm los? Konnte es wirklich sein, dass er dieselbe Frau, welche er noch vor kurzer Zeit verabscheute und diese ihn hatte umbringen wollen, so tief in sein Herz hineingelassen hatte, dass er sie nicht mehr daraus verbannen konnte? Wo kam diese unerträgliche Sehnsucht her, welche in jeder Faser seines Körpers zu stecken schien und ihn rasend machte? Eine Sehnsucht, die barbarisch schmerzte. Welche ihm schon so oft einen Kloß in seinen Hals getrieben hatte und glitzernde Feuchtigkeit in die Augen steigen ließ, sodass er kämpfen musste, um sich nicht einfach der Qual hinzugeben und seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen.
Wieder kämpfte er. Mühsam presste der Krieger die Lippen aufeinander und schloss die Augen. Doch je mehr er versuchte, seinen Atem zu beruhigen, umso so stossartiger kam dieser hervor. Er würde es nicht schaffen - nicht dieses Mal! Mit dem letzten Versuch der Verzweiflung drückte er eine Faust auf seine Lippen, um sich doch noch unter Kontrolle zu bekommen. Panisch und hilfesuchend irrte sein Blick ziellos umher, doch seine Sicht verschwamm zunehmend. Thorin fühlte das Wasser in seinen Augen steigen, welches sich jeden Moment einen Weg in die Freiheit bahnen würde…
Der Zwergenmann brach entgültig und ging langsam in die Knie. Schluchzend und die Stirn an das Bett lehnend, legte er die Arme darauf und krallte seine Finger in den blauen Stoff, um ihn zu sich heranzuziehen. Der Duft der Va’ari, welcher noch in den Fasern hing, ließ Thorin hemmungslos werden und ohne sich noch weiter dagegen zu wehren, weinte der Krieger, sodass seine Schultern darunter bebten.
“Thorin?”, flüsterte es vorsichtig neben ihm und eine Hand legte sich liebevoll auf seine Schulter.
Jäh fuhr der König herum, um in zwei große braune Augen zu starren, welche ihn fragend ansahen. “Kili!”, keuchte Thorin kopfschüttelnd auf, als er seinen Neffen erkannte. “Du solltest mich so nicht sehen”, vergrub er sein Gesicht in den Händen und wollte sich abwenden, doch der Dunkelhaarige hielt ihn zurück: “Du musst dich nicht schämen. Nicht dafür”, beruhigte der Jungzwerg den Krieger und sah zufrieden, dass dessen Zittern tatsächlich weniger wurde und die Heftigkeit des Schluchzens abnahm.
“Wie hast du mich gefunden?”, lenkte Thorin sich peinlich berührt und räuspernd auf ein anderes Thema.
“Ich traf Balin unterwegs, welcher mir sagte, dass ich dich hier antreffen würde. Allerdings riet er mir davon ab, diesen Raum zu betreten, doch das machte mich erst recht neugierig”, senkte Kili beschämt den Kopf. “Verzeih mir. Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen, doch als ich dich so sah, konnte ich auch nicht einfach wieder so gehen.”
Thorins Tränen waren, während Kili sprach, entgültig versiegt und wieder einmal genoss er das Gefühl, dass er nicht allein war. Dass es immer einen anderen um ihn herum gab, welcher auf ihn aufpasste und zur Seite stand, ihn auffing und hielt, ohne viel dafür tun zu müssen, als nur in seiner Nähe zu sein. Dankbar lächelte er und nickte dem Jüngeren zu.
“Du”, flüsterte Kili, “hast dein Herz verschenkt, Thorin”, und leicht errötend sah er auf des Schwarzhaarigen Hände, welche noch immer die Tunika hielten und krampfhaft an des Kriegers Brust drückten.
Der König seufzte auf: “Ich konnte es nicht verhindern. Ich…”, löste er nun eine Hand von dem Stoff und fuhr sich tränenwegwischend über das Gesicht.
“Warum hättest du dies auch tun sollen? Sie ist eine wunderschöne Frau und auch wenn seltsame Dinge geschehen sind, so konnte doch ein jeder fühlen, dass zwischen dir und der Wächterin etwas vorging. Ein Zauber, leicht und schimmernd”, begannen Kilis Augen zu leuchten und brachten ihm dafür Thorins erstaunten Blick ein, welcher eine ganz neue Seite an seinem Neffen zu entdecken schien, sprach dieser doch eben in diesem Moment von Liebe und nicht davon, ein holdes Weib für die Nacht zu erwählen.
“War es wirklich so offensichtlich?”, wollte der König kopfschüttelnd wissen.
Kili nickte schmunzelnd: “Dein Kampf gegen die Gefühle in dir erschienen beinahe lächerlich, verrieten deine Augen doch längst, was dein Herz dir zuflüsterte.”
“Aber sie ist fort…”, hauchte Thorin hilflos und blickte nach unten.
“Ich weiß “, kramte der Jungzwerg in seiner Hosentasche und holte etwas hervor. “Ich weiß, es wird dir nicht helfen, vielleicht sogar deinen Gram noch größer werden lassen, doch ich dachte mir, dass es bei dir besser aufgehoben ist.”
Ungläubig schaute Thorin auf Kilis Hand, welche sich nun leicht öffnete, und flüsterte: “Was ist das?”
“Die Figur, an der ich so lange gearbeitet habe und mir nie ein passendes Gesicht einfallen wollte. Erst als ich Farasar sah, wusste ich, wie ich es zu schnitzen hatte. Sie soll dir gehören”, legte Kili das Holz in Thorins Hand und erhob sich.
Erschüttert sah der Schwarzhaarige auf die kleine Holzfigur, welche der Wächterin in allen Einzelheiten glich, als hätte sie Kili beim Schnitzen leibhaftig gegenübergestanden, um ihm die Möglichkeit zu geben, jedes Detail genau zu erfassen.
“Siehst du das?”, fragte der König erschrocken.
“Was soll ich sehen?”, erwiderte der Jungzwerg und beugte sich zu dem Älteren hinunter.
“Das Flimmern!”, rief Thorin aufgeregt, doch eine Antwort konnte er nicht mehr vernehmen. Wie erstarrt hockte er da mit festgefrorenem Blick. Um ihn herum versank die Welt und es schien nur noch ihn und diese Frauenfigur zu geben, welche in seiner Hand lag und nun sanft schimmernd zum Leben erwachte. Ihre Haare bewegten sich wie wogendes Wasser und mit traurigen Augen sah sie zu dem Krieger hinauf. Zögerlich öffnete sie die Lippen: “Ein Herz, welches liebt, spürt das Leid des anderen”, hörte Thorin in dieser ungewöhnlich tiefen und brummenden Stimme, doch er wußte, diese Worte hatte er aus dem Mund eines anderen vernommen. Irritiert sah er in das Gesicht der kleinen Figur und hoffte auf weitere Worte.
“Das Blau des Zwergenkönigs…Ihr hattet einen Traum…Es wird keinen Wächter mehr geben…Ich schenkte ihn Euch…Lebt wohl, Thorin…Nicht in dieser Welt…”, kamen die Worte unzusammenhängend und mit abertausenden Bildern in Königs dröhnendem Kopf an und ließen ihn ahnen, dass sie ihm etwas mitteilen wollte, doch wie grelle Blitze durchzogen Fetzen des Geschehenen in seinen Gedanken auf, vermischten sich, um im selben Moment wieder auseinandergerissen zu werden.
“Nicht in dieser Welt”, raunte der Schwarzhaarige die letzten Worte vor sich hin und verzweifelte innerlich. “Sag mir, was du meinst!”, flehte er, jedoch auf eine Antwort wartete er vergebens. Mit Entsetzen sah er diese einzelne Träne, welche sich ihren Weg hinter geschlossenen Lidern nach draußen bahnte. Alles geschah wie in letzter Nacht und er wartete auf das Grauen, welches ihn danach wieder befallen hatte, als das Feuer in Farasars Augen entbrannte. Thorin hatte ihr in seiner Aufgewühltheit etwas sagen wollen, welches er nicht beenden konnte, erstarb es doch jäh, als Dharags Flamme…
“Dharag!”, rief der Krieger bebend aus. “Nicht in dieser Welt! Der neue Wächter!”, stand Thorin ruckartig auf und starrte weiterhin auf die Figur, um das Feuer zu suchen, welches er meinte, schon erkennen zu können. Entsetzt beobachtete er, wie die flimmernde Figur ihre Augen öffnete und ihn durchdringend ansah. Mit zitternden Lippen schickte sie einen allerletzten Gruß an den Zwergenmann: “Amrâlimê…”, bevor die Glut in ihr zum Vorschein kam und sie innerhalb von wenigen Augenblicken in Flammen setzte.
Thorin war nicht in der Lage, das brennende Holz von sich zu werfen, spürte er doch keinen Schmerz auf der Haut, da sich das Feuer kalt anfühlte. Lichterloh brannte es in seiner Handfläche und ließ das Holz vergehen, um schlussendlich schwarzgrau in sich zusammenzufallen und wie von einem leichten Windhauch aus dem Nichts hinfortgeweht zu werden.
Schweigend starrten die Männer einen kurzen Moment der Asche hinterher, bevor sich ihre Blicke trafen und noch während sie das Begreifen in den Augen des anderen erkannten, überrollte es sie mit schierer Wucht.
“Sie ist bei dem Roten!”, fand Thorin zuerst seine Stimme wieder. “Der neue Wächter wird von ihm sein, Kili! Verstehst du? Sie kommt nicht zurück! Nie wieder!”, schrie er den Jungzwerg mit grollendem Zorn in der Stimme an und wurde sich dessen erst bewußt, als dieser ihn bei den Schultern packte und heftig schüttelte. “Wir brechen auf! Heute noch. Ich muss mit Gandalf sprechen und du sagst den anderen bescheid”, drehte sich der Schwarzhaarige entschlossen um und eilte in Richtung Tür.
“Wohin brechen auf?”, wollte der Dunkelhaarige wissen und folgte dem Krieger noch leicht verdutzt.
“Zum Hain. Vielleicht ist es noch nicht zu spät”, erwiderte Thorin keuchend. Und obwohl ihn die Furcht befiel, dass er nichts mehr tun konnte, um Farasar von diesem Irrsinn abzuhalten, wollte er es dennoch nicht unversucht lassen. Das war er ihr schuldig - und seinem Herzen.
**
Khôraz! Mächtig und imposant erhob sich die Festung des Roten vor der schwarzen Bergkette und mit dunklen Augen sah die Wächterin hinüber zu dem rotglühenden Gestein, in welchem der Fürst seit Jahrtausenden hauste. Farasar würde nicht lange brauchen, um von ihrem Schutz in der Felsenhöhle dahin zu kommen, doch noch stand sie hinter der flimmernden Wand am Eingang und zögerte, wusste sie doch um die Dinge, welche geschehen würden.
Zwei Tage lang hatte sie die Ebenen nach Thror und Thrain abgesucht. Unentwegt hatten unzählige Schatten an ihren Fersen gehangen und sie verfolgt, deren Wehklagen noch immer in ihr nachhallte. Stickig war die Luft vor der Höhle, welche von gelbgrünem Dunst durchzogen wurde, der vom kargen Boden emporstieg und das Licht kalt und fahl erscheinen ließ. Kein Vogel sang in dieser Welt und auch kein Tier streunte des nachts durch die staubige Steinlandschaft, um Beute zu schlagen. Kein Blatt hing an den vereinzelt stehenden Holzskeletten, deren schwarzbraune Rinde nicht zum Anlehnen und Verweilen einlud. Klebrig und stinkend troff das dunkelrote Harz an ihnen herunter und sickerte in den vergifteten Boden, welcher jegliches Leben im Keim erstickte.
Farasar schauerte zusammen. Wie so oft, als sie sich in der vergangenen Zeit in der Höhle aufgehalten hatte, spürte sie auch in diesem Moment, dass sie nicht allein war. Unsichtbar und doch friedvoll, umgab dieses Schemen sie und ließ sie eine innere Ruhe spüren. Etwas gab auf sie acht und beschützte sie, doch zeigen wollte es sich ihr nicht. Nur manchmal hatte die junge Frau das Gefühl einer liebevollen Hand auf ihrer Wange, wenn sie sich ruhesuchend niedergelassen und an die Felsenwand gelehnt hatte, um für kurze Zeit die Augen zu schließen.
“Sie sind nicht hier”, flüsterte die Wächterin leise zu sich selbst und doch hatte sie eine leise Hoffnung, das Schemen aus seiner Zurückhaltung hervorzulocken und sich ihr zu erkennen zu geben. Ein leichtes Schmunzeln legte sich auf ihre Lippen, als sich neben ihr die Luft sanft flimmernd in Bewegung setzte: “Ja. Du wirst sie hier nicht finden. Sie sind bei Dharag.”
Hörbar sog Farasar die Luft ein und erstarrte. Diese Stimme kannte sie. So lange hatte sie auf dieses warme und weiche Brummen verzichten müssen, welches ihr Geborgenheit und Liebe gab. Welches sie getadelt hatte, wenn sie Unfug getrieben und Streiche den im Hain lebenden Elben gespielt hatte, aber auch lobend und voller Freude über ihre Erfolge in der Kampfeskunst oder der Zauberei erklungen war.
“Du bist noch hier. Warum?”, traute sich die Dunkelhaarige nicht, den Blick neben sich zu richten, doch sie hörte das Lächeln in der so vertrauten Stimme: “Viele haben ihre Aufgabe im Leben zu erfüllen, jedoch manch andere im Tod. Ich konnte noch nicht gehen, Farasar.”
Langsam wendete sich die Wächterin um und sah in ein Augenpaar, welches sie so liebevoll und dennoch traurig ansah, dass es ihr schier das Herz zerriss und sie keines Wortes mächtig war. Das Wesen, welches neben ihr schwebte, gab ihr die Zeit, zu sehen und zu begreifen. Das Lächeln in dessen Gesicht ließ Farasar weich werden und langsam hob die Wächterin eine Hand, um zärtlich über die Wange der Frau zu streichen, welche ihr einst das Leben schenkte, und flüsterte: “Khagun”. Sie fühlte das Kribbeln auf der Haut, als sie durch den weißgrauen Nebel griff, welcher sich unter ihrer Bewegung leicht kräuselte, um sich augenblicklich wieder in seine alte Form zu bewegen. Fröstelnd zog sie ihre Hand zurück und hielt diese mit der anderen verzweifelt umschlossen, um sich selbst Halt zu geben.
“Wenn du die Zwerge retten willst”, sah Thorgunn nun sehnsüchtig zur Festung hinüber, “dann musst du zu ihm gehen. Er wird sie dir geben, jedoch kenne ich nicht den Preis dafür.”
Aber ich, dachte die junge Frau im Stillen und folgte dem Blick ihrer Mutter. “Wieso bist du dir so sicher, dass er mir die Männer überlässt?”
“Weil sie wertlos für ihn werden, sobald er hat, wonach er verlangt. An ihrer Angst kann er sich nicht laben, habe ich den beiden doch deutlich gemacht, was Dharag am Leben hält”, knurrte die Seele. "Thror und Thrain geben ihm nicht die Genugtuung und halten ihre Gefühle verschlossen. Sie sind stark in ihrem Willen", fügte Thorgunn mit Stolz in ihrer Stimme hinzu.
Fragend wendete die Wächterin den Kopf: “War dies deine Aufgabe? Auf Thorins Ahnen zu warten und diesen beizustehen?”
Die ehemalige Kriegerin lächelte wissend: “Nur ein kleiner Teil von dem Großen und Ganzen, welcher sich in diesem Moment ereignet. Es ist noch nicht zu Ende."
Schweigend blickte die Va’ari zu Boden und grübelte. Langsam schob sich der Gedanke in ihr Bewußtsein, dass ihre Mutter gewusst haben musste, dass sie hierherkommen würde, und hatte auf sie gewartet, um ihr zur Seite zu stehen und zu helfen. Unweigerlich kam die Frage in ihr auf, welche Dinge noch zu deren Aufgabe gehörten, von denen Farasar keine Ahnung hatte.
Seufzend hob sie wieder den Kopf: “Warum bist du damals in den Krieg gezogen?”, hauchte sie kaum hörbar und traf den verlorenen Blick der toten Zwergin, welcher wehmütig auf ihr ruhte.
“Aus demselben Grund, warum du hier bist - Liebe. Du wärest nicht hergekommen, wenn du Thrains Sohn nicht lieben würdest. Du hast einen Fehler begangen und du weißt nur zu gut, wie sehr du Thorin im Herzen verletzt hast. Um diesen Schmerz zu tilgen, bist du bereit, alles zu geben, was in deiner Macht steht. Du willst, dass es ihm wieder gut geht. Und dies willst du nur aus einem Grund…weil du ihn liebst…mehr als alles andere", flüsterte Thorgunn.
Hart schluckte die junge Frau bei diesen Worten, klangen sie doch seltsam, als ihre Mutter diese so offen aussprach. Innerlich hatte Farasar sich schon längst eingestanden, dass der Zwergenkönig ihr mehr bedeutete und sie alles versuchen würde, um ihm jenen Trost zu geben, welchen er so dringend benötigte. Thorin sollte wenigstens seine Familie, welche er so innig liebte, in Sicherheit wissen. Eine Frau würde er allemal finden. Ein Weib, welches ihm nicht aus Hass den Tod wünschte, sondern sich um ihn sorgte und ihm vielleicht sogar einen Thronfolger schenken würde.
Aufkeuchend ob dieser Gedanken wendete sich die Wächterin mit tränenverhangenen Augen ab und blickte erneut über das Land zur Festung. Hatte sie bis zu diesem Moment noch gezögert, so stand ihr Entschluss nun entgültig fest. Sie würde vollenden, was sie begonnen hatte. Aus Hass war ihr Handeln geboren worden, aus Liebe würde es begraben werden.
Ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, schob sie sich durch die schillernde Wand und trat in den stinkenden Dunst, welcher unwillkürlich Übelkeit in ihr aufsteigen ließ. Augenblicklich schwebten schwarze Schlieren herbei und umgarnten sie regelrecht, wussten sie doch um die Möglichkeit der jungen Frau, sie in die Freiheit entlassen zu können.
“Bring sie hierher, Farasar. Ich warte auf euch”, rief Thorgunn ihrer Tochter hinterher und sah, sich selbst wieder auflösend, wie diese ihre Schritte fest und zügig in Richtung Khôraz setzte. Ihren Kummer behielt sie bei sich und hoffte, dass Dharag einen anderen Preis verlangte, als Farasar annahm…
…welchen die Va’ari ohne Klagen bezahlen würde. Noch während sie kräftig ausschritt, rief sie sich Dharags Bild vor Augen. Er war eine Bestie in Reingestalt, ein Monstrum, vor welchem selbst der abgeklärteste Krieger Angst bekam und lieber die Flucht ergriff, als dass er sich dem Kampf stellen würde. Mehrfach hatte Farasar den Roten so gesehen, als er sich an den Seelen labte und diesen selbst noch im Tode Schmerz und Qual bereitete. Er lebte davon. Es war seine Nahrung. Angewidert hatte sie ihm zugeschaut und war dennoch ein jedes Mal erstaunt gewesen, wie anziehend er auf sie gewirkt hatte, wenn er seine menschliche Gestalt annahm. Doch auch in dieser Form konnte er ihr gefährlich werden, überragte er sie doch an schierer Größe und Masse, welche nur aus Muskeln zu bestehen schien. Das Versprechen der Geborgenheit und beschützenden Stärke in seinen Armen hatte gleichzeitig etwas bedrohliches an sich, konnten diese die kleingewachsene Frau doch innerhalb eines Lidschlages erdrücken. Wie mächtig musste Dharag sein, wenn er…
Abrupt blieb Farasar stehen und stöhnte laut auf. Fassungslos begriff sie, dass der Rote ihr wehtun würde, ob er es nun wollte oder nicht. Es würde sie zerreißen, auch wenn sie sich ihm freiwillig hingab. Noch könnte sie dieses umgehen und in der Höhle verharren, bis sie sich endgültig von ihrem Körper gelöst hatte, doch darauf musste sie noch warten, und hoffen, dass keiner auf der anderen Seite es schaffte, ihre magische Mauer um den Baum zu durchbrechen und Fleisch und Knochen am Leben zu erhalten. Ihre jetzige Form erschien noch immer im festen Zustand. Erst wenn sie wahrhaftig starb, konnte sie frei wandeln, in welcher Gestalt auch immer. Sie wäre nicht mehr an die Grenzen von Haut und Knochen gebunden und könnte sich formen nach eigenem Ermessen. Andererseits lief ihr die Zeit davon mit jedem Tag, der ohne Ergebnis verstrich. Farasar konnte die Zwergenmänner nur an den ihnen bestimmten Ort bringen, solange sie noch in fleischlichen Fesseln gefangen war. Und das wiederum…
Heiß schossen ihr die Tränen in die Augen bei dem Gedanken daran, was auf sie zukam. Und zum ersten Mal in ihrem Leben spürte sie Angst in sich. Pure unerträgliche Angst. Und doch trieb es sie weiter. Die Erinnerung an Thorins traurige blaue Augen ließen ihr keine Ruhe und krampfartig stieg das dumpfe Gefühl des Schams darüber in ihr auf, was sie ihm angetan hatte.
Eilig lief sie den Rest des Weges hinauf zum Festungstor, überbrückte den weiten Platz, an dessen Flanken übergroße steinerne Schalen standen, in denen hoch lodernd die Flammen des Fürsten emporschlugen. Schlagartig bäumte sich ihr Magen nach oben, als sie das Tor öffnete und hindurchschlüpfte. Würgend ging sie auf die Knie und versuchte verzweifelt, die Krämpfe zu besänftigen, welche schmerzhaft ihren Brustkorb zu bersten schienen. Der Gestank des Todes, welcher sich seit Anbeginn der Zeit hier sammelte, war überwältigend und nahm jeglichem Leben die Luft zum Atmen. Speichel troff der jungen Frau über die Lippen und vermischte sich mit den Tränen auf ihren Wangen, als sie sich fahrig mit dem Ärmel über das Gesicht fuhr.
Mühsam kämpfte Farasar sich auf die Beine, welche weich geworden waren und drohten, ein weiteres Mal unter der Last des Körpers nachzugeben. Zitternd und um Fassung ringend, drang die Va’ari dennoch weiter vor, um den langen Weg der Brücke, welche über einen tiefen Abgrund führte, hinter sich zu lassen. Geradewegs lief sie dem Rondell entgegen, auf welchem der Thron in schwarzes Felsgestein gehauen war und dessen Platz ausgefüllt war mit Feuer, welches tänzelnd emporschlug und sich langsam zu einem Flammensturm aufbauschte, je näher die Wächterin ihm kam.
“Du hast mich warten lassen”, grollte es dunkel durch die weite Halle.
Farasar senkte den Kopf und schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen, wusste sie doch selbst gut genug, was sie getan hatte.
“Und du hast mich hintergangen”, zischte es weiter. “Bloßgestellt hast du mich und vor den Zwergen lächerlich gemacht! Ich, Dharag, wurde von einer kleinen armseligen Gestalt vorgeführt, als wäre ich eine dumme Kreatur!”, brüllte der Fürst, sodass es in Farasars Ohren zu schmerzen begann. Allein schon die Übelkeit machte ihr zu schaffen und nun befiel sie zusätzlich das Gefühl, ihr Kopf würde jeden Augenblick zerspringen.
Das Feuer wälzte sich auf die junge Frau zu und umzingelte sie, um sich hinter ihrem Rücken hoch und mächtig zu manifestieren. Tief atmete Farasar ein und hob den Kopf. Starr richtete sie ihren Blick nach vorn und konzentrierte sich verbissen auf das Geschehen, welches ihren Augen verborgen blieb. Das Kribbeln auf ihrer Haut verwandelte sich in sengende Nadelstiche und sie spürte, wie sich die Runen gegen die Anwesenheit des Roten zu wehren begannen.
“Du willst die Zwerge mitnehmen”, flüsterte der Fürst und ohne Vorwarnung baute er sich plötzlich vor ihr auf und zwang sie somit, ihren Blick zu heben.
Erleichtert sah Farasar, dass er ihr nicht als Monstrum gegenüberstand. Ergeben schaute sie zu ihm auf und suchte seinen Blick, um das leichte Lächeln in ihm zu entdecken, als er ihre Angst zu fühlen begann. Er genoss es sichtlich und tief aus seinem Inneren erklang ein wohliges Knurren, welches seinen mächtigen Brustkorb vibrieren ließ.
“Ja”, brachte die Wächterin kaum hörbar über ihre Lippen und ließ langsam ihren Blick über den Körper des Roten gleiten, welcher so überwältigend war, dass sie nicht umhin kam, sich verstohlen auf die Unterlippe zu beißen. Sie hasste sich für ihre Gedanken und dennoch wurde ihr bewußt, dass sie sich damit anfreunden musste, wollte sie den Erfolg ihres Vorhabens nicht gefährden. Ohne weiter darüber nachzudenken, hob sie langsam die Hände und begann, den Verschluss ihres Kleides zu öffnen, um es von ihren Schultern zu ziehen. Schmerzhaft glitt der Stoff über ihre Haut und fiel schlussendlich zu Boden. Das Keuchen des Roten drang zunehmend in ihr Bewußtsein, auch wenn er für einen Moment vor ihr zurückgewichen war, um sie ungläublig anzustarren.
“Diese Runen!”, fauchte Dharag und ballte seine Pranken wütend zu Fäusten, doch mit einem Male brach er in dröhnendes Lachen aus.
Irritiert sah Farasar auf. Der Rote wendete sich von ihr ab und drehte ihr den Rücken zu, welcher noch immer unter seinem Lachen erbebte. Diese Gelegenheit nutzte die junge Frau, um sich unauffällig in der Halle umzusehen, in der Hoffnung, einen Hinweis darauf zu finden, wo sie Thror und Thrain finden konnte.
“Hast du wirklich geglaubt, du könntest einfach hierherkommen, deinen Körper anbieten und diese armseligen Kreaturen mitnehmen? Stellst du dir das alles wirklich so einfach vor?”, brüllte der Fürst wütend und breitete seine Arme aus, als wolle er seinen Thron mit diesen umfangen. Flammen schlugen aus Dharags Händen, welche sich an seinen Armen entlangfraßen, um nach und nach den gesamten Körper einzuhüllen und in seinen Besitz zu nehmen.
“Ist es nicht das, wonach du verlangtest?”, brachte Farasar wimmernd hervor und wich kurzerhand zurück, als der Fürst sich blitzartig vor ihr aufbaute und sie angewidert ansah. Wild hingen ihm die langen roten Haare ins Gesicht und sein Blick war pures Feuer, als er sich zu ihr hinunterbeugte und ihr tief in die Augen sah: “Ja, ich verlange danach. Doch nicht so! Du solltest zu mir kommen in Liebe und nicht als…als…Zwergenhure!”, spie Dharag der jungen Frau seinen Hass ins Gesicht. “Du wirst leiden! Mehr, als du dir jemals hättest vorstellen können”, fuhr mit den Fingern über Farasars Gesicht bis hinunter zum Hals. Er spürte den süßen Schmerz in seinen Fingerkuppen, als er die erste Rune berührte, welche entlang des Schlüsselbeins eingebrannt war. Ekelerregender Geruch stieg in einer dünnen dunkelgrünen Rauchsäule auf und das leuchtende Blau des Zeichens verwandelte sich in pechschwarze klebrige Flüssigkeit, welche kleine Blasen bildete.
Farasar biss die Zähne zusammen, als sie fühlte, wie ihre Haut verätzt wurde. Der Schmerz war unerträglich und sie wusste, Dharag würde nicht damit aufhören, sog er ihre Pein doch mit einem gehässigen Grinsen in sich auf. Er zerstörte ihr Erbe. Er genoss es. Herausvordernd sah er der Wächterin in die Augen und berührte die nächste Rune, welche sich mit einem leisen Zischen und dem gleichen Gestank verformte. Die Va’ari schloss die Augen, doch sie bereute es sofort. Sie sah nicht die Hand, welche sich blitzartig in voller Größe auf ihren Brustkorb legte und somit mehrere Runen gleichzeitig zerstörte, was Farasar gellend aufschreien ließ, hatte sie doch das Empfinden, als würde ihr die Haut bei lebendigem Leibe abgezogen. “Dharag…bitte…”, keuchte sie vor Schmerz und Angst zitternd auf und sah dem Mann flehend in die Augen.
Kalt erwiderte er ihren Blick und ging einen Schritt zurück. Einen Moment lang musterte der Fürst die schlotternde Frau von oben bis unten und nickte dann grollend: “Also gut. Streck deine Arme aus.”
Irritiert sah Farasar auf, doch sie folgte der Aufforderung schweigend. Keine Schmerzen mehr, betete sie in Gedanken. Alles, nur keine Schmerzen, und sah, wie der Rote dicht vor sie trat und etwas in den Händen hielt, doch sie konnte nicht erkennen, was dieses war. Mit hämmerndem Herzen vernahm sie Dharags Worte: “Nimm deine Zwerge und lasse sie frei. Du jedoch wirst wiederkommen, wenn die Ketten der Macht ihre Aufgabe erfüllt haben. Du, Farasar, wirst mich nie wieder zurücklassen.”
Sie hörte nur noch das Klicken der Verschlüsse und spürte das Glühen des Metalls um ihre Handgelenke. Schreiend stürzte sie auf die Knie und starrte fassungslos auf Hände und Arme. Schwarz traten ihre Adern bis in die kleinste Verästelung unter der Haut hervor und mit jedem Herzschlag pulsierte die Macht der glühenden Eisen ein kleines Stück weiter durch ihren Körper und setzte diesen innerlich in Flammen.
“Geh endlich! Du widerst mich an!”, knurrte der Fürst und riss die junge Frau an den Armen nach oben und drückte ihr das Kleid samt einer roten schädelgroßen Kugel in ihre Hände, deren Finger vor Schmerz sich wie Krallen zusammengezogen hatten und im Krampf erstarrt waren.
Farasar floh. Stolpernd und am ganzen Leibe zitternd, entkam sie dem Roten und stürzte panisch über die Brücke hin zum Tor, um nach Luft lechzend und mit schmerzverzerrtem Gesicht den Platz mit den Feuerschalen zu überqueren und die nächste kleine Felsformation zu umrunden, wo sie entgültig zusammenbrach und sich laut weinend übergab.
Nur die Dunkelheit, welche die Va’ari überkam, schenkte ihr einen Moment der Ruhe. Noch während sie fühlte, wie ihre Gedanken schwanden, rollte sie sich auf dem kalten Boden liegend zusammen und hielt sich mit letzter Kraft an dem Gefäß fest, in welchem es sanft pulsierte im Takt ihres Herzens.
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“Meint Ihr wirklich, dass es so gut ist, wenn Thorin allein zu ihr geht?”, fragte Gandalf und strich sich müde über die Augen.”
“Er ist nicht allein. Haledan ist auf der Lichtung und nimmt Abschied”, erwiderte Galadriel leise, welche neben dem Grauen stand und in sich ruhend sanft lächelte.
“Wird er nicht dennoch versuchen, diese Wand zu durchbrechen, wenn er Farasar so sieht? Der Zwerg muss wahnsinnig werden bei diesem Anblick. Es hat mich vorhin schon sehr überrascht, dass er so ruhig und gefasst geblieben ist, als er erfuhr, was geschehen ist”, brummte der Alte kopfwiegend vor sich hin und die Falten in seinem Gesicht erschienen noch tiefer, als er die Augenbrauen nachdenklich zur Nasenwurzel zog.
“Nein, Mithrandir. Dafür ist Thorins Achtung vor der Wächterin zu groß, als dass er sich gehenlassen würde. Zusätzlich wird Haledans Anwesenheit ihn davon abhalten, Farasars Grab zu attackieren.”
“Frau Galadriel!”, sog Gandalf hörbar die Luft ein und bedachte die Elbenfrau mit einem entsetzten Blick. “Wie könnt Ihr soetwas sagen?”
“Ist es das nicht? Ihr Grab?”, erwiderte diese mit leiser Stimme und war hörbar bemüht, das Zittern darin zu unterdrücken. “Sie wird in den Armen des Baumes sterben und an seinen Wurzeln wird sie begraben werden, Gandalf”, wendete sich die Noldor schließlich ab und ließ den Zauberer allein mit seiner Trauer, der seinen Blick erneut verzweifelt dem Zwergenkönig hinterherschickte, welcher sichtlich gebückt und kraftlos den Pfad zur Lichtung entlangging.
Der Schwarzhaarige konnte das Gefühl nicht beschreiben, welches von ihm Besitz ergriffen hatte, als er erkennen musste, dass er zu spät gekommen war und jegliche Unternehmung, der Wächterin zu helfen, umsonst sein würde. Ungebremst hatte sich der Gedanke in seinem Hirn eingebrannt, dass sie wegen ihm gegangen war. Um ihre Schuld ihm gegenüber zu begleichen. Eine Schuld, welche es für ihn nicht gab, und er auch niemals Genugtuung für Farasars Handeln verlangt hätte.
Thorin hatte die Wächterin genau beobachtet und Balins Erklärung über Farasars Verbindung zu den Zwergen hallte noch immer in seinem Kopf nach, wie auch die Andeutungen von Haledan und Galadriel. Er fühlte noch immer den Traum, welchen er geschenkt bekommen hatte, und sah in jedem nur denkbaren Moment die großen traurigen Augen der jungen Frau vor sich, welche so oft zu erkennen gab, wie sehr sie sich nach ihm sehnte, sich jedoch selbst genau diesen Schritt verweigerte. Nein, für ihn hatte sie keine Schuld. Für Thorin ergab alles einen Sinn und er konnte nachempfinden, warum die Dinge so geschehen waren, wie er sie in der letzten Zeit erlebt hatte. Auch wenn der Krieger am Anfang unsägliche Wut in sich gespürt hatte, welche ihn fast zerriss, so konnte er Farasar dennoch keine Vorwürfe machen, hätte er doch genauso und in reiner Zwergenmanier stur und dickköpfig sein Ziel verfolgt.
Schon von weitem leuchtete dem Krieger das glühende Rot der Wände zwischen den Steinen entgegen, welche die Va’ari heraufbeschworen hatte, um sich vor dem Zugriff von außerhalb zu schützen. Solange diese existierten, lebte die Wächterin noch. So zumindest hatte Galadriel es dem Zwergenkönig erklärt und auch, dass keine ihnen bekannte Macht den Zauber brechen könne. Vor Entsetzen erstarrt hatte er den Worten der Noldor gelauscht und erst nach und nach begriffen, was dieses wirklich bedeutete. Sie würden Farasar beim Sterben zusehen müssen.
Mit der gleichen Starre stand Thorin nun an der Grenze des Steinkreises und bohrte seinen Blick durch das rote Flimmern, um diesen schließlich auf dem Frauenkörper ruhen zu lassen, welcher leicht in sich gesunken an dem riesigen Baum lehnte. Farasars Gesicht erschien schneeweiß und wurde sanft von ihren dunklen Locken umrahmt, welche sich schwer zu beiden Seiten auf ihrer Brust bis hinunter zum Bauch ergossen. Das Blau ihres hochgeschlossenen Kleides erstrahlte in derselben Intensität wie Thorins Tunika beim Seelenfest und schmerzlich drang die Ahnung in dem Zwerg hervor, dass die Wächterin bewusst diese Farbe für ihren Abschied gewählt hatte. Innerlich aufgewühlt biss Thorin die Zähne fest aufeinander und senkte den Kopf, doch im selben Moment nahm er aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung wahr und lenkte seine Aufmerksamkeit hinüber zu den niedrigen Sträuchern zu eben jener Stelle, an der er jemanden vermutete. “Haledan!”, rief der Zwerg überrascht aus und ging auf den Elb zu, welcher aufseufzend stehenblieb und ihn mit leeren Augen ansah.
Erschüttert vom Anblick des Hochgewachsenen machte der Krieger vor diesem Halt und griff ohne Vorwarnung nach dessen Hände, welche sich eiskalt und steif anfühlten, als hätte der Tod von dem Mann bereits Besitz ergriffen. Fragend sah er in Haledans Augen, doch auch diese konnten ihm nur von unendlicher Trauer und Hoffnungslosigkeit berichten.
“Gibt es denn wirklich gar keinen Weg mehr, sie zurückzuholen?”, flüsterte der König hilflos.
Haledan schüttelte kaum merklich den Kopf: “Es ist vorbei, Thorin. Endgültig. Ich habe sie verloren”, sah er auf und kreuzte des Zwerges flehenden Blick. “WIR haben sie verloren”, korrigierte er sich, wusste er doch zu gut, was es für den anderen bedeutete, dass Farasar ging, und wendete sich ab.
“Wo wollt Ihr hin? Gebt Ihr einfach so auf? Es muss eine Möglichkeit geben. Dies kann nicht das Ende sein. Haledan!”, rief der Schwarzhaarige dem Wächter hinterher und fühlte, wie tief in seinem Inneren die Traurigkeit wich und leiser Wut den Platz überließ. “Sie ist Eure Tochter! Ihr müsst um sie kämpfen. Bitte!”
Abrupt blieb der Elb stehen und ballte seine Hände zu Fäusten, um tief durchzuatmen, ehe er mit knurrender Stimme auf den unterschwelligen Vorwurf reagierte: “Glaubt Ihr wirklich, ich lasse mein eigen Fleisch und Blut im Stich? Meint Ihr denn nicht, dass ich als Vater nicht alles versucht habe, um die Liebe meines Herzens zu retten? Wer, wenn nicht ich, hätte jede Möglichkeit längst ausgeschöpft und in Betracht gezogen, doch…”, stockte Haledan mitten im Satz, bevor er bebend flüsterte: “Noch ein Leben…werde ich nicht auf’s Spiel setzen…nie wieder…”, schloss der Wächter die Augen und presste die Lippen fest aufeinander.
Zornig lief der Zwergenkönig dem Mann hinterher, packte diesen fest am Arm und riss ihn mit aller Macht zu sich herum. Schockiert betrachtete er Haledans Gesicht, welches aschfahl wurde und die eingefallenen Wangen noch deutlicher zum Vorschein treten ließ. Die Stumpfheit in den braunen Augen zeugten von unsagbarem Schmerz und dem Aufgeben, hatte der Elb doch alle Hoffnung verloren.
“Was meint Ihr damit?”, wollte Thorin grollend wissen und sah den Hochgewachsenen mit zusammengekniffenen Augen musternd an. Er bemerkte das nervöse Zucken um dessen Mundwinkel und das leichte Aufbegehren des Körpers, sich abwenden zu wollen, doch noch umschloss seine Hand mit deutlichem Druck den Arm des Anderen und nun bettelte er: “Haledan! Bitte, Ihr müsst mir sagen, was Ihr wisst. Ich werde alles tun, um Euch und Eurer Tochter zu helfen.”
“Das ist es ja eben”, keuchte der Wächter zurück, “Ihr würdet alles für sie tun…auch sterben”, blickte er mit feuchten Augen dem Krieger ins Angesicht, um die stumme Antwort zu bekommen, noch ehe Thorin antworten konnte, und schüttelte den Kopf: “Das werde ich nicht zulassen und ich werde das auch nicht von Euch verlangen.”
“Solltet Ihr diese Entscheidung nicht besser mir überlassen?”, straffte Thorin sich und nahm seine Hand von des Elbs Arm. “Wollt Ihr mir vorschreiben, was ich zu tun habe? Bin ich in Euren Augen nicht Manns genug, um selbst zu bestimmen, was mit meinem Leben geschieht?”, stemmte er entrüstet die Hände in die Seiten und sah den Wächter herausfordernd und mit hervorgeschobener Kinnlade an.
“Mein König”, wimmerte Haledan erschrocken auf, “das ist es nicht! Nie würde mir dies in den Sinn kommen, doch ich möchte nicht Derjenige sein, der Euch zu solch einer Entscheidung ermuntert. Das könnte ich nicht verantworten.”
“Ich will es wissen! Jetzt! Hier! Aus Eurem Munde!”, knurrte der Schwarzhaarige dunkel und drohend von unten herauf und das Funkeln in seinen blauen Augen glühte vor Wut, welches den Elb gefangen nahm und diesen sich gequält winden ließ: “Also gut”, gab Haledan am ganzen Körper schlotternd nach. “Ihr sollt es erfahren”, sah er betreten zu Boden und suchte nach den richtigen Worten. Verzweifelt rieb er die Hände ineinander und seine Stimme zitterte leicht: “Ihr wisst, dass die Zwerge bei ihrer Geburt einen Namen erhalten, welchen sie niemals einem Wesen eines anderen Volkes verraten würden. Selbst in ihrer eigenen Sippe sind diese oftmals unbekannt und nur Derjenige, welcher absolutes Vertrauen genießt, hat die Möglichkeit, dieses Geheimnis zu erfahren.”
Mit ruhigem Blick beobachtete Thorin des Elbs Gesicht aufmerksam und hütete sich davor, den Mann mit nur einem Wort oder einer Bewegung zu unterbrechen. Jetzt, da dieser im Begriff war, ihm alles zu offenbaren, wäre nichts schlimmer, als ihn durch eine Unachtsamkeit zum Schweigen zu bringen.
“Farasars wahrer Name ist von noch größerer Bedeutung, da sie das Erbe mehrerer Völker in sich birgt. Es gilt, diesen herauszufinden und nur ein einziges Mal laut auszusprechen. In dieser Welt kennt diesen keiner, hat bisher doch kein Zwerg zu ihr vordringen können. Und ich bin mir nicht einmal sicher, ob ihre Mutter darüber Kenntnis hatte”, hob Haledan ängstlich den Blick und traute sich nicht, den Schwarzhaarigen direkt anzusehen, fühlte er doch, dass Thorin die richtigen Schlüsse aus seinen Ausführungen zog.
“Es müsste ihr also ein Zwerg folgen, solange sie in dieser Welt noch lebt, um ihren Geist zurückzuholen”, schluckte der König hart und nickte sacht vor sich hin. Wie froh war er darum, dass der Wächter nicht wahrnahm, wie die Hitze in ihm aufstieg und die Welle der Erkenntnis, als er seine Gedanken laut aussprach, sich mit geballter Wucht in seinen Gliedern Bahn brach und ihn erbeben ließ.
“Thorin”, keuchte Haledan flehend auf, als er den Krieger an beiden Armen packte und ihn sanft schüttelte. Mit tränenverhangenem Blick suchte er in des Zwerges Augen und wurde umgehend fündig, sodass seine Stimme brach: “Das dürft Ihr nicht…Euer Volk braucht Euch…tut mir das nicht an…”, ging er weinend und sich an der Kleidung des anderen festhaltend in die Knie.
Tief gerührt sah der Schwarzhaarige dem Geschehen zu und versuchte krampfhaft, den aufsteigenden Kloß in seinem Hals hinunterzuschlucken, um mit belegter Stimme zu antworten: “Ich darf, Haledan. Und ja, mein Volk braucht mich, doch diese Welt benötigt eine Wächterin dringender, kann sie sich doch nicht einfach eine neue erwählen. Die Zwerge werden einen geeigneten Nachfolger krönen und Euch lasse ich hier mit gutem Gewissen zurück, weiß ich doch, dass Farasar im Hain besser aufgehoben ist als bei diesem Scheusal.”
“Ihr dürft nicht sterben, Thorin. Ich will es nicht…”, begehrte der Elb ein letztes Mal auf und handelte sich eine Reaktion des Kriegers ein, welche er niemals in seinem langen Leben für möglich gehalten hätte. Ruckartig packte dieser ihn bei den Schultern und sah ihn beinahe liebevoll an, bevor er ihn zu sich heranzog und fest umarmte. Wie erstarrt hing Haledan in diesen mächtigen Zwergenarmen und fühlte Thorins heftigen Atem im Nacken, während er selbst hilflos zum Himmel emporsah und alle Valar um Beistand und Schutz für den Schwarzhaarigen anflehte.
“Geht nun”, gab Thorin den Elbenmann schließlich leise frei und half ihm auf die Beine. Selbst peinlich berührt von seinem Befinden dem Wächter gegenüber und der darauffolgenden Geste, strich er sich fahrig über den kurzen Bart und wendete sich abrupt ab, um an den Rand der Lichtung zu fliehen. Weg von diesem Steinkreis und dem riesigen Baum. Weg von diesem immerwährenden Leuchten, welches die junge Frau beschützte und gleichzeitig gefangen hielt.
Der König kam nicht weit, blieb er doch jäh nach wenigen Schritten wie versteinert stehen und sah in ein eisblaues Augenpaar, welches ihn mit einem durchdringenden Blick musterte, dass es ihm durch Mark und Bein fuhr. Schlagartig wurde dem Zwerg klar, dass der Silberhaarige jedes Wort gehört haben musste und selbst die Umarmung dürfte diesem nicht entgangen sein. Verlegen blickte Thorin zur Seite: “Mir war bekannt, dass Ihr Euch im Hain befindet, jedoch ahnte ich nicht, dass Ihr Euch gerade hier aufhaltet”, brummte er unwirsch, obwohl ihm nicht der Sinn nach Streit stand.
Vorsichtig trat der Elb ein Stück vor und hielt verkrampft seine Hände vor dem Bauch ineinandergefaltet: “Auch ich habe das Bedürfnis, ihr nahe zu sein…und mich zu verabschieden”, flüsterte der Fürst und konnte nicht verhindern, dass seine Stimme leicht zitterte, auch wenn er dieses mit aller Macht versuchte.
“Noch ist sie nicht tot, Thranduil!”, kam Thorins aufbrausende Antwort unmittelbar und schneidend. Dicht trat er an den Hochgewachsenen heran und zischte: “Und sie wird auch nicht sterben. Niemals! Solange ich es verhindern kann”, sah er lauernd nach oben.
Hörbar sog der Sindar die Luft in seine Lungen und musterte verwundert den Krieger von oben bis unten. Fassunglos erkannte er den unbändigen Willen in Thorins Augen, das wahrzumachen, was Haledan versucht hatte, diesem auszureden. Stetig wuchs des Elbs Achtung vor dem Zwergenkönig und zum ersten Mal erkannte er die unsagbare Stärke und wilde Leidenschaft des Mannes, welche Farasar in ihren Bann gezogen hatten. Irritiert und aufkeuchend schaute Thranduil über Thorins Kopf hinweg und sein Blick irrte ziellos über die Lichtung, als er hilflos spürte, wie seine Gefühle in ihm im Chaos versanken. Er war sich nicht sicher, ob er diesem starken Befinden, welches hämmernd in ihm rumorte, noch lange standhalten konnte. Ohne weiter darüber nachzudenken, was er von sich gab, flüsterte er abermals: “Wisst Ihr, was sie am meisten liebte?”
Verwirrt und fragend sah der Zwerg auf, um schließlich die Brauen zur Nasenwurzel zu ziehen und nun leise in friedvollem Ton zu antworten: “Nein. So viel Zeit mit ihr war mir leider nicht vergönnt”, sah er das schmerzliche Zucken in des Elbs Gesicht, bevor dieser weitersprach: “Bei jedem Vollmond stieg sie hinauf in die Berge, um mitzuerleben, wie er über dem Erebor aufging und das Zwergenreich in silbernes Licht tauchte”, fuhr Thranduil bebend fort. “Thorin, sie war schon immer bei Euch, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte, doch ihr Herz schlug seit ihrer Geburt für Euer Volk.”
Siedend heiß durchzog es den Krieger bei diesen Worten und hilflos suchte er nach eigenen: “Dennoch fühlte sie sich bei Euch geborgen und Ihr liebt sie aus tiefstem Herzen”, hoffte der König innerlich aufgewühlt, ein wenig Trost geben zu können.
“Ihr wisst darum?”, sah der Silberhaarige erstaunt dem Zwerg in die Augen, welche ihn mit einem Blick bedachten, den er nicht einordnen konnte.
“Ich sah Euch zusammen in jener Nacht am Fluss”, nickte der Schwarzhaarige, “und ich beobachtete Euch, als Ihr Farasar vom Berg wegholtet. Wir Zwerge wissen sehr wohl, was es heißt, innig zu lieben, Thranduil. Und wir erkennen auch, wenn ein anderer sein Herz verschenkt hat. Haltet uns nicht für so stumpf und gefühllos. Das Brennen vor Sehnsucht und Leidenschaft ist auch uns bekannt.”
“Ja, ich liebe sie”, schaute der Elb beschämt zu Boden und errötete, hatte er es doch niemals in Betracht gezogen, sich einem Zwerg - ausgerechnet Thorin - zu offenbaren. Verwirrt und mit einem heißen Knoten in den Eingeweiden, welcher geknüpft war aus so vielen unterschiedlichen Empfindungen, die auf ihn einströmten, wankte er leicht und sein Atem kam gepresst über die zitternden Lippen.
“Dann helft mir, Thranduil”, forderte Thorin den Mann mit fester Stimme und ohne Scheu auf. “Oder tragt Ihr den Dolch unter Eurem Gewand nur, um Euch daran festzuhalten?”
“Thorin!”, rief der Silberhaarige erschrocken aus und mit aufgerissenen Augen bohrte sich sein entsetzter Blick in den des Anderen, welcher ein gutmütiges Funkeln barg. Auch das leise Lächeln auf Thorins Lippen entging ihm nicht, als dieser noch näher an ihn herantrat und er des Zwerges Wärme an seinem Körper wahrnahm.
“Einen Wunsch habe ich noch”, knurrte der König grollend und packte den Elb am Kragen, um ihn zu sich hinunterzuziehen. “Gebt gut auf sie acht. Beschützt sie und gebt ihr all Eure Liebe. Das müsst Ihr mir versprechen, Thranduil.”
Doch dieser brachte keinen Ton über die Lippen angesichts dieser Worte aus des Zwerges Mund. Aschfahl wurde des Elbs Antlitz, als das Begreifen in ihm einsetzte und sein Körper schier zu bersten drohte.
“Versprecht es mir!”, stöhnte Thorin flehend auf und das Blau seiner Augen glühte im Wahn des Wissens, was er von dem Elb verlangte. Unnachgiebig krallte er seine Finger in das Gewand des Fürsten und zog ihn noch näher an sich heran, sodass dieser seinen Atem auf der Haut spüren musste.
“Ich verspreche es”, jaulte Thranduil kläglich, nicht bewusst steuernd, was er als nächstes tat, doch blitzschnell schlang er einen Arm um des Mannes breite Schultern, um diesem Halt zu geben, wenn…
Das Geräusch des Metalls, welches beinahe wie von selbst durch Stoff und Fleisch glitt, erschien ohrenbetäubend laut. Bis zum Heft stieß der Elb die Klinge in des Königs Körper und ließ nicht los, auch als Thorin seinen Blick hob und in den eisblauen Augen versank: “Danke.”
“Bring sie zurück, Thorin. Hörst du? Bring sie zurück”, wimmerte Thranduil weinend und von innerer Pein zerrissen, als er begriff, was er getan hatte, doch er sah das Lächeln auf des Zwerges Gesicht, welcher frei zu sein schien im Angesicht seines Todes. Thranduils Tränen begleiteten Thorin auf dem Weg ins Dunkel und ließen ihn wissen, dass er richtig entschieden hatte. Der Schwarzhaarige hörte nicht mehr den gellenden Aufschrei Haledans, der dem Treiben der beiden Männer schweigend zugesehen und dennoch nicht eingegriffen hatte. Thorin spürte nicht mehr die starken Arme des Silberhaarigen, welcher ihn laut schluchzend hochhob, um ihn eilig in die Hallen des Hains zu bringen und den heilenden Händen Galadriels zu übergeben. Der König fühlte nur noch die beruhigende Nähe der Wächterin, welche stetig intensiver wurde, je mehr er in die Dunkelheit sank.
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Sie spürte das Vibrieren der stickigen Luft, welche sie umgab, doch noch hielt Farasar die Augen geschlossen und gab sich der Schwäche ihres Körpers hin. Nur das Pulsieren der glasartigen Kugel in ihren Händen gab ihr ein beruhigendes Gefühl und ließ den Schmerz auf der Haut, wo das Gefäß sie berührte, geringer werden. Gleich einem Kampf schienen die gefangenen Zwerge gegen das schwarze Gift in ihrem Körper anzugehen. Leicht bebte der steinige Boden unter der jungen Frau und schließlich bemühte sie sich doch, den Blick über die Ebene wandern zu lassen. Etwas tat sich, doch noch blieb es ihr verborgen. Unheilvoll kroch die Kälte über ihren Rücken und ächzend richtete sie sich auf, um das Gefäß vorsichtig neben sich zu legen und das Kleid über den geschundenen Körper zu ziehen.
Tief atmete Farasar durch, als sie endlich auf die Beine kam und das kleine rote Gefängnis der Zwerge an sich presste. Still stand sie da und betrachtete das Flimmern der Luft, welches stetig zunahm und von einem leisen Sirren begleitet wurde, das nur hin und wieder durch das dumpfe Grollen der Beben unterbrochen wurde. Woher kam dieses Leuchten? Und was löste dieses Erzittern des Gesteines aus? Suchend sah sich die Wächterin langsam um und erkannte im nächsten Augenblick eine Stelle, an der sich das Flimmern zu konzentrieren schien. Hell leuchtete dieser Fleck auf und formte sich langsam zu einer Gestalt, welche nicht zu erkennen war. Noch nicht, doch Farasar spürte, wie sich schlagartig die feinen Härchen in ihrem Nacken aufstellten, als sie meinte zu wissen, was sich da herauskristallisierte. Geschockt und erstarrt verharrte sie, um das Geschehen zu begreifen, welches sich in diesem Moment vor ihr abspielte, was sie so niemals in ihrem Vorgehen eingeplant hatte.
Donnerndes Grollen riss sie jäh aus ihren Gedanken und ließ sie erschrocken herumfahren. Hell stand Khôraz’ Tor in Flammen und flog krachend aus den Angeln. Roter Nebel quoll daraus hervor, um im nächsten Augenblick das in der Festung lebende Monstrum auszuspucken.
“Nein”, keuchte Farasar ängstlich auf und schon setzten sich ihre Füße wie von selbst in Bewegung, als sie siedend heiß die Erkenntnis überkam und ihr Inneres krampfartig zusammenziehen ließ. Die Erscheinung war keine arme Seele, welche ihr Dasein in den nächsten Jahren in dieser Welt fristen musste. Sie war auf Abwegen und schwebte zwischen Leben und Tod auf dieser verfluchten Ebene. Und Dharag würde alles daran setzen, diese kümmerliche Kreatur entgültig ins Dunkel zu führen.
Die Wächterin stolperte mehr, als dass sie rannte. Panisch und mit mit hämmerndem Herzen jagte sie vorwärts mit nur einem Ziel, welches immer deutlichere Konturen annahm und Farasar Tränen des Entsetzens in die Augen trieb. “Komm, steh auf! Lauf!”, rief sie verzweifelt, doch noch wurden ihre Worte nicht gehört, hatte die Gestalt doch sichtlich Mühe, nur annähernd auf die Beine zu kommen, während sie krampfhaft eine Hand auf den Brustkorb presste.
Erneut bebte der Boden und knurrendes Dröhnen erhob sich hinter der jungen Frau, doch sie sah nicht mehr zurück. Mit einer Hand das Gefäß haltend, stürmte sie zu dem hilflosen Mann, packte diesen an der Schulter und riss ihn mit aller Macht nach oben. Der Schwarzhaarige stöhnte qualvoll auf und wankte, doch noch ehe er begriff, zog ihn diese Kraft weiter und hin zu der blau schimmernden Wand. Nicht nur der Schmerz in seinen Eingeweiden war unerträglich, sondern auch der feste Griff der Va’ari, dessen Stärke er in dieser Präsenz niemals vermutet hätte.
“Lass mich hier”, presste Thorin hinter zusammengebissenen Zähnen und mit schmerzverzerrtem Gesicht hervor. “Rette dich vor ihm!”
Kurz hielt Farasar inne, um den Arm des immer wieder strauchelnden Kriegers um ihre Schultern zu legen und ihn fest um seine Hüfte zu packen. Nur flüchtig nahm sie die zerrissene Tunika wahr, als ihr Blick aufwärts glitt und einen Moment den des Mannes traf. Kopfschüttelnd kniff sie die Augen zusammen: “Er will dich, Thorin!”, schaute sie gehetzt über die Schulter, um sich erneut in Bewegung zu setzen. “Mich hat er schon”, murmelte sie leise und nahm noch einmal alle Kraft zusammen.
“Farasar…”, keuchte der Schwarzhaarige auf, doch der Ausdruck in ihrem Gesicht machte ihm strikt klar, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, mit ihr darüber zu diskutieren. Zudem ergriff ihn die Angst vor der schimmernden Wand, wusste er doch, dass er sie nicht durchdringen konnte, aber die Wächterin ließ sich nicht beirren. Mit unbändiger Wucht schleuderte sie den Krieger durch den von Magie getränkten Eingang und stürzte aufknurrend hinterher: “Nicht hinsehen!” drehte sie sich blitzschnell herum und versperrte dem Schwarzhaarigen mit der Hand die Sicht, welcher mit aufgerissenen Augen und auf dem Rücken liegend nach ihrem Verfolger spähte.
Zornerfüllt drosch Dharag auf die Wand ein und erzeugte damit gleißend helle Blitze, welche nicht nur die Augen in Mitleidenschaft zogen, wenn man direkt hineinsah, sondern auch tief ins Hirn vordrangen und unbeschreibliche Schmerzen hervorriefen. Das Dröhnen der vor Wut brüllenden Bestie zog den beiden durch jede Faser ihrer Körper.
“Ich sehe nicht hin”, flüsterte Thorin mit geschlossenen Augen und griff nach der schützenden Hand der jungen Frau. Sacht zog er sie herunter und legte sie auf seine bebende Brust. Erleichtert stellte er fest, dass sich Farasar nicht dagegen wehrte und stattdessen ihre Stirn auf seine Schulter sinken ließ. Zitternd hockte sie neben ihm und rang nach Atem, während Thorin selbst versuchte, ruhiger zu werden und seine Sinne zu sammeln.
Scheinbar endlos verging die Zeit, bis sich der Rote fauchend und fluchend zurückzog, erkannte er doch, dass er gegen die Magie der Va’ari keine Macht hatte. Noch war diese zu stark für ihn, als dass er sie hätte durchbrechen können.
Farasar wollte nicht aufsehen und weigerte sich innerlich, den Kopf anzuheben. Unendlich schwer erschien ihr dieser und zudem spürte sie die beruhigende Nähe und Wärme des Zwerges. Zum ersten Mal fühlte sie die vielen Härchen auf Thorins Haut, welche weich und dicht ihre Fingerkuppen kribbeln ließen.
“Er ist fort”, hauchte der Schwarzhaarige und legte vorsichtig eine Hand auf den Kopf der Wächterin, um ihr sanft über das dunkle Haar zu streichen. Umgehend spürte er, wie sich Farasar verkrampfte und den Kopf hob, ihn jedoch nicht ansah. Auch ihre Hand zog sie schlagartig von seiner Brust zurück und suchte nach dem Grund, warum Thorin hier war. Schon als sie ihn auf der Flucht vor Dharag an sich gedrückt hatte, war ihr die zerrissene und blutdurchtränkte Tunika aufgefallen. Jetzt sah sie die Ursache dafür und keuchte erschüttert auf. Tief und breit klaffte die Wunde unter des Kriegers Brustbein, jedoch hatte sie schon längst aufgehört zu bluten. Liebevoll berührte Farasar den Einstich, um schließlich ihre ganze Hand darauf zu legen. Das Zusammenzucken und Aufstöhnen des Zwerges beachtete sie dabei nicht, war ihr doch wohl bewusst, dass die Schmerzen nicht einfach so hinfortzunehmen waren.
“Was tust du da?”, fragte Thorin leise, als er sah, wie die Va’ari die Augen schloss und sich konzentrierte.
“Dein Leben retten”, knurrte sie unwillig zurück. “Noch ist es nicht zu spät.”
“Ich bin doch schon tot”, richtete sich der Zwerg jäh auf und Farasar spürte unter ihrer Hand, wie die Wunde weit aufsprang. Fassungslos sah sie den Mann an: “Nein! Bist du nicht. Ich könnte dich sonst nicht berühren. Jemand hilft dir auf der anderen Seite, Thorin.”
Verwirrt und grübelnd sah der Mann in ihre dunklen Augen: “Er hat es nicht richtig gemacht!”, jaulte er entsetzt auf. “Dieser Elb kann nicht einmal das…”, ließ er sich hilflos nach hinten sinken und starrte aufgewühlt an die Höhlendecke.
Langsam setzte sich die Wächterin auf ihre Fersen und legte die Hände in ihren Schoß. Sich zu einem ruhigen Atem zwingend, starrte sie auf die Wunde und fragte kaum hörbar: “Was hat wer nicht richtig gemacht?”
Thorin antwortete nicht und nur sein hartes Schlucken war zu vernehmen, als er begriff, was er preisgeben musste.
“Rede mit mir”, sah Farasar dem König flehend ins Gesicht. “Ich will wissen, was geschehen ist.”
“Er sollte es tun”, presste Thorin gequält hervor. “Ich habe ihn darum gebeten.”
“Wer?”, schloss Farasar zitternd die Augen.
Der Krieger schwieg.
“WER?”, fuhr sie wütend auf, packte den Schwarzhaarigen an den beiden oberen Enden der Tunika und riss ihn nach oben. Dunkel funkelten ihre Augen vor Missbilligung, dass sie dem Anderen jedes Wort abringen musste.
“Thranduil”, gab Thorin erschüttert über diesen Ausbruch nach und sackte stumpf nach hinten, als ihn die Va’ari einfach losließ und atemlos ein Stück vor ihm davonwich.
“Warum?”, schüttelte Farasar ungläubig den Kopf.
“Ich will, dass du zurückkommst. Du darfst nicht hierbleiben. Die Welt braucht dich”, redete der Zwerg ihr ins Gewissen und fügte leise hinzu: “Ich brauche dich.”
“Und dafür wolltest du sterben? Sag mir, was soll ich dort, wenn du nicht mehr da bist?”, wollte die Va’ari wissen.
Ruckartig hob der Krieger den Kopf und rollte sich auf die Seite. Ächzend stützte er sich ab, um den Oberkörper hochzudrücken und sah der jungen Frau suchend in die Augen. Mit ihrer letzten Frage hatte sie ihm mehr gesagt als alle Liebesschwüre, die er kannte. Leise keimte in ihm die Hoffnung auf, dass er Farasar umstimmen konnte: “Dank Thranduils Unvermögen können wir beide zurück”, funkelten seine blauen Augen dunkel und er griff nach ihrer Hand, welche sie scheu zurückzog.
“Der Elb wusste, was er tat. Ich sehe es an der Art deiner Wunde. Niemals hätte Thranduil dir diesen Gefallen getan, dich zu töten, auch wenn er es sich oftmals wünschte. Er hat dir die Möglichkeit gegeben, auf deine Seite zurückzukehren, und mir erspart, ihn zu hassen, ob im Leben oder im Tod. Ich hätte es ihm niemals verziehen, wenn er dir deinen Wunsch erfüllt hätte”, erwiderte Farasar ernst und nachdenklich des Schwarzhaarigen Blick.
“Dann komm mit mir”, versuchte Thorin erneut, nach ihrer Hand zu greifen.
“Ich kann nicht. Es gibt keinen Weg für mich”, schüttelte sie den Kopf und wendete sich ab. Die Nähe des Zwerges machte sie unruhig, auch wenn sie spürte, dass durch seine Anwesenheit die Schmerzen auf der Haut nachließen.
Erstaunt sah Thorin ihr nach, als sie aufstand und sich wenige Schritte von ihm entfernte, doch er gab nicht auf: “Es gibt einen Weg. Dein Vater sagte…”
“Mein Vater?”, fuhr Farasar entsetzt herum umd starrte den Zwerg an. “Wieso ist mein Vater noch bei euch? Er hätte schon längst gehen müssen”, kam sie eilig auf den Mann zu, kniete sich vor ihm nieder und packte ihn an den Schultern. Gequält sah sie ihn an und musste doch erkennen, dass dieser selbst überrascht war.
“Das wusste ich nicht”, brachte Thorin erschüttert hervor und sah dasselbe Leid in ihren Augen wie kurze Zeit zuvor bei Haledan. “Er hat mir nichts darüber erzählt. Nur wie ich dir helfen kann.”
“Mir kann keiner helfen…”, sackten Farasars Schultern kraftlos nach vorn und sie senkte den Kopf.
Vorsichtig hob der Schwarzhaarige seine Hand und führte diese an ihre Wange. Weich und warm lag diese auf seiner rauen Haut und erneut war er dankbar, dass sie es zuließ. Wieder erlebte er diesen Augenblick der Nähe, welche ihm das Herz weit werden ließ und sanfte Wellen der Geborgenheit durch seinen Körper schob. Fasziniert spürte er, wie sich Farasar sanft in seine Hand schmiegte, doch schon drängte sich die leise Angst in ihm hervor, dass auch dieser Moment jäh vorbei sein würde und dieses wunderbare Gefühl in ihm schmerzlich zerriss.
“Was hat er dir gesagt?”, hauchte sie kaum hörbar und sah ihn auch nicht an. Jeden Augenblick seiner Zuneigung wollte sie noch auskosten, wusste sie doch, dass es die letzten der wenigen waren, die ihr mit ihm blieben.
“Du birgst ein Geheimnis, wie es jeder Zwerg in sich trägt”, hob Thorin nun ihr Gesicht zärtlich an und sah ihr hoffnungsvoll in die Augen. “Sag mir deinen wahren Namen, Farasar”, zitterte seine Stimme und noch ehe er zu einem weiteren Wort fähig war, erkannte er die Abneigung der jungen Frau, welche ihren Körper augenblicklich anspannte und ihr Gesicht sich in eine undurchdringliche Maske verwandelte. Ein letzter Funke Wärme lag noch ihn ihren Augen, bis auch dieser entgültig erlosch und jener Eiseskälte Platz verschaffte, welche Thorin nicht ganz unbekannt war.
Ohne Wort entzog sich die Wächterin der liebevollen Berührung und stand auf. Langsam ging sie zum Eingang der Höhle und spähte hinaus auf die trostlose Ebene. Als ihr Blick hinüber zur Festung glitt, klärte sie den Krieger mit tonloser Stimme auf: “Selbst wenn dies eine Möglichkeit wäre, was ich bezweifel, so würde ich es dennoch nicht zulassen. Dies würde deinen Tod bedeuten, Thorin. Ich kann den Schutz dieser Höhle nicht aufrechterhalten, wenn ich nicht mehr da bin. Dharag würde dich umgehend holen und Thranduils Plan wäre somit zunichte gemacht. Und noch ist dein Körper unter Galadriels Händen nicht soweit, als dass du schon zurückkehren könntest. Die Noldor kämpft noch um dich, sah ich doch, dass deine Wunde erneut aufriss, als du dich aufrichtetest.”
“Glaubst du”, hievte sich der Schwarzhaarige stöhnend auf die Beine, “es interessiert mich, was der Rote vorhat? Ich will, dass du zurückgehst!”, knurrte er grollend und wankte auf die Wächterin zu. Abrupt blieb er stehen, als diese sich zu ihm umdrehte und mit einem Blick bedachte, dessen Ausdruck ihm schier die Luft nahm.
“Ich kann nicht zurück! Verstehst du denn nicht?”, fauchte sie zornig. “Das”, und sie hielt ihm beide Arme entgegen, “bindet mich hier. Mein Name ist nur ein Wort. Ohne Bedeutung. Ohne Macht. Nur ein Hauch”, flüsterte Farasar und zog die Ärmel des Kleides ein Stück nach oben.
Mit blankem Entsetzen starrte Thorin auf die schwarzen Narben, welche einst wunderschöne Runen darstellten. An manchen Stellen schimmerte es glutrot durch die abbröckelnde Kruste und zeigte die Zeichen des Seelenfürsten, welche sich Stück für Stück durch die Haut der Wächterin fraßen. Schon wollte der Krieger nah an die junge Frau herantreten, um ihre Hände zu fassen, doch wie erstarrt blieb er weiterhin stehen und musste hilflos mit ansehen, wie diese das Kleid langsam öffnete und von ihrem Körper abstreifte.
Schwarz hatte sich Farasars Haut verfärbt und stetig pulsierend trieben Dharags Ketten dessen Willen durch ihre Adern. Noch hatten sie ihr Werk nicht gänzlich vollbracht, sodass an manchen Stellen die Runen der Zwerge noch blau durchschienen und funkelnd knisterten, als hätten sie den Kampf gegen den Roten noch nicht aufgegeben. Noch barg ihr Körper im Schutze des großen Baumes Leben und noch gaben die Wände zwischen den Steinen sie nicht preis. Ihre Kraft würde ausreichen, bis sie Thorins Väter freigelassen hatte und Galadriel den Krieger zurückholen würde.
Traurig sah sie dem Zwerg in die tränenverhangenen Augen, welcher sich einen Handrücken vor die Lippen gepresst hatte, um nicht laut aufzuweinen. Thorin hatte längst begriffen, dass es keine Macht mehr gab, um die Frau, die er liebte, aus den Fängen dieser widerlichen Kreatur zu reißen. Zitternd und beinahe stürzend, wich er vor der Va’ari zurück und ließ sich mit dem Rücken am blanken Gestein der Höhlenwand auf den Boden sinken. Heiß rannen ihm die Tränen über die Wangen, als er die Augen schloss und nur das Beben seiner Schultern davon zeugte, welche Welt in ihm qualvoll zusammenbrach.
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Er wußte nicht, wie lange er schon an der Wand hockte und gedankenverloren vor sich hinstarrte. Hin und wieder hatte er zu jener Gestalt hinübergesehen, welche sich ebenfalls zusammengekauert an das Felsengestein gelehnt hatte und fest das rote Gefäß an den Körper presste, um mit geschlossenen Augen regungslos zu verharren. Nur das pulsierende Glühen der Zeichen auf der schwarzgrauen Haut und das leichte Heben und Senken des Brustkorbes zeugte von Leben in ihr.
“Sie sammelt ihre letzten Kräfte”, hörte Thorin es leise neben sich, doch er hielt seinen Blick fest auf Farasar gerichtet. Er wußte, welches Schemen neben ihm schwebte, hatte er es doch so oft in der letzten Zeit in der Nähe der Wächterin gesehen und das liebevolle und innige Miteinander der Frauen fasziniert beobachtet. So ähnlich waren sich Mutter und Tochter, dass es dem Schwarzhaarigen beim ersten Anblick der beiden zusammen schier den Atem genommen hatte, und er konnte es seinem Vater wahrlich nicht verübeln, dass dieser sich vor so vielen Jahren in Thorgunn verliebt hatte.
“Ich wünschte, ich könnte noch irgendetwas für sie tun. Ihr einen letzten Wunsch erfüllen oder eine kleine Freude bereiten”, hauchte der Zwerg und konnte nicht verhindern, dass ihm die Stimme fast versagte.
“Was würdet Ihr vorschlagen?”, wollte Thorgunn wissen und hoffte, das Gespräch in die richtige Bahn lenken zu können, denn noch war ihre Aufgabe nicht abgeschlossen.
Kurz schaute der Krieger auf seine Hände, welche er vor den angewinkelten Beinen verschränkt hatte, und zog die Augenbrauen überlegend zur Nasenwurzel: “Der Elb sagte, dass sie am liebsten in die Berge ging, um den Erebor im Licht des Mondes zu betrachten.”
“Also hat sie das Ritual niemals aufgegeben”, schmunzelte die ehemalige Kriegerin vor sich hin und bedachte die Dunkelhaarige mit einem liebevollen Blick.
“Was meint Ihr damit?”, sah Thorin nun doch fragend auf und suchte in den nebligen Augen der Älteren.
“Als ich noch bei ihr war”, erinnerte diese sich wehmütig, “sind wir gemeinsam hinaufgegangen. Wir haben es nicht ein einziges Mal verpasst oder vergessen, seitdem sie das Licht der Welt erblickt hatte. Und ich liebte jedes Mal den Ausdruck in ihren Augen, wenn sich das Silber des Mondes darin widerspiegelte, war sie doch den Zwergen in diesen Momenten näher als es das Blut in ihren Adern jemals vermochte. Es war derselbe Blick, welchen ich sah, als sie das erste Mal die Augen öffnete und ihr Schreien verstummte.”
Noch immer sah Thorin das graue Flimmern neben sich schweigend an und versuchte, den Sinn hinter den Worten zu erkennen. Hilflos bemerkte er das leichte Zucken um Thorgunns Lippen, bevor diese weitersprach: “Sie kam in den Bergen zur Welt. Etwas trieb mich in jener Nacht dorthin, obwohl es zu dieser Jahreszeit noch empfindlich kühl war, auch wenn der Frühling in den Tälern bereits seine ersten Boten ausschickte. Eiskalt fegte der Wind um die Felsen und nur eine Decke für das Neugeborene nahm ich mit, doch die Kälte schien es nicht zu stören. Farasar war wunderschön und nichts deutete darauf hin, dass sie anders war. Erst als sie die Augen öffnete und das tiefe Schwarz das Rot des Mondes, welcher über dem Erebor aufging, erblickte und sie ruhig in meinen Armen lag, wusste ich, dass ihr Wesen mehr barg, als ich es mir jemals hätte vorstellen können.”
“Sie wurde in einer Blutmondnacht geboren?”, keuchte der Schwarzhaarige erschrocken auf und ließ seinen Blick erneut zu der jungen Frau wandern.
“Ja”, lächelte Thorgunn verträumt. “Und nicht nur sie. In jener Nacht hallte auch durch den Einsamen Berg das Weinen eines kleinen Zwerges, welcher seine ersten Atemzüge in dieser Welt tat. Ich weiß, der Blutmond wird in den Hallen des Erebor niemals erwähnt, ranken sich doch zahlreiche Mythen um ihn, welche Unheil und Sorgen in sich tragen. Auch wurde er niemals aufgezeichnet, obwohl es dafür eine Rune gibt.”
Ïsâdi, dachte Thorin still bei sich, würde auch keiner der Zwerge aussprechen, und fühlte den kalten Schauer, welcher über seine Haut zog und ihn frösteln ließ, doch es würde des Kriegers Geheimnis bleiben, welches er mit sich herumtrug, seitdem er denken konnte und…
Unvermittelt riss er den Kopf herum: “Ihr meint, Eure Tochter kam in der gleichen Nacht zur Welt wie…”, brach er mitten in seinem Satz ab und erkannte das Nicken des Schemens, welches lächelnd seinen Blick erwiderte: “Ja, Thorin. Euch beide verbindet diese eine Nacht, ohne davon gewusst zu haben. Euch beide plagen dieselben Träume und treiben die gleichen Wünsche. Ihr tragt den einen Teil des Ganzen in Euch, mein König, dessen andere Hälfte tief in Farasar verwurzelt ist.”
Wirr jagten die Gedanken in Thorins Kopf, als er verbissen versuchte, sie zu ordnen. Wenn sich Farasar seit jeher den Zwergen so verbunden fühlte, warum ließ sie ihrem Hass dann regelrecht freien Lauf? Sie hatte innerlich nicht nur gegen sein Volk gekämpft, sondern auch gegen sich selbst und wäre am Ende elendig zugrunde gegangen.
“Eines Tages wird sie Euch alles erklären, wenn die Zeit reif dafür und Ruhe in den Hain eingekehrt ist. Doch nun, König Thorin, muss ich mich von Euch verabschieden”, wisperte Thorgunn und das grauflimmernde Schemen setzte sich in Bewegung, um in Richtung der Wächterin zu schweben.
“Wartet!”, erhob sich der Krieger augenblicklich. “Bitte…Ich…Wie soll es dieses ‘eines Tages’ geben, wenn Eure Tochter mir nicht zu sagen vermag, was ich hören möchte?”, sah er der nebligen Gestalt hilfesuchend hinterher und atmete erleichtert auf, als diese sich noch einmal zu ihm umwendete und antwortete: “Wenn Eure Ohren zu taub und Eure Augen zu blind, dann lasst Euer Herz fühlen. Tief im Inneren wisst Ihr es bereits, doch noch fehlt Euch der Mut dazu, es laut auszusprechen. Habt keine Angst, Thorin. Traut Euch!”, munterte Thorgunn mit der liebevollen Stimme einer Mutter auf. Das herzliche Lächeln, welches sie ihm dabei schenkte, brannte sich mit sagenhafter Macht in des Zwerges Gedächtnis ein.
Der Schwarzhaarige hätte wild werden können bei all diesen Andeutungen, welche er kaum einzuordnen wusste. Die Zeit lief ihm davon, fühlte er doch, wie Galadriels Hände seine Heilung vorantrieben, und nun musste er sich auch noch mit Rätseln herumschlagen, die ihm ein Chaos an Gefühlen bescherten. Unwillig sah er dem Schemen nach und bemerkte schließlich die sanften Bewegungen Farasars, welche sich auf ihre Knie hockte und auf den Fersen niederließ. Mit beiden Händen umschloss sie das kleine Gefängnis seiner Ahnen und konzentrierte sich. Schneller wurde das Pulsieren darin und ließ das Rot hell aufleuchten, um wie ein glühender Stein die Sicht auf Farasars Hände zu verschlucken. Gleißend und mit einem leichten Vibrieren brach das Glas entzwei, um einen silberblauen Lichtstrahl freizugeben, welcher sich bis hinauf an die Höhlendecke erstreckte und deren Oberfläche wie flüssiges Metall erscheinen ließ.
Atemlos sah Thorin diesem Vorgang zu und war zu keiner Bewegung fähig. Auch das Bedürfnis, hinüberzugehen und seinen Vätern ein letztes Lebewohl mit auf den Weg zu geben, ebbte in ihm spürbar ab. Zu sehr faszinierte ihn der Anblick der Wächterin, welche mit nacktem Körper ihren Zauber wob und in des Kriegers Empfinden einen Sturm auslöste, welcher mit einfachen Worten für ihn nicht zu erklären war. Farasars Äußeres hatte nichts mehr mit der jungen Frau gemein, welche er einmal kennengelernt hatte. Nur der traurige Blick ihrer Augen war geblieben, welcher Thorin in diesem Moment traf und ihn verlegen schlucken ließ. Nur zu gut wusste er, dass sie sich nicht mit Absicht so zeigte, um ihn zu reizen, hatte er doch die Qual gespürt, welche sie peinigte und der Schmerz auf ihrer Haut unerträglich sein musste. Jegliche Berührung auf dem geschundenen Körper ließ sie leise aufstöhnen und erzittern.
Umso erstaunter nahm der Krieger nun wahr, wie sie ihm leise lächelnd zunickte und ihn einlud, zu ihr zu kommen. Zögerlich überbrückte er den kurzen Weg und kniete sich schweigend vor sie nieder. Gebannt verfolgte er, wie sie seine Hand nahm und eine Hälfte des zerbrochenen Gefäßes umschließen ließ. Thorin wurde ein Teil des Zaubers und ergriffen wurde ihm bewusst, welch inniges Geschenk sie ihm damit machte, konnte er doch Thor und Thrain nicht nur sehen. Des Kriegers Brust schien zu bersten, als er die vertraute und nie vergessene Nähe zu seinen Vätern spürte. Heiß und stark verband die Männer noch immer das Gefühl der Liebe und des Stolzes. Laut und inbrünstig gab der Krieger seinen Gefühlen freien Lauf und mit unsäglicher Wucht entlud sich das angestaute Gewirr aus unzähligen Eindrücken und Empfindungen der letzten Tage, welches ihn zu erdücken schien, und er dennoch versucht hatte, es stetig unter dem Deckmantel der Stärke zu bändigen. Er schämte sich seiner Tränen nicht, welche von Glück und Dankbarkeit getragen wurden, als die Zwerge langsam emporstiegen und eine tiefe Zufriedenheit ausstrahlten, während sie sich dem schimmernden Tor hoch über ihnen näherten. Ergeben sah der Schwarzhaarige den beiden hinterher und eine nie dagewesene Erleichterung breitete sich in ihm aus. Schmerzlich musste er erkennen, wieviel es ihm in Wahrheit bedeutet hatte, dass Thor und Thrain an jenen Ort gehen konnten, welcher für sie bestimmt war. Thorin begriff in diesem Moment, warum Farasar mit aller Macht versucht hatte, den von ihr gewählten Weg zu gehen, um genau dies zu ermöglichen. Sie hatte gewusst, wie wichtig es ihm war, auch wenn er es nie verlangt hatte. Bis auf den Grund seines Herzens war sie vorgedrungen und hatte erkannt, was zu tun war, um seinen inneren Frieden wieder herzustellen. Das Gefühl, welches ihn in diesem Moment der Erkenntnis überrannte, war für Thorin nicht in Worte zu fassen.
Zufrieden hatte Farasar den Regungen des Schwarzhaarigen zugesehen, wurde sie doch in jenem Moment, als es in dem Krieger aufbrach und er sich nicht mehr zurückhielt, darin bestätigt, dass sie eine richtige Entscheidung getroffen hatte. Die tiefe Ruhe, welche sich in ihrem Inneren ausbreitete, ließ sie wohlig aufseufzen und lächeln. Sie hatte ihr Werk endlich vollbracht, zu dem sie geboren worden war - alle Seelen hinübergehen zu lassen, ob sie es nun wollte oder nicht.
Doch ein Abschied stand ihr nun noch bevor. Der zweite von derselben Person und dieser würde nun entgültig sein. Gern hätte sie noch mehr Zeit mit ihrer Mutter verbracht und viele Fragen gestellt, zu denen sie all die Jahre keine Gelegenheit hatte. Farasar hatte von Beginn an gewusst, dass Thorgunn den beiden Zwergen folgen würde, und dennoch traf sie es in diesem Augenblick wie ein Schlag, als die Nebelgestalt neben dem Lichtstrahl auftauchte und traurig lächelnd ihren Blick suchte: “Ich konnte dir nicht die Mutter sein”, begann die ehemalige Kriegerin leise, “die du so dringend gebraucht hättest, mein Kind. Deshalb kann ich dich jetzt nur bitten, dass du meinem Rat folgst. Ob du dies tust, liegt ganz bei dir.”
Beinahe kindlich sah Farasar der Älteren fragend in die Augen: “All die Jahre hätte ich so manchen Rat von dir gebrauchen können, Mutter. Diesen letzten werde ich bestimmt nicht von mir weisen, sehne ich mich doch danach, eine starke Stimme an meiner Seite zu wissen.”
“Du wirst eine neben dir haben, wenn du dich recht entscheidest. Und diese wird stärker sein, als ich es jemals hätte sein können”, zitterte Thorgunns Stimme, während sie behutsam in das Licht eintauchte und noch einmal einen liebevollen Blick auf den Zwergenkönig warf, um sich einen Moment später wieder ihrer Tochter zuzuwenden: “Was auch geschehen mag, Farasar, lass es zu. Hör auf dein Herz und kämpfe nicht dagegen an. Dann wirst auch du bekommen, was du dir verdient hast”, und langsam trat sie den Weg an, welchen vor ihr schon Thorins Väter gegangen waren. Ergriffen sahen ihr zwei Augenpaare nach und sie verharrten noch immer schweigend, als sich die Säule aus silberblauen Licht sanft auflöste und schließlich ganz verschwand.
Thorin rührte sich als erstes und atmete tief durch, um seinen Blick nun endlich wieder auf die junge Frau zu richten, welche noch immer an die Höhlendecke starrte und das Wasser in ihren Augen überzulaufen drohte. Erschüttert sah er dem schwarzen Mienenspiel zu, welches regelrecht nach Hilfe zu schreien schien. Ohne Nachzudenken richtete er sich auf und riss Farasar in seine Arme. Keines Wortes mächtig drückte er sie an sich und hielt sie, bis er spürte, wie ihr Körper die Starre verlor, welche sie vor Trauer und Hilflosigkeit befallen hatte. Zusammenbrechend ließ sich die Wächterin hemmungslos gehen und schluchzte laut auf, während sie den Krieger spüren ließ, wie sie sich an ihn presste und seine Nähe und Wärme suchte. Und Thorin gab sie ihr. Bedingungslos. Nie zuvor hatte er etwas Wertvolleres in seinen Armen gehalten als dieses Wesen, dessen heftiges Atmen er heiß an seinem Hals spürte. Thorin konnte sich auch nicht daran erinnern, jemals so viel Glück in sich gespürt zu haben, als er jemandem Halt und Geborgenheit gab. Sanft wendete er sein Gesicht der jungen Frau zu, welche sich langsam wieder fing und ruhiger wurde. Scheu hauchte er einen Kuss in das dunkle Haar und strich kaum merklich mit einer Hand über Farasars Rücken, welche augenblicklich zusammenzuckte und den Krieger zurückschrecken ließ: “Es tut mir leid”, flüsterte der Schwarzhaarige entschuldigend. “Ich wollte dir nicht wehtun.”
“Das tust du nicht”, schüttelte die Wächterin leicht den Kopf, ohne diesen auch nur ein kleines Stück von des Mannes Schulter zu heben. “Deine Nähe lindert den Schmerz. Sie tut mir gut.”
Erleichtert atmete Thorin auf und doch legte er vorsichtig seine Hände nun bewusst auf die schwarzgraue Haut und versuchte, jenen Körper zu fühlen, nach dem er sich so lange gesehnt hatte. Es waren nicht nur seine Finger, welche die Wärme genossen. Die Haut auf seiner Brust schien in Flammen zu stehen, spürte er doch Farasars feste Weiblichkeit, welche sich noch immer sehnsüchtig an ihn schmiegte. Leise aufkeuchend starrte er fassungslos an die ihm gegenüberliegende Wand. Er wollte das nicht! Nicht jetzt und nicht hier! Thorin schämte sich zutiefst ob dieser heißen Welle, welche ihn einen Augenblick zuvor durchzogen hatte und einen Hauch der Begierde erwachen ließ. Zitternd zog er sich ein wenig zu heftig zurück und packte die junge Frau bei den Schultern, um sie fassungslos anzustarren und stöhnte gequält auf: “Nein!”
Farasar hielt den Kopf gesenkt und verharrte ergeben: “Ich kann verstehen, wenn dich meine Erscheinung anwidert”, hauchte sie kaum hörbar. “Dieselbe Abscheu würde auch ich empfinden.”
“Das ist es nicht. Ich…”, ließ Thorin seinen flackernden Blick langsam und intensiv über den Frauenkörper gleiten. Erschüttert über sich selbst, biss er sich auf die Lippe, um seine Erregung im Zaum zu halten, doch gänzlich verstecken konnte er sie nicht. Kurz wurden seine Gedanken unterbrochen, sah er doch das zarte Blau über Farasars Bauchnabel sanft aufleuchten, doch schon wurde seine Aufmerksamkeit auf die leichte Bewegung der Wächterin gelenkt, welche sich von ihm abwenden wollte. Blitzschnell griff er nach ihrem Gesicht und wollte ihr in die Augen sehen, doch sie verweigerte sich stur und verbissen.
“Sieh mich an”, bat Thorin leise und wusste nicht, ob er seine Bitte in dem Moment bereuen sollte, als die Va’ari ihren Blick hob und er in zwei tiefschwarze Augen sah, in denen das Weiß vollständig verschwunden war. “Bei Mahal!”, rief der Krieger entsetzt aus, doch er lockerte nicht seinen Griff um Farasars Kinn.
“Du solltest mich niemals so sehen…”, versagte der jungen Frau die Stimme und auch wenn kein Gefühl in ihrem Blick mehr zu erkennen war, so hörte und fühlte Thorin ihre Verzweiflung, welche ihn tief berührte.
“Ich liebe dich, Farasar. Es ist gleich, was mit dir geschehen ist. Ich sehe nur dieses wunderbare Wesen, welches mir mehr gegeben hat, als es jemals ein anderes vermochte. Da drin”, legte Thorin eine Hand auf die Stelle ihrer Brust, unter der das Herz hämmernd gegen ihre Rippen schlug, “ist genau diese Frau, welche ich nie mehr hergeben möchte. Welche mich mit derselben Inbrunst liebt, wie sie mich einst gehasst hat.”
Bebend öffnete Farasar die Lippen, doch sie brachte keinen Ton hervor. Sie spürte das leise Vibrieren des Mannes, welcher sich ihr langsam näherte und behutsam seine Stirn an die ihrige lehnte. Zärtlich ließ er seine Nase über ihre Haut gleiten und suchte mit den Lippen ihren Mund. Die Wächterin verharrte atemlos und wünschte sich nichts sehnlicher herbei als die Berührung, von welcher sie so lange geträumt hatte.
“Amrâlimê! Vergiss das niemals”, ließ Thorin seinen Atem über ihr Gesicht streicheln, um schließlich in noch nie dagewesener Zärtlichkeit zu versinken, welche zögernd und zweifelnd erwidert wurde. Kurz zog er sich zurück, um noch einmal in dieses glänzende Schwarz ihrer Augen zu sehen, um schlussendlich seinen Hunger nach Farasars Hingabe zu stillen.
Die Va’ari gab sich hin, als sie die liebkosenden Lippen spürte und Thorins sanft fordernde Zungenspitze Einlass verlangte. Knurrend bäumte sich der Mann vor ihr auf und vergrub seine Hände in ihrem Nacken, um sie zu halten, während er tief in ihren Mund eindrang, welcher ihn stöhnend empfing. Wild presste der Krieger die junge Frau an sich und glitt mit seinen Händen abwärts zur ihren Hüften, um sie fest an sich zu ziehen und Farasar somit drängte, ihre Schenkel zu öffnen und sich auf seinen Schoß rutschen zu lassen. Sich festhaltend legte sie ihre Arme um seinen Hals und vergrub ihre Hände in den langen schwarzen Haaren, als er mit verhangenen Augen zu ihr aufblickte.
“Lass mich nicht los, Thorin. Nie wieder…”, hauchte Farasar bebend und legte ihren Kopf in den Nacken, als sie die sanften Bisse des Mannes an ihrem Hals spürte, welcher kostend mit seinen Lippen an ihrem Körper abwärts wanderte. Thorin hielt die Augen geschlossen, wollte er doch nicht an das Bevorstehende erinnert werden, welches unausweichlich schien. Innerlich zweifelnd und dennoch unablässig vordrängend, wanderten seine Hände über die heiße Haut der Wächterin. Mächtig durchzog ihn die Welle der Hitze und ein seliges Lächeln flog über des Kriegers Gesicht, als er Farasars Brust kräftig umschloss und sie sich ihm stöhnend entgegendrückte. Fest presste sie ihren Unterleib in seinen Schoss, dessen gefangene Härte um Freiheit flehte. Genüsslich brummte Thorin auf und doch spürte er Farasars sanften Rückzug, welchen er nicht wahrhaben wollte und stumm flehend sein Gesicht zwischen ihren Brüsten vergrub.
“Sie ruft dich”, keuchte die Wächterin auf und heiße Tränen brachen sich Bahn, als sie ihre Lippen auf Thorins Kopf presste.
“Ich will nicht gehen”, rutschte des Kriegers Haupt noch ein Stück hinunter, sodass er mit gequältem Blick, jedoch ohne wirklich zu sehen, auf Farasars Bauch starrte. Er fühlte, wie er schwand. Spürte den Sog der anderen Seite, welche ihn mit unnachgiebiger Stärke zurückzuholen versuchte.
“Deine Zeit läuft ab, Thorin…Und meine auch…Die letzte Rune schwindet”, flüsterte die junge Frau und löste ihre Umarmung, um sich leicht nach hinten zu lehnen und dem Blick des Kriegers zu folgen. Schwach erleuchtete das Zeichen über ihrem Bauchnabel, dessen Vergehen das Sterben der Va’ari ankündigte.
Fassungslos starrte Thorin auf die Linien und zum ersten Mahl sah er bewusst hin, um zu lesen, doch er war keines klaren Gedanken mächtig, drangen doch Worte in seine Erinnerung, welche er erst vor kurzem gehört hatte: Euch beide verbindet diese eine Nacht…Obwohl es dafür eine Rune gibt…Tief im Inneren wisst Ihr es bereits…Habt keine Angst…
Die Zerstörung war nicht aufzuhalten. In quälender Langsamkeit fraß sich sengendes Feuer durch Farasars Haut und der Zwerg war nicht in der Lage, irgendetwas zu sagen oder sich zu bewegen, und musste doch gleichzeitig spüren, wie sein Blick neblig wurde und sich die Konturen der jungen Frau vor ihm langsam auflösten.
“Thorin!”, riss die Wächterin ihn laut flehend aus seiner Starre und entsetzt presste er eine Hand auf die Rune, welche unter seiner Hand schmerzvoll verging und seine Gedanken zu bersten drohten, als er noch einmal die Stimme hörte, welche ihm so eindringlich den Weg aufgezeigt hatte: Wenn Eure Ohren zu taub und Eure Augen zu blind, dann lasst Euer Herz fühlen, schloss der Krieger bebend die Augen. Er spürte nichts mehr, löste sich sein Körper doch langsam und stetig auf. Heiß ballte sich die Liebe in seinem Herzen zusammen und schloss die Angst wie in einem Gefängnis ein, um der Wahrheit, welche sich dröhnend und vibrierend in ihm ausbreitete, den Weg frei zu machen.
“Ïsâdi”, flüsterte der Schwarzhaarige und konnte seine Stimme selbst kaum vernehmen. Grollend bäumte er sich auf und mit der Angst der Verzweiflung schrie er diesen Namen, welcher ihn seit seiner Geburt begleitet hatte, jedoch niemals ausgesprochen wurde. Thorin sah nichts mehr. Fühlte nichts mehr. Schreiend wiederholte er dieses eine Wort und versank schließlich in der kalten Dunkelheit, welche ihn gefangen nahm und die Ungewissheit alle Hoffnung schwinden ließ.
Der Boden unter Farasar erzitterte und ließ feine Staubrinnsale von der vibrierenden Höhlendecke herunterrieseln. Mit festem Tritt stellte sie sich breitbeinig auf den steinernen Boden und hob die Arme leicht in die Höhe, um die prasselnden Feuerkugeln in den Handflächen preiszugeben. Das Beben verstärkte sich grollend und mit einem ohrenbetäubenden Knirschen zogen sich feinste Risse, welche gefüllt waren mit glühendem Rot, durch die Höhle.
“Komm zu mir”, knurrte der Fürst aufgewühlt in unsäglicher Erregung. Zu lange hatte er heimlich den beiden bei ihrem sanften Liebesspiel zugesehen, als dass er sich jetzt noch zurückhalten konnte. Dröhnend barst das Gestein in einer energiegeladenen Explosion und gab den Blick auf die junge Frau frei, welche in ihrer neuen Erscheinung pures Verlangen in dem Mann auslöste und dieser sich nicht mehr zügeln konnte. Eilig überbrückte er die kurze Distanz zu ihr und riss sie mit Macht an sich, um sie wie ein Leichtes emporzuheben und auf seine kraftstrotzende Mitte zu setzen.
Die Wächterin schrie gellend auf und schlug ihre Finger tief in des Roten Haut, um sie vor Zorn bebend herunterzureißen und glühende Wunden zu hinterlassen, doch der Schmerz befeuerte die Lust des Fürsten ins Unermessliche und wie im Wahn, füllte er Farasar aus.
Zu spät bemerkte Dharag, dass der vor Qual zuckende Körper in seinen Armen weich wurde und er begann, hindurchzufassen. Er vernahm nicht das Erstummen ihrer Schreie und auch sah er nicht das leise Lächeln auf ihren Lippen, als sie sich ihm entzog. Farasar fiel. Ins Dunkel. Ohne Laut. Und endlich ohne Schmerzen.
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Das erste, was er wahrnahm, war dieser sinnlich verführerische Duft, welcher ihn umgab, ja regelrecht einhüllte und wohlig durchatmen ließ. Träge fühlten sich Thorins Gliedmaßen an und die Augenlider schienen schwer wie Blei. Weich und sauber ertasteten seine Finger den Stoff, als er seine Hand leicht bewegte und spürte, wie er über seine Brust strich. Irgendwo musste ein Fenster geöffnet worden sein, denn die morgendlichen Geräusche der Natur, gepaart mit der kalten Luft der Nacht, drangen mit beinahe erschreckender Lautstärke in sein Bewußtsein und ließen ihn zusammenzucken, als er sich fragte, wo er war.
“Du bist wieder hier. Endlich…”, knurrte eine vertraute Stimme leise und erleichtert nah bei ihm und die Bewegung des Bettes ermunterte ihn, nun doch zu blinzeln.
“Dwalin”, klang des Schwarzhaarigen Stimme fremd und noch weit entfernt. Das Sprechen fiel dem Mann hörbar schwer, doch ein sanftes Lächeln legte sich auf seine Lippen, als er den Freund erkannte, welcher sich zu ihm gewendet auf die Bettkante gesetzt hatte und ihn nun mit ernster Miene betrachtete. Nur das Funkeln in des Kriegers hellen Augen zeugte von großer Freude über das Erwachen des anderen.
“Wie fühlst du dich, alter Mann?”, fragte der Glatzköpfige noch immer leicht besorgt, kannte er doch keinen, welcher jemals von der anderen Seite zurückgekehrt war und berichten konnte.
“Noch etwas benommen, aber gut”, öffneteThorin seine Augen nun vollständig und sah sich langsam im Raum um, als sein Blick klarer wurde und die Gedanken sich in geordnete Bahnen lenkten. Er kannte dieses Zimmer, lag er doch einst für eine Nacht schlaflos in diesem Bett, nachdem er im Dunkel am Fenster gestanden und die beiden Personen auf dem Hof beobachtet hatte. Des Königs Blick erstarrte, als die Erinnerung ihn mit purer Macht überrollte und aufkeuchen ließ. Ruckartig riss er den Kopf herum und meinte schon, die Antwort in Dwalins Augen zu erkennen, bevor er diesen fragen konnte. Entsetzt vernahm er dessen leichtes Kopfschütteln und den traurigen Blick, welcher sich hilflos senkte.
“Sie ist…?”, getraute sich Thorin nicht weiterzusprechen und die Übelkeit in seiner Magengegend ließ ihn blass werden.
“Nein”, sah Dwalin gequält auf, “doch sie ist nicht hier.”
“Wie meinst du das?”, richtete sich der Schwarzhaarige schwach in den Kissen auf und war dankbar über des Freundes helfende Hände, welche ihn stützten und ein Kissen hinter seinen Rücken schoben. Ein sanftes Ziehen drang durch seinen Körper, doch er zuckte nur leicht zusammen, als er der Wunde gewahr wurde, welche sorgfältig verbunden unter der Tunika verborgen lag. Fragend und hoffend sah er den Mann schließlich an, welcher nicht zu erkennen gab, dass er des Königs Reaktion bemerkt hatte.
“Sie lebt, Thorin. Zumindest ist Leben in ihrem Körper”, stockte der Jüngere, “doch sie selbst ist noch nicht zurückgekehrt. Ich kann das nicht erklären, Mann. Ich bin für soetwas nicht geschaffen”, brummte Dwalin verzweifelt und aufgewühlt.
“Ich will zu ihr. Wo ist sie?”, wurde der schwarzhaarige Krieger aufgeregt und begann damit, sich die Bettdecke von den Beinen zu ziehen, um aufzustehen.
“Du kannst nicht zu ihr!”, rief der Glatzköpfige entsetzt aus. “Du bist noch viel zu schwach.”
Knurrig zog Thorin die Augenbrauen zusammen: “Erzähl mir nicht, was ich bin. Ich sagte, ich will zu ihr. Also werde ich dies auch tun.”
“Thorin!”, packte Dwalin den Freund kräftig bei den Schultern und hielt ihn zurück. Flehend sah er dem anderen in die Augen, welche ihn wütend anblickten. “Tu dir das nicht an. Jetzt noch nicht…Bitte…”, ließ er die Hände kraftlos an des Anderen Armen hinabgleiten.
“Was ist es?”, flüsterte nun der Schwarzhaarige. “Was kann schlimmer sein, als das, was ich erlebt habe?”, kniff er die Augen zusammen und unterdrückte nicht das ängstliche Zittern in seiner Stimme.
Traurig schüttelte Dwalin den Kopf und stand auf. Langsam ging er um das Bett herum und durch den Raum, um an das Fenster zu gelangen und hinauszustarren. “Sie hat sich verändert. Du würdest sie nicht wiedererkennen”, flüsterte er schließlich.
Der Zwergenkönig sank zurück in die Kissen und sah an die Zimmerdecke: “Ich weiß, dass sich ihr Aussehen verändert hat. Ihre Haut ist schwarz wie Kohle und die Runen glühen”, erinnerte er sich schmerzlich aufseufzend an den Anblick der Wächterin, doch gleichzeitig fühlte er, wie wogenartig eine zarte Welle über seine Haut strich, als er meinte, auch ihre Wärme wieder zu spüren.
Dwalin drehte sich herum und sah grübelnd zu dem Mann im Bett hinüber: “Nein”, schüttelte er erneut den Kopf, “da ist nichts. Absolut gar nichts. Die Runen sind verschwunden. Alle Farbe scheint entwichen”, schauerte er zusammen, als ihn Thorins entsetzter Blick traf. Genau vor diesem hatte er sich die ganze Zeit gefürchtet, wollte er doch nicht das Elend des Freundes sehen.
“Bring mich zu ihr”, bat der Schwarzhaarige leise.
“Ich kann nicht und ich will nicht”, ballte Dwalin die Hände zu Fäusten. “Verstehst du nicht? Ich weigere mich! Ich halte das nicht mehr aus”, lief er bebend zum Bett und baute sich vor dem erschrockenen Mann auf, welcher erschüttert zu ihm aufsah. “Ich habe das Leid in deinen Augen gesehen, als deine Väter nicht gehen durften. Ich habe deine Qual gespürt, als diese Frau den Erebor verließ. Ich habe dich gesehen, als du in Thranduils Armen lagst mit dem Dolch in der Brust”, dröhnte des Kriegers Stimme mächtig und sein Blick irrte verzweifelt hilfesuchend durch den Raum. “Und ich war es auch, welcher Haledan schließlich in die Gruft trug und Farasar von diesem Baum wegholte, damit Galadriel sie versorgen konnte”, brach er zitternd auf dem Rande des Bettes zusammen und vergrub das Gesicht in seinen riesigen Händen.
Fassungslos ruhte Thorins Blick auf des Kriegers breiten Rücken, welcher leicht bebte unter dem leisen Schluchzen. Es war bisher selten vorgekommen, dass sich dieser Mann so aufgelöst und mitgenommen zeigte. Beruhigend legte der Schwarzhaarige eine Hand auf des Freundes Schulter, doch er brachte kein Wort des Trostes über die Lippen.
“Du kannst”, flüsterte der Hüne, “alles von mir verlangen, Thorin. Ich ertrage es. Ob in der Schlacht oder in der Schmiede. Ich verbinde Wunden oder arbeite tagelang durch. Das Schreien von Krepierenden nehme ich stumpf zur Kenntnis. Körperliche Schmerzen sind mir nicht fremd und sie hören irgendwann einmal auf. Doch eines wird mich umbringen…”, drehte er sich um und sah dem Krieger einmal mehr flehend in die Augen. “Dich leiden zu sehen…Thorin…Ich schaffe das nicht mehr.”
“Es tut mir leid”, schluckte der Schwarzhaarige und blickte verlegen zur Seite, berührten ihn die Worte des Mannes doch tief in seinem Herzen. “Ich hatte keine Ahnung davon, wie sehr dich das alles mitnimmt.”
“Lass gut sein, Freund. Ich besorge dir etwas Nahrung, damit du wieder zu Kräften kommst”, stand der Glatzköpfige unvermittelt auf und rieb sich über die Augen, um den feuchten Schimmer wegzuwischen. Gebeugt unter der Last seiner Sorgen begab sich Dwalin zur Tür, doch noch ehe er den Raum verlassen konnte, hörte er des Königs Stimme: “Du sagtest, du brachtest Haledan in die Gruft. Was will er dort? Ich muss mit ihm sprechen. Vielleicht kann er mir Antworten auf meine Fragen geben.”
Regungslos blieb der Krieger in der geöffneten Tür stehen und hielt den Atem an, doch nur einen Augenblick später verließ er das Gemach, ohne sich noch einmal umzuwenden und ohne eine Erwiderung.
Fassungslos über dieses schweigsame Zurücklassen wendete Thorin seinen Blick ab, um diesen ziellos durch das Fenster hinauszuschicken. Wirr sprangen Dwalins Worte in seinem Kopf herum und jedes Mal, wenn er eines fassen wollte, um genauer darüber nachzudenken, entglitt es ihm auch schon und das nächste kam zum Vorschein. Doch mit unsagbarem Druck hämmerte es hinter seiner Stirn und wurde stetig stärker, bis es mit einem gequälten Stöhnen aus ihm hervorbrach: “Haledan!”, und mit vor dunkler Ahnung zitternden Händen zog Thorin nun den Rest der Bettdecke fort, um sich aus dem Bett zu wälzen und dem Krieger wankend zu folgen. Wie im Wahn und sich an der Wand festhaltend, stolperte er mehr die hölzernen Stufen hinunter, als dass er sie ging. Tief im Inneren bereute er, aufgestanden zu sein, hatte er sich doch grenzenlos überschätzt und seinen Zustand falsch beurteilt. Das Weichwerden seiner Beine spürte Thorin nur allzu deutlich, genauso wie die feinen Schweißtropfen, welche sich auf seiner Stirn bildeten.
“Was ist mit Haledan?”, fragte der Schwarzhaarige noch im Nehmen der letzten Stufe und ging langsam in den Raum hinein, um nicht zu stürzen, drehte sich doch alles, sobald er nur einen Moment schneller wurde.
“Bei Durins Barte!”, rief Dwalin überrascht aus und ließ vor Schreck die Tonschale fallen, welche er soeben mit heißer Suppe gefüllt hatte. Eilig ging er dem Krieger entgegen und knurrte diesen zornig an: “Ich hatte gesagt, du sollst dich ausruhen. Tagelang hast du nichts gegessen. Dein Geist hat Qualen durchstehen müssen. Was glaubst du, woher die Kraft kommen soll, wenn du hier einfach so spazieren gehst?”
“Und ich will wissen, warum du Haledan in die Gruft gebracht hast. Ist er noch dort? Ich will zu ihm und du wirst mich begleiten, da ich nicht weiß, wo ich diese finden kann”, blaffte der König genauso unverhohlen zurück und drückte sich augenblicklich die flache Hand auf das Brustbein, fühlte er doch wieder dieses leise Ziehen der Wunde.
“Thorin, ich…”, fuhr sich Dwalin mit der Hand über das Gesicht, um sein Entsetzen zu verbergen. “Ich kann nicht…”
“Ich werde Euch bringen, wenn es Euer Wunsch ist, den Elb aufzusuchen”, kam eine leise und eindringliche Stimme aus der Richtung des Tores, welches den Durchgang vom Haus zur Terasse darstellte.
Verwundert wendete sich Thorin zu dem Mann um, welcher seiner Bitte folgen wollte. Staunend betrachtete er den Silberhaarigen, welcher in der einfachen beigefarbenen Kleidung so anders aussah als sonst, wenn er sich in Taft und Seide hüllte. Selbst der Schmuck, den er gewöhnlich zu tragen pflegte, fehlte auf seiner Haut und gab dem Anblick einen merkwürdigen Ausdruck. Kurz zuckte der Zwerg unter der aufblitzenden Erinnerung zusammen und spürte das Aufbegehren des jüngeren Kriegers in seinem Rücken, welchen er im letzten Moment noch zurückhalten konnte, als dieser wütend fauchte: “Glaubt Ihr wirklich, ich werde Euch noch einmal allein mit meinem König lassen? Wie lange wartet Ihr schon auf Eure zweite Gelegenheit, endlich das zu vollenden, was Euch beim ersten Mal misslang?”
“Dwalin!”, rief Thorin erschüttert aus und starrte geschockt in des Mannes Antlitz, welches das Rot des Zornes angenommen hatte, doch schon hörte er wieder des Elbs ruhige Stimme: “Ihr solltet Euren Unmut zügeln, Herr Zwerg. Bedenkt, was geschehen ist, als Ihr schon einmal auf mich losgegangen seid.”
Sprachlos und fragend sah der Schwarzhaarige zwischen den Männern hin und her, um schließlich an Dwalins gequältem Blick hängenzubleiben, welcher nur noch keuchen konnte: “Ihr wagt es nicht, davon zu sprechen!”, ballte er drohend die Hände zu Fäusten.
“Er wird es ja doch erfahren”, senkte der Silberhaarige ergeben seinen Blick, um dem Glatzköpfigen keinen Anlass zu geben, ihn anzugreifen.
“Dwalin, was ist geschehen? Rede mit mir”, bat Thorin den Jüngeren leise und flehend, doch dieser sah ihn nur einen kurzen Moment an und wendete sich abrupt ab, um den Weg aus dem Haus zu finden, dessen plötzliche Enge ihn zu erdrücken drohte. Hilflos sah der König dem Krieger hinterher und fühlte erneut die aufkommende Schwäche in sich.
“Euer Freund spricht die Wahrheit, Thorin. Ihr solltet etwas essen und zu Kräften kommen”, sprach Thranduil freundlich und ging langsam auf den Zwerg zu. “Setzt Euch. Währenddessen kann auch ich vielleicht Eure Fragen beantworten.”
Irritiert und dennoch dankbar sah der Zwergenmann zu dem Elb auf, um schlussendlich leicht nickend wenige Schritte zu gehen und auf einem der Stühle Platz zu nehmen, welche in dem Speisezimmer um den großen einladenden Tisch standen. Grübelnd und noch immer fasziniert von dessen Erscheinung, sah er dem Hochgewachsenen zu, wie dieser eine neue Schüssel hervorholte und sich die dampfende Nahrung darin ergoss. Kurz blitzte der Schalk durch Thorins Hirn, als er erkannte, dass ihn der Elb in eben diesem Moment bewirtete. Eine Vorstellung, bei welcher sich ein sanftes Lächeln auf die Lippen des Kriegers legte, doch so schnell, wie es gekommen war, verflog es auch schon wieder, nahm Thranduil doch genau ihm gegenüber Platz und sah ihn ernst an: “Farasar lebt”, begann der Silberhaarige leise, ohne darauf zu warten, dass Thorin ihm eine Frage stellte. “Kurzzeitig sah es so aus, als würde sie es nicht schaffen. Die Wände zwischen den Steinen verschwanden unerwartet schnell und Gandalf und ich eilten zu ihr”, starrte Thranduil gedankenversunken in Thorins Suppe, doch sein Blick schien weit entfernt. “Sie sah so anders aus. Schmal. Eingefallen. Weiß. Nichts erinnerte mehr an einst.”
“Dwalin sagte mir, die Runen seien verschwunden”, warf der Zwerg vorsichtig ein und löffelte dennoch weiter seine heiße Mahlzeit, in welche er das in kleine Brocken geteilte Brot versenkt hatte.
“Ja”, keuchte Thranduil erregt auf und hob seinen Blick, in denen das blanke Grauen zu erkennen war, als er sich den Anblick der Wächterin ins Gedächtnis rief. “Alles ist fort. Die Runen. Die Farbe ihrer Haare. Das Braun ihrer Augen.”
Starr richtete sich Thorin auf und verharrte mitten in seiner Bewegung, doch er wollte den Elb nicht noch einmal unterbrechen und wartete geduldig auf dessen weitere Ausführung. Das feuchte Schimmern in den eisblauen Augen war ihm nicht entgangen.
“Es dauerte eine Weile und wir hatten schon alle Hoffnung fahren lassen, als plötzlich ihr Atmen zu vernehmen war. Rasselnd. Stossweise. Kämpfend. Doch sie lebte. In dem Moment wussten wir, Ihr hattet es vollbracht”, sah er dankbar den Schwarzhaarigen an, um im nächsten Augenblick traurig den Kopf zu schütteln: “Doch etwas scheint sie zu hindern, vollständig zurückzukommen. Sie atmet, sie wechselt zwischen Wachen und Schlafen, doch ihre Augen sind wie Milch. Blind für die Dinge, welche um sie herum geschehen. Frau Galadriel ist durchgehend bei ihr und gibt ihrem Körper die nötige Energie, um langsam wieder zu Kräften zu kommen, doch ihre Seele kann sie nicht finden.”
Schweigend sahen sich die Männer an und erkannten das Leid des anderen in dessen Augen. Das, was sie in diesem Moment beide fühlten, bedurfte keiner Worte, waren derer doch nicht ausreichend genug, um das Zerreißen der Herzen zu beschreiben.
Langsam und nachdenklich aß Thorin weiter, obwohl er Mühe hatte, nach dem Gehörten, sich auf das Essen zu konzentrieren. Dennoch zwang er sich, die Schale zu leeren, spürte er doch, wie mit jedem Schluck die Wärme und die Lebensgeister in seinen Körper zurückkehrten. Aschfahl und dennoch zufrieden sah der Elb dem Schwarzhaarigen dabei zu und wartete geduldig auf dessen Frage, welche nur noch von Thorin in Worte gefasst werden musste, stand sie doch schon seit geraumer Zeit in dessen Blick.
Die leere Schüssel schließlich von sich schiebend, fuhr sich der Zwergenmann über Lippen und Bart, um im nächsten Augenblick seine Stimme leise zu erheben: “Und Haledan?”, sah er dem Silberhaarigen ängstlich in die Augen.
“Der Wächter ist tot, Thorin”, seufzte der Elb geräuschvoll auf. “Ich konnte es nicht verhindern. Keiner konnte das, überstürzten sich doch in jenem Moment die Ereignisse.”
“Was ist passiert?”, fragte der Krieger nun eindringlich und konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass auch der Fürst sich scheute, ihm die Geschehnisse mitzuteilen. Wie erleichtert war er, als er sah, wie der Elb zum Sprechen anhob: “Nachdem ich Euch…”, stockte Thranduil, “...ich meine…als ich Euch trug, um zu Frau Galadriel zu eilen, kam Eure Sippe und erkannte, was geschehen war. Eure Neffen konnten den Glatzköpfigen nicht aufhalten. Wie ein Berserker kam er über uns und in dem Moment stellte sich Haledan schützend dazwischen, wollte er doch erklären, was dies alles zu bedeuten hatte. Der Zwerg war zu schnell und rasend vor Sorge um Euch…und seine Wut kam wie ein Sturm über uns…”, vibrierte des Elbs Stimme und Thorin bemerkte das Zittern dessen Finger, welche sich verzweifelt ineinander kneteten.
“Thranduil?”, legte er behutsam seine Hände auf die des Silberhaarigen und löste damit in diesem ein erschrockenes Aufjappsen aus.
“Dwalins Axt traf den Wächter”, schloss der Fürst bebend die Augen und zwang sich zur Ruhe, bevor er weitersprach: “Ich konnte ihm nicht helfen, hatte ich doch Euch auf den Armen. Und Ihr brauchtet dringend Hilfe, solltet Ihr doch nicht sterben, auch wenn ihr dieses von mir verlangt habt. Ich weiß nur, dass Haledan bereits tot war, als Dwalin ebenfalls im Haus eintraf und nach Hilfe schrie. Es war zu spät, Thorin. Der Zwerg hatte ihm die Waffe tief in den Leib getrieben.”
Ergriffen starrte der Schwarzhaarige auf die feingliedrigen Hände des Elb, welche er noch immer mit den seinen hielt und schlagartig drang Dwalins gequälter Blick in seine Erinnerung. All das Leid, welches dieser erlebt und unter dem Deckmantel der Stärke begraben hatte, war darin zum Ausdruck gekommen. Das Wissen darum, einen Mann - einen Freund - umgebracht zu haben, schien den alten Krieger verrückt werden zu lassen. In diesem Augenblick wurde Thorin bewusst, warum der Zwerg seiner Bitte nicht hatte folgen können. Die Schuld und auch die Angst lähmten diesen und ließen ihn schwach werden.
“Bringt mich zu Haledan”, forderte der Zwerg Thranduil leise auf und sah das erleichterte Nicken, als er dessen Hände wieder freigab. Ohne weitere Worte und langsamen Schrittes begaben sie sich auf den Weg hinaus und in Richtung Südosten, gerade in die entgegengesetzte Richtung der Lichtung. Die Männer hingen ihren Gedanken nach und Thorin konnte sich nicht gegen den Eindruck erwehren, dass mit dem Silberhaarigen eine Wandlung stattgefunden hatte. Der sonst so stolze und oft überheblich wirkende Elb schien in seinen Grundfesten erschüttert. Das kalte Funkeln in dessen eisblauen Augen hatte der Zwerg nicht ein einziges Mal erkennen können, seitdem er ihn erblickt hatte. Thranduils gesamte Erscheinung hatte sich verändert und ließ den Elb angreifbar und beinahe zerbrechlich wirken.
Noch während der König darüber nachdachte, entging ihm das Stehenbleiben des Hochgewachsenen und wendete sich erst erstaunt um, als er bereits ein paar Schritte allein weitergegangen war. Fragend sah er zurück: “Thranduil?”, und folgte dem Blick des Silberhaarigen.
“Mir scheint, ich brauche Euch nicht mehr zu begleiten, habt Ihr doch einen Freund, welcher Euch stützt, wenn Ihr ihn braucht“, nickte der Elb in Richtung jenes Mannes, welcher unweit der Grenze zum Tor der Gruft stand und mit erhobenem Haupt, jedoch hilflosem Blick, dem ungleichen Paar entgegensah.
Tief getroffen erzitterte der Zwergenkönig und war sich unsicher, wie er dem Krieger begegnen sollte, welcher ihm all die Jahre treu zur Seite gestanden hatte. Wieder fühlte er das Unwohlsein in seiner Magengegend und die Schwäche in den Beinen.
“Er war in Sorge um Euch, Thorin. Könnt Ihr ihm dies verübeln?”, legte Thranduil dem Schwarzhaarigen eine Hand auf die Schulter und ließ diesen erschauern, war eine solche Geste für den Fürsten doch so ungewöhnlich, und erneut durchzog ihn das rumorende Gefühl, dass sich der Elb verändert hatte.
“Er wollte Euch umbringen”, begehrte Thorin leise auf.
“Ja”, verzog Thranduil leicht die Lippen, “das möchte wohl so jeder Zwerg”, und da war er wieder, dieser Unterton, welchen der König seit Beginn ihrer Gespräche vermisst hatte. Wehmütig sah er dem Hochgewachsenen in die Augen und wurde mit einem Blick belohnt, welchen er so nicht erwartet hatte.
“Geht zu ihm, Thorin. Mein Aufenthalt im Hain ist vorbei und somit verabschiede ich mich von Euch. Es wird eine Zeit kommen, in der alle Sorgen vergessen sind und das fröhliche Lachen der Elben und Zwerge gemeinsam erklingen wird. Lebt wohl, König unter dem Berge, wir sehen uns wieder an besseren Tagen”, nickte der Silberhaarige dem erstaunten Krieger zu und wendete sich eine Spur zu schnell ab, sodass der Eindruck entstand, er schäme sich seiner Worte, welche jedoch ehrlich und tief aus seinem Inneren gekommen waren.
Lange sah der Zwergmann dem Fürsten hinterher, bevor er sich dem Glatzköpfigen zuwendete und die Entfernung zu ihm überbrückte, um diesen schließlich mit seinem Blick gefangen zu nehmen. Er sah das Suchen in des Mannes hellen Augen und erkannte die Angst darin, die Freundschaft und Zuwendung des Königs verloren zu haben. Zitternd legte er eine Hand auf des Zwerges Schulter und zog diesen langsam zu sich heran.
“Thorin...”, versagte dem Hünen die Stimme und fest presste er den Schwarzhaarigen an seine Brust. Die Geste des Freundes bedeutete ihm so viel mehr, als Worte es jemals hätten ausdrücken können. Dankbar und nach Atem ringend, schloss Dwalin die Augen, um einen Moment später suchend in die des Anderen zu blicken und leise zu fragen: “Warum hast du mir nicht erzählt, was du vorhattest?”
Thorin lächelte müde: “Dazu hatte ich keine Zeit mehr. Als ich Thranduil sah, nachdem mir Haledan von der letzten Möglichkeit erzählt hatte und mir bewusst wurde, dass der Elb alles gehört haben musste, traf ich meine Entscheidung sofort und wollte nicht mehr länger warten.”
“Du hättest es mir auch so nicht gesagt, selbst wenn du nicht in Eile gewesen wärest”, stellte Dwalin nüchtern fest und senkte enttäuscht den Kopf.
“Du kennst mich, alter Freund”, drückte Thorin dem Krieger freundschaftlich die Schulter. “Und niemals möchte ich dich an meiner Seite missen, doch dies war mein Wunsch. Ich wollte diesen Weg gehen und der Elb half mir. Selbst wenn er sich geweigert hätte, so wäre mir eine andere Möglichkeit sicher eingefallen. So aber gab mir Thranduil zumindest die Chance, auf diese Seite zurückzukommen, auch wenn ich ihm das nicht zugetraut hätte, wusste ich doch sehr genau, wie er zu mir stand.”
Tief atmete der Glatzköpfige durch und rieb sich mit beiden Händen über Schädel und Augen. Ihm wurde das alles zu viel und die Schuld, welche er auf sich geladen hatte, schien ihn zu erdrücken und die Luft zum Atmen zu nehmen.
“Komm”, flüsterte Thorin, “lass uns gemeinsam Abschied nehmen. Haledan wusste, was er tat und er würde es bestimmt nicht wollen, dass du unter dem, was geschehen ist, so leidest. Er kannte uns Zwerge besser, als wir uns das vorstellen können”, nickte er dem Freund aufmunternd zu und gemeinsam schritten sie nun endgültig schweigend dem Tor entgegen.
**
“Auf was wartet er denn?”, nuschelte der Dunkelhaarige, während er mit dem Rücken an einem Pfeiler gelehnt dastand und misstrauisch zu der kleinen Gruppe sah, welche mit ernsten Mienen am anderen Ende der Terrasse stand und leise miteinander sprach.
“Dwalin ist noch nicht hier”, brummte Fili zurück, hakte seine Daumen tief aufseufzend in den breiten Gürtel und wippte ungeduldig auf den Zehenspitzen hin und her. Auch er beobachtete das Gespräch der zwei Männer mit der Elbenfrau verstohlen unter den Augenlidern hervor. Die gelegentlichen Blicke derjenigen auf die Person, welche von den Brüdern abgewendet in einem der großen filigranen Sessel saß, entgingen ihm ebenfalls nicht.
“Dies ist ungewöhnlich für ihn”, stellte der Jüngere sachlich fest. “Wenn Thorin ruft, so ist er derjenige, welcher stets der Erste ist. Glaubst du, sie haben sich…?”, beendete er seine Frage vorzeitig, war es für ihn doch unvorstellbar, dass sich der König und sein bester Krieger zerstritten hatten.
Fili schüttelte beruhigend den Kopf: “Nein, ich habe sie vor zwei Tagen gesehen. Sie schritten beide nebeneinander her, als sie aus der Gruft kamen. Schweigend, ja, aber nicht im Zorn. Thorin muss einsehen, dass der Alte in Raserei gehandelt hat und den Elb nicht umbringen wollte, doch so einfach vergessen können es wohl beide nicht”, zuckte es leicht um seine Mundwinkel, war er sich nicht sicher, ob er genauso ruhig wie Thorin reagiert hätte, wenn es ihn an seiner Stelle betroffen hätte.
“Dann möchte ich nicht wissen, wie die Wächterin es aufnehmen wird, wenn sie es erfährt”, wischte sich Kili mit der Hand über den Mund und starrte mürrisch auf die Rückenlehne des Sessels.
“Wenn, Bruderherz. Wenn!”, warf der Ältere dem Dunkelhaarigen einen hilflosen Blick zu, denn nichts deutete darauf hin, dass die Va’ari jemals wieder erwachen und von den Geschehnissen hören würde.
“Und wenn sie zurückkommt, dann werde ich es ihr selbst sagen”, erklang es leise brummend hinter den Jungzwergen, welche sich erschrocken umwendeten und dem Krieger in das müde Gesicht starrten. “Und”, fuhr der Glatzköpfige zähnemahlend fort, “ich werde dazu stehen. Was sie auch als Sühne verlangen wird, ich werde es ertragen.”
“Wie kannst du soetwas sagen, Dwalin?”, fragte der Dunkelhaarige erstaunt. “Was wäre, wenn es etwas ist, was du bei allen Bärten der Zwerge nicht erfüllen kannst?”
“Auch dann, Kili”, sah der Alte den Jüngeren nicht an, sodass dieser nur das traurige Funkeln in des Kriegers hellen Augen von der Seite sah. “Ich habe ihren Vater umgebracht, Junge. Sie kann alles von mir verlangen.”
Betreten sahen sich die Brüder an und beiden wurde bewusst, dass es Dwalin nicht nur darum ging, seine Schuld bei der Wächterin zu begleichen, sondern auch das vermeintlich verlorene Ansehen bei Thorin wiederherzustellen. Wie tief musste der Schmerz ist des alten Mannes Brust sitzen, dem Freund dieses Elend bereitet zu haben.
“Thorin”, knurrte Dwalin leise auf und straffte sich, als er den Schwarzhaarigen auf sich zukommen sah und spürte, dass auch die Jungzwerge ihre Aufmerksamkeit dem König widmeten. Schweigend blieb dieser vor den drei Männern stehen und sah jedem einzelnen abschätzend in die Augen, um schließlich den Blick des Ältesten gefangen zu nehmen, bevor er mit dem Sprechen begann: “Ich möchte, dass ihr den Hain verlasst und zum Erebor zurückkehrt.”
“Thorin, ohne dich gehen wir hier nicht fort”, warf der Dunkelhaarige augenblicklich ein, dessen Worte von seinem älteren Bruder nickend bestätigt wurden. Nur Dwalin sah fest und kalt dem König in die Augen, hatte er doch diese Strafe erwartet und befürchtet, auch wenn er sehr wohl verstand, warum der Freund ihn nicht in seiner Nähe haben wollte. “Wann sollen wir aufbrechen?”, fragte er deshalb nur knapp und unterdrückte jede Regung in seinem Gesicht.
Noch immer sah der König dem Jüngeren prüfend ins Gesicht und konnte nicht verhindern, dass der Hauch eines Zweifels in ihm aufstieg. Fast tat es ihm leid, den Mann wegzuschicken, doch er hatte seine Entscheidung getroffen: “Noch heute. Ich werde hier bleiben. Farasar braucht mich und bald beginnen die Vorbereitungen für das Schmiedefest. Ich weiß, wie wichtig es dir ist, Dwalin.”
Des Glatzköpfigen Blick flackerte sanft und er konnte diesen nur noch verlegen zu Boden schicken: “Ich dachte…ich meine…”, sah er, sich leise räuspernd, wieder auf. “Ich dachte, du hättest es vergessen, doch wäre ich lieber in deiner Nähe, um dir zur Seite zu stehen, auch wenn…”
“Freund”, trat Thorin näher an den Mann heran und fasste diesen beinahe liebevoll am Arm, “ich weiß, was dich quält. Und ich weiß auch, dass du seit Jahren wartest, doch nie fand dein Wunsch Erfüllung. Wie könnte ich damit leben, zu wissen, du bist hier und in eben diesem Moment könnte deine Sehnsucht gestillt werden?”, lächelte der Schwarzhaarige und suchte des Kriegers Blick.
“Wirst du nachkommen?”, sah Dwalin beschämt über seinen ursprünglichen Gedanken auf. “Wirst du da sein, wenn die Wettkämpfe beginnen?”
“Ich weiß es nicht”, schüttelte Thorin ergeben den Kopf und blickte zu seinen Neffen, deren Enttäuschung er wohl deutlich spürte. “Ihr wisst, wie wichtig es mir ist, bei euch zu sein. Zu Hause. Bei meinem Volk, doch…”, sah er sich langsam um und warf einen Blick auf die Rückseite des Sessels, um sich im nächsten Moment traurig den Männern wieder zuzuwenden: “Ich kann nicht. Noch nicht”, flüsterte er und stellte erleichtert das verstehende Nicken der Zwerge fest.
“Wenn wir uns beeilen, erreichen wir den Rastplatz noch vor Einbruch der Dunkelheit“, gab Fili zu bedenken und verdeutlichte somit, dass er bereit war, umgehend aufzubrechen, wurde ihm die Situation doch mehr und mehr unbehaglich. Diese freundschaftliche Nähe und das beinahe wortlose Verstehen der beiden alten Zwerge berührte ihn zutiefst.
“Wir werden keine Rast einlegen”, befreite sich der Glatzköpfige brummend aus seiner Starre und wurde des Zauberers gewahr, welcher sich leise zu den Männern gesellt hatte: “Keine Rast? Wollt Ihr dies wirklich einem alten Mann antun?”, fragte er gespielt entrüstet, doch sein Schmunzeln strafte ihn bereits Lügen, noch bevor er zu Ende gesprochen hatte.
“Schlafen könnt Ihr auf Eurem Pferd, Herr! Wenn es nötig ist, binden wir Euch darauf fest, dass Ihr nicht herunterfallt”, knurrte Dwalin grimmig und strich sich seufzend über den Schädel. “Ich will so schnell wie möglich aus diesem Wald raus. Und die Nacht wird mit uns sein, steht der Mond doch voll und klar am Himmel. Wir werden den Weg deutlich erkennen können.”
“Nun denn, so soll es geschehen”, nickte Gandalf freundlich und gab damit sein Einverständnis, zumal ihm nicht der Sinn danach stand, sich mit dem brummigen Hünen anzulegen.
“Fili soll den Erebor während meiner Abwesenheit leiten”, rieb sich Thorin überlegend durch den Bart. “Helft ihm, so gut ihr könnt, und lasst das Schmiedefest ein Fest des Tranks und des Schmauses werden, welches dem Volk der Zwerge gebührt”, sah er seinen ältesten Neffen aufmunternd an und konnte sich schon in diesem Moment sicher sein, dass er sich auf seine Männer verlassen konnte.
Schweigend fassten sie sich zum Kriegergruß. Ein letzter Blick galt dem alten Krieger, welcher ihn, ohne etwas zu sagen, noch so viel mehr spüren ließ, als er es hätte in Worte fassen können. Thorin fühlte, dass Dwalin ungern ging und welche Angst noch bis vor wenigen Augenblicken in dessen Knochen gesteckt hatte. Dennoch zog es den Alten zu dem Berg zurück, hoffte er doch, endlich seine ganz eigene Erlösung zu finden.
Nachdenklich sah Thorin den Zwergen hinterher, welche sich durch das Tor ins Haus begaben, um ihre Sachen zu packen, während Gandalf noch einen Moment an seiner Seite verweilte und sanft den Kopf wiegte: “Zu was so eine Vollmondnacht doch alles gut sein kann”, brummte nun auch er. “Der Wald sieht wahrlich zauberhaft aus in diesem silbernen Licht. Ich glaube, ich werde es genießen, auch wenn mir der Schlaf fehlen wird.”
“Mmh”, erwiderte der Schwarzhaarige, doch er hatte nicht richtig zugehört, da er noch immer mit seinen Gedanken dem Gefährten hinterher hing. Nur langsam, als wenn er eben erst erwachen würde, wendete er sich dem Grauen zu und seine Augen gewannen an Größe, je mehr er sich dessen Worte ins Bewußtsein rief. Der Zeitpunkt des Begreifens musste ihm deutlich anzusehen sein, denn von einem Augenblick auf den anderen lächelte Gandalf milde und wohlwollend. Nicht nur einmal klappte dem Krieger die Kinnlade herunter, ohne dass ein Ton über dessen Lippen kam. Thorin schluckte mehrfach, bevor er seine Stimme wiederfand und er leise krächzend hervorbrachte: “Ihr meint, ich könnte Erfolg damit haben?”
“Ihr werdet es nie erfahren, wenn Ihr es nicht versucht, Thorin”, umschloss der Graue seinen Stab fest mit der einen Hand, um die andere dem Zwerg aufmunternd auf die Schulter zu legen und zu nicken: “Nehmt den Pfad, welcher von der Lichtung in Richtung Nordwesten führt. Ihr könnt Euer Ziel nicht verfehlen, liegt dies doch direkt am Ende des Weges. Viel Glück, König Thorin, wir sehen uns wieder im Erebor”, und damit wendete er sich ab und folgte den Kleingewachsenen, welche vor ihm die Terrasse verlassen hatten.
Noch während Thorin sich langsam umdrehte und dem Sessel näherte, spürte er, wie seine Beine weich wurden und das Herz zu rasen begann. Wild wirbelten die Gedanken in seinem Kopf und mischten sich mit einem Hauch der Hoffnung. Mit unsagbarer Macht überkam ihn das Gefühl der Dankbarkeit, hatte der Zauberer ihm doch einen letzten Hinweis gegeben, ohne diesen direkt ausgesprochen zu haben. Freude und Zweifel zugleich verwoben sich in seinem Herzen und ließen ihn beinahe ergeben vor der jungen Frau in die Knie gehen, welche regungslos dasaß und mit milchigen Augen vor sich hinstarrte. Sanft berührte er ihre kalten Hände, um sie schließlich fest mit den seinen zu umschließen. Bittend um ein kleines Zeichen, ob der Weg, welchen er vorhatte zu gehen, richtig war, sah er Farasar suchend an.
“Sie sieht und spürt Euch nicht, Thorin. Ich kann nicht einmal sagen, ob sie Euch hört”, sprach es leise neben dem Zwerg und schon sah er das weiße Kleid der Noldor in seinem Augenwinkel. Friedvoll legte sie ihre Hand auf seine Schulter, eine Geste, welche ihn den Kopf senken ließ.
“Ihr solltet dies mitnehmen. In den Bergen ist es kühl und zu Vollmond oftmals auch frostig. Sie wird sich nicht selbst davor schützen können”, hielt Galadriel dem Krieger eine Decke aus feinstem Stoff entgegen und bemerkte schmunzelnd dessen ungläubigen Blick, als er aufsah. “Zweifelt nicht. Dieser Stoff mag sehr zart sein und wohl für kalte Nächte nicht geeignet erscheinen, doch stammt dieser aus meiner Heimat und hat mir persönlich schon so manchen Dienst erwiesen auf langen Reisen, bei denen viel Gepäck nur hinderlich gewesen wäre.”
Kraftlos erhob sich der Schwarzhaarige und nahm das Geschenk schweigend an. Samtweich und federleicht fühlte es sich an und auch wenn die Elbenfrau ihm versicherte, diese Decke würde die Wächterin vor der Kälte schützen, so hegte er dennoch leichte Bedenken. Diese wurden augenblicklich noch ein kleines Stück größer, als er den weißen Stoff ausbreitete und durch diesen hindurchsehen konnte. Fassungslos keuchte Thorin auf und sah die Noldor entsetzt an, welche ihn noch immer amüsiert anlächelte: “Probiert es selbst aus”, nickte sie ihm auffordernd zu, sodass sich der Zwerg das weite Tuch über die Schultern legte und es vor der Bust verschloß. Im selben Moment spürte er seine eigene Körperwärme, welche im Inneren des Stoffes gehalten wurde und sich wie eine schützende Hülle um ihn legte. Nicht einmal die leiseste Bewegung von ihm ließ das wohlige Gefühl nach außen entweichen. “Ein Zauber wurde hineingewebt”, flüsterte er erkennend.
“Natürlich”, antwortete die Noldor mit der typisch elbischen Selbstverständlichkeit. “Hattet Ihr etwas anderes erwartet?”
“Nein”, seufzte Thorin auf, “natürlich nicht”, konnte er sich ein feines, aber doch gut sichtbares Grinsen nicht verkneifen. Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, machte er sich daran, Farasar aufzurichten und in das feine Tuch einzuhüllen. Beinahe ohne große Kraftanstrengung hob er schließlich die junge Frau auf seine Arme und war zutiefst erschüttert, wie ausgemergelt und leicht deren Körper geworden war. Thorin meinte schon, die Knochen in seinen Händen zu fühlen, welche regelrecht durch Fararsars bleiche Haut und das Tuch hervorzustechen schienen.
“Wird Eure Kraft reichen, König?”, fragte die Noldor leise hinter dem Mann her, welcher sich abgewendet hatte, ohne einen Blick zurückzuschicken oder ein Wort des Grußes über seine Lippen zu bringen.
“Sie muß”, knurrte Thorin und ließ die Elbendame und die Terasse endgültig hinter sich.
“Möge Euer Vorhaben von Erfolg gekrönt sein, kleiner Mann”, hauchte Galadriel ihren Wunsch dem Zwerg hinterher und einmal mehr überzog ein Schatten der Sorge ihr helles Antlitz. Noch konnte sie sich nicht vorstellen, welch Wandlung die Welt nehmen würde, wäre die Wächterin auf alle Zeit verloren. Zumal keiner genau wußte, was wirklich geschehen war und in welchen Ebenen sie sich wohl aufhielt. Gefangen und wandelnd zwischen den Welten, fristete sie ihr Dasein und zu keiner Tat fähig, war sie ihrer Grundlage doch auf das Schändlichste beraubt worden.
In sich gekehrt wendete sich die Noldor ab vom Haus und schickte ihren Blick hinauf in das klare Blau des Himmels. Es gab noch eine viel dringlichere Frage zu beantworten: Was wird geschehen, wenn Farasar zurückgekehrt? Dieses dumpfe Gefühl, welches Galadriel beschlichen hatte, als das Leben wieder in den Leib der Va’ari eingekehrt war, konnte sie nicht mehr abschütteln oder verdrängen. Zweifel plagten die Elbendame und diese Ungewissheit ließ sie innerlich brodeln, sodass sie oftmals Mühe hatte, dies hinter ihrer undurchdringlichen Maske zu verbergen. Nur der Graue schien ebenfalls zu ahnen, dass es noch nicht zu Ende sein würde, doch mit dem beinahe stoischem Dickkopf der Zwerge versuchte er krampfhaft, das Beste aus allem herauszuholen und unterstützte die Langbärte, auf welche Art es ihm auch immer möglich war. Auch wenn der Alte sich nicht sicher sein konnte, dass Thorins Gang hinauf in die Berge etwas bewirken würde, so hatte er diesem den Hinweis gegeben und den vom Geschehen der letzten Tage ausgezehrten und entkräfteten Mann losgeschickt.
Und dieser hatte nicht einen Moment lang gezögert. Der Schwarzhaarige ahnte bereits, dass seine Stärke, welche er in den letzten zwei Tagen hatte wiedererlangen können, nicht ausreichen würde, war sie doch noch nicht vollständig zurückgekehrt. Er hatte sich geschont und gut gegessen, jedoch der fehlende Schlaf verlangsamte seine Genesung. Seine Gedanken waren nicht zur Ruhe gekommen, nachdem er Farasar das erste Mal erblickt hatte. Erst als sich die anderen zurückgezogen hatten, war er neben ihr weinend und zitternd zusammengebrochen. Diese Hilflosigkeit quälte ihn mit unsagbarer Härte und ließ das Gefühl, kläglich versagt zu haben, mit jedem Augenblick in ihm wachsen.
Umso verbissener kämpfte er sich nun voran. Der erste Teil des Weges lag bereits hinter ihm und war nicht schwer zu beschreiten gewesen, ging es doch nur leicht ansteigend durch lichter werdenden Wald dem Gebirge entgegen. Keinen Blick vergeudete der Schwarzhaarige an die Schönheit der Natur und stapfte mit vehementer Sturheit der Baumgrenze entgegen. Fest hielt er das Wesen, welches wie tot in seinen Armen lag und die Augen geschlossen hielt. Hin und wieder sah er auf das blasse Gesicht und lauschte nach Farasars Atem, welcher kaum hörbar unter seinem eigenen Schnaufen der Anstrengung zu vernehmen war. Erst als ihm der Schweiß brennend in die Augen lief, blieb Thorin unvermittelt stehen und gab seine Last behutsam frei. Sanft setzte er die Wächterin auf dem steinigen Boden ab und lehnte sie an die Felswand. Mit zitternden Gliedmaßen ließ sich der Krieger neben ihr nieder, legte den Kopf in den Nacken und keuchte leise: “Rast”, sah er flehend hinauf zu dem goldgelben Rund am Himmel, welches erbarmungslos auf ihn niederbrannte. Die Sonne hatte den Zenit bereits durchschritten und Thorin hatte seine Zweifel, dass er bis zum Erwachen der Nacht sein Ziel erreichen würde. Wie gerne hätte er sich jetzt seine Pfeife entzündet, um während der Mittagsglut zu dösen und neue Kraft zu sammeln, doch er genehmigte sich nur wenige Schlucke aus dem mitgenommenen Wasserbeutel, welcher an seinem Gürtel hing. Tief durchatmend verschloss er diesen wieder und während er ihn verstaute, fiel sein Blick auf die junge Frau neben ihm. Wie erstarrt sah er in die milchig weißen Augen, welche auf ihm ruhten, als würde Farasar ihn betrachten. Schmal und sanft war ihr Antlitz und Thorin wurde den Eindruck nicht los, dass sie friedlich in sich ruhte. Ja, selbst ein kleines Lächeln - kaum zu erkennen - so schien es ihm, hatte sich auf ihre Lippen gelegt. Als wenn sie wüßte, was er vorhatte und dankbar dafür war, dass er diese Strapaze - einen letzten Kampf um sie - auf sich nahm.
Aufgeregt und nicht den Blick von ihren Augen nehmend, wendete sich Thorin ihr ganz zu und umschloss mit einer Hand zärtlich ihre Wange, doch eine Regung von der jungen Frau vernahm er nicht. Noch immer fühlte sich ihre Haut weich an, welche von der Sonne erwärmt wurde, und Thorin strich mit zitternden Fingern darüber und flüsterte: “Ich hole dich zurück. Was auch immer geschehen mag, ich lasse dich nicht allein.”
Fest presste er die Lippen aufeinander, als er sich abrupt aufrichtete und mit sich die Wächterin nach oben zog, um sie wieder auf seine Arme zu legen. Stöhnend sah er den Pfad hinauf: “Bei Durin! Und wenn es das Letzte ist, was ich tue!”, trieb er sich selbst an und begann erneut, seinen Aufstieg fortzusetzen.
Mühevoll zog sich der Weg dahin und je weiter der Zwerg diesem folgte, umso unebener und steiniger wurde er. Hohe Bäume waren zwischen den sich auftürmenden Geröllmassen schon längst nicht mehr auszumachen. Hier und da kämpfte sich Buschwerk hinter dem grauen Gestein hervor und vereinzelt standen weiße und gelbe Blüten in sanftem Kontrast zu dem dunklen Boden, auf welchem er ging. Und beständig schwelte die Angst in des Mannes Herz, er könne sein Ziel nicht erreichen. Einem eisernen Gürtel gleich legte sich diese beklemmende Ahnung um seine bebende Brust und ließ ihn Stück für Stück verzweifeln. Sein Kampf um das Durchhalten und den Sinn hinter seinem Tun zu erkennen, wurde von Mal zu Mal schwerer. Der festsitzende Knoten in seinen Eingeweiden schien ihn zerbersten zu wollen und nur der sich fortwährend wiederholende Blick in das Gesicht der Wächterin ließ Thorin den Schmerz in Muskeln und Knochen vergessen.
Glutrot schickte sich die Sonne bereits an, hinter den Weiten des Horizontes unterzugehen, um den Sternen für ihre nächtliche Wacht den Platz zu überlassen, als Thorin seine letzten Schritte um das steinige Massiv setzte und regungslos verahrrte. “Erebor”, kratzte sich seine Stimme durch die Kehle, als er den Berg in der Ferne erkannte, und bebend ging er auf die Knie. Heiß schossen ihm die Tränen in die Augen, als er begriff, dass er sich am Ende des Weges befand. Noch immer heftig atmend, sah er sich um und erkannte die wenigen Spuren, welche Farasar hinterlassen hatte bei ihrem regelmäßigen Verweilen hier oben. Selbst eine kleine Feuerstelle, welche in den Boden eingelassen war, nahm er zwischen dem Kieselgeröll wahr, und unzählige bunte glattgeschliffene Steine lagen darum verstreut. In einer der vielen Spalten in der Felswand, welche sich hinter ihm majestätisch erhob, waren kleine Schalen und Karaffen verstaut, deren Nutzen dem Mann in diesem Moment nicht deutlich wurde, stand ihm doch im Augenblick nicht der Sinn danach, über solche Dinge nachzudenken. Vielmehr wurde seine Aufmerksamkeit auf die Bilder gelenkt, welche sich in unterschiedlicher Höhe an der Wand entlang erstreckten. Thorin schluckte hart und erneut fühlte er den aufsteigenden Kloß, als ihn die Erkenntnis überkam, dass er einen Teil von Farasars Vergangenheit vor sich sah. Rundliche Kinderhände konnte er in verschiedenen Farben der Höhe nach aufsteigend erkennen, welche sich ausgeprägter darstellten, je weiter er aufsah. Schließlich endeckte er das letzte Abbild, welches die ausgewachsenen Finger der jungen Frau zeigten. Auch Pflanzen und Tiere, sowie unzählige Runen betrachtete er und sah die sich über Jahre hinweg steigernde Perfektion der Wächterin auf diesem Gestein, um schlussendlich mit dem Blick an einem Bildnis hängenzubleiben, welches augenscheinlich das letzte gewesen sein mußte, bevor Farasar sich auf den Weg in den Erebor begeben hatte.
Ein unbändiges Schütteln ergriff den Schwarzhaarigen beim Anblick dieser Rune, welche säuberlich und ohne jeden Makel auf den Fels gezeichnet worden war. Erhaben thronte der Erebor in der Mitte des Rechteckes und wurde von den Zeichen eines Mannes und einer Frau flankiert. Über allem herrschte der volle Mond, welcher bewusst in den Farben des Blutes gezeichnet worden war.
“Du wusstest es von Beginn an”, schüttelte Thorin fassungslos den Kopf. “Du kanntest dein Schicksal und dennoch hast du es bekämpft. Warum nur? Dein Hass war so sinnlos und nun…verdammt…ich hätte davon viel früher erfahren müssen”, zitterte seine Stimme leise und behutsam schloss er die junge Frau in seine Arme, nachdem er sich mit dem Rücken an die Felswand gelehnt und Farasar quer zwischen seine Beine gesetzt hatte. Sanft strich er mit der Hand über ihren Arm, während die andere ihren Kopf auf seine Brust bettete. Müde und ausgelaugt sah Thorin hinüber zum Berg, welcher langsam in das Blau der Nacht eintauchte und zahllose Sterne seinen Gipfel krönten. Noch zart im Silberschein hob sich die Kuppe des Erebor wie eine schwarze Pfeilspitze hervor und ließ das Aufgehen des Mondes nur erahnen.
“Niemals hätte ich von dir die Dinge verlangt, welche du für mich getan hast. Du hast dein Leben riskiert und deine Seele verloren”, flüsterte Thorin vor sich hin und beobachtete das Aufsteigen der hell erleuchteten Scheibe. “War es das wirklich wert?”, ließ er Farasars Kopf leicht an seiner Schulter hinabgleiten, um sie besser ansehen zu können. Wieder umschloss er die eingefallene Wange mit einer Hand und strich liebevoll mit dem Daumen über die zarte Haut hinunter bis zu ihren Lippen, welche sich leicht unter dem Druck des Fingers öffneten. Des Kriegers Atem wurde schneller, kannte er diesen Anblick doch auch aus einer anderen Situation, welcher die Erinnerung glühend heiß durch seinen Körper jagte. Bebend und verlangend hatte Farasar sich an ihn gepresst. Flehend um Hilfe und Halt bittend, er möge sie nie wieder loslassen.
“Was habe ich falsch gemacht?”, fragte er die schlafende Frau in seinem Arm leise, als ihn das Gefühl des Fallens und Auflösens überkam, welches er in der Höhle gespürt hatte. Er sah noch einmal, wie Farasars letzte Rune verging und fühlte erneut ihren Schmerz, welcher sie dabei peinigte. Und auch sein erst zögerliches Flüstern ihres Namens klang ihm in den Ohren. War es das? War es seine Angst gewesen, ihn laut auszusprechen? War es zu spät gewesen, als es in seiner Not laut aus ihm herausgebrochen war und er nur noch hatte schreien können?
“Ich habe dich verloren, weil ich…Nein!...Bitte!...Das darf nicht sein…Komm zurück…”, versagte dem Mann die Stimme unter dem kläglichen Versuch, die hervorquellenden Tränen zu unterdrücken. Verzweifelt drückte er Farasar an sich und wiegte sich mit ihr leicht im Takt, während sein Blick verzweifelt hinauf zu dem nun vollständig erwachten Mond flog und sein stummes Flehen laut in seinem Inneren schrie. Doch der silberne Gefährte der Sterne wanderte nur stumm auf seiner vorgegebenen Bahn und sein Licht konnte nicht vordringen in das Innere der Wächterin, hielt sie doch noch immer ihre Augen geschlossen und ließ es nicht zu, dass Thorin den Ausdruck in jenen erkennen konnte, von welchem Thorgunn ihm erzählt hatte. Der Schwarzhaarige kämpfte mit sich und biss sich in die geballte Faust, um den inneren Druck rauszulassen, welcher ihn so unbarmherzig quälte. Er kämpfte gegen das Verlangen, einfach aufzugeben. Sich in der Leere zu verlieren, die sich durch sein Herz fraß und dunkel alles zu überrollen drohte.
Ein letztes Mal sah er auf - er konnte nicht wissen, dass seine Augen schimmerten wie flüssiges Mithril, welches heiß über seine Wangen rann, als er jene schloss und sich dumpf der inneren Kälte ergab.
**
Sanft umspülten sie die weichen Wellen. Gleichmäßig und beruhigend. Das leise Rauschen im Hintergrund vertrieb die beängstigende Stille, welche sie so lange umgeben hatte, dass es in ihren Ohren schmerzhaft zu dröhnen begonnen hatte. Die Wächterin konnte nicht sagen, wo sie sich befand. Nichts, was sie umgab oder spürte, kannte sie. Der Boden, auf dem sie lag, war für sie nicht sichtbar und sie konnte ihn auch nicht fühlen. Die Luft, welche sie ohne Ton durch ihre Lungen sog, hatte weder Geruch noch Geschmack. Keine Natur umgab sie, nicht ein Haus und auch kein Weg waren auszumachen - da war blankes Nichts. Nur das anfängliche Schwarz, welches die Va’ari umfing, war von einer hellen Kuppel über ihr in dunkles Grau verwandelt worden, sodass ihre nebligen Augen nicht derselben Qual ausgesetzt waren wie ihr Gehör. Doch mehr als diesen Wechsel zwischen Hell und Dunkel hatte sie lange Zeit nicht erkennen können. Zur absoluten Bewegungslosigkeit verdammt und mit wachsendem Erstaunen hatte sie dem sich häufenden Farbenspiel zusehen müssen. Hauchzarte Schlieren von hellem Grün des Elb hatten sie umwoben, ebenso wie das kräftige Silbergrau des Zauberers. Explosionsartig gesellten sich erdfarbene Punkte mit hinzu, welches sie nur den Zwergen zuschreiben konnte. Und über all dem Kommen und Gehen der verschiedenen Farben thronte die weiße Kuppel der Noldor.
Lange Zeit gab es für Farasar nichts weiter, als diesem Schauspiel stumm ihre Aufmerksamkeit zu schenken und die innere Unruhe zu unterdrücken, welche sich dumpf in ihr ausgebreitet hatte, vermisste sie doch einen ganz bestimmten Glanz. In dem Augenblick, als ihre quälende Angst und die Sorge am größten waren und sie alle Hoffnung bereits aufgegeben hatte, trieben unzählige kleine Wirbel in tausenden Schattierungen um sie herum - Blau! Er lebte. Der Zwerg lebte und nichts war für die Wächterin so schön anzusehen, wie diese Wirbel sich vereinten, um langsamer zu werden und sich vermischten. Schließlich wurden sie Eins miteinander und legten sich in vibrierendem Pulsieren um ihren Körper. Diese Farbe, welche Farasar so sehr liebte, war keinen Augenblick mehr von ihrer Seite gewichen. Selbst das strahlende Weiß der Galadriel hatte keine Möglichkeit mehr, durch diese starke Wand hindurchzudringen. Umso erstaunter beobachtete die Wächterin, wie sich kleine helle Punkte bemerkbar machten und deren Zahl stetig mehr wurde. Auch standen sie nicht einfach blass im Raum, sondern funkelten wie Edelsteine in unterschiedlicher Größe - wie Sterne!
Die Va’ari atmete tief ein und fühlte, wie ihre Augen groß wurden. Sie fühlte. Sie sah. Und sie hörte. Aufkeuchend wurde ihr bewußt, dass es wirklich Sterne waren, welche sie da erblickte. Das dunkle Blau der Nacht wurde heller unter dem strahlenden Glanz der Himmelskinder hoch über ihr. Das Rauschen der vermeintlichen Wellen war das ruhige Atmen des Mannes, in dessen Armen sie lag. Sanft hob und senkte sich ihr Kopf im gleichmäßigen Takt seines Brustkorbes.
Farasar schloss die Augen und sah erneut das Schwarz um sich herum. Ängstlich wie ein Kind zögerte sie, um schließlich ihre Lider erneut zu öffnen - ja, sie konnte wieder sehen. Überwältigt von diesem Gefühl, pulsierte ihr Blut schneller durch die Adern und trieb neue Wärme in jede Faser ihres Körpers. Dankbar sah sie hinauf, um die Quelle zu entdecken, welche ihr den Weg zurück gewiesen hatte. Kalt und klar brannte sich das weiße Licht durch den Schleier auf ihren Pupillen und löste ihn auf, nahm ihn hinfort und ließ sie deutlich das Symbol ihrer Geburt erkennen. Nie zuvor hatte sie dieses tiefe Befinden durchzogen bei dessen Anblick wie in diesem Moment. Dankbar und ergeben lag sie regungslos in Thorins Geborgenheit und spürte, wie kribbelnde Energie sie durchflutete und…
“Thorin”, hauchte die Wächterin kaum hörbar und wendete langsam den Blick zu dem schlafenden Mann, dessen Kopf leicht zur Seite gekippt war und ihr somit die Gelegenheit gab, ihn ausgiebig zu betrachten. Endlich erfüllte sich jener Wunsch, welchen sie von Anbeginn hegte, seit sie den Zwerg das erste Mal gesehen hatte. Obwohl die Sehnsucht nach seinen Berührungen stetig gewachsen war, so wurde doch mit jedem Tag auch die Angst größer, sie könne sein Gesicht vergessen, welches sie oftmals in sich gekehrt und verbissen erlebt hatte. Doch auch das gutmütige Lächeln, welches des Kriegers Antlitz weich erscheinen ließ, trug sie tief in ihrem Herzen. Ebenso den unbändigen Stolz, wenn Thorin den Unterkiefer vorschob und den Kopf herausfordernd hob. Die Erinnerung an seine leicht zitternden Lippen, als er vor Verzweiflung nicht mehr wusste, was er tun sollte, hatte sie oft verdrängt, um sich nicht dieser Qual auszusetzen.
Und nun saß er hier. Völlig entkräftet von dem Weg in die Berge, hatte er doch ein letztes Mal alles gegeben, um sie an den Ort zu bringen, welcher ihr so viel bedeutete. Friedlich schien sein Gesicht, doch konnte sie die tiefen Falten der Sorge klar im Licht des Mondes erkennen. Auch die eingetrockneten Spuren der Tränen auf seinen Wangen, welche sich auf dem staubbedeckten Gesicht einen Weg gesucht hatten, sah sie deutlich. Unsicher und zögerlich hob die Wächterin ihre Hand, wollte sie diesen Mann doch nicht wecken. Schon bei der ersten zarten Berührung spürte sie jedoch, dass dies so leicht nicht möglich war. Die Entkräftung hatte Thorin tief in das Dunkel des Schlafes gezogen und hüllte ihn traumlos ein. Sanft ließ Farasar ihre Fingerkuppen über seine Stirn gleiten und fühlte die feinen Gräben des Lebens auf ihr. Weich fühlten sich die kräftigen Augenbrauen an und noch ehe sie über seine Schläfe strich, um durch das dichte dunkle Haar zu fahren, zog Thorin eben diese Brauen einen kurzen Moment schmerzlich zur Nasenwurzel. Er fühlte die Berührung, auch wenn er dabei nicht erwachte.
Farasar hielt augenblicklich inne und wartete, bis sich des Kriegers Gesicht wieder entspannte. Ihr Blick folgte den Fingern, welche den schmalen geflochtenen Zopf abwärts glitten, bevor sie zärtlich über den zerzausten Bart strichen und dieser feine kribbelnde Stiche auf ihrer Haut hinterließ. Leise lächelnd zog sie ihre Hand ein Stück zurück, um das gesamte Gesicht des Mannes einen Moment lang in sich aufzunehmen und schließlich doch wieder die Wärme seiner Haut zu suchen. Mutiger, jedoch vorsichtig, ließ sie ihren Zeigefinger über Thorins Nasenrücken gleiten, welcher zwergentypisch stark ausgeprägt war, jedoch nicht so klobig wie bei den meisten Männern seines Volkes. Zärtlich glitt sie an der Seite hinab und über die samtige Haut der Wange. Sie spürte die Aufregung in sich, als ihr Blick auf seinem Mund zur Ruhe kam und sie erneut zögerte. Magisch wurden ihre Finger von den schmalen und doch weichen Lippen angezogen, welche ihr bereits mehr gegeben hatten, als sie es sich jemals erhoffen konnte. Auch noch zu einem Zeitpunkt, welcher denkbar ungünstig erschien und dennoch genau richtig war, um sie nicht dem freien Fall zu überlassen.
Stockend hielt sie die Luft an, als sich ihre Finger auf diese weiche Wärme legten und sie deren zitterndes Öffnen bemerkte. Erschrocken nahm sie Thorins Aufkeuchen war und sie schalt sich stumm über ihre Vermessenheit, den Zwerg aus seiner Ruhe zu holen, welche er so dringend benötigte. Darum bittend, er möge nicht erwachen, starrte sie auf die geschlossenen und von schwarzen Wimpern umrandeten Augenlider, welche dieses unglaublich funkelnde Blau verborgen hielten. Sie sah die leichten Bewegungen darunter und das schnellere Heben und Senken der breiten Brust drang in ihr Bewußtsein. Thorin träumte - ohne Sorge und Pein. Das sanfte Lächeln auf seinen zitternden Lippen und die leisen knurrenden Geräusche, welche dahinter hervordrangen, verrieten ihr, wohin seine Reise ging. Hell blitzte das Silber in Farasars Augen auf, als sie erkannte, in welche Richtung ihre Berührungen den Mann geschickt hatten. Ein letztes Mal strich sie der Länge nach über dessen Mund, um schließlich ihre Hand an seinem Hals hinuntergleiten und auf der starken Brust zum Liegen kommen zu lassen. Heftig schlagend fühlte sie des Zwerges Lebenstakt, kräftig und voller Leidenschaft.
Zufrieden wendete sie den Blick hinauf und lächelte beseelt. Dieser Mann, in dessen Armen sie lag, hatte um sie gekämpft. Hatte sich aufgeopfert und war sehenden Auges ihr in den Tod gefolgt, um sie ins Leben zurückzuholen. Er hatte bei ihr gewacht und sie beschützt. Er hatte seine harte Schale für sie durchbrochen und seine innersten Gefühle offenbart, ohne sich zu schämen. Er war es, welcher seine letzten Reserven gebündelt hatte, um sie an den Ort zu bringen, welcher ihr vom ersten Augenblick in dieser Welt heilig war. Dieser Zwerg, Thorin Eichenschild, war ihr mehr wert, als er es jemals erahnen konnte. Und sie war aus tiefstem Herzen dankbar dafür, dass dieser Mann sie nicht zurückgewiesen hatte, trotz allem, was er durch sie hatte ertragen müssen. Weit wurde Farasars Herz und diese Wärme, welche sie vor Glück durchflutete, ließ das Silber ihrer Augen schwimmen und in einem Glanz erstrahlen, welches wertvoller war als alles Mithril in den Bergen der Zwerge.
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Tag der Veröffentlichung: 07.12.2016
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