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Viele Mythen, Sagen und Legenden ranken sich seit der Zeit unserer Vorfahren um Bücher. Manche sind heilig, andere verwerflich oder verboten, andere sind besonders wertvoll oder verschollen.
Einige sind wunderschön, gepflegt und uralt, andere halb verfault und angeschimmelt, weil niemand es für nötig hielt, sich um diese Bücher zu kümmern.
Nur eines haben alle Bücher gemeinsam: Sie wurden von jemandem geschrieben.
Und solange ein Buch existiert, wird auch derjenige, der es geschrieben hat, existieren, denn ein Buch vergisst niemals seinen Schöpfer.

Buchläden sind seit jeher magische Plätze für solche, die ihr Leben den Büchern, Worten, Buchstaben und Gedanken vermacht haben.
Unsere Geschichte beginnt in einem solchen Buchladen, besser gesagt, in einem Antiquitätengeschäft in einer kleinen Stadt, deren Namen wir vernachlässigen können.
Der Besitzer dieses Geschäfts hieß Magister. Niemand wusste, wie alt er war, woher er kam, ob er verheiratet war oder Verwandte hatte. Manche behaupteten aus diesem Grund, dass Magister keine Eltern hatte und irgendwann einmal, schon als Greis, aus einem Buch gestiegen und seitdem kein Jahr älter geworden war.
Er selbst machte ein großes Geheimnis um seine Herkunft und sprach kaum jemals ein Wort mit jemandem. Meist wirkte er grimmig und unfreundlich, was er jedoch eigentlich nicht war, im Gegenteil. Magister war eher die Sorte Mensch, die sich ihren Umgang selbst aussuchte und dem ein paar Freunde oder Bekannte genügten, um glücklich zu sein.
Dieser Umstand, und der, dass sich in dieser Stadt kaum jemand für alte oder gebrauchte Bücher interessierte, bewirkten, dass Magister kaum Kundschaft hatte.
Dies machte ihm jedoch am wenigsten aus. Viel schlimmer war für ihn, dass die Leute immer mehr ihre Liebe zu den Büchern verloren und sich niemand mehr mit dem geschriebenen, uralten Wort befasste.
Sein einziger Lichtblick war eine junge Frau, die ihn regelmäßig besuchen kam, um sich nach neuen Büchern umzusehen.
Magister kannte weder ihren Namen noch den Klang ihrer Stimme, und doch erwartete er ihren Besuch immer mit Ungeduld.
Dieses Mal ließ ihn das Mädchen besonders lange warten. Erst am Freitagabend, kurz bevor Magister den Laden schließen wollte, wurde die Tür aufgerissen und seine Lieblingskundin stand, triefend vor Nässe, an seiner Ladentheke.
„Verfluchte Sauerei! Gerade auf der Hälfte des Wegs hat Petrus seine Schleusen geöffnet und ich habe natürlich keinen Schirm dabei!“
Magister, überrascht von der plötzlichen Erscheinung der Frau, starrte sie nur wortlos und mit offenem Mund an.
„Tut mir leid“, entschuldigte sich die Frau lachend. „Eigentlich wollte ich hier nicht so reinplatzen, ich weiß, wie sehr Sie es hassen, wenn jemand sich keine Zeit lässt. Haben Sie etwas Neues bekommen in den letzten Tagen?“, fragte sie, als sie sich das Wasser aus den Haaren schüttelte.
Magister starrte sie immer noch sprachlos an, denn sie hatte nie zuvor das Wort an ihn gerichtet.
„Ähm...nun, ich hätte einige Gedichtbände, die erst in den letzten Tagen gekommen sind. Wenn Sie daran interessiert sind, dann...kann ich sie Ihnen herbringen“, erwiderte er langsam, so, als müsste er sich erst wieder daran erinnern, wie man sprach.
„Danke, ich würde sie mir gerne ansehen. Aber ich hätte noch eine Frage...könnten Sie mir vielleicht ein Handtuch leihen? Ich bin wirklich durchnässt bis auf die Knochen.“
„Ähm...natürlich“, erwiderte Magister, immer noch geschockt von diesem plötzlichen Wandel. „Aber ich warne Sie...ich werde es merken, wenn Sie mir ein Buch entwenden.“
Damit schlurfte er die schmale Treppe zu seiner Wohnung hinauf, die sich direkt über seinem Geschäft befand und gleichzeitig als Lager diente.
„Der arme Mann“, dachte die Frau, musste dabei jedoch lächeln. Monatelang kein einziges Wort und jetzt das. Da muss er ja misstrauisch werden.“
Kurz darauf kam Magister mit zwei Handtüchern wieder, von denen er eines nutzte, um die Pfütze aufzuwischen, die sich mittlerweile, um die junge Frau gebildet hatte.
Dann schlurfte er los, um die versprochenen Gedichtbände zu holen.
„Hier, Eichendorff, Frost, Brecht, Dickinson und Whitman. Mehr sind innerhalb der letzten Woche nicht gekommen“, murmelte Magister, als er der Frau die Bücher reichte.
„Danke“, erwiderte sie lächelnd. „Ich nehme sie alle. Wie viel macht das dann?“
Magister war etwas erstaunt, denn normalerweise kaufte die junge Frau nie mehr als ein Buch. Dennoch stellte er keine Fragen, sondern ging wortlos zur Kasse, tippte die Beträge ein und verstaute die Bücher in einer Tüte.
Nachdem die junge Frau bezahlt hatte, wandte sich Magister wortlos ab und begab sich in den hinteren Teil seines Ladens.
„Vielen Dank für das Handtuch!“, rief ihm die Frau noch hinterher, als sie den Laden verließ.
Sobald Magister sicher war, dass die Luft rein war, schlich er wieder hinter seinen Regalen hervor.
„Was war denn heute mit ihr los?“, fragte er sich, als er seine Bücher sortierte. „Sonst nie ein Wort und jetzt das. Irgendetwas läuft hier falsch.“
Doch trotz aller Verwirrung freute er sich, dass die junge Frau ihn angesprochen hatte.
Die darauf folgende Woche verlief ebenso ereignislos wie die davor, doch als Magister am Freitagmorgen sein Geschäft betrat, fiel ihm etwas Außergewöhnliches auf.
Auf seiner Ladentheke lag ein Brief, verschlossen mit einem roten Siegel, auf dem ein Adler abgebildet war.
Magister erschrak. Dieses Siegel hatte er seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen, nicht seit seinen jüngeren Jahren. Dieses Siegel bedeutete nichts als Probleme.
„Der Orden ruft“, wisperte er. „Aber das kann nicht sein! Er ist zerrissen, es gibt ihn nicht mehr!“
„Das mag bis vor einer Woche so gewesen sein“, sagte da eine Stimme aus der Dunkelheit hinter ihm. „Aber die Lage hat sich geändert. Es ist etwas aufgetaucht, das die gesamte Situation aus den Angeln hebt.“
Magister wirbelte herum und sah direkt in ein Paar schwarzer Augen, die sich in einem fast ebenso schwarzen Gesicht befanden.
„Was willst du hier?“, fragte Magister, nachdem er sich von seinem ersten Schrecken erholt hatte. „Ich hatte mir ein geruhsames Leben aufgebaut, also was will der Orden von mir?“
„Magister, wo sind deine Manieren geblieben? Ich habe eine lange Reise hinter mir, möchtest du mir nichts zu trinken anbieten? Oder einen Sitzplatz? Ich bin besseres von dir gewohnt.“
„Verzeih, aber dein plötzliches Auftauchen hat mich ziemlich aus der Bahn geworfen. Komm, hier ist nicht der richtige Ort zum Reden. Begleite mich nach oben. Und dann musst du mir erzählen, was passiert ist.“
Der Fremde folgte Magister die schmale Treppe hinauf ins Obergeschoss, in einen kleinen Wohnraum hinein.
„Setz dich. Ich mache dir einen Tee, ich habe noch irgendwo etwas von deiner Lieblingsmischung, wenn ich mich nicht täusche.“
Während Magister sich in der Küche zu schaffen machte, setzte sich der Fremde in einen Sessel und besah sich das Zimmer.
Für einen Mann, der einen so trockenen und sparsamen Eindruck machte wie Magister, wirkte das Zimmer außerordentlich gemütlich. Alles war in warmen Farben gehalten, die Möbel weich und komfortabel, die Einrichtung geschmackvoll. Nichts wirkte überladen oder fehl am Platze, alles war sauber und ordentlich. Einen Fernseher gab es nicht, dafür aber, wie sollte es auch anders sein, Unmengen von Büchern. Diese waren jedoch nicht wahllos zusammengestellt, sondern geradezu penibel geordnet, nach Art, Größe und Erscheinungsjahr.
„Immer noch die gleiche vertrackte Beziehung zu Büchern“, murmelte der Mann, als er das Regal betrachtete. „Er hätte sich doch lieber den Frauen zuwenden sollen, wie die anderen.“
„Das habe ich gehört! Meine Ohren sind immer noch so gut wie damals, mach dir keine falschen Vorstellungen!“, kam es aus der Küche.
„Wenn ich ehrlich sein soll, dann hatte ich darauf gehofft. Es wäre eine Schande gewesen, wäre unserem einst besten Spion das gute Gehör abhanden gekommen. Ich hoffe, alles andere befindet sich ebenfalls in so gutem Zustand.“
„Ich habe keinen Grund zur Klage“, erwiderte Magister, der soeben mit zwei dampfenden Bechern aus der Küche kam. „Manch einer, der jünger ist, beneidet mich um meine Gesundheit.“
„Das glaube ich gern. Ich kenne niemanden sonst, der sich so an mich heranschleichen könnte.“
„Du versuchst immer wieder, mir Honig ums Maul zu schmieren. Aber dieses Mal lasse ich mich nicht so einfach ablenken. Was wollt ihr von mir?“
Magisters Blick wurde eiskalt und stechend, als er sich dem Fremden gegenüber setzte, doch dieser zuckte nicht einmal mit der Wimper.
„Wir wollen dich wieder in den Orden aufnehmen“, erwiderte er ruhig. „Wir brauchen dich, Magister. Eigentlich wollten wir dich nicht aus deinem Ruhestand zurückholen, aber die gegenwärtige Lage lässt uns keine Wahl.“
Magister lehnte sich in seinem Sessel zurück, legte die Fingerspitzen aneinander und wartete auf die Erklärung.
„Das Buch ist aufgetaucht, aber gestohlen worden. Wir wissen weder von wem, noch warum. Deshalb brauchen wir deine Hilfe. Das Buch kann Schlimmes anrichten in den falschen Händen, aber wer außer uns weiß davon? Es kann sich also nur um einen Verräter aus den eigenen Reihen handeln. Oder siehst du das anders?“
„Ihr habt mich im Verdacht, kann das sein? Eigentlich spricht ja auch nichts dagegen, ich weiß um eure Geheimnisse, bin im Ruhestand und führe einen Buchladen. Was ist verdächtiger?“, fragte Magister lächelnd.
„Wir verdächtigen dich nicht“, erwiderte der Mann ernst. „Wir brauchen eine andere Art von Hilfe.“
„Die eines Spions.“
„Genau. Wir brauchen jemanden, der unauffällig nach Büchern suchen kann, der sich auskennt und vertrauenswürdig und harmlos wirkt. Schau in den Brief, da steht alles, was du wissen musst. Es sind auch noch anderen verdächtige Zeichen aufgetaucht, der Diebstahl ist nur das letzte in einer Kette von Ereignissen.“
Jetzt wurde Magister neugierig. Da er sich normalerweise nicht für die Außenwelt interessierte, hatte er nichts von den seltsamen Begebenheiten mitbekommen, die sich manchmal in unmittelbarer Nähe von ihm zugetragen hatten.
Der Fremde seufzte, schließlich kannte er Magister und seine Eigenheiten.
„Die Auserwählte ist aufgetaucht, die Menschen führen Krieg gegeneinander, Naturkatastrophen und astronomische Erscheinungen. Kommt dir das irgendwie bekannt vor?“
„Hört sich ganz nach der Apokalypse an“, erwiderte Magister stirnrunzelnd. „Du willst mir doch nicht sagen, dass-“
„Natürlich will ich das sagen! Wofür können die Zeichen denn bitte noch stehen?“, entgegnete der Fremde hitzig.
„Zufälle. Ganz einfach nur Zufälle“, sagte Magister, obwohl er selbst nicht überzeugt klang.
„Zufälle, die alle zufällig das aufzeigen, was wir seit Jahren befürchten? Nein, Magister, das ist mehr als unwahrscheinlich.“
Die beiden saßen einige Zeit in nachdenklichem Schweigen beisammen, als man von unten die Türglocke hörte.
„Du solltest nach unten gehen und deine Kunden bedienen“, sagte der Mann nach zwei Minuten, als Magister sich immer noch nicht gerührt hatte.
Langsam erhob Magister sich und lief schwerfällig die Stufen zu seinem Laden hinunter. Nach kurzem Zögern ging der Fremde ihm hinterher. Die tat er weniger aus Langeweile als aus Neugierde, die ebenso zu seinem Beruf gehörte wie die Geheimniskrämerei. Der Name des Fremden war Kataran, zumindest behauptete er das. Er war eines der Oberhäupter des Adlerordens, der sich seit vielen Jahrhunderten mit der Entschlüsselung alter Texte beschäftigte und sie auf Prophezeiungen überprüfte.
Offiziell war er Buchbinder, da der Orden im Geheimen arbeitete und er sich außerdem seinen Lebensunterhalt verdienen musste. Doch natürlich bekam Kataran so auch Einblicke in verschiedene alte und wertvolle Bücher, an die der Orden sonst nie herangekommen wäre.
Als er jetzt leise die Treppe hinunterschlich, überkam ihn ein sonderbares Gefühl von Wärme, die von dem Verkaufsraum und den Büchern auszugehen schien. Er hörte, wie Magister sich mit einer Frau unterhielt, die offenbar auf der Suche nach einem bestimmten Buch war, das Magister allerdings nicht zu haben schien.
Kataran spähte um die Ecke und zuckte wie von der Tarantel gestochen wieder zurück. Er kannte diese Frau, zumindest aus Beschreibungen. Auf einmal konnte er sich auch die Wärme erklären, die aus dem Raum zu kommen schien. Diese Frau war die Auserwählte, die Person, von der er nur aus Legenden wusste, die Person, die das Oberhaupt des Ordens war! Wusste Magister überhaupt, mit wem er sich da unterhielt?
Das Oberhaupt des Ordens, von dem sie wussten, dass es erschienen war, dessen Aufenthaltsort aber niemand kannte – bis jetzt.
Langsam durchquerte Kataran den Raum, bis er direkt neben der Frau stand und ihr ins Gesicht sehen konnte.
„Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen“, sagte er leise und erschreckte die junge Frau damit fast zu Tode.
„Wer sind Sie?“, fragte sie, nachdem sie sich wieder gefasst hatte.
Kataran antwortete nicht, sondern zeigte der Frau nur sein rechtes Handgelenk, aus das ein Adler tätowiert war.
Magister schien wie zu Stein erstarrt zu sein, denn es war verboten, sich Außenstehenden zu offenbaren, ganz davon abgesehen, dass niemand wissen sollte, dass Magister mit solchen Leuten zu tun hatte.
Die Frau betrachtete die Tätowierung gründlich von allen Seiten und aus verschiedenen Beleuchtungswinkel, doch sie konnte keine Fälschung feststellen.
„Meine Herrin“, sagte Kataran mit einer leichten Verbeugung, „ich stehe Ihnen voll und ganz zur Verfügung.“
Daraufhin musste die Frau lachen und fügte eilig hinzu: „Nicht so, wie Sie jetzt denken! Ich meinte-“
„Ich weiß, was Sie meinten“, erwiderte sie lächelnd.
Magister konnte nicht glauben, dass Kataran, der sonst die Beherrschung und Ruhe in Person war, eben tatsächlich gestockt hatte. Wer war diese Frau?
„Magister…das hier ist die Auserwählte, das Oberhaupt des Ordens und unsere Herrin. Ich denke, das dürfte dich überzeugen, dass es sich nicht einfach um Zufälle, sondern wirklich um das handelt, was wir befürchten.“
„Sie?“, fragte Magister ungläubig. Er kannte das Mädchen seit einigen Jahren, noch nie war ihm etwas Besonderes an ihr aufgefallen, nur ihre Liebe zu Büchern war ungewöhnlich.
„Ja, ich. Irgendwie zumindest. Ich kann nicht genau sagen, warum ich der Meinung bin, dass er Recht hat, aber es ist so. Bücher haben angefangen, mit mir zu sprechen, mir ihre Geschichten und die ihrer Schöpfer zu erzählen. Ich denke nicht, dass das so eine alltägliche Gabe ist.“
„Nein, wahrlich nicht“, murmelte Magister. Er erinnerte sich daran, als er jung gewesen war, und sich nichts sehnlicher erhofft hatte, als Abenteuer und das Erscheinen der Auserwählten. Doch jetzt, wo es soweit war, erfüllte ihn die Angst, Angst vor der Verantwortung, die es für ihn bedeutete. Er war zu alt dafür, zu müde, er hatte die Welt gesehen und hatte keine Motivation, sie oder die Menschen zu retten.
„Nun, es ist mir wirklich eine Ehre, Sie zu treffen, aber wenn Sie auf meine Hilfe hoffen, dann muss ich Sie leider enttäuschen. Ich mag zwar immer noch ein Spion sein, aber haltet mich aus der Sache bitte raus.“
Kataran riss die Augen auf, denn er hatte gedacht, dass Magister wieder in den Dienst des Ordens treten würde.
„Magister, das kannst du nicht tun, du hast einen Eid geschworen! Und du kannst dieses Mädchen nicht sich selbst überlassen! Du hast sie in dein Herz geschlossen, das sehe ich doch!“, sagte er heftig und drängte die junge Frau beiseite, um Magister in die Augen sehen zu können.
„Außerdem verpflichtet dich dein Eid, sie zu beschützen, und wenn es dich dein Leben kostet!“
Die junge Frau allerdings verstand Magister nur zu gut. Auch sie selbst hätte lieber weiterhin ihr normales Leben geführt, ohne diese seltsamen Leute und diese Verbindung zu Büchern und ihrer Geschichten.
„Mein Herr“, sagte sie zu Kataran, „Sie können ihn nicht zwingen. Er hat sich für den Ruhestand entschieden, also lassen Sie ihn. Magister hat seine Ruhe verdient. Und vor allem…was soll diese Stadt ohne ihren ältesten Buchhändler machen?“ Dann wandte sie sich zum Gehen. Dieser Kampf musste anscheinend ohne Hilfe ausgetragen werden, so schwierig es auch werden würde. Aber sie wollte niemanden zwingen, sein Leben aufs Spiel zu setzen und sein geordnetes Dasein aufzugeben.
„Warte, Mädchen“, sagte Magister, kurz bevor die Frau die Tür erreichte. „Komm noch mal her. Weißt du überhaupt, für was du die Auserwählte bist? Weißt du, worauf du dich einlässt, welche Aufgabe du zu erfüllen hast?“, fragte er, unvermittelt in die vertrauliche Form fallend.
Langsam schüttelte die junge Frau den Kopf. Sicher, die Bücher hatten ihr gesagt, dass sie würde kämpfen müssen, aber nicht, gegen wen, oder warum. Der Ton, in dem Magister gesprochen hatte, verängstigte sie.
„Dann will ich es dir sagen“, sagte er, bevor Kataran ihn aufhalten konnte. „Du greifst in die älteste Geschichte unserer Welt ein, eine Geschichte, die das Leben der gesamten Menschheit verändern wird, zum Guten oder Schlechten. Das hängt von dir ab. Du trägst eine mehr als große Verantwortung auf deinen Schultern, Mädchen. Willst du das wirklich?“, fragte er leise.
Katarans Augen hatten sich verengt. Als Magister gesprochen hatte und wollte schon, zum ersten Mal seit langer Zeit, auffahren, als sich die Stimme der jungen Frau vernehmen ließ.
„Nein“, entgegnete sie wahrheitsgemäß und versetzte damit sowohl Kataran als auch Magister in Erstaunen.
„Nein, ich will es nicht, aber irgendjemand muss diese Aufgabe ja erfüllen, oder? Ich habe in diesem Leben nicht viel zu verlieren, also bin ich vielleicht besser als manch anderer. Außerdem…wenn die Menschheit vernichtet wird, wer könnte dann noch Bücher schreiben?“
Magister betrachtete sie wortlos und kam nach kurzem Zögern hinter seiner Ladentheke hervor. Er ging zu dem Mädchen hinüber, legte ihm seine alten, faltigen, aber feingliedrigen Hände auf die Schultern und sagte: „Deine Tapferkeit ehrt dich, mein Kind. Seit drei Jahren kommst du regelmäßig zu mir, hast kaum jemals ein Wort gesprochen und nun das. Ja, Kataran hat Recht, ich habe dich ins Herz geschlossen, aus welchem Grund auch immer. Ich helfe dir, aber nicht um der Menschheit Willen, sondern nur, damit du aus der Sache heil wieder raus kommst.“ Er seufzte. „Deswegen mache ich um junge Leute normalerweise einen großen Bogen. Immer müsst ihr eure Entscheidungen aus dem Herzen heraus treffen, ohne euch vorher gründlich überlegt zu haben, welche Konsequenzen das alles haben könnte. Aber gut, das ist das Vorrecht der Jugend, selbst, wenn das Ergebnis eine Situation wie diese ist. Aber Mädchen, sag mal…wie heißt du eigentlich?“
„Das würde ich auch gerne erfahren“. Meldete Kataran sich zu Wort. Er hatte dem Gespräch der beiden mit einigem Kopfschütteln zugehört, dennoch war er froh, dass Magister sich endlich wieder auf seine Pflicht zu besinnen schien.
„Früher oder später musste das ja kommen“, murmelte die junge Frau und schien sich für irgendetwas zu wappnen. „Meine Eltern lieben Bücher genauso wie ich, deswegen ist es nicht verwunderlich, dass mein Name etwas mit einem der größten Schriftsteller aller Zeiten zu tun hat, Tolkien. Ich heiße Elwen Ithildin, was man frei übersetzen könnte mit „Herz des Sternenmondes“, obwohl das auch nicht ganz richtig ist. Aber mir reicht es, wenn Sie mich Elwen nennen.“
„Deine Eltern haben wirklich einen Sinn für Schönheit und Poesie“, sagte Magister, bevor er zur Treppe ging. „Ich werde packen gehen, Kataran. Wo soll ich euch nachher treffen?“, fragte er, als er sich noch einmal umwandte.
„Ich komme dich abholen“, erwiderte er, als er Elwen aus dem Laden führte.
„Magister!“, rief sie noch, als sie an der Tür war. „Nehmen Sie ein paar Bücher mit, ja?“, bat sie mit Hundeblick.
Er antwortete nicht, sondern lächelte nur in sich hinein und stieg die Treppe zu seiner Wohnung hinauf, nachdem die Tür hinter seinen beiden Besuchern zugefallen war.
So schnell es ihm möglich war, warf er einige Hemden, Hosen und andere Dinge in seinen alten Koffer, nebst einigen Büchern, die er Elwen insgeheim versprochen hatte.
Nach einer Stunde war außerhalb des Ladens ein lautes Hupen zu hören, das nur von Katarans Auto stammen konnte.
Gerade, als Magister die Treppe hinunter lief, wurde die Tür aufgestoßen. Elwen war tränenüberströmt in den Buchladen gerannt und klammerte sich an die Regale, als hinge ihr Leben davon ab.
„Ich will nicht weg von hier! Was soll ich ohne die Bücher machen? Sie sind doch fast das einzige, was ich habe!“
Kataran kam ihr seufzend hinterher gelaufen und blieb bei Magister stehen.
Und so etwas soll die Auserwählte sein“, flüsterte er, als er das Mädchen beobachtete, das sich von jedem Buch einzeln verabschiedete und sich nicht die Mühe machte, ihre Tränen zu unterdrücken.
„Sei nicht so hart zu ihr, Kataran. Sie ist ein junges Ding, auf dessen Schultern das Schicksal der ganzen Welt lastet. Hast du erwartet, dass sie ihr Zuhause freudestrahlend verlässt?“
Daraufhin ließ er ihn stehen, ging zu Elwen hinüber und legte ihr einen Arm um die Schultern.
„Komm, Mädchen. Es ist Zeit aufzubrechen und dein altes Leben zurückzulassen. Lass uns gehen“, sagte er und führte sie hinaus zu Katarans Wagen.
Magister kramte sie Schlüssel heraus und schloss seinen Laden ab.
„Leb wohl, mein Kleiner. Wer weiß, ob wir uns jemals wieder sehen werden. Pass gut auf meine Bücher auf und lass niemanden herein, der etwas stehlen will, ja?“, sagte er zum Abschied und warf noch einmal einen wehmütigen Blick auf die verschlossene Tür.
Schließlich setzte er sich jedoch neben Elwen in Katarans Auto und die Reise in die Ungewissheit begann.


Das Hauptquartier des Ordens befand sich in einer ländlichen, schwer erreichbaren Gegend.
Elwen und Magister waren herzlich aufgenommen und sofort in die aktuelle Situation eingeweiht worden, wobei Elwen fast wie eine Prinzessin behandelt wurde. Sie war die Auserwählte und somit etwas Besonderes.
Nun sollte sie zum ersten Mal an einer richtigen Sitzung teilnehmen, was bedeutete, dass man ihr nun endgültig vertraute. Es gab nur sehr wenige Frauen in dem großen Gebäude und allgemein im Orden, dennoch fand Elwen eine Freundin, neben Kataran und Magister, die beide zu beschäftigt waren, um sich um sie zu kümmern.
Der Name der Frau war Katrina, sie war Schriftstellerin und als solche im Ausland sehr erfolgreich. Ihre Bücher hatten immer ein bitteres, manchmal auch bittersüßes Ende. Katrina hatte ihre Familie schon früh verloren und versuchte seitdem, ihre Erlebnisse im geschriebenen Wort zu verarbeiten.
Nur ein einziges Buch von ihr endete glücklich, und das war ein Kinderbuch.
Katrina war Elwen als Beraterin und Personenschutz zur Seite gestellt worden, vor allem auf Grund ihres Alters, denn sie war nur ein paar Jahre älter als Elwen selbst.
Im Sitzungssaal saßen die beiden Frauen nebeneinander und Katrina stellte leise die einzelnen Mitglieder vor.
„Der Mann mit der schwarzen Kutte ist Kardinal Rosenberg, ein Österreicher. Er ist nicht gerade das, was man konservativ nennt, aber niemand kennt sich besser mit religiösen Schriften aus als er. Mit ihm zusammen arbeitet Tarek Al – Yassouf, Spezialist auf dem Gebiet des Islam und der Religion des alten Orients. Die beiden stehen in engem Kontakt zu anderen Mitgliedern des Ordens im Ausland, die sich alle irgendwie mit Glaubensschriften befassen. Den Herrn auf der rechten Seite des Kopfendes wirst du vielleicht aus dem Fernsehen kennen, das ist der französische Außenminister und ein ehemaliges Mitglied von Interpol. Von ihm bekommen wir eigentlich streng vertrauliche Informationen aus dem aktuellen Weltgeschehen. Er ist mit einigen Geheimdienstlern befreundet, deshalb ist er unersetzlich für uns. Und der, der gerade zur Tür reinkommt“, sagte sie und deutete verhalten auf einen militärisch wirkenden Mann mittleren Alters, „ist der Kopf unserer Sache. Ohne ihn würden wir gar nicht hier sitzen. Sein Name ist Matthäus, wie der Bibelschreiber.“
Dann schwieg Katrina, denn Matthäus hatte die Arme gehoben und gebot den Anwesenden, ruhig zu sein.
„Freunde“, begann er mit fester, leicht rauer Stimme, „diese Zeiten sind schwierig und düster, dennoch haben wir ein Licht der Hoffnung, das uns helfen wird, auch diese Tage zu überstehen. Die Auserwählte befindet sich in unseren Reihen, zusammen mit einem zurückgekehrten Spion, der uns in der gegebenen Situation unterstützen wird. Leider bedeutet das alles auch, dass unsere Lage so ernst ist wie nur möglich. In zwei Jahren beginnt das Ende des von den Maya berechneten Zeitalters, die Sonne wird einen besonderen Platz in unserer Galaxis einnehmen und eine Zeit der Veränderung herbeiführen, sei es zum Gutem oder zum Schlechten. Natürlich wollen wir alle eine positive Wendung, doch die wird nicht kommen, wenn wir tatenlos herumsitzen und alles mehr oder weniger dem Zufall überlassen, denn das Böse schläft nicht. Es wird seinen Zeitpunkt abwarten und das Schicksal zu seinen Gunsten beeinflussen. Der Sohn des Teufels wandelt bereits auf der Erde und er wird immer gerissener. Kurz gesagt: Die Zeit drängt. Uns bleiben zwei Jahre, um die Menschheit vor ihrem Untergang zu bewahren. Zwei Jahre, in denen wir den Sohn des Teufels aufspüren und töten müssen. Jeder von euch muss sich im Klaren darüber sein, dass euer Leben von nun an permanent in Gefahr ist, dass ihr auf offener Straße ermordet werden oder durch einen unglücklichen Zufall, der von den dunklen Mächten eingefädelt wurde, sterben könnt. Ich frage euch also: Seid ihr bereit, das in Kauf zu nehmen für die Rettung der Menschheit?“
Allseits zustimmendes Murmeln war die Antwort, doch bevor Matthäus mit seiner Ansprache fortfahren konnte, erhob sich Elwen und blickte ihm fest in die Augen.
„Aber bevor ich fortfahre, gibt es eine Wortmeldung, die ich natürlich nicht unterdrücken möchte. Bitte“, sagte er mit einer leichten Verbeugung und setzte sich.
„Danke“, antwortete Elwen und neigte den Kopf. Dann ließ sie ihren blick kurz über alle Anwesenden schweifen, bevor sie fortfuhr.
„Ich werde die „Auserwählte“ genannt, das Gegenstück zu der großen Gefahr, die uns droht. Gut. Das habe ich verstanden. Aber was hat das, was Sie eben gesagt haben, mit Büchern zu tun, mit der Situation, dass ein bestimmtes Buch gestohlen wurde und meiner Fähigkeit, mit Büchern zu sprechen? Im Moment habe ich eher das Gefühl, in einem religiösen Orden gelandet zu sein. Natürlich weiß ich, dass die Apokalypse etwas Christliches ist, aber was soll ich dann hier, ich, die ich nicht getauft und christlich bin, ich, die von sprechenden Büchern verfolgt wird? Was ist meine Aufgabe in dem Ganzen? Wahrscheinlich soll ich dieses Buch finden, aber war es dafür wirklich nötig, mich hierher zu holen, mich so, ja, wichtig zu machen?“
Daraufhin folgte ein allgemeines Schweigen und Elwen hatte schon Angst, sich lächerlich gemacht zu haben, doch die Frage hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt. Zwar hatte Magister an dem Tag im Buchladen gesagt, dass sie eine große Verantwortung zu tragen hatte, doch auch er war alles andere als konkret geworden. Nun allerdings war er es, der ihre Frage endgültig beantworten sollte.
„Du hast recht, wir beschäftigen uns mit einem christlichen Thema, aber das ist es nicht nur. Das Böse gibt es in allen Religionen, nicht nur in dieser. Deine Bücher haben dir gesagt, dass du kämpfen musst. Ja, das musst du, und das habe ich dir auch gesagt. Es ist deine Aufgabe, das Buch zu finden und zu entschlüsseln. Es wird deine Aufgabe sein, das Böse zu töten, gegen seine Armee zu kämpfen und somit das Schicksal der Welt zum Guten zu wenden. Du musst Freunde von Feinden unterscheiden und kannst dich nicht darauf verlassen, dass dir immer jemand zur Seite steht. Du musst zu den großen Bibliotheken der Welt, niemand kann garantieren, dass die gesuchten Bücher vollständig sind. Du bist die einzige, die das personifizierte Böse töten kann. Weil du die einzige bist, die die wirkliche Botschaft der Bücher verstehen und somit die Pläne des Bösen entschlüsseln kann. Das ist deine Aufgabe und deswegen bist du die Auserwählte, Elwen Ithildin.“
Schweigend setzte sich Elwen wieder. Eigentlich hatte sie gehofft, dass alles ein Irrtum war oder sie wirklich nur ein Buch finden musste. Stattdessen sah sie sich jetzt in der Pflicht, eine Mörderin zu sein, eine Mörderin im Dienste der Menschheit und des Guten. Und das ganz allein, ohne Hilfe.
Katrina legte ihr eine Hand auf die Schulter und flüsterte ihr irgendetwas ins Ohr, aber Elwen verstand es nicht. Matthäus setzte seine Ansprache fort, ohne dass sie bewusst etwas davon aufnahm. Auch die gesamte restliche Sitzung verging in einem Nebel aus Ohnmacht und Nachdenklichkeit, sodass Elwen von ihrem Ende vollkommen überrascht wurde.
„Komm, Kleines, komm mit. Die Sitzung ist vorbei, es gibt gleich Abendessen. Betty hat sich etwas ganz Besonderen einfallen lassen, hat man mir gesagt, das willst du dir doch nicht entgehen lassen“, sagte Magister, als er sie am Arm nahm und von ihrem Stuhl hochzog.
Tatsächlich verspürte Elwen auf einmal großen Hunger und der Gedanke an Bettys Kochkünste, die sie in den letzten Tagen schon kennen gelernt hatte, ließ sie wieder ein wenig aufleben.
Sie wurden in dem weiträumigen Landhaus fürstlich versorgt, alle Lebensmittel stammten aus eigenem Anbau und eigener Zucht. Das Haus selbst hätte die perfekte Kulisse für einen Heimatfilm abgegeben, wäre nicht die nervöse Geschäftigkeit der Ordensmitglieder gewesen, die die Idylle größtenteils zerstörte.
„Magister“, sagte sie als sie den großen Speisesaal betraten, „warum müssen wir immer kämpfen? Warum können wir nicht versuchen, mit dem Bösen zusammen zu leben? Warum müssen wir es töten? Können wir es nicht einfach einsperren? Ich will niemanden umbringen müssen…“
Diese Aussage überraschte Magister keineswegs, hatte er doch von Anfang an geahnt, dass es Elwen schwer fallen würde, in den Kampf gegen den Weltuntergang einzutreten.
„Es gibt keinen anderen Weg, Mädchen. Ich habe dich gewarnt, ich habe dich gefragt, ob du weißt, worauf du dich einlässt. Du hast gesagt, dass jemand diese Aufgabe übernehmen muss und hast dich dazu bereit erklärt. Jetzt gibt es kein Zurück mehr und auch keine Kompromisse. Aber hab keine Angst, Mädchen“, fügte er beruhigend hinzu. „Du hast Verbündete, teilweise sehr mächtige Verbündete. Du hast mich, du hast Kataran und Katrina, die dir nicht von der Seite weichen werden. Das hier musst du nicht alleine durchstehen, das verspreche ich dir.“
„Da muss ich ihm allerdings Recht geben“, sagte da Katrina hinter ihr. „Selbst wenn du es wolltest…wir würden es nicht zulassen. Und jetzt iss, ich glaube, Betty hat sich selbst übertroffen.“
Und tatsächlich, den Eintopf, der serviert wurde, konnte man getrost als etwas Besonderes bezeichnen, denn er schmeckte nicht nur hervorragend, sondern vermittelte Elwen auch ein Gefühl von heimatlicher Geborgenheit und Liebe. Kataran hatte sich schweigend ihr gegenüber niedergelassen und betrachtete sie schon die ganze Zeit durchdringend.
„Magister hatte Recht, als er sagte, dass du tapfer bist“, sagte er endlich. „Mir zu folgen, obwohl du nicht wusstest, worauf du dich einlässt. Das ist bewundernswert.“
„Ja, bewundernswert leichtsinnig“, grummelte Magister vor sich hin. „Ich wäre nicht hier, wenn ich nicht auf dich aufpassen müsste.“
Jetzt musste Elwen lachen, denn trotz, oder gerade wegen, des Unmuts, den Magister an den Tag legte, merkte sie, dass sie ihm wichtig war und er sich Sorgen machte. Wie ihre Eltern. Was sie wohl gerade machten? Elwen hatte ihnen gesagt, dass sie eine Ausbildungsstelle in einer anderen Stadt angenommen hatte und einige Zeit bei Freunden in der Gegen wohnen würde. Aber sie hatte ihnen nicht gesagt, in welcher Stadt sie wohnte. Sie hatten ihre Zustimmung gegeben, ohne weiter nachzuhaken. Ihre Eltern vertrauten ihr. Was würde man ihnen sagen, wenn sie umkommen sollte?
Bevor sie jedoch weiter darüber nachdenken konnte, spürte sie einen Blick auf sich ruhen und drehte sich um.
Die Augen, die sich in Elwens Rücken gebohrt hatten, gehörten einem jungen Mann, der aussah wie ein Goth.
Auch, als sie sich umgewandt hatte, blieb sein Blick auf sie gerichtet, ohne Scham, dabei erwischt worden zu sein, wie er sie anstarrte.
Elwen wandte sich wieder den anderen zu, da sie sich keinen Reim darauf machen konnte, was dieser Mensch von ihr wollte.
Auch Magister, Kataran und Katrina hatten den Blickkontakt bemerkt und waren leicht unruhig geworden.
„Wer ist dieser Kerl?“, fragte Elwen, als niemand etwas sagte.
Schweigen folgte, das schließlich von Kataran, der sich ein Herz gefasst hatte, gebrochen wurde.
„Das ist einer unserer Killer, eigentlich der beste. Er wird dich begleiten, neben uns natürlich. Aber er ist am Besten dafür ausgebildet, dir unliebsame Gesellschaft vom Leib zu halten.“
„Ihr habt Killer?“, fragte Elwen netsetzt und erbleichte. „Ich dachte, ihr wärt die Guten!“
„Das sind wir auch“, versicherte Magister ihr hastig. „Er ist eher so etwas wie ein…ein Leibwächter! Er tötet nur die, die uns angreifen…und, zugegeben, auch die, die uns gefährlich werden könnten“, fügte er kleinlaut hinzu.
„Und so einer kommt mit uns? Er wird doch sicher schon gesucht, oder nicht?“, erwiderte sie mit aufgerissenen Augen. „Woher wisst ihr, dass er kein Doppelagent ist und euch jeden Augenblick ein Messer in den Rücken rammt?“
„Er ist Matthäus’ Bruder. Und allein deswegen müssen wir auf seine Treue vertrauen. Matthäus wüsste es genau, wenn sein Bruder ein Doppelagent wäre, glaub mir“, sagte Katrina. „Außerdem hat er schon einigen von uns das Leben gerettet, nicht zuletzt Magister, selbst, wenn der nichts davon weiß.“
Jetzt horchte Magister auf, denn er hatte tatsächlich nichts von der Anwesenheit des Killers in seiner Nähe wahrgenommen.
„Ja, jetzt schaust du, Magister. Aber du wärst schon einige Male getötet worden, wenn Johannes nicht gewesen wäre. Vielleicht solltest du dich bei ihm bedanken, ich bin sicher, dass er das lange nicht gehört hat“, setzte sie hinzu, als sie sich Magisters Aufmerksamkeit sicher war.
„Johannes?“, sagte Elwen leise. „Ist das nicht irgendwie eine Ironie? Ich meine…ist es nicht die Offenbarung des Johannes, die die Apokalypse beschreibt? So zu heißen und einem solchen Orden anzugehören…mich würde das belasten.“
Nach dem Essen zog Elwen sich in ihr Zimmer unter dem Dach zurück, das ihr zugewiesen worden war.
Das blasse, schmale Gesicht des Gesicht des Killers ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Der Junge konnte, wenn überhaupt, maximal zwei Jahre älter als sie selbst sein, also kaum erwachsen. So jung und ein Mörder! Für Elwen war das kaum vorstellbar und doch hatte sie in seinen Augen die Abgestumpftheit gesehen, die nur denen eigen war, die den Tod erblickt hatten.
„In welches grausame Spiel bin ich bloß hineingeraten?“, fragte sie sich leise und blickte aus dem Fenster hinaus in die Abenddämmerung. Sie wurde jedoch jäh aus ihrer Ruhe gerissen, als von unten Kampfgeräusche zu ihr hinauf drangen.
Elwen befürchtete schon das Schlimmste, bevor sie erkannte, dass es nur das tägliche Kampftraining des Personenschutzes war, an dem auch Katrina teilnahm.
„Ich wünschte, ich könnte so kämpfen wie sie“, dachte sie bewundernd und beobachtete das Training ein Weile.
„Das willst du nicht wirklich, glaub mir“, sagte da plötzlich eine sanfte und angenehme Stimme hinter ihr.
Elwen blieb fast das Herz stehen, denn sie hatte niemanden kommen gehört. Als sie sich umdrehte, stand Johannes hinter ihr.
„Hast du schon mal was von Anklopfen gehört?“, fragte sie, nachdem sich ihr Herzschlag beruhigt hatte und ihre Stimme wieder funktionierte.
„Ich bin ein Killer, ich klopfe nicht. Hätte ich dich umbringen wollen, dann hättest du noch nicht einmal gemerkt, was mit dir geschieht. Dein Gehör und deine Aufmerksamkeit lassen mehr als zu wünschen übrig. Sei froh, dass du Leute wie Katrina und mich hast, die auf dich aufpassen, sonst wärst du verloren.“
Elwen war sprachlos angesichts dieser Dreistigkeit und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als sich ein Lächeln auf Johannes’ Gesicht ausbreitete.
„Kleiner Spaß, entschuldige. Ich bin Johannes.“
Trotz ihres Unmuts ergriff Elwen die ausgestreckte Hand und drückte sie.
„Elwen Ithildin, aber Elwen reicht. Freut mich“, erwiderte sie und zwang sich zu einem Lächeln.
Doch Johannes Instinkt, der Instinkt des Killers, offenbarte ihm Elwens Gedanken und Gefühle, obwohl sie versuchte, sie zu überspielen.
„Du kannst dich nicht verstellen, nicht bei mir. Ich kann in dir lesen wie in einem offenen Buch“, sagte er und schaute Elwen in die Augen. Diese konnte seinem forschenden Blick nicht lange standhalten und drehte sich hastig um, um wieder das Kampftraining zu beobachten.
„Wie kann ich meinen Charakter und meine Gefühle vor Leuten wie dir verbergen?“, fragte sie nach einiger Zeit, obwohl sie nicht wusste, ob Johannes noch hinter ihr stand oder bereits gegangen war.
„Überhaupt nicht. Und bei mir musst du das auch nicht. Du weißt, dass ich ein Killer bin und ich weiß, dass du die Auserwählte bist. Es macht keinen Sinn, noch etwas verheimlichen zu wollen“, sagte Johannes.
„Und das aus dem Munde eines Killers“, murmelte Elwen. Dann drehte sie sich wieder zu ihm um.
„Wie ist das eigentlich…jemanden zu töten?“, fragte sie und hoffte insgeheim, ihn mit dieser Frage aus ihrem Zimmer zu vertreiben.
Zu ihrer Überraschung (und ihrem Missfallen) nahm Johannes auf ihrem Bett Platz und stützte den Kopf in die Hände.
„Hör zu, Elwen. Du vertraust mir nicht, ich bin dir unheimlich und du konntest mich vom ersten Augenblick an nicht leiden, aber wir müssen miteinander auskommen. Ich kam hierher in der Absicht, dich und deine Eigenheiten kennen zu lernen, damit ich dich besser beschützen kann und du nicht in Gefahr gerätst. Ich wollte deine Vorurteile gegen mich widerlegen, aber anstatt das du mich als Person annimmst und meine Berufung in den Hintergrund rückt, definierst du mich nur über meine Aufgabe, ohne mir auch nur die Chance zu geben, mich von dem Image des Killers zu befreien. Es tut mir leid, dass ich dich trotzdem auf deiner Reise begleiten muss. Schlaf gut“, sagte er, als er aufstand und zur Tür ging. „Du hast von mir übrigens nichts zu befürchten…ich bin kein Verräter.“
Und bevor Elwen ihn aufhalten konnte, hatte er auch schon die Tür geöffnet und war gegangen.
Für einen Moment stand sie noch am offenen Fenster, bevor sie sich aus ihrer Erstarrung löste und Johannes hinterher lief.
„Hey! Warte!“, rief Elwen, der ihre Worte von vorher schon wieder leid taten, doch Johannes war verschwunden.
„Na, das kann ja heiter werden, wenn wir zusammen auf die Reise gehen“, dachte sie und begab sich zurück auf ihr Zimmer.
Es war mittlerweile dunkel geworden und Elwen war müde. Der Tag war ereignisreich gewesen, zu aufregend für ihren Geschmack. Eigentlich wünschte sie sich jetzt schon ihr altes Leben zurück, ihre Bücher, ihre Familie. Sie wünschte sich jemanden, der sie in den Arm nahm. Einfach nur etwas anderes als dieses kalte, dunkle Zimmer, das im Moment ihr Zuhause darstellte.
Gerade, als Elwen die Vorhänge zuzog und das Licht einschalten wollte, klopfte es an der Tür.
„Herein!“, rief sie, allerdings ohne die gewohnte freudige Erwartung in der Stimme.
„Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?“, fragte Magister, als er eintrat. „Sonst freust du dich doch immer, wenn dich jemand besuchen kommt. Was ist los?“
„Ich habe eben meinen Bodyguard und Auftragskiller vertrieben“, seufzte Elwen. „Und wie müssen zusammen auf die Reise gehen. Ich meine…es ist eine Mission und kein Urlaubstrip, aber wir müssen trotzdem miteinander auskommen. Wenigstens bist du dabei“, fügte sie hinzu und setzte sich auf ihr Bett.
Magister ließ sich neben ihr nieder, schien sich aber alles andere als wohl in seiner Haut zu fühlen, denn er scharrte mit seinen Füßen und mied Elwens Blick.
„Deswegen bin ich eigentlich hier“, sagte er und betrachtete seine Fingernägel. „Ich komme nicht mit, zumindest vorerst. Ich habe einen Auftrag bekommen. Es tut mir leid, Mädchen.“
Elwen erstarrte. Sie hatte fest damit gerechnet, dass er mitkommen und auf sie aufpassen würde.
„Aber…“, stotterte sie, aber du hast versprochen, dass du mitkommst! Du hast versprochen, dass du auf mich aufpasst! Ohne dich bin ich doch mehr als verloren!“
„Na, na, jetzt übertreibst du aber, Elwen. Kataran und Katrina sind schließlich auch noch da. Aber glaub mir, mir wäre auch wohler, wenn ich dich in meiner Nähe wüsste. Der Orden hat nur leider seine eigenen Pläne mit mir. Doch ich verspreche dir, sobald mein Auftrag beendet ist, werde ich euren Aufenthaltsort ausfindig machen und zu euch kommen. Ich schwöre es dir, Elwen. Und die drei anderen werden gut auf dich aufpassen, da bin ich mir sicher“, versuchte Magister sie zu trösten.
„Aber sie sind nicht du! Sie kennen mich nicht seit mehr als drei Jahren und sie können keine Geschichten erzählen, so wie du! Selbst Katrina kann das nicht, obwohl sie so wunderschön schreibt! Was soll ich ohne die Geschichten machen?“, fragte sie verzweifelt.
In den letzten Tagen hatte Magister, um Elwen ein wenig abzulenken, jeden Abend eine Geschichte erzählt und sich als wahrer Meister entpuppt. Selbst Kataran und die erfahrene Katrina hatten schweigend zugehört und waren am Ende wie aus einer Trance erwacht. Die Geschichten gaben Elwen wenigstens ein wenig Hoffnung und Zuversicht angesichts ihrer schwierigen Mission, doch sie glaubte, dass dies nur mit Magisters Erzählweise zusammenhing.
„Elwen…ich kann es doch nicht ändern. Ich kann dir eigentlich noch nicht einmal versprechen, dass ich den Einsatz überlebe. Du hattest meinen Schwur, dass ich dich beschütze, aber der Orden hat nun mal andere Pläne…und da kannst selbst du als eigentliches Oberhaupt nichts ausrichten, weil du zu jung und unerfahren bist, um den Posten zu übernehmen. Ich werde tun, was ich kann, um mein Versprechen zu halten, aber bitte...sei nicht traurig, wenn ich nicht zu euch zurückkehre. Heute Nacht werde ich aufbrechen, ich bin nur gekommen, um mich von dir zu verabschieden. Leb wohl, Mädchen“, sagte er, als er sich erhob, ihr die Schulter tätschelte und floh. Anscheinend war ihm dieser Abschied auch nicht so leicht gefallen, wie er gedacht hatte.
Das Mädchen, allein gelassen in der Dunkelheit, saß auf seinem Bett und starrte auf die Tür, durch die Magister verschwunden war. Sie rührte sich auch dann nicht, als Katrina nach ihrem Training an die Tür klopfte und um Einlass bat. Natürlich wusste sie, was vorgefallen war und setzte sich nur stumm neben Elwen und nahm sie in den Arm.
„Wir sind doch auch noch bei dir“, sagte Katrina tröstend. „Wir werden ihn alle vermissen, aber wir können nicht auf ihn warten oder gar unsere Mission beenden. Bitte, Elwen…reiß dich zusammen.“
„Ich werde es versuchen“, erwiderte Elwen, sich ihrer Gefühle nun fast schämend. „Ich war nur der festen Überzeugung, dass Magister uns begleiten würde, das ist alles. Aber ich bin auch froh, dass ihr noch bei mir seid. Also…es besteht kein Grund zum Jammern und ich werde mich zusammenreißen können“, fügte sie mit einem gezwungenen Lächeln hinzu, denn in ihrem Innern wusste sie, dass Magister ihr schrecklich fehlen und sie ihn vielleicht nie wiedersehen würde.
„Das ist meine Elwen!“, sagte Katrina grinsend. „Und jetzt komm mit, wir machen unten ein großes Feuer, um Magister zu verabschieden. Das Feuer soll ihm immer den Weg nach Hause zeigen und ihn beschützen. Das ist unsere Abschiedszeremonie, die dann auch für uns veranstaltet wird. Und jetzt komm, er wird dich noch einmal sehen wollen, bevor er geht.“
Elwen erhob sich schwerfällig, denn plötzlich hatte eine bleierne Müdigkeit von ihr Besitz ergriffen und lähmte sie.
„Wird Johannes eigentlich auch da sein?“, fragte sie, bevor sie an der Tür war.
„Natürlich wird er das, es ist seine Pflicht als Bruder des Vorsitzenden!“, antwortete Katrina und folgte Elwen. „Warum sollte er auch nicht dabei sein, sein Leben hängt schließlich genauso von Magisters Erfolg ab wie unseres. Ist irgendwas zwischen euch vorgefallen?“, hakte sie vorsichtig nach. „Ich habe ihn ziemlich nachdenklich von deinem Wohntrakt kommen sehen. Was ist passiert?“
Bevor Elwen auch nur nachdenken konnte, erzählte sie Katrina alles, was zwischen ihr und Johannes vorgefallen war, obwohl es sich dabei um nicht besonders viel handelte.
„Elwen…warum musst du immer so misstrauisch sein und unüberlegt drauf los reden?“, seufzte Katrina, als Elwen geendet hatte.
„Da ist es kein Wunder, dass er die Flucht ergriffen hat, er wusste auf einmal selbst nicht mehr, was von sich denken sollte! Du hast ihn vollkommen durcheinander gebracht, wenn ich das mal so sagen darf. Und das ist bei deiner Position und seinem Beruf alles andere als gut, wir brauchen ihn nämlich mit einem kühlen Kopf. Das nächste Mal…stellst du mir die Frage nach dem Töten, okay?“
„Ich soll dich fragen, wie es ist, jemanden umzubringen?“, fragte Elwen verwundert. Katrina arbeitete schließlich „nur“ im Personenschutz und nicht als Killerkommando.
„Warum nicht? In meinen Büchern töte ich oft Menschen, das ist auch kein schönes Gefühl. Immerhin sind all meine Figuren irgendwo Freunde für mich, keine Unbekannten, die ich aus dem Hinterhalt niederstrecken kann. Aber irgendwann gewöhnt man sich daran, man gewöhnt sich daran, keine Gefühle mehr zuzulassen, zumindest beim Schreiben. Damit man nicht wahnsinnig wird, verstehst du? Das ist zumindest das, was ich dir als Buchmörderin darüber erzählen kann. Zufrieden?“
Elwen überlegte einen Augenblick.
„Vielleicht habe ich ihn vorschnell verurteilt. Für mich waren Killer immer Menschen, denen es Spaß macht, zu töten, die sich über jeden neuen Auftrag freuen. Es waren schlechte Menschen für mich. Ich habe gelernt, dass es etwas Böses ist, etwas, das die Guten nicht machen. Und jetzt wird das alles über den Haufen geworfen?“
Sie konnte (oder wollte) nicht glauben, dass die Grundsätze, die man ihr schon ihr ganzes Leben über beigebracht hatte, plötzlich nicht mehr gelten sollten. Sie wusste, dass man im Krieg töten durfte, aber Krieg selbst war genauso falsch wie das Töten.
Oder nicht? War es nicht ein Krieg, in dem sie sich gerade befanden? Und war es nicht richtig, in diesem Krieg zu kämpfen?
Vollkommen verwirrt betrat Elwen den großen Platz vor dem Haus, in dessen Mitte bereits ein großes Feuer loderte. Anscheinend waren sie und Katrina die letzten, die eingetroffen waren, denn alle Blicke ruhten auf ihnen. Vor allem aber auf Elwen.
Verlegen stellte sie sich in eine der letzten Reihen, doch Matthäus rief bereits ihren Namen.
Elwen rührte sich jedoch nicht vom Fleck, bis Katrina sie nach vorne schob.
„Los“, wisperte sie. „Du musst Magister das Buch des Lebens übergeben.“
Widerwillig begab Elwen sich an Matthäus’ Seite und blieb dort stehen. Sie konnte sich nicht vorstellen, was das Buch des Lebens sein sollte und überhaupt hätte sie die ganze Zeremonie lieber als Zuschauer verfolgt.
Dann begann Matthäus zu sprechen.
„Das Feuer des Lebens ist in jedem von uns. Es bringt uns nach Hause, wann immer wir vom Weg abkommen, es leuchtet uns in der Finsternis des Unbekannten und gibt uns Erkenntnis.
Ebenso die Bücher. Ein neues Leben bedeutet eine neue Geschichte, die aufgeschrieben werden soll. Jeder Mensch hat ein eigenes Buch, das ihn begleitet und in dem sein Leben aufgezeichnet wird.
Elwen…bitte übergib Magister sein bisheriges Leben.“
Damit drückte er der verunsicherten Elwen ein kunstvoll gearbeitetes Notizbuch in die Hand, auf dessen Rücken Magisters Name eingeprägt war.
Der Einband war aus dunklem Leder, mit eingeprägten goldenen Zahlen und goldgeränderten Seiten.
Augenblicklich spürte Elwen, dass es sich wirklich um ein „Buch des Lebens“ handelte, denn es schien einen eigenen Herzschlag zu haben und fühlte sich seltsam warm in ihrer Hand an.
Ohne Magister in die Augen zu sehen, drückte sie ihm das Buch in die Hand und sagte leise: „Komm bald wieder. Wir brauchen dich.“
„Ich werde es versuchen“, erwiderte Magister leise und drückte Elwen kurz an sich.
Danach nahm er noch die Umarmungen und Wünsche der anderen entgegen, bevor er sich endgültig verabschiedete. Er holte seine Tasche aus der Eingangshalle und verschwand in die Dunkelheit.
Matthäus löste die Runde auf und löschte das Feuer, damit sie mehr Aufmerksamkeit erregten, als nötig war.
„So, Schlafenszeit“, sagte Kataran, als er zu Elwen und Katrina herübergelaufen kam. „Morgen müssen wir anfangen zu packen und zu planen, da sollten wir ausgeruht sein. Und es gibt eine unerfreuliche Nachricht: Unsere Wachposten haben Eindringlinge gemeldet. Je schneller wir also hier weg sind, desto besser. Elwen, du wirst nicht in deinem Zimmer schlafen, wir gehen kein Risiko ein. Im östlichen Trakt bist du geschützter, da sind die Personenschützer untergebracht. Es ist zwar nicht ganz so komfortabel, wie dein jetziges Zimmer, aber Sicherheit geht nun mal vor.“
„Was ist mit Magister? Er ist doch jetzt ganz allein und ungeschützt dort draußen“, erwiderte Elwen entsetzt.
„Er kann schon auf sich aufpassen. Komm jetzt, wir sollten schlafen gehen.“
Kataran führte Elwen mit sanfter Gewalt ins Haus und in den Trakt der Personenschützer. Er hatte Recht gehabt, es war wenig komfortabel, es war kühler und enger als im Westrakt, die Zimmer wurden von bis zu vier Personen bewohnt.
„Komm“, sagte Katrina, „du schläfst bei mir. Die Betten sind leider etwas klein, aber es wird schon gehen. Am Ende des Ganges ist das Bad. Zieh dir lieber etwas Warmes an, wenn du musst, die Heizung ist kaputt und wir haben kein Geld, um sie zu reparieren.“
„Kein Geld?“, fragte Elwen entgeistert. Sie hatte nicht gedacht, dass es möglich war, in einem so großen Haus zu leben und kein Geld zu haben, noch dazu, wo bestens für ihr Wohlergehen gesorgt wurde.
Als Katrina Elwens Blick bemerkte, lachte sie.
„Keine Angst, es geht uns hier gut! Wenn wir auf einer Mission sind, müssen wir manchmal bei Eiseskälte im Freien übernachten. Da ist das hier noch wahrer Luxus. Mach dir keine Gedanken.“
Trotz der aufmunternden Worte war Elwen noch nicht überzeugt oder beruhigt.
„Wer ist denn noch in deinem Schlafraum?“, fragte sie, um nicht weiter über das fehlende Geld nachdenken zu müssen.
„Jasmin, die Große mit den roten Haaren, du kennst sie zumindest vom Sehen her…Daniel, dieser Muskelprotz, der mit Vorliebe Baumstämme durch die Gegen schleudert, und Johannes. Ja, ich weiß, ihr hattet keinen guten Start, aber du schläfst ja auch in meinem Bett und nicht in seinem. Das wirst du schon überleben. So, Madame, bitte sehr: Ihr neues Palastzimmer!“, sagte Katrina und öffnete mit übertrieben erhabener Miene eine schäbige Tür.
Das Zimmer war in der Tat klein, es erinnerte mehr an eine Jugendherberge als an ein Landhaus. Es gab zwei Stockbetten, die anscheinend kaum genutzt wurden (der Lack war an keiner Stelle abgeblättert, die Matratzen sahen aus wie neu), ein kleines Waschbecken mit vier Bechern darauf und einen Schrank. Kein Tisch, kein Stuhl. Es gab nur das, was man wirklich brauchte.
„Welches ist dein Bett?“, fragte Elwen, die vor Müdigkeit kaum noch die Augen offen halten konnte.
Katrina zeigte es ihr und sagte: „Mach’s dir bequem. Innen oder außen?“
„Innen“, antwortete Elwen, zog sich die Decke über den Kopf und drehte sich zur Wand. „Und Vorsicht, ich hab kalte Füße“, warnte sie noch, bevor sie eingeschlafen war.
Es vergingen nur wenige Minuten, bis Katrina sich ebenfalls schlafen legte. Eigentlich wollte sie noch auf die anderen warten, doch wer wusste, was sie zu tun hatten. Gerade, als sie sich dicke Socken über die Füße zog, betrat Johannes das Zimmer.
„Sie schläft?“, fragte er leise und deutete mit dem Kopf in Elwens Richtung.
„Was erwartest du? Das arme Mädchen ist vollkommen fertig. Ist ja auch kein Wunder, bei dem, was heute alles passiert ist. Was ist mit dir?“, erwiderte Katrina und blickte Johannes forschend in die Augen.
„Mir geht’s gut. Unser Plan für morgen steht jetzt, ich habe ihn eben noch mit Kataran überarbeitet.“
„Bei Sonnenaufgang brechen wir auf“, sagte Kataran, der unauffällig zu ihnen getreten war. „Wir sollten nicht länger als nötig hier bleiben.“

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Tag der Veröffentlichung: 25.01.2011

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