Cover

Prolog

Es gibt Menschen, die sich ein normales Leben wünschen. Und es gibt Menschen, die sich ein außergewöhnliches Leben wünschen. Doch in beiden Fällen ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass der jeweils gegenteilige Fall eintritt und man sein Leben komplett überdenken muss.
Nicht jeder kommt damit zurecht, mancher zerbricht daran, dass sein Leben nicht so verläuft, wie er es sich erhofft hatte. Es gibt aber auch Menschen, die eine große Aufgabe in ihrem Leben zu erfüllen haben, manchmal, ohne es auch nur zu ahnen. Die Last dieser Menschen ist unbegreiflich und für niemanden anders verständlich oder erträglich.
Diese Menschen leben und sterben allein. In manchen Zwischenphasen können Freunde, Geliebte oder Familie auftreten, aber niemals können sie die Einsamkeit des Gezeichneten ganz aus seinem Dasein verbannen.
Ein solches Schicksal macht vor niemandem halt, weder vor dem Alter noch der Jugend, noch Mann oder Frau.


Kapitel 1

Die Nacht war ungewöhnlich kalt und neblig für den Frühling, so, als ahnte die Natur, dass schlimme Zeiten kommen würden. Doch im Rahmen der allgemeinen Klimaveränderung schenkte kein Mensch diesem Umstand große Beachtung, was aber andererseits auch daran liegen konnte, dass die meisten Leute um diese Uhrzeit schliefen.
Nur eine junge Frau nicht. Sie stand schweigend an einem Fenster, in eine Decke eingewickelt, und blickte auf die schwach beleuchtete Straße hinunter.
„Immer wieder das gleiche“, dachte sie traurig. „Ein wiederkehrendes Chaos, eine Welt voll Blut und Tod. Kann ich nicht einmal von etwas anderem träumen?“
Der Name des Mädchens war Rebecca und eigentlich führte sie ein ganz normales Leben, das gelegentlich von ihrem Charakter behindert wurde. Während andere 18 – Jährige Mädchen feiern gingen, einen Freund hatten, ihr Leben in vollen Zügen genossen, war sie schwermütig, verkroch sich mit ihren Büchern oder brütete vor ihrem Computer.
Und Rebecca träumte...träumte von einer besseren Welt, einer besseren Gesellschaft und einem Leben in Freiheit, ohne Grenzen. Und die Träume führten zu schlaflosen Nächten wie dieser.
„Geh wieder ins Bett, Mädchen“, sagte sie sich, als sie sich von dem Fenster abwandte, durch die Finsternis in ihr Zimmer zurücktappte und sich ins Bett zurückfallen ließ.
„Du hast heute deine Generalprobe, also sieh zu, dass du noch etwas Schlaf findest...vielleicht war der Traum einfach nur ein Hinweis darauf, dass das heute Nachmittag einfach in einem Gemetzel enden wird. Also solltest du dir keine Gedanken darüber machen.“
Mit diesem letzten Gedanken deckte Rebecca sich zu und war fast augenblicklich eingeschlafen.
Als dann ihr Wecker zwei Stunden später klingelte, stand sie ziemlich lustlos auf und machte sich für die Schule fertig, was eine ziemlich langwierige Angelegenheit war, da Rebeccas Eltern verreist waren und sie so niemanden hatte, mit dem sie reden konnte. Allerdings sollte sich das im Laufe des Tages ändern, denn bevor ihre Eltern abgereist waren, hatten sie Rebecca gesagt, dass sie einen französischen Schüler bei sich aufnehmen würden, der im Rahmen eines mehrjährigen Austauschprogramms bei ihnen wohnen würde.
Sie hatte natürlich dagegen protestiert, denn ihr Französisch war eher kläglich und außerdem handelte es sich bei dem Austauschpartner um einen Jungen, doch ihre Eltern hatten nur gelächelt und gesagt, dass sie sicher glänzend miteinander auskommen würden.
„Ach, verdammt!“, rief Rebecca bei dem Gedanken daran. „Ich habe keine Lust auf diesen beschissenen Tag! Konnten mich diese Personen nicht wenigstens vorher fragen? Nein! Ich werde es diesem Kerl heimzahlen, dass er meint, einfach so in mein Leben reinplatzen zu können! Ich werde ihn hassen, das schwöre ich!“
Sie holte Luft, nur um dann von neuem losschimpfen zu können. „Warum muss mein ganzes Leben eigentlich in diesen verdammten Bahnen verlaufen? Warum kann es nicht normal sein, warum kann ich keine normalen Eltern mit einem normalen Beruf haben? Ein normales Hobby, für das man nicht gleich schräg angeschaut wird, wenn man es erwähnt? Ich hasse es! Und diese Aufführung kann mir gestohlen bleiben!“
Nach diesem Ausbruch fühlte sich Rebecca etwas besser, obwohl sie natürlich niemand gehört hatte. Als sie dann jedoch auf die Uhr sah, verschlechterte sich ihre Laune sofort wieder, da sie bereits viel zu spät dran war.
„Kann denn heute gar nichts richtig laufen?“, grummelte sie vor sich hin, als sie zu ihrem Fahrrad ging und sich mit Rekordgeschwindigkeit auf den Weg zur Schule machte.
Dort angekommen, natürlich vollkommen außer Atem, rannte sie zu ihrem Klassenraum und konnte mit Müh und Not eine Entschuldigung keuchen, als sie auf ihren Platz rauschte. Nur, dass auf ihrem Platz schon jemand saß. Ein Teilnehmer des Austauschprogramms war in ihrem Kurs und hatte sich auf ihren Stuhl gesetzt.
„Was zum-?“, sagte Rebecca fassungslos. „Herr Eichinger! Was soll das? Wo soll ich mich denn jetzt hinsetzen?“
„Hol dir einen Stuhl und setz dich an die Ecke. Morgen sehen wir weiter“, sagte Hr. Eichinger, ohne von seinen Unterlagen aufzublicken.
Der Junge, der auf Rebeccas Platz saß, zeigte nicht die geringste Regung, dass er etwas mitbekommen hätte, sondern starrte nur weiter auf seine Aufgaben, ohne etwas zu sagen.
Die Wut, die nun erneut in ihr hoch kochte, wollte aus ihrem Gefängnis ausbrechen, doch diesmal hatte sie sich unter Kontrolle und lächelte den neuen Mitschüler zuckersüß an.
„Herzlich willkommen in Deutschland, mein Lieber. Ich hoffe, es gefällt dir bei uns.“
Dann ging sie hinaus, um sich einen Stuhl zu holen und überließ den Jungen, der jetzt sichtlich verängstigt wirkte, seiner Vorstellungskraft.
Die restliche Stunde verlief ohne Zwischenfälle, bis auf ein paar böse Blicke von Rebecca an ihren neuen Nachbarn, der nach dem Unterricht buchstäblich aus dem Raum flüchtete.
„Herrje, was hast du nur mit diesem armen Jungen gemacht?“, fragte Rebeccas Freundin Mathilde, von allen aber nur „Matt“ genannt.
„Ich habe keine Ahnung, Matty“, erwiderte sie und blickte dem Jungen hinterher.
„Lass mich raten. Du hast dich nicht gerade von deiner besten Seite gezeigt, oder? Ein paar böse Blicke zur Einstimmung, ein bisschen Angst einjagen...Musst du alle Menschen gleich mit deiner Art verschrecken?“, meinte Matt augenrollend. „So machst du dir keine Freunde, ich hoffe, das weißt du.“
„Er wird sich schon wieder einkriegen. Außerdem...du reichst mir völlig als Freundin, Matty. Und das weißt du. Außerdem will ich jetzt meine große Pause haben, der Tag hat schon schlimm genug angefangen.“
„Ein bisschen mehr menschlicher Umgang würde dir aber auch nicht schaden, du Einsiedlerin. Ach, Moment...da war doch was...du bekommst einen Mitbewohner, oder? Es ist Pause...mal schauen, ob wir ihm begegnen“, sagte sie und blickte Rebecca spöttisch an.
„Musst du mich daran erinnern?“, stöhnte Rebecca. „Ich hatte es so schön verdrängt...“
„Schade...dabei hatte ich mich so sehr darauf gefreut, meine Gastschwester kennen zu lernen!“, tönte es plötzlich hinter den beiden.
Sie blieben stehen und drehten sich um, obwohl sich beide schon denken konnten, wer hinter ihnen stand. Der Junge blickte sie offen und freundlich an, obwohl er sich seinen Empfang wohl anders vorgestellt hatte.
Wider besseren Wissens war Rebecca sofort von seinem Aussehen fasziniert. Ihr neuer Mitbewohner war ein hübscher junger Mann, mit grauen Augen und dunkelbraunen, etwas lockigen Haaren. Da er nur ein kleines Stück größer als sie war, konnte sie ihm direkt ins Gesicht sehen und wurde sofort in den Bann seiner Augen gezogen. Es war, als ob alles Leid der Welt in ihnen enthalten wäre, die Erfahrungen von Hunderten von Jahren. Und das machte diesen Jungen vom ersten Augenblick an einzigartig für sie.
„Wenn ich mich wenigstens vorstellen dürfte, bevor mir der Kopf abgerissen wird...Lucien Marlé, Austauschschüler aus Frankreich. Darf ich fragen, wer von euch beiden meine neue Schwester ist?“
Rebecca musste sich räuspern, bevor sie antworten konnte. „Das bin ich. Herzlich willkommen in Deutschland“, sagte sie kühl und streckte Lucien die Hand hin.
„Danke“, erwiderte er stirnrunzelnd und ergriff die Hand. „Irgendwie hatte ich mir meine Begrüßung anders vorgestellt. Deine Eltern meinten, dass du dich freust.“
„So, wirklich? Dann werden sie wohl Recht gehabt haben, oder, Matty? Was meinst du?“
„Becky...lass doch. Du kennst ihn doch noch nicht mal“, sagte Matt, der das Gehabe ihrer Freundin zu viel wurde.
„Ich will ihn auch überhaupt nicht kennen! Es reicht mir, dass dauernd jemand meint, über mein Leben bestimmen zu können, vor allem meine Eltern!“, rief Rebecca, wandte sich um und stürmte wutschnaubend zurück in ihren Klassenraum.
„Tut mir leid“, sagte Matt zu Lucien. „Normalerweise ist sie nicht so. Es geht ihr nur gegen den Strich, dass sie nicht gefragt wurde, ob sie einen Gastbruder will. Normalerweise ist sie umgänglich und recht schüchtern...ich bin sicher, dass sich das nachher alles bessern wird.“
„Hm...hoffentlich. Ich hatte mich eigentlich auf den Aufenthalt hier gefreut...und das Gespräch mit den Eltern lief auch recht gut. Es wäre schade, wenn ich die nächsten zwei Jahre im Streit mit ihr leben würde.“
Jetzt musste Matt lachen. „Das wird nicht passieren, glaub mir. Dafür ist sie viel zu gutmütig. Ich würde sagen, dass du einfach abwarten und dich von deiner besten Seite zeigen solltest, dann wird das schon was.“
„Muss er nicht“, kam es da leise von der Seite her. „Tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe. War nicht so gemeint. Ich bin nur den ganzen Tag schon so...angefressen. Ja, angefressen ist das richtige Wort dafür. Nimmst du die Entschuldigung an?“, fragte Rebecca, während Matt anfangen musste zu lachen.
„Wenn du Jean zeigst, dass du nicht so gefährlich bist, wie du vorhin gewirkt hast, dann ja“, erwiderte Lucien und ergriff die ausgestreckte Hand. „Der arme Kerl ist mir eben über den Weg gelaufen, er zittert immer noch vor Angst und sagt die ganze Zeit, dass ihn jemand verprügeln will. Das hast du doch nicht vor, oder?“, fügte er misstrauisch hinzu.
„Nein, natürlich nicht!“, erwiderte Rebecca hastig. „Und dir“, fügte sie an Matt gewandt hinzu, „wäre ich dankbar, wenn du mir nicht an einem Lachanfall ersticken würdest.“
„Tut mir leid, aber das ist mal wieder so typisch du! Zuerst alles umnieten, was dir in den Weg kommt, weil du sauer bist und zwei Sekunden später zurückkommen, um dich zu entschuldigen...und dich dann vor allem wundern, warum die Leute dich schräg anschauen.“
Plötzlich kam von irgendwoher ein Brüllen.
„Was zum-“, sagte Rebecca verwundert, doch Lucien machte nur „Oh, oh...“ und stellte sich vor sie und Matt.
„Wer wagt es, meinen Jean zu bedrohen? Den bring ich um!“
Gleich darauf kam auch der Urheber dieses Geschreis um die Ecke gerannt und obwohl es eindeutig ein Mensch war, war die Ähnlichkeit mit einem wütenden Stier in diesem Augenblick nicht zu leugnen.
„Hallo, Christophe“, sagte Lucien zuckersüß und lächelte.
„Wo ist er? Den Kerl mach ich kalt!“, sagte Christophe grimmig und an Stelle einer Antwort
„Welchen Kerl meinst du?“, erwiderte Lucien scheinheilig. „Was ist denn überhaupt passiert?“
„Irgendjemand hat Jean Prügel angedroht“, schnaubte Christophe.
„Unsinn, das glaube ich nicht“, sagte Lucien lächelnd. „Wer würde ihm denn etwas antun wollen? Das muss ein Missverständnis sein, Christophe, du weißt doch, wie leicht man Jean Angst einjagen kann. Als wir zusammen in eine Klasse kamen, hat er sich anfangs doch noch nicht mal in deine Nähe gewagt, aus Furcht, dass du ihm etwas tun könntest. Kann es also nicht sein, dass er einfach übertreibt?“
„Hmmmm...sag mal, wen versteckst du da eigentlich, Lucien?“, fragte Christophe misstrauisch und spähte um ihn herum. Dann seufzte er.
„Lucien, wir hatten eine Abmachung. Jedes hübsche Mädchen, das dir begegnet, wird mir vorgestellt. Aber stattdessen versteckst du sie hier, hinter deinem Rücken. Das ist nicht gerade das, was man als fair bezeichnen würde, oder?“
Rebecca atmete innerlich auf und lächelte Christophe zögerlich an, der ihr jetzt, wo er nicht mehr in der Gegend herumbrüllte, recht sympathisch erschien.
Obwohl er ziemlich einschüchternd wirkte, blickten seine braunen Augen freundlich und standen im krassen Gegensatz zu seinem bärenartigen Körperbau.
„Wenn ich mich vorstellen darf, meine Damen: Christophe Belain. Streitlustig, aber immer da, wenn man mich braucht. Nebenjob: Bodyguard. Deshalb auch der Aufruhr eben, aber wenn jemand meine Freunde bedroht, komme ich nun mal in Fahrt.“
Rebecca räusperte sich. „Ich glaube, ich sollte da mal was klarstellen. Niemand hat Jean, oder wie auch immer er heißen mag, bedroht. Das ist ein Missverständnis. Ich habe ihm lediglich, wenn auch versehentlich, ein wenig Angst eingejagt. Das hat er wohl falsch aufgefasst. Tut mir leid, wenn du dich deswegen aufgeregt hast.“
„Du warst das? Wie kann man denn vor dir Angst haben?“, fragte Christophe verblüfft.
„Das ist eine gute Frage. Ich würde sagen, ich gehe einfach mal zu ihm und kläre die Situation“, seufzte sie. „Ach so, bevor ich es vergesse: Ich bin Rebecca und das ist...ach, du kannst dich selbst vorstellen, während ich weg bin.“
Damit ließ sie eine lachende Matty und zwei völlig verdutzte Jungen zurück und ging in die Richtung, aus der Christophe gekommen war.
„Ähm...ist sie immer so...sprunghaft?“, fragte Lucien zögerlich.
„Allerdings“, sagte Matt kopfschüttelnd und immer noch lachend. „Aber mit der Zeit gewöhnt man sich an alles. So schlimm ist sie nicht, glaubt mir. Nur gewöhnungsbedürftig.“
„Das...glaube ich auch“, erwiderte Christophe, der Rebecca immer noch hinterher starrte.
Diese suchte inzwischen verzweifelt nach dem Jungen, mit dem sie reden wollte, aber er schien wie vom Erdboden verschluckt. Dann allerdings sah sie eine kleine Gruppe, die etwas abseits in einer Ecke stand und die Rebecca zu 100% nicht kannte.
„Entschuldigung“, sagte sie, als sie bei der Gruppe ankam. „Ähm...heißt einer von euch zufällig Jean?“
Sieben Köpfe drehten sich zu ihr um und starrten Rebecca an.
„Das ist sie!“, sagte da der Junge, der auf Rebeccas Platz gesessen hatte. Seine Augen waren gerötet und es waren noch Spuren von Tränen auf seinen Wangen zu sehen.
„Moment! Ganz kurz, bevor ihr mich in der Luft zerfetzt“, sagte Rebecca hastig, als die anderen Jungen sie böse anstarrten. „Das alles ist ein Missverständnis, wirklich. Ich habe nie irgendjemandem gedroht, jemanden beleidigt oder ähnliches. Na ja, eigentlich schon, aber jedenfalls keinem von euch und ihm schon gar nicht. Ich war lediglich schlecht gelaunt, das ist alles. Und es tut mir leid, dass ich dir Angst eingejagt habe, das war wirklich nicht meine Absicht.“
Als die anderen Rebecca immer noch misstrauisch ansahen, sagte sie resigniert: „Okay, meinetwegen, verprügelt mich oder sonst was. Aber ich habe ihm wirklich nichts getan.“
Dann blickte sie Jean direkt in die Augen und lächelte.
„Ich bin Rebecca. Freut mich, dich kennen zu lernen, Jean.“
Jean, der sah, dass das Lächeln in ihren Augen ehrlich war, ergriff zum Erstaunen der anderen zögerlich Rebeccas Hand und sagte: „Danke. Tut mir leid, dass ich die ganze Situation so missverstanden habe, aber...“
„Schwamm drüber, ist doch alles in Ordnung. War ja nicht nur deine Schuld. Und jetzt...solltest du Christophe sagen, dass alles wieder in Ordnung ist, damit er seine Mordgedanken auf mich verwerfen kann.“
„Das klingt wirklich nach Christophe“, erwiderte Jean lächelnd. Die anderen sahen sich schweigend an, zuckten mit den Schultern und folgten Rebecca.
Keiner von ihnen hätte geahnt, dass die an diesem Tag gemachten Bekanntschaften einmal überlebensnotwendig werden würden.

Kapitel 2

Die restliche Pause verlief ruhig, Rebecca hatte kein weiteren Wutausbrüche, sondern bemühte sich ernsthaft, die Jungen kennen zu lernen.
Da waren der Pechvogel Joseph, der für alle anderen ein Talisman war, der ruhige Brillenträger Audric, Cyril, eine lebende Eisskulptur, ein angehender Mediziner namens Silvain, der Dichter Jean, Christophe, der freundliche Hüne, Lionel, der Frauenschwarm schlechthin, Lucien, der Zyniker und Skeptiker und der geborene Künstler Severin, der Matt auf Anhieb gefiel.
Sie alle verbanden sich so wunderbar zu einer Gruppe und ergänzten sich so nahtlos, dass man meinen könnte, sie wären eine Person.
„So eine Gruppe habe ich noch nie gesehen“, sagte Matt in der nächsten Stunde zu Rebecca.
„Ich auch nicht. Vor allem, dass sie so unterschiedlich sind, fasziniert mich. Bei uns sind immer nur die Gleichgesinnten zusammen, aber bei ihnen...“, erwiderte Rebecca und starrte Cyril an, der ihr gegenüber saß.
Dieser Junge hatte sie von Anfang an fasziniert, mit seiner kalten Ausstrahlung und seinem nahezu perfekten Äußeren. Er hatte noch nicht viel gesagt, doch Rebecca spürte, dass er intelligent und scharfsinnig war, wobei ihm andererseits jegliches Gefühl zu fehlen schien.
Plötzlich blickte Cyril auf und schaute Rebecca direkt in die Augen. Rasch senkte sie den Blick und wandte sich wieder ihren Aufgaben zu. Rebecca wollte nicht riskieren, gleich als potentielle Verehrerin abgestempelt und von vorneherein ausgeschlossen zu werden, jedenfalls nicht am ersten Tag.
„Becky!“
„Hm? Was ist?“, fragte sie und schreckte aus ihren Gedanken hoch.
„Es hat geklingelt, die Stunde ist vorbei. Und Cyril hat gefragt, ob wir die nächste Pause mit ihm und den anderen verbringen möchten.“
„Oh. Und, wollen wir?“
„Ich hätte jedenfalls nichts dagegen, ich finde sie alle recht nett. Ich weiß ja nicht, wie du über sie denkst, aber Cyril scheint dir auf alle Fälle zu gefallen, sonst wärst du nicht so in Tagträume versunken, als du ihn angesehen hast“, erwiderte Matt und grinste.
„Unsinn! Ich bin nur müde, das ist alles“, gab Rebecca unwirsch zurück. „Außerdem haben wir andere Probleme...die Probe heute Abend muss glatt gehen und, und, und. Ich weiß gar nicht, wie ich mich da auch noch um Kerle kümmern soll, bei dem ganzen Stress.“
Aber Matt grinste nur vielsagend und lief eilends zum nächsten Klassenraum.
„Herrje, ich möchte einmal den Tag erleben, den sie nicht in Höchstgeschwindigkeit durchlebt“, murmelte Rebecca, als sie Matt folgte.
„Entschuldige“, sagte da plötzlich jemand hinter ihr. Rebecca drehte sich um und blickte direkt in die eisblauen Augen von Cyril. „Kannst du mir zeigen, wie ich zu meinem nächsten Unterrichtsraum komme?“
„Klar, komm mit. Nach oben in die Kunst, nehme ich an?“, sagte Rebecca tonlos.
„Bingo! Und mich nimmst du bitte gleich mit!“, rief Lucien und lief auf die beiden zu.
„Aber klar doch...ich hab ja nichts besseres zu tun, als irgendwelchen Leuten den Weg zu zeigen...“, seufzte Rebecca, winkte die beiden aber dann doch mit sich.
„Hmmm...ich will ja nicht hetzen, aber es wäre mir lieber, wenn wir ein bisschen schneller gehen könnten. Wir sind ohnehin schon spät dran, da müssen wir nicht noch extra langsam gehen“, sagte Cyril und blickte Rebecca unfreundlich an. Diese verdrehte nur die Augen und ärgerte sich über ihre eigene Freundlichkeit, als Lucien zu ihr aufschloss.
„Mach dir nichts aus ihm, er ist immer so“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Er ist nun mal ein Streber, aber kein schlechter Kerl deswegen, also lass dich vom ersten Eindruck nicht täuschen.“
Rebecca wollte gerade etwas erwidern, als ein furchtbarer Heulton durch die Schule hallte.
Wie alle anderen zuckte sie zusammen, doch als sie sich wieder gefangen hatte, packte sie schnell Cyril und Lucien an den Armen und zerrte sie hinter sich her.
„Ausgerechnet heute!“, rief Rebecca zornig, als sie den anderen Schülern zum Notausgang folgte. „Ich hoffe, dass es falscher Alarm ist, sonst habe ich ein großes Problem!“
„Was ist denn überhaupt los?“, fragte Lucien, der hinter ihr herstolperte.
„Feueralarm, das ist los! Was denn sonst? Und wenn ich rausfinde, wer das war, dann wird der sein blaues Wunder erleben, verlass dich drauf!“
„Jetzt reg dich doch nicht so auf! Was wäre denn so schlimm daran, wenn es wirklich brennen sollte?“
„Ganz einfach: Ich bin die Leiterin einer Theatergruppe und wir haben morgen Abend unsere Premiere. Und was ist normalerweise vor einer Premiere? Genau: die Generalprobe! Aber wenn es wirklich brennen sollte, dann ist die Vorstellung morgen wahrscheinlich sowieso gelaufen.“
„Jetzt mal doch nicht den Teufel an die Wand. Wahrscheinlich ist alles nur halb so wild und du malst dir schon wieder die schlimmsten Horrorszenarien aus“, hörte sie Matt hinter sich sagen. „Du tust schon wieder so, als würde die Welt untergehen, dabei ist das nur ein harmloser Feueralarm. Selbst wenn es brennen sollte, das Feuer ist in einem anderen Gebäudetrakt. Und sollte es nicht so sein...nun, dann verschieben wir die Vorstellung eben, das ist doch auch nicht so dramatisch.“
Draußen auf dem Versammlungsplatz bei Feueralarm stellte sich jedoch heraus, dass es bei weitem kein so harmloser Brand gewesen war, wie Matt gemeint hatte.
Das Feuer hatte sich durch die Isolierungen gefressen und auf andere Gebäudeteile übergegriffen, sodass an eine Probe oder Aufführung in den nächsten Tagen nicht zu denken war. Stattdessen standen einige Tage schulfrei mit Arbeitsaufträgen ins Haus, da die Reparaturarbeiten binnen einer Woche abgeschlossen sein sollten.
„Na, Hallelujah. Verschiebung der Aufführung um eine Woche...und dabei haben wir uns so ins Zeug gelegt, um alles rechtzeitig fertig zu bekommen“, murrte Rebecca auf dem Nachhauseweg.
Notgedrungen saß sie jetzt im Bus, da Lucien seine Koffer schlecht per Fahrrad transportieren konnte und die Schule direkt nach dem Alarm gesperrt worden war.
„Mach dir doch nicht so einen Kopf. Eine Woche früher oder später, was macht das schon? Freu dich lieber, dass du eine Woche frei hast!“
„Jaaaa...eine Woche frei mit Arbeitsaufträgen und einem Kerl am Hals, den ich heute erst kennen gelernt habe“, dachte sie wütend, als sie Lucien half, sein Gepäck an die Bushaltestelle zu schleppen.
„Sag mal...kannst du deine schlechte Laune auch an jemand anderem auslassen als an mir? Ich hab dir nichts getan, weder kann ich etwas dafür, dass deine Eltern dich nicht gefragt haben, ob du mit mir einverstanden bist, noch habe ich das Feuer gelegt. Ich kann absolut nichts dafür, dass dein Tag heute so furchtbar schief läuft!“
„Das hab ich doch auch gar nicht behauptet...es wird einfach nur alles verdammt viel! Ich hab doch überhaupt nichts gegen dich...Meine Güte, warum habe ich immer die Tendenz, meine schlechte Laune an anderen auszulassen?“
„Weil du ein Mensch bist, ganz einfach“, erwiderte Lucien gelassen, obwohl er schon leicht genervt von Rebecca war. „Wenn du nur heute so bist, dann verzeihe ich dir das, aber sollte das die nächsten Tage anhalten...dann garantiere ich für nichts mehr, hast du mich verstanden?“
„Ja, ja, verstanden“, murrte Rebecca, doch als sie den strengen Blick von Lucien bemerkte, musste sie anfangen zu lachen. „Schon gut, es tut mir leid. Nimm’s mir nicht allzu übel, ja? Ich werde mich bessern, versprochen!“
Anstelle einer Antwort zuckte Lucien nur mit den Schultern, lächelte aber dennoch still in sich hinein, als der Bus um die Ecke bog und sie einsteigen konnten.
Die gesamte Fahrt war aufgrund des vielen Gepäcks alles andere als bequem, doch sie lenkte Rebeccas Gedanken wenigstens in eine andere Richtung.
Als die beiden dann von der Bushaltestelle zu Rebeccas Wohnung liefen, beschloss Rebecca, das Schweigen zu brechen.
„Sag mal...Fährst du eigentlich auch noch manchmal nach Hause oder bleibst du das komplette Jahr bei uns? Ich meine...Weihnachten zum Beispiel feiert man doch eigentlich mit der Familie, oder?“
Kurz darauf wurde ihr bewusst, dass sie etwas Falsches gesagt haben musste, denn Luciens Gesicht verfinsterte sich. Dennoch gab er ihr eine Antwort.
„Ich habe keine Familie. Mein Vater ist ein Säufer, meine Mutter eine Hure. Ich war mehr als froh, als ich das Stipendium für den Austausch bekommen habe...so sind meine Erzeuger mich los und kommen insgesamt günstiger dabei weg, als wenn ich noch bei ihnen wohnen würde. Glaub mir, die beiden würden mich auf die Straße setzen, wenn ich Weihnachten bei ihnen vor der Tür stehen würde.“
Rebecca schwieg betroffen. Sie hatte geahnt, dass Lucien etwas zu schaffen machte, sie hatte die Traurigkeit in seinem Blick gesehen, und doch hatte sie ihm fast nur die kalte Schulter gezeigt. Reue begann an ihr zu nagen wie eine Hyäne an einem Knochen, doch sie wusste nicht, wie sie sie vertreiben konnte.
Auch Lucien schwieg. Normalerweise machten ihm seine Familienverhältnisse wenig aus, denn er hatte sich von klein auf daran gewöhnt, alleine zurechtzukommen. Doch jetzt war es anders, denn auf einmal beschlichen ihn die Gedanken, wie es gewesen wäre, eine intakte Familie zu haben und wohlbehütet gewesen zu sein. Mit einem Mal wusste er selbst nicht, warum er unbedingt an dem Austauschprogramm hatte teilnehmen wollen, an dem Programm, das ihn urplötzlich in eine nie gekannte Welt katapultieren würde.
Gleichzeitig fragte er sich, was Rebecca jetzt wohl von ihm denken mochte. Eigentlich hatte er nicht geplant, als Schwächling dazustehen, der nicht damit klarkam, dass er nicht aus geordneten Familienverhältnissen kam, aber er wusste schließlich nicht, wie dieses Mädchen die ganze Situation auffasste.
Nach ein paar Minuten kamen die beiden an dem Mehrfamilienhaus an, in dem Rebecca, und von nun an auch Lucien, wohnten.
Der Putz machte nicht besonders viel her, alles sah etwas heruntergekommen aus, doch Lucien hatte schon Schlimmeres gesehen, deshalb machte er sich keine allzu großen Sorgen. Das war auch gut so, denn kaum hatte Rebecca die Tür aufgeschlossen, merkte Lucien, dass man nichts, noch nicht einmal ein Gebäude, nur nach dem Äußeren beurteilen sollte.
Die Wohnung war zwar relativ düster, aber sauber und geräumig. Alles sah nach Familieneinrichtung aus, es war eine Wohnung zum Wohlfühlen.
Rebecca bemerkte natürlich Luciens bewundernden Blick, aber in dem Augenblick fiel ihr nichts Besseres ein als: „So, da sind wir. Das ist unsere Wohnung.“
Dann setzte sie die Koffer mitten im Flur ab und öffnete die Tür zu ihrem Zimmer.
„Hier wirst du wohnen müssen, tut mir leid. Viel Platz ist nicht, aber es muss reichen. Solange meine Eltern weg sind, hast du ein Bett für dich. Wenn sie wieder da sind...nun, dann finden wir schon eine Lösung, selbst wenn es damit endet, dass ich auf dem Sofa schlafe.“
Dann lächelte sie.
„Aber komm, stell erst mal dein Zeug ab und dann schaue ich mal, was ich uns nachher zum Mittagessen machen kann. Eigentlich hätte ich mir irgendwas Fertiges in den Ofen geschoben, aber da du jetzt da bist...nun, da lohnt es sich schon ein bisschen mehr, etwas zu kochen.“
„Mach dir wegen mir keine Umstände, ich bin mit Tiefkühlkost vertraut, es macht mir nichts aus.“
„Und mir macht es nichts aus, uns was zu kochen. Irgendwas muss ich ja tun, um mein Verhalten von vorhin wieder gut zu machen, oder?“
Rebecca ließ Lucien gar nicht erst zu Wort kommen, sondern verschwand schon in der Küche, um ihre Essensvorräte zu überprüfen. Kurz darauf lehnte sie sich in den Flur hinaus und rief: „Du kannst es dir gerne im Wohnzimmer bequem machen, fernsehen oder den Computer anmachen, was du möchtest.“
„Kann ich auch bei dir in der Küche bleiben und mit dir reden?“, fragte Lucien, Hoffnung in der Stimme.
„Klar, wenn es dich nicht stört, dass ich dich beim Reden nicht ansehe. Ich muss mich leider auf die Kocherei konzentrieren. Ist das sehr schlimm?“
Lucien schüttelte lächelnd den Kopf und setzte sich auf einen Stuhl, um Rebecca nicht im Weg zu sein.
Eine Stunde später saßen beide am Tisch und unterhielten sich über dieses und jenes.
„Was ist das eigentlich für eine Aufführung, die du hast?“, fragte Lucien neugierig.
„Aufführung? Ach, du heilige Scheiße! Ich muss noch bei der Zeitung anrufen, damit morgen eine Meldung drinsteht, dass die Vorstellung ausfällt, sonst kommen die Leute morgen zur Schule und ich hab Ärger am Hals! Kleinen Moment, ich bin gleich wieder da!“, rief Rebecca und rauschte aus der Küche. Kurz darauf hörte er sie aufgeregt mit jemandem am Telefon reden.
„Ich glaube, das werden zwei anstrengende und chaotische Jahre“, dachte Lucien kopfschüttelnd.
Fünf Minuten später kam Rebecca zurück in die Küche und ließ sich seufzend in ihren Stuhl fallen.
„Um Gottes willen, ich hätte nie gedacht, dass das alles so ein Stress werden könnte. Ich bin froh, wenn das alles vorbei ist.“
„Und ich erst“, murmelte Lucien.
„Hey, das hab ich gehört!“, sagte Rebecca. Dann lachte sie plötzlich. „Du hast ja Recht. Ich bin eine lausige Gastgeberin, die ganze Zeit schwalle ich dich mit meinen Problemen zu oder fauche dich an. Das sage ich schon zum hundersten Mal, aber was soll’s. Es wird besser werden, versprochen. Heute Morgen habe ich zwar noch geschworen, dich zu hassen, aber meine Vorsätze halten nie lange.“
Dann umarmte sie ihn unvermittelt.
„Willkommen zu Hause, Lucien.“
„Das ist jetzt aber wirklich eine 180 – Grad Wendung, oder?“, meinte Lucien verblüfft, erwiderte die Umarmung aber, so gut er es in seiner Position eben konnte.
„Ich bin nun mal sprunghaft, damit wirst du leben müssen, Lucien“, erwiderte Rebecca schmunzelnd. „Ich bin Engel und Teufel in einem, unterschätz das nicht.“
„Keine Angst, das wird nicht passieren. Sag mal“, sagte er, als er sich sanft von Rebecca löste, „kannst du mir vielleicht zeigen, wo ich mein Gepäck hinräumen kann? Ich würde gerne auspacken.“
„Oh, klar. Komm mit.“
Rebecca führte Lucien in ihr Zimmer und öffnete eine Tür des geräumigen Kleiderschranks, während Lucien die Einrichtung bewunderte.
„Hier, die Seite und die oberste Schublade gehören dir. Ich habe versucht, alles brüderlich zu teilen“, sagte sie mit schiefem Grinsen.
Lucien grinste nur zurück und begann, seine Sachen einzuräumen, während Rebecca das Geschirr abspülen ging.
Als sie wiederkam sagte sie: „Sag mal, was hältst du davon, wenn wir uns jetzt an die Arbeitsaufträge setzen? Dann sind wir eher fertig und haben die restliche Woche mehr Zeit und ich kann dir unsere tolle Stadt zeigen und meinen Freunden vorstellen.“
„Klingt gut“, erwiderte Lucien nur und holte seine Schulsachen aus der Tasche.
Rebecca und Lucien merkten beide, dass in diesem Augenblick das Eis zwischen ihnen beiden endgültig gebrochen war und einer Freundschaft nichts mehr im Wege stand. Dennoch hatte Rebecca ein seltsames Gefühl im Magen und es verhieß ihr nichts Gutes.

Kapitel 3

Rebecca schlief schlecht in dieser Nacht. Die Träume der vergangenen Nächte suchten sie wieder heim, doch waren sie klarer als jemals zuvor.
Sie war in der Dunkelheit gefangen, während eine unheimliche Bedrohung auf sie zukam.
Sie kam näher und näher und Rebecca konnte langsam Konturen erkennen. Plötzlich fühlte sie einen Schmerz in den Schulterblättern. Zuerst dachte Rebecca, dass man sie von hinten angegriffen hätte, doch dann spürte sie ein Gewicht, das sie nach hinten zog und hörte ein Rascheln. Ihr waren Flügel gewachsen. Und dann, urplötzlich, erwachte eine nie gekannte Mordlust in ihr. Rebecca wollte diese Dunkelheit, die ihr entgegen kam, vernichten, restlos, damit niemand mehr Angst leiden müsse. Schritt für Schritt kam der Schatten näher und Rebecca spreizte ihre Flügel. Es war eine Warnung an ihn, nicht näher zu kommen, doch er ignorierte sie.
Dann, ohne Vorwarnung oder auch nur das geringste Anzeichen, schnellte er hervor, packte Rebecca an der Kehle und hob sie hoch. Auch jetzt noch, wo er so nah bei ihr stand, konnte sie nicht mehr erkennen als die schattenhafte Gestalt.
Dann wandelte sich das Bild, es wurde hell, viel zu hell, Rebecca konnte nichts mehr sehen. Dennoch wusste sie, was um sie herum geschah, denn das grelle Licht beeinflusste ihr Hörvermögen nicht. So hörte sie die Schreie der Gefolterten und der Sterbenden, die Kampfgeräusche, Schüsse, Befehle. Befehle zu Töten.
Dann fielen Namen, die Rebecca nur allzu gut kannte.
„Marlé! Belain! Collard! Duval! Evrard! Jacqueme! Clavet! Courtois! Larousse! Ramon! Vortreten zur Hinrichtung!“
„Nein!“, schrie Rebecca. „Nein! Lucien und Christophe! Cyril, Audric, Lionel, Silvain, Joseph, Severin, Jean! Matt! Nein, ihr dürft sie nicht umbringen!“
Doch es war zu spät, die Schüsse fielen und auf einmal war alles voller Blut. Es überschwemmte die Ebene, stieg immer höher, eine grausame, vernichtende Flut, in der das Verbrechen von Anbeginn der Zeit enthalten war.
Rebecca war immer noch gefangen im Griff des Schattens und konnte dem steigenden Blut nicht entgehen. Ihre Kleider wurden durchtränkt, es floss ihr in den Mund, sie bekam keine Luft und –
„Nein!“
Rebecca erwachte schreiend und schweißgebadet, voller Panik und unkontrolliert zitternd.
Verzweifelt tastete sie nach dem Lichtschalter, fand ihn jedoch nicht, da sie sich im Schlafzimmer ihrer Eltern befand. Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen.
„Mon Dieu, ist dir was passiert, Becky? Was ist los?“, fragte Lucien mit zitternder Stimme. Anscheinend hatte Rebecca ihn mit ihrem Schrei aus dem Schlaf gerissen und zu Tode erschreckt, doch darüber konnte sie sich in dem Moment keine Gedanken machen.
„Lucien!“, rief sie und umarmte ihn. „Du lebst! Oh, Gott sei Dank, Gott sei Dank, es war so real!“
„Ist ja gut, ist ja gut“, sagte Lucien tröstend und strich ihr über den Kopf. „Es war doch nur ein Traum, nichts davon ist Realität. Wenn es hell ist, sieht die Welt schon wieder ganz anders aus, vertrau mir.“
„Das ist kein normaler Traum!“, schluchzte Rebecca. „Er kommt immer wieder! Aber noch nie habe ich die Gesichter der Verurteilten so klar gesehen wie eben gerade! Lucien, das kann doch nicht normal sein!“
„Darüber kannst du dir Gedanken machen, wenn du ausgeschlafen bist. Hinlegen und zudecken, Mademoiselle, sonst holst du dir noch den Tod hier in der Kälte“, erwiderte er resolut, als er sie zurück ins Bett drückte und die Decke um Rebecca feststeckte.
„Es ist viel zu kalt für den Frühling hier, findest du nicht? Irgendwas kommt auf uns zu, die Natur merkt das, nur wir nicht! Irgendwas läuft hier ganz furchtbar schief“, murmelte sie noch, bevor sie einschlief.
„Armes Mädchen, dieser Traum hat sie vollkommen aus der Bahn geworfen“, dachte Lucien und erinnerte sich an die Zeit, als er jede Nacht von Alpträumen geweckt wurde und niemand da gewesen war, um ihn zu trösten.
„Nein“, wisperte er. „Dir soll es nicht so ergehen wie mir. Ich bin hier und passe auf dich auf, versprochen.“
Dann begab er sich zurück in Rebeccas Zimmer, um noch ein wenig Ruhe zu finden.

Die Nacht hatte den Schleier des Vergessens über Rebeccas Traum gelegt, nur noch schemenhaft wusste sie, dass ihr etwas Angst gemacht hatte und Lucien sofort zur Stelle gewesen war, um sie zu trösten.
Als sie jetzt in die Küche trat, umwehte sie sogleich der Duft von frischem Kaffee und Brötchen.
„Guten Morgen, Schlafmütze. Ich hab mir gedacht, ich lass dich mal ausschlafen, nachdem du die Nacht so unruhig warst. Ich hoffe, das hat dir nichts ausgemacht?“
„Nein, danke. Das war sehr lieb von dir. Weißt du schon, was du heute machen willst?“, fragte Rebecca, als sie sich Kaffee einschenkte. „Oh, und danke für das Frühstück. Tut mir leid, dass du das machen musstest.“
„Schon gut. Morgen bist du an der Reihe, versprochen. Aber um auf deine Frage zurückzukommen, ich würde sagen, dass wir erst unsere Aufgaben beenden und dann kannst du mir ja die Stadt zeigen.“
„Klar, gerne“, erwiderte Rebecca und trank einen Schluck von ihrem Kaffee. Plötzlich konnte man eine deutliche Veränderung in ihrem Gesicht sehen, zuerst verzogen sich die Mundwinkel, dann sie Nase und letztendlich trat ein Ausdruck ausgesprochenen Ekels in ihre Augen. Lucien konnte die Überwindung förmlich sehen, die es Rebecca kostete, den Kaffee hinunterzuschlucken.
„Lucien“, fragte sie zähneknirschend, „willst du mich umbringen? Was ist das für ein Gebräu?“
„Kaffee? Ich schwöre dir, ich hab an dem Pulver gerochen, bevor ich es in die Maschine gegeben habe!“
„Das...ist kein Kaffee. Das ist...damit könntest du die Straße teeren! Wie viele Löffel hast du in den Filter gegeben?“
„Ähm...zwölf, glaube ich. Ich habe vorher noch nie Kaffee gekocht“, verteidigte er sich. „Ich wollte die eine Freude machen, nichts weiter.“
„Lucien, das ist wirklich nett von dir, aber...lass mich das nächste Mal den Kaffee machen, ja? Und jetzt setz bitte noch mal Wasser auf, damit man das hier trinken kann.“
„Geht klar“, seufzte Lucien.
„Hey. Danke. Das ist wirklich lieb von dir gewesen und ich weiß es zu schätzen. Auch das mit letzter Nacht. Danke.“
„Keine Ursache“, erwiderte er und lächelte schon wieder. „Sag mal, wenn wir nachher in die Stadt gehen, kann ich die anderen fragen, ob sie mitwollen? Nur Christophe hat noch eine Gastschwester und ich bin sicher, dass sie dir dankbar wäre, wenn sie nicht die ganze Zeit alleine mit ihm ist.“
Rebecca, die sich an die Szene vom Vortag erinnerte, hatte augenblicklich Mitleid mit dem Mädchen. Christophe war sicher nett, aber alles andere als ein einfacher Charakter.
„Klar, kein Problem. Aber damit eins klar ist: Ich spiele nicht die Fremdenführerin für euch!“
Lucien grinste nur wie ein Honigkuchenpferd und hatte in kürzester Zeit alle anderen zusammen getrommelt.
„Das finde ich wirklich nett von dir, dass du uns die Stadt zeigen willst“, sagte Audric, als alle versammelt waren.
„Hmmm...ich finde das auch sehr nett von mir. Na, wie dem auch sei, Matt ist ja auch noch da und steht euch sicher für Fragen zur Verfügung. Na los, kommt. Gehen wir was trinken.“
Plötzlich bemerkte Rebecca, dass Cyril die ganze Zeit die Augen auf sie geheftet hatte.
„Hab ich irgendwas an der Nase, oder warum starrst du mich so an?“, fragte sie bissig.
Obwohl Rebecca zugeben musste, dass Cyril gut aussah und sicher auch einige Vorzüge hatte, wenn er erst einmal aufgetaut war, ging er ihr doch ziemlich auf die Nerven. Andererseits konnte sie sich seiner schier magischen Anziehungskraft nicht entziehen, aber diese Wirkung hatte er wohl auf jedes Mädchen.
„Du blöde Kuh, pass bloß auf, sonst verliebst du dich noch in diesen Eisklotz! Und dann musst du dich wieder mit einem gebrochenen Herzen rumschlagen, also lass die Finger von ihm!“
„Das sollte nur eine Aufforderung zum Gehen sein, nicht mehr“, erwiderte Cyril kalt.
Die anderen bemerkten die wachsende Spannung zwischen den beiden und beschlossen, dem so schnell wie möglich Einhalt zu gebieten, indem sie die beiden Streithähne trennten und aufbrachen.
Auf dem Weg unterhielt sich Rebecca die meiste Zeit mit Matt und dem Mädchen, bei dem Christophe untergebacht war. Ihr Name war Yvaine, kurz Yvy. Ihre Eltern kamen aus Irland und hatten ein Faible für Mystik und Märchen, weshalb sie ihrem Kind den Namen des Sterns aus „Der Sternwanderer“ gegeben hatten.
„Meinen Eltern sieht man gar nicht an, dass sie Iren sind, aber bei mir hat das Erbe irgendwie voll durchgeschlagen“, antwortete sie lachend auf Matts Frage, ob man sie häufig auf ihre Herkunft ansprechen würde. Und wirklich sah sie aus wie der Klischee-Ire: rote Haare, grüne Augen und eine kräftige, aber sportliche Statur. Yvy war klein, machte diesen Nachteil aber durch Schlagfertigkeit wett.
„Und wie kommst du mit Christophe zurecht?“, fragte Rebecca, die sich vorstellen konnte, dass zwischen Yvy und Christophe ganz schön die Fetzen fliegen konnten.
„Wenn wir uns nicht streiten, eigentlich wunderbar“, erwiderte sie. „Aber immerhin wird es so nicht langweilig!“
Das Mädchen gefiel ihr auf Anhieb und auch Matt kam gut mit ihr zurecht. Vom Charakter her schienen sich die beiden ähnlich zu sein und auch von den Hobbys waren die beiden ein Herz und eine Seele. Beide überaus sportlich und abenteuerlustig hatten sie so unendlich viele Themen über die sie reden konnten, dass Rebecca sich bald ausgeschlossen fühlte und zu den Jungs gesellte.
Auf dem Rundgang ereignete sich nicht viel, doch als Rebecca und Lucien wieder zu Hause ankamen (die anderen hatten sich schon auf den Weg zurück zu ihren Familien gemacht), sahen sie, dass vor dem Haus einige Polizei – und Krankenwagen standen.
„Was zum Teufel ist denn hier passiert?“, fragte Rebecca, der der Schock ins Gesicht geschrieben stand, einen Polizisten, der versuchte, Schaulustige fernzuhalten.
„Eine pakistanische Familie ist in ihrer Wohnung überfallen worden. Wohnen Sie in dem Haus?“
„Ja, direkt neben der Familie!“, antwortete Rebecca entsetzt.
„Dann gehen Sie doch bitte zu meinem Kollegen dort drüben, damit er Ihnen ein paar Fragen stellen kann. Im Moment können Sie leider nicht in Ihre Wohnung, tut mir leid. Und jetzt gehen Sie bitte.“
Verwirrt und verzweifelt begab sich Rebecca, zusammen mit Lucien, zu dem Beamten, der die Zeugenvernehmung durchführte. Viel konnte sie ihm nicht sagen, denn sie hatte die Familie kaum gekannt, aber es bereitete ihr dennoch Schuldgefühle, nicht anwesend gewesen zu sein, als der Angriff stattfand.
Was sie nicht ahnte war, dass dieser Überfall erst der Auftakt zu einer Reihe weit schlimmerer Ereignisse waren, und dass sie, Rebecca, direkt davon betroffen sein würde.

Kapitel 4

Mittlerweile war die Woche fast vergangen und die Aufräumarbeiten an der Schule beinahe beendet. Dennoch konnte Rebecca sich nicht darüber freuen, denn die Ereignisse der letzten Tage warfen einen dunklen Schatten auf die Vorfreude der Aufführung.
Weitere ausländische Familien waren überfallen worden, einige sogar getötet. Niemand wollte etwas gesehen, niemand etwas gehört haben. Zu allem Überfluss gab es noch schlimmere Hungersnöte in der Dritten Welt, gepaart mit Bürgerkrieg und Völkermorden, was die Zahl der Flüchtlinge dramatisch in die Höhe trieb. Die Wirtschaft hatte sich von ihrem Einbruch im letzten Jahr noch nicht erholt, die Lage drohte erneut außer Kontrolle zu geraten.
Viele hegten einen Groll auf die ausländischen Flüchtlinge, man gab ihnen die Schuld an der Situation und so begann das schlafende Tier, das seit der Judenverfolgung im Herzen des Volkes schlummerte, sich in manchen Menschen wieder zu regen.
Nicht, dass es nur ihnen so erging, nein. Die USA, Großbritannien sowie Spanien und Italien hatten diese Probleme schon Monate vorher gehabt und hatten auf ihre Art reagiert: Militante Kleingruppen machten Jagd auf alles, was nicht nach ihrer Nationalität aussah. Doch die Berichte hatten sich so gehäuft, dass keiner ihnen wirklich noch Beachtung geschenkt hätte. Ausländerhass schien seit einiger Zeit wieder völlig normal zu sein, ebenso wie politische Instabilität, ausgelöst durch gebrochene Wahlversprechen und enttäuschte, ängstliche und wütende Menschen.

Die Bundesregierung war mit der Lage heillos überfordert, das Volk forderte vorgezogene Wahlen, doch die Regierung zögerte, die Vertrauensfrage zu stellen.
„Na, wunderbar“, sagte Rebecca, die im Wohnzimmer zu Abend aß, während Lucien in der Küche den Nachtisch vorbereitete.
„Was ist denn?“, rief Lucien.
Rebecca begab sich in die Küche, setzte sich auf einen Stuhl und sagte: „Im September gibt es Neuwahlen - vermutlich. Und du weißt ja, wie die Stimmung im Moment ist. Es wird eine Katastrophe geben, da bin ich sicher. Und dann gibt es nichts mehr, was wir tun können.“
„Ach, mal den Teufel nicht an die Wand, du wirst noch genauso schlimm wie Cyril. Es wird nicht so dramatisch werden, mach dir keine Sorgen.“
„Lucien, das würde ich wirklich gerne, aber du hast selbst gesehen, was hier passiert! Ausländer werden zusammengeschlagen, Wohnungen angezündet und kaum einer tut etwas dagegen! In der Zwischenzeit verschlechtert sich die internationale Lage immer mehr, kein Mensch vertraut mehr einem anderen und Freundschaften gehen in die Brüche. Angst greift um sich wie eine Spinne, die ihre Beute mit ihrem Faden einwickelt, dunkle Zeiten kommen auf uns zu. Können und dürfen wir davor die Augen verschließen?“
Lucien seufzte und setzte gerade zu einer Erwiderung an, als das Telefon klingelte.
„Moment“, sagte Rebecca und hastete zum Telefon. „Feyrin? – Mama! Schön, dass du endlich mal anrufst! Ja...ja, wir kommen gut miteinander aus. Ja, Mama, es geht mir gut und nein, ich mache nicht nur Sachen aus der Tiefkühltruhe. Wann kommt ihr wieder? WAS?“, schrie sie plötzlich so laut, dass Lucien noch in der Küche zusammenzuckte.
„Warum das denn? Mama, das ist ja sehr schön für euch, aber was ist mit mir? Verdammt noch mal, weißt du überhaupt, was in der letzten Woche passiert ist? Ihr werdet hier gebraucht, in drei Teufels Namen! Wie stellt ihr euch das vor? Ich – Hallo? Hallo! Verbindung unterbrochen!“, schimpfte sie, als sie zurück in die Küche ging und das Telefon auf die Station knallte.
„Komm mal runter, was ist denn passiert? Und tu meinen armen Ohren einen Gefallen und schrei nicht so. Ich bin schließlich nicht schwerhörig.“
„Meine Eltern bleiben noch weg! Sie wissen noch nicht mal, wie lange! Ausgerechnet jetzt!“
„Und? Wir sind doch bis jetzt wunderbar miteinander ausgekommen, Geld ist auch noch genügend da, warum regst du dich so auf? Die Hausarbeit kann ich schließlich auch übernehmen.“
„Es geht nicht um die Hausarbeit! Begreifst du nicht, was hier vor sich geht? Die Mentalität im Volk wandelt sich, und das nicht zum Guten! Wir brauchen Leute mit Verstand, damit dieses Land nicht den Bach runtergeht!“
„Schon gut, reg dich nicht auf! Du weißt genau, dass ich mit Politik nichts anfangen kann. Ich werde dich unterstützen, in allem, was du tust, aber sei dir bewusst, dass es um deinetwillen ist. Es ist mir egal, ob die Politik in die eine oder die andere Richtung geht. Vielleicht solltest du-“
Da klingelte erneut das Telefon.
„Was ist denn heute los?“, fragte Rebecca, bevor sie den Hörer abnahm.
„Feyrin? Audric? Das ist ja eine Überraschung, was gibt’s denn? Wie? Klar habe ich die Nachrichten gesehen, aber was hat das denn – WAS?“
Lucien ließ erneut fast die Schüssel fallen, die er in der Hand hatte.
„Könntest du dir bitte angewöhnen, nicht immer so schreien?“, bat er sie, wurde jedoch ignoriert.
„Wie kann man nur so blöd sein? Was ist mit seiner Gastfamilie, tun die nichts? Audric, nein, schmink dir das ab, ich habe wirklich besseres zu tun! Nein! Ich kenne ihn kaum, er hasst mich, außerdem hat er sich selbst in diese Lage gebracht! Das ist nicht meine Aufgabe, er ist alt genug, sich um sich selbst zu kümmern! Audric, ich...WAS? WARUM HAST DU DAS NICHT GLEICH GESAGT?”, schrie Rebecca und knallte den armen Telefonhörer ohne ein weiteres Wort erneut auf die Station.
„Okay...jetzt noch mal langsam und zum Mitschreiben...was genau ist passiert?“, fragte Lucien, der es endgültig aufgegeben hatte, den Nachtisch zuzubereiten.
„Cyril hat es geschafft, sich in Schwierigkeiten zu bringen“, fauchte Rebecca und war für einen Augenblick einem Puma nicht unähnlich.
„Oh.“
„Was heißt da „Oh“? Na los, zieh dir was an, wir müssen los! Wer weiß, was er sonst noch anstellt, wenn ihm niemand hilft!“
„Schon gut, schon gut, ich komm ja schon!“
Kurze Zeit später waren die beiden schon auf dem Weg zu der Stelle, die Audric Rebecca geschildert hatte, als sie auch schon lautes Rufen vernahmen.
„Ich töte ihn, das schwöre ich!“, quetschte Rebecca zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Nicht nur du“, erwiderte Lucien und begann, schneller zu laufen, sodass er Rebecca überholte.
„Hey, warte auf mich!“
Wie sich herausstellte, waren die beiden wohl gerade noch rechtzeitig gekommen, denn es hatte sich schon eine Prügelei vom Zaun gebrochen, die von Lucien und Rebecca jedoch relativ schnell beendet werden konnte.
Cyril war, im wahrsten Sinne des Wortes, mit einem blauen Auge und einigen Schürfwunden davongekommen, die jedoch bald verheilt sein würden.
Während sie sich zu dritt zurück auf den Weg nach Hause machten, schimpfte Rebecca die ganze Zeit vor sich hin.
„Musstest du es gleich auf eine Prügelei ankommen lassen? Himmel, wer weiß, was passiert wäre, wenn Audric uns nicht bescheid gesagt hätte, wo du bist, dann wäre vielleicht noch Schlimmeres passiert! Ich habe ja schon geahnt, dass du leichtsinnig bist, aber allein gegen fünf andere, das hätte selbst ich dir nicht zugetraut! Wie-“
„Moment, Audric hat dir gesagt, wo ich bin?“, fragte Cyril entgeistert.
„Ja, hat er. Und das war ein Glück, sonst wärst du vielleicht nicht lebend da raus gekommen. Du solltest ihm danken.“
„Aber...ich habe niemandem gesagt, wo ich hingehe! Und ich habe niemanden angerufen, als ich mit diesen Kerlen Krach bekommen habe! In meiner Nähe war auch niemand! Wie konnte Audric das wissen?“
„Es war niemand in deiner Nähe?“, fragte nun auch Lucien, der sich bisher aus dem Gespräch herausgehalten hatte.
„Nein, hör mir doch wenigstens einmal in deinem Leben zu!“, erwiderte Cyril ungehalten.
Die Spannungen zwischen den beiden hatten im Laufe der letzten Tage zugenommen, obwohl Rebecca sich nicht erklären konnte, warum. Die beiden hatten, seit sie in Deutschland waren, nicht viel miteinander zu tun gehabt, zumindest nicht, wenn sie dabei war.
„Entschuldige bitte, aber ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, wie Audric uns sonst hätte benachrichtigen können“, erwiderte Lucien böse.
„Kinder, streitet euch nicht! Wir wissen nicht, wie und woher Audric das wusste, wichtig ist nur, dass er es wusste. Jetzt müssen wir dich erst mal verarzten, sonst garantiere ich nicht mehr für dein gutes Aussehen, Cyril.“
„Tu, was du nicht lassen kannst. Ich habe nicht um Hilfe gebeten, also hört auf so zu tun, als ob ich ohne euch verloren gewesen wäre.“
Dieser Satz verschlug Rebecca die Sprache, denn er war dermaßen unverschämt, dass sie Cyril am liebsten selbst unter die Erde gebracht hätte.
„Dankbarkeit gehört nicht gerade zu deinen Stärken, oder?“, erwiderte sie betont gleichgültig.
„Das hätte ich dir gleich am Anfang sagen können“, antwortete stattdessen Lucien.
Letztendlich schafften die beiden es dennoch, Cyril zu verarzten, selbst wenn es unter vielen giftigen und finsteren Blicken geschah.
„Damit Audric nicht sagen kann, wir hätten nichts getan“, sagte Rebecca, als sie Cyril zur Tür brachte. Dieser drehte sich noch nicht mal um, sondern spazierte hoch erhobenen Hauptes hinaus, ohne sich auch nur zu bedanken.
„Idiot“, murmelte Rebecca, als sie wütend die Tür zuwarf.
„Hast du etwas anderes erwartet? Er mag zwar hübsch aussehen, aber das ist auch schon alles“, rief Lucien, der versuchte, den zerlaufenen Nachtisch noch irgendwie zu retten.
„Ja, ja, schon gut. Sag mal...wird das heute noch was mit dem Dessert? Oder soll ich lieber schnell zur Bäckerei laufen?“
„Mon Dieu! Ich versuche hier gerade zu retten, was zu retten ist, also warte doch mal ein bisschen!“
„Ich geh dann mal! Bis gleich!“, rief sie lachend.
„Hey! Das ist unfair!“
Allerdings war zehn Minuten später sämtlicher Ärger vergessen, als Rebecca mit dem Kuchen zurückkam, denn Lucien hatte seinen Nachtisch absolut nicht mehr retten können, wofür er Cyril beinahe ununterbrochen verfluchte.
„Jetzt lass doch mal den armen Kerl in Ruhe, er kann sich doch noch nicht mal wehren, wenn er nicht da ist“, meinte Rebecca nach einer Weile. „Selbst wenn er ein Idiot ist“, fügte sie noch hinzu.
„Und wenn schon. Er war ja auch nicht da, als mein schöner Nachtisch zu Grunde gegangen ist!“
„Schwamm drüber, Lucien. Ich finde wirklich, dass ihr beiden euch vertragen solltet. Es ist doch nicht so, dass ihr euch von Grund auf hassen würdet, oder? Was genau steht zwischen euch?“
„Alles! Unsere Herkunft, unser Aussehen, unsere Charaktere, unsere Art, zu leben...Selbst unser Geschmack bei Mädchen oder der Kleidung!“
„Das alles ist noch kein Grund, um sich zu hassen, Lucien“, belehrte ihn Rebecca. „Und jetzt iss endlich, sonst ist dein Stück Kuchen weg, das verspreche ich dir.“
Lucien verstand den Wink und schwieg. Er wusste, dass Rebecca nicht verstehen würde, warum zwischen ihm und Cyril eine solche Abneigung bestand, selbst wenn er versuchen würde, es ihr zu erklären.
„Was meinst du, wollen wir unsere unfreiwillige Woche Ferien mit einem DVD – Nachmittag bereichern? Ich habe irgendwie gerade Lust dazu“, meinte Rebecca, nachdem das schmutzige Geschirr in der Spülmaschine verstaut war.
„Warum nicht? Wir haben sowieso nichts besseres zu tun, also, worauf warten wir noch?“
„Darauf, dass du einkaufen gehst“, erwiderte sie. „Was sind denn DVDs ohne Chips, hm?“
„Oh, schon gut, schon gut, ich geh ja schon. Bis gleich!“
„Armer Kerl“, dachte Rebecca. „Ich sollte ihn vielleicht nicht so in der Gegend herumscheuchen. Na ja, jetzt ist es zu spät.“
Als Lucien wiederkam, hatte Rebecca schon alles bereit gestellt, um ihn wenigstens ein bisschen zu versöhnen. Außerdem hatte sie beschlossen, am nächsten Morgen das Frühstück für ihn zu machen, um sich endgültig bei ihm zu entschuldigen.
Der DVD – Nachmittag tat den beiden sichtlich gut, hatten sie doch in den letzten Tagen kaum die Möglichkeit gehabt, sich zu entspannen. Allerdings waren beide so in ihren eigenen Gedanken versunken, dass sie von den Filmen kaum etwas mitbekamen und schließlich vor dem Fernseher einschliefen.
Rebecca wachte mitten in der Nacht auf, weil ihr der Nacken schmerzte, warf einen Blick zu Lucien und entschied sich dagegen, ihn zu wecken. Er lag bequem genug da, um am Morgen nicht von Rückenschmerzen geplagt zu werden, sodass sie es nicht übers Herz brachte, ihn zu stören.
Stattdessen schaltete sie den Fernseher aus und ging ins Wohnzimmer, um aus dem Fenster zu schauen, wie sie es immer tat, wenn sie nicht schlafen konnte.
Erneut fiel ihr auf, dass die Nacht viel zu dunkel wirkte und die Bäume eher bedrohlichen Schatten als Lebewesen glichen.
Rebecca seufzte und überlegte, ob sie sich wieder hinlegen oder die Zeit bis zum Morgengrauen sinnvoller verbringen sollte, als plötzlich das Telefon klingelte. Erschrocken zuckte sie zusammen und brauchte einige Momente, bis sich ihr Herzschlag beruhigt hatte und sie auf das Display schauen konnte. Mama Handy stand darauf.
„Ja?“, meldete sich Rebecca verwundert.
„Becky, mein Schatz, hör zu, ich kann jetzt nicht alles erklären, das würde zu lange dauern, aber du musst mir versprechen, dass du in den nächsten Tagen gut auf dich aufpassen wirst, hast du verstanden? Wir versuchen, so schnell wie möglich zurückzukommen, dein Vater versucht gerade, einen Flug für die nächsten Tage zu bekommen. Aber bitte: Sei vorsichtig und pass auch auf Lucien auf. Ich muss auflegen! Bis bald, ich liebe dich!“
„Aber was-?“
Doch ihre Mutter hatte schon aufgelegt und als Lucien verschlafen aus ihrem Zimmer getorkelt kam, stand Rebecca immer noch reglos mit dem Telefonhörer in der Hand da.
„Was ist denn los?“, fragte Lucien mit träger Stimme.
„Wenn ich das wüsste, würde ich es dir sagen“, erwiderte sie leise und fügte dann lauter hinzu: „Geh wieder ins Bett, du brauchst deinen Schlaf. Morgen ist wieder Schule.“
Lucien nickte nur schlaftrunken, drehte sich um und fiel in Rebeccas Bett. Sie selbst jedoch fühlte sich hellwach und ruhelos. Kurz blickte sie auf die Uhr im Wohnzimmer, dann beschloss sie, hinauszugehen und auf den Sonnenaufgang zu warten. Alles erschien Rebecca seltsam, die ganze Situation, in der sie sich befand und der Anruf ihrer Mutter, noch dazu um diese Uhrzeit, hatte sie mehr als nur ein wenig beunruhigt.
Ein paar Stunden in der frischen Nachtluft würden ihr sicherlich gut tun und ihre Gedanken klären, da war sie sich sicher. Doch der erwartete Erfolg blieb aus, denn als Rebecca um kurz vor sechs zurückkehrte, schien alles nur noch verworrener. Sie setzte Kaffee auf und legte Brötchen in den Backofen, genau so, wie sie es sich am Vorabend vorgenommen hatte.
Als Lucien eine halbe Stunde später aufstand, war er mehr als überrascht, dass bereits ein Frühstück auf dem Tisch stand, doch Rebecca weigerte sich, ihm zu sagen, wieso sie schon alles vorbereitet hatte und er beließ es bei einem Schulterzucken.
Die nächsten Tage verliefen ähnlich. Rebecca schlief schlecht, wachte früh morgens auf, beobachtete den Sonnenaufgang und machte Frühstück. Lucien nahm es scheinbar einfach so hin, doch unter der gleichgültigen Oberfläche machte er sich große Sorgen um sie. Er sprach Rebecca nicht auf ihr Verhalten an, weil er ahnte, dass sie abblocken und es als Phase abtun würde, doch am letzten Tag bevor die Schule wieder anfing, hielt er es nicht mehr aus.
„Schwesterherz, du schläfst heute Nacht bei mir im Bett. Du musst morgen früh ausgeruht sein und ich lasse nicht zu, dass du wieder Alpträume hast oder früh morgens durch die Gegend wanderst – noch dazu alleine. Keine Widerrede, verstanden?“
Rebecca war so überrascht davon, dass Lucien ihr Verhalten aufgefallen, dass es ihr überhaupt nicht in den Sinn kam, sich ihm zu widersetzen. Noch dazu, wo sie sich seit dem Anruf ihrer Mutter nach ein wenig Geborgenheit sehnte. Allerdings wollte sie sich das nach der, ihr mittlerweile peinlichen, Alptraumnacht nicht anmerken lassen. Dennoch konnte es Lucien nicht entgehen, dass Rebecca in dieser Nacht, die sie, ohne es zu merken, in seinen Armen verbrachte, ruhiger und tiefer schlief als sonst.

Der erste Schultag nach dem Brand war gleichzeitig der Tag der Generalprobe und Rebecca war, wie alle anderen, mit den Nerven fast am Ende. Vor allem befürchtete sie, dass es wieder einen Zwischenfall geben könnte, der alle Anstrengungen komplett zunichte machte.
Später sollte sich herausstellen, dass diese Furcht nicht unbegründet war.
Alle Schüler waren wieder in den gleichen Alltagstrott von Hausaufgaben, Klausuren und Ärger mit Lehrern und Mitschülern verfallen, doch waren auch Veränderungen spürbar geworden. Diejenigen, die sich für Politik interessierten, versuchten im Unterricht, die Themen auf die angespannte Lage in der Regierung zu lenken und Hintergrundinformationen zu bekommen. Doch der Großteil scherte sich nicht darum, was in ihrer eigenen Gesellschaft vorging und auch die Übergriffe auf ausländische Mitbürger wurden nicht als Skandal, sondern als eine verständliche Maßnahme angesehen. Es gab viele, die so dachten und Rebecca geriet in den nächsten Stunden häufiger mit Mitschülern aneinander, die meinten, eine dicke Lippe riskieren und anderen drohen zu müssen. Unterstützt wurde sie dabei von Matt und den anderen. Vor allem Christophe und Cyril waren ein Vorteil, wenn es darum ging, Leute einzuschüchtern.
„Ich glaube einfach nicht, was ich sehe. Oder besser gesagt: Ich will es nicht glauben“, sagte Rebecca in einer Pause. „Noch vor einer Woche hätte jeder eingegriffen, wenn jemand aus unserem Jahrgang verprügelt worden wäre. Und jetzt? Nichts! Ich verstehe das einfach nicht!“
„Keiner von uns versteht das. Vielleicht liegt das aber auch nur daran, dass wir die einzigen sind, die noch annährend Verstand besitzen. Das ist...nun, sagen wir, leicht deprimierend“, meinte Christophe.
„Das ist ja wohl die Untertreibung des Tages. Eine Schande ist es! Irgendjemand sollte doch-“
In diesem Moment kam eine Durchsage.
„Alle Schülerinnen und Schüler treffen sich jetzt in der großen Pause im Hauptgebäude. Ich wiederhole: Alle Schülerinnen und Schüler treffen sich jetzt in der großen Pause im Hauptgebäude!“
„Was ist denn jetzt los? Haben wir irgendwas ausgefressen?“, fragte Matt.
„Nicht, dass ich wüsste. Auch die jüngeren Jahrgänge haben nichts angestellt, soweit ich weiß.“
Just in diesem Augenblick kam der Direktor in das Gebäude und begab sich mit einem Mikrofon auf die Bühne.
„Soeben erreichte uns die Nachricht, dass es im Bundestag zu einem Putsch kam. Es besteht die Gefahr, dass es zum Aufruhr auf den Straßen kommt, deshalb begebt ihr euch so schnell wie möglich nach Hause oder bleibt hier in der Schule, wenn kein Elternteil daheim ist. Wir hoffen, dass alles ruhig bleibt, aber wir möchten kein Risiko eingehen. Zu eurer Betreuung werden einige Lehrer hier bleiben, bis die Lage geklärt ist. Und jetzt geht bitte.“
Augenblicklich gab es Aufruhr unter den Schülern, selbst unter denen, die nicht wussten, was ein Putsch war.
„Lucien, ich bleibe hier, geh du nach Hause! Einige von den Kleinen müssen hier bleiben, ich will sie nicht alleine lassen. Bitte, bring in Erfahrung, was genau passiert ist und wer den Putsch ausgelöst hat, ich komme so bald wie möglich nach. Okay?“
„Es gefällt mir nicht, dich hier alleine zu lassen. Komm mit, ich bitte dich!“, erwiderte Lucien aufgebracht.
„Das geht nicht! Hier passiert schon nichts, keine Angst, aber die Jüngeren haben furchtbare Angst, irgendjemand muss für sie da sein. Verstehst du das? Außerdem...ich bin hier nicht alleine. Mach dir keine Sorgen um mich.“
„Ich bleibe auch hier“, sagte Matt, als Lucien sich zwar widerstrebend, aber dennoch rasch entfernte. „Bei mir ist keiner daheim, da bleibe ich lieber hier. Alles andere wäre mir zu unheimlich.“
„Du kannst mit zu mir kommen“, meinte auf einmal jemand hinter ihnen. Unbemerkt waren die Franzosen zu ihnen getreten und hatten sie, sei es willentlich oder nicht, von den Blicken der anderen abgeschirmt. Derjenige, der gesprochen hatte, war Severin.
„Ich bin nicht weit von hier untergebracht und meine Gasteltern haben sicher nichts dagegen, wenn ich jemanden mitbringe, selbst wenn es draußen unruhig ist.“
Matt bemerkte einen bittenden Ausdruck in seinen Augen, der ihr zeigte, dass es ihm wichtig war, sie in seiner Nähe zu wissen. Anscheinend hatte er Probleme damit, sie in einer solchen Situation aus den Augen zu lassen, was sie einerseits rührte aber andererseits die Frage aufwarf, ob sie Rebecca einfach so allein lassen konnte.
„Schon gut“, meinte Rebecca, da sie Matts Gedanken erraten hatte. „Mir ist wohler, wenn du dich in einer Wohnung verbarrikadierst mit jemandem, der dich beschützt, als wenn du nur wegen mir hier bleiben würdest. Geh schon mit“, fügte sie noch hinzu und umarmte Matt. Dann wandte sie sich an Severin.
„Pass gut auf sie auf, sonst kriegst du es mit mir zu tun, klar? Und auf dich auch, ich will euch beide morgen, spätestens übermorgen, wohlbehalten wiedersehen.“
Severin und Matt lächelten gezwungen und machten sich dann ebenfalls so schnell wie möglich von dannen.
„Und was ist mit euch? Haut endlich ab, ich will gar nicht wissen, was sonst mit euch passiert! Seht zu, dass ihr hier wegkommt!“
„Ich bleibe“, sagte plötzlich eine Stimme hinter Rebecca und ließ sie einen halben Meter hoch in die Luft springen. Sie drehte sich um und sah direkt in Cyrils Augen.
„Was soll das heißen, du bleibst?“, schnappte sie.
„Das soll heißen, dass ich nicht nach Hause gehen werde. Ich verstecke mich nicht und außerdem muss irgendjemand aufpassen, dass du keine Dummheiten machst. Lucien ist dazu offensichtlich nicht in der Lage, aber ich werde nicht so feige sein und abhauen.“
Rebecca entschied sich, darauf nicht einzugehen und wandte sich wieder den anderen zu, die das Gespräch gespannt mitverfolgt hatten.
„Schön! In Ordnung, meinetwegen! Was geht es mich an, ich habe dir einmal den Arsch gerettet und nichts als Undank dafür bekommen! Mach, was du willst, es interessiert mich nicht! Und ihr verschwindet jetzt, versteckt euch oder sonst was, aber bringt euch in Sicherheit!“
Die anderen ahnten, dass sie sich in diesem Moment nicht vor den Putschisten, sondern eher vor Rebecca in Sicherheit bringen mussten, weshalb sie auch relativ schnell Reißaus nahmen.
Sie selbst stürmte ohne ein weiteres Wort in die andere Richtung davon, um bei den jüngeren Schülern nach dem Rechten zu sehen. Auf halber Strecke wurde sie jedoch von einem Lehrer aufgehalten.
„Rebecca, warum sind Sie noch hier? Sie sollten schon längst zu Hause sein!“
„Ich kann hier nicht weg! Meine ganzen Kleinen sind noch hier, außerdem brauchen Sie sicher noch ein paar ältere Schüler, um auf alle aufpassen zu können! Hören Sie, ich kann auf mich Acht geben, volljährig bin ich auch und außerdem ist es ja nicht so, dass hier irgendjemand einen Amoklauf veranstalten würde, oder? Und ich glaube auch nicht, dass diese Leute die Schule stürmen und jetzt schon jeden Ausländer mitnehmen werden, den sie finden können. Bitte“, fügte sie flehend hinzu, „ich kann hier nicht weg. Ich könnte es nicht ertragen, zu Hause zu sein und nicht zu wissen, ob meine Freunde in Sicherheit sind oder nicht.“
„Na gut, meinetwegen. Aber sehen Sie zu, dass Sie sich nicht unnötig in Gefahr begeben. Bitte, das ist mein Ernst. Die Lage gefällt mir nicht und-“
Doch Rebecca unterbrach ihn. „Hören Sie endlich auf, sich Sorgen zu machen. Das ist nicht nötig und das wissen Sie. Es wird schon nichts passieren.“
Dann ließ sie ihn einfach stehen und machte sich auf die Suche nach den jüngeren Kindern.
„Wenn unsere Lehrer ein wenig kompetenter wären, dann müsste ich nicht hier bleiben und aufpassen!“, meinte sie zu sich selbst.
„Becky“, sagte plötzlich jemand hinter ihr und hielt sie fest. „Warte.“
Verwundert drehte sie sich um, hatte sie doch gedacht, ihre Lehrer überzeugt zu haben. Aber es war keiner ihrer Lehrer, sondern Cyril, der auf einmal alle Schärfe verloren zu haben schien.
„Was ist denn? Ich habe Pflichten zu erfüllen, also beeil dich, mit was auch immer du von mir willst“, erwiderte sie unwirsch.
„Ich will, dass du nach Hause gehst. Ich weiß nicht, was passieren wird, aber ich möchte nicht, dass du hier bist, wenn es passiert.“
Rebecca war sprachlos angesichts dieser 180 Grad Wendung und setzte gerade zu einer Antwort an, als von außerhalb laute Rufe zu hören waren.
„Was ist da los?“, fragte sie alarmiert und wollte schon in Richtung der Türen davon stürmen, als Cyril sie festhielt.
„Nichts da, du kommst mit! Ich habe gesagt, dass etwas passiert, aber du warst ja zu stolz, um auf mich zu hören!“
„Lass mich los! Ich muss sehen, was da hinten passiert ist!“, schrie Rebecca und schlug um sich.
„Das musst du nicht! Und jetzt komm endlich mit!“, rief Cyril wütend und zerrte sie unbarmherzig mit sich. Als sich Rebecca immer noch wehrte, blieb er stehen, packte sie an den Schultern und zwang sie, ihn anzusehen.
„Hör mir zu, ich mag dich zwar nicht besonders, aber du hast mir das Leben gerettet. Ich bin dir etwas schuldig, deswegen werde ich dich nicht zurückgehen lassen, egal, wie sehr du auch auf mich einschlagen magst. Bitte“, fügte er zähneknirschend hinzu. „Ich will nicht, dass dir etwas passiert.“
Diese Antwort verblüffte Rebecca so sehr, dass sie ihren Widerstand aufgab und sich in einen nahezu leeren Klassenraum ziehen ließ. Nur ein paar verängstigte Schüler kauerten sich in einer Ecke zusammen und wussten nicht, was sie tun sollten.
„Siehst du, warum ich zurück wollte? Und verstehst du jetzt, warum ich hier bleiben musste?“, zischelte Rebecca, die sich inzwischen von ihrem Schock erholt hatte.
„Ich sehe nur, dass wir wegen dir in ziemlichen Schwierigkeiten stecken“, erwiderte Cyril ebenso unfreundlich.
Als Antwort warf sie ihm nur einen giftigen Blick zu und ließ sich schweigend in der Ecke nieder, in der die Kinder saßen. Einige von ihnen kannte Rebecca und war deshalb umso besorgter um sie. Zu ihrer Überraschung folgte Cyril ihr und (was Rebecca in einen Schockzustand versetzte) sprach mit den Kindern und tröstete sie. Niemals zuvor hatte sie ihn so sanft und liebevoll sprechen gehört und sie hätte auch niemals erwartet, dass er mit Kindern umgehen konnte.
Ein seltsamer Ausdruck war in Cyrils Augen getreten, als er wieder zu Rebecca blickte.
„Wie konnte es so weit kommen?“, fragte er sie.
Auch Rebecca stellte sich diese Frage, kam jedoch rasch zu einer Antwort.
Die Arbeitslosigkeit hatte in den letzten Monaten rapide zugenommen und es gab immer mehr Flüchtlinge. Demonstrationen hatten sich gegen die amtierende Regierung gerichtet und der Ruf nach Neuwahlen war laut geworden. Im Bundestag wurde beraten, doch zu einer wirklichen Entscheidung war man nicht gekommen, während das Volk immer zorniger wurde und sich Parteien suchte, in denen es sich verstanden fühlte, in denen gehandelt wurde, in denen man einen Schuldigen für die ganze Misere fand. Die Übergriffe auf Ausländer waren nur der Anfang gewesen, das wusste Rebecca. Und sie wusste auch, von wem der Putsch ausgegangen war, nämlich von Oskar Noritz, dem Parteivorsitzenden der Ultrarechten. Seine Partei, die ihre Ziele gut zu verschleiern wusste, hatte Anhänger um sich geschart und diesen Putsch im Geheimen vorbereitet, um die Macht zu übernehmen und endlich ihre Ziele durchzusetzen. Keiner hatte etwas gemerkt, auch sie selbst hatte es nur am Rande, tief in ihrem Innern, vermutet, nie aber gedacht, dass es so bald passieren könnte.
„Es war abzusehen. Wir haben alle damit gerechnet, nur nicht so bald und das war unser Fehler. Wir haben nicht genau genug hingesehen und gedacht, dass diese Überfalle, Brandstiftungen und alles andere nur Taten von einzelnen gewesen wären. Jetzt müssen wir die Rechnung dafür bezahlen.“
„Nein“, erwiderte Cyril. „Nicht wir. Die anderen, diejenigen, die am wenigsten dafür können, so ist es doch immer.“
Von draußen waren erneut die Rufe zu hören, lauter und näher diesmal und man hörte, wie verschiedene Türen aufgesprengt wurden.
Rebecca sprang auf, schützend vor den jüngeren aufgebaut, bereit, niemanden vorbeizulassen. Auch Cyril war aufgestanden, um möglichen Angreifern entgegenzutreten.
„Wir wollen ja schließlich nicht, dass Unschuldige zu Schaden kommen“, wisperte er, als Rebecca ihm einen verwunderten Blick zuwarf. Daraufhin wurde ihr Blick sofort eisig, doch sie erwiderte nichts, sondern blickte nur weiter angespannt zur Tür des Klassenraums. Ihre Geduld wurde nicht lange auf die Probe gestellt. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen wurde sie kurz darauf aufgesprengt und fünf Männer standen im Raum.
„Egal, wen ihr da versteckt, zur Seite mit euch!“, rief der, der Rebecca und Cyril am nächsten stand.
„Vergiss es! Das sind nur Kinder, zum Teufel! Was wollt ihr von ihnen?“, sagte Rebecca und schob sich ein wenig zurück, sodass sie die Kinder besser mit ihrem Körper verdecken konnte.
„Ich wette, dass da auch ausländische Brut dabei ist und die wollen wir hier nicht haben, verstanden?“
„Falsch. Ihr wollt sie nicht hier haben, ich schon! Ihr seid nicht wegen des Putsches hier, oder? Ihr seid hier, weil ihr das Chaos nutzen wollt, um eure Ziele zu erreichen! Aber ich werde das nicht zulassen, ihr werdet keine Kinder ermorden oder verschleppen!“, schrie sie.
„Und du willst uns daran hindern? Weißt du, was in Zukunft mit so kleinen Verräterrinnen wie dir passiert? Bestraft werdet ihr, und das nicht zu knapp! Also geh zur Seite und lass uns unsere Arbeit erledigen!“
Bevor Rebecca irgendwie darauf reagieren konnte, war Cyril auf einmal vorwärst gesprungen und hatte den Mann, der gesprochen hatte, zu Boden geworfen. Die anderen, zuerst ebenso überrascht wie Rebecca, konnten sich jedoch schnell aus ihrer Erstarrung lösen und versuchten, Cyril von ihrem Kumpanen zu trennen. Rebecca handelte im Bruchteil einer Sekunde und zerrte die Kinder nach draußen, um sie in Sicherheit zu bringen, bevor sie sich in die mittlerweile ausgewachsene Prügelei einmischte.
„Cyril! Cyril, zum Teufel, lass uns abhauen!“, rief sie in einer Atempause. Die Männer, vor denen sie die Kinder beschützt hatte, hatten auch vor ihr als Mädchen keinen Halt gemacht, was Gewalt anging. Rebecca hatte bis jetzt ein blaues Auge, mehrere blaue Flecke und Platzwunden einstecken müssen. Doch gerade, als sie Cyril bei der Hand gepackt hatte und fortziehen wollte, wurde sie selbst festgehalten und zurückgerissen.
„Nichts da, ihr beiden kommt mit wegen Behinderung der Staatsgewalt und Körperverletzung!“
„Rühr sie nicht an!“, rief Cyril, der sich ebenfalls in den Fängen zweier Männer befand. „Rühr sie nicht an!“
„Lasst mich los! Du sollst mich loslassen!“, schrie Rebecca verzweifelt, biss und trat um sich, bis sie den Mann endlich an einer empfindlichen Stelle erwischte und er sie losließ.
„Lauf!“, sagte Cyril lautlos und Rebecca gehorchte zu ihrer eigenen Verwunderung. Jegliche Ritterlichkeit und jeglicher Mut, den sie zuvor gezeigt hatte, war verschwunden, als sie in Cyrils Augen sah, die sie still anflehten, nicht zu bleiben.
Mit einem letzten Blick zurück floh Rebecca aus dem Raum und der Schule, nach Hause in die schützenden Arme von Lucien und fort von ihrer eigenen Scham.

Kapitel 5

„Wie konnte ich ihn nur alleine lassen? Was ist in mich gefahren? Er könnte schon längst tot sein, ich-“
„Halt still, wie soll ich denn jemals dein blaues Auge behandeln, wenn du herumzappelst wie...wie-“, sagte Lucien.
„Wie ein Kolibri, der auf der Suche nach Futter ist?“, half Rebecca weiter.
„Das war nicht ganz mein Gedanke, aber es trifft den Kern der Sache. Und du sagst doch selbst, er wollte, dass du fliehst, also hör auf, dir Vorwürfe zu machen!“
„Aber das ändert nichts daran, das sich feige war, dass ich ihm hätte helfen müssen, dass ich-“
„Hätte gehorchen sollen, wo ich nicht gehorcht habe?“, drang eine Stimme durch das geöffnete Fenster.
„Cyril!“, riefen Rebecca und Lucien wie aus einem Mund.
Lucien lief zur Tür, um zu öffnen, während Rebecca noch nicht fassen konnte, dass Cyril entkommen war.
„Um Gottes willen, Cyril, wie bist du-“ Sie stockte, als sie bemerkte, wie er aussah.
Die Wunden der letzten Prügelei waren kaum vollständig verheilt und jetzt waren unzählige neue hinzugekommen.
„Entkommen?“, beendete er den Satz für sie und trat in die Wohnung. „Das ist eine gute Frage, genauso wie: „Warum bin ich hierher gekommen und nicht nach Hause gegangen?“ Aber lassen wir die unwichtigen Dinge beiseite, wie sieht die politische Lage aus?“
„Ich denke schon, dass es wichtig ist! Ich dachte, die Kerle würden dich mitschleppen und foltern oder was weiß ich für schlimme Dinge mit dir anstellen!“, brauste sie auf.
„Sagen wir, ein Engel hat mich aus dem Revier gerettet. Zufrieden?“
„Genaugenommen war es kein Engel, sondern ich“, sagte jemand hinter Cyril. Ein hübsches Mädchen trat hinter ihm hervor und lächelte Lucien und Rebecca süßlich an.
„Wie hast du das geschafft, Annika?“, fragte Rebecca fassungslos.
Mit großen Augen starrte sie das attraktive braunhaarige Mädchen an und die Abneigung, die sie ohnehin gegen sie und ihre Art verspürte, schien sich augenblicklich in Hass zu verwandeln.
„Ein bisschen lügen, ein bisschen Augenklimpern...mehr braucht es nicht“, erwiderte sie selbstzufrieden. „Wollt ihr uns nicht hereinbitten? Wenn man uns hier draußen sieht, stecken wir ganz schön in der Klemme.“
Mit diesen Worten drängte sie sich an Rebecca und Lucien vorbei, zog Cyril an der Hand hinter sich her und setzte sich ins Wohnzimmer, als ob sie sich zu Hause befinden würde.
„Magst du Audric und die anderen anrufen? Sie sollten wissen, dass Cyril wohlauf ist. Ich kümmere mich um unsere „Gäste““, sagte Rebecca mit Betonung auf dem letzten Wort.
„Wollt ihr irgendwas trinken?“, fragte sie, als sie ins Wohnzimmer ging und die beiden Händchen haltend auf dem Sofa sah.
„Gerne. Hast du vielleicht einen Tee für uns? Nach den ganzen Strapazen wäre das genau das richtige“, antwortete Annika, ohne die Augen von Cyril abzuwenden.
„Aber natürlich doch, fühlt euch ganz wie zu Hause. Bleibt, solange ihr wollt. Aber wenn ihr irgendwas vorhabt, dann sucht euch bitte ein Zimmer außerhalb dieser Wohnung.“
Cyril bemerkte den spitzen Unterton in Rebeccas Stimme und ging sofort an die Decke.
„Was glaubst du eigentlich, dir erlauben zu können? Wir kamen hierher, um einen Moment Ruhe und Sicherheit zu finden, aber stattdessen müssen wir uns anzügliche Kommentare gefallen lassen! Ist dir eigentlich bewusst, was für eine Lage da draußen vorherrscht? Nein, Mademoiselle denkt, wir hätten anderes im Kopf, Dinge, für die keine Zeit ist und die unwichtig sind! Blickst du eigentlich irgendwann mal über deinen Teenagerhorizont heraus?“
Rebecca erstarrte angesichts dieser unberechtigten Vorwürfe, denn wenn sie etwas nicht war, dann war es beschränkt in ihrer Weltsicht. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? Spazierte mir nichts, dir nichts in die Wohnung, samt neuer Freundin und erlaubte sich dann auch noch Beleidigungen der übelsten Art!
„Hör mir mal zu, ich habe nicht darum gebeten, dass ihr herkommt! Ich lasse mich in meiner Wohnung nicht so behandeln, schon gar nicht von dir! Und es reicht mir, verschwinde! Haut ab, beide! Ich will keinen von euch mehr sehen!“
Annika bedachte Rebecca mit einem Blick, der eindeutig hätte töten können, wäre Rebecca selbst nicht so zornig gewesen. Wortlos stand Annika auf, legte demonstrativ eine Hand auf Cyrils Arm und stolzierte aus der Tür, jedoch nicht, ohne noch einmal abschätzig über die Schulter zu blicken.
Auch Cyril gab keinen Ton mehr von sich, sondern folgte seiner neuen Angebeteten aus der Tür.
„Idioten, alle beide! Kommen hier rein wie die verfolgten Heiligen, Händchen haltend, und erwarten, dass ich sie mit offenen Armen aufnehme! Was denken die sich?“
„Nichts, vermute ich. Aber kann es nicht, dass du leicht überreagierst, ma chère? Die beiden haben rein gar nichts getan.“
„Rein gar nichts getan? Hast du nicht gesehen, wie sie sich angesehen haben? Angeschmachtet trifft es wohl eher, die beiden wären ja hier schon fast übereinander hergefallen!“
„Kann es sein, dass meine kleine Schwester eifersüchtig ist?“, fragte Lucien amüsiert, während er die Tür schloss und Rebecca sanft ins Wohnzimmer zurück führte.
„Ich bin überhaupt nicht eifersüchtig, aber es regt mich auf, was Cyril sich herausnimmt! Was habe ich ihm denn getan?“
„Du hast ihm etwas unterstellt, was er dir übel nimmt. Erstens hast du eine Person, die seine Wertschätzung genießt, niedergemacht und dann auch noch über ein anderes Thema als den Putsch geredet. Das alles hat ihn wohl ziemlich gegen dich aufgebracht. Du kennst doch mittlerweile seine Macken. So, und jetzt setzt du dich hin und ruhst dich aus. Audric und die anderen wissen bescheid, aber Silvain würde gern herkommen und sich ansehen, ob ich alles richtig versorgt habe“, sagte Lucien und rollte mit den Augen. Anscheinend gefiel ihm der Gedanke nicht, dass jemand seine Arbeit kontrollierte.
„Geht’s ihnen denn gut?“, fragte Rebecca, die sich, immer noch vor Wut kochend, auf das Sofa setzt und finster vor sich hin starrte.
„Natürlich, was hast du denn gedacht? Dass sie sofort in ein Gefängnis gesperrt oder ausgewiesen werden? Ne, die sind zu Hause und überlegen sich sicher schon einen Plan für eine Revolution oder ähnliches. Oder sie warten erst ab, was ich bevorzugen würde. Mit Hitzköpfigkeit wurde schließlich noch niemals etwas erreicht.“
Dann drehte er sich um und ging zurück in die Küche, um einen Kaffee für Rebecca und Silvain zu machen.
In der kurzen Zeit, in der er jetzt bei ihr lebte, hatte er sich schon so eingelebt, dass er fast vergessen hatte, wie es in Frankreich gewesen war.
Urplötzlich wurde er jedoch aus seinen Gedanken gerissen, als Rebecca aus dem Wohnzimmer gestürmt kam, dabei einen Stuhl umwarf, sich das Knie an der Tischkante stieß und sich das Telefon schnappte.
„Was für ein Teufel hat sie denn geritten?“, fragte er sich, als er sie auf einmal schnell und aufgeregt Englisch sprechen hörte. Die Erkenntnis, dass Rebeccas Eltern sich im Ausland befanden, traf ihn wie ein Schlag, ebenso das Wissen, wie sehr Rebecca an ihren Eltern hing.
Als sie zehn Minuten später blass und mit geröteten Augen zu ihm in die Küche kam, musste er nicht erst nachfragen, was geschehen war. Vorerst würden Rebeccas Eltern nicht zurückkehren. Wortlos nahm er sie in den Arm und Rebecca ließ ihren Tränen freien Lauf.
Als es an der Tür klingelte, weinte sie immer noch, hatte sich aber wieder so weit unter Kontrolle, dass sie anderen Personen gegenüber treten konnte.
Als Lucien öffnete, hörte sie ihn vor der Tür leise mit Silvain tuscheln. Rebecca war sich sicher, dass die beiden über sie und ihre momentane Verfassung sprachen, denn als Silvain zu ihr hereinkam, lächelte er verständnisvoll und bedeutete ihr, sich zu setzen.
„Ich bin zwar noch kein Arzt, aber ich habe schon ein paar Praktika in Kliniken absolviert. Allerdings scheint meine Hilfe gar nicht mehr nötig zu sein, das sieht ziemlich gut aus. Lucien, woher kannst du das?“
„Also komm, so ein bisschen Erste Hilfe werde selbst ich leisten können! Warum traut ihr mir eigentlich nichts zu?“, fragte Lucien gereizt.
„Lucien, fang keinen Streit an, bitte. Davon hatten wir heute schon genug. Silvain hat das nicht so gemeint, also spiel hier bitte nicht die Mimose“, erwiderte Rebecca müde.
„Mademoiselle, wer war denn bitte bis vor wenigen Minuten die Mimose? Aber gut...in Ordnung, ich verziehe mich. Wenn ihr irgendetwas braucht, dann ruft mich“, sagte Lucien muffelig und begab sich in Rebeccas Zimmer.
„Habe ich ihn jetzt beleidigt?“, fragte Silvain unsicher und starrte auf die geschlossene Tür.
Rebecca zuckte nur die Schultern und wandte sich ab. In ihrer momentanen Verfassung interessierte sie sich weder für Lucien noch für jemand anderen. Auch sich selbst gegenüber war sie gleichgültig, betrachtete sich wie eine Außenstehende. Ein Mädchen, am Körper Spuren von Gewalteinwirkung, müde, mit stumpfem Blick und keiner Achtung vor sich selbst.
Sie wusste, dass sie überreagiert hatte, dass sie sich eigentlich hätte freuen sollen, aber irgendetwas in ihr sträubte sich dagegen, etwas, von dem sie selbst nicht wusste, was es war.
„Wolltest du dir nicht meine Verletzungen ansehen?“, fragte sie und sah Silvain mit leerem Blick an.
Dieser nickte nur und begann mit der gleichen Prozedur wie Lucien. Allerdings konnte er auch nicht mehr tun und kam zu dem Ergebnis, dass Lucien erstklassige Arbeit geleistet hatte. Gerade, als Silvain sich verabschieden wollte, sagte Rebecca: „Silvain, kann ich dir eine Frage stellen?“
„Natürlich“, erwiderte er verdutzt. „Schieß los, was hast du auf dem Herzen?“
„Was ist Cyril für ein Mensch?“
Silvain überlegte einen Augenblick, dann sagte er: „Facettenreich. Ja, ich denke, so könnte man ihn am besten beschreiben. Man weiß nie, was er gerade denkt oder fühlt, außer, er entscheidet sich, dich teilhaben zu lassen, was allerdings außerordentlich selten vorkommt. Nach außen hin ist er kalt wie Eis und ebenso unnahbar, aber unter dieser Schicht lodert ein Feuer, das jedoch nur zum Vorschein kommt, wenn der Idealist und Kämpfer bei ihm durchbricht. Er hatte noch nie eine Freundin, da er einfach nicht an Beziehungen interessiert ist, die ihn nicht in seinem Drang, etwas zu verändern, weiterbringen. Man kann sich ziemlich an ihm verbrennen, wenn man ihm zu nahe kommt und er es nicht erlaubt hat. Auf der anderen Seite ist Cyril aber absolut loyal, wer einmal sein Vertrauen gewonnen hat, der muss ihn ganz schön enttäuschen, damit er es wieder verliert. Eigentlich ist er ein toller Freund, wenn er mal aufgetaut ist, aufopferungsbereit, freundlich und mutig. Er scheut sich nicht davor, sich mit anderen zu schlagen, wenn jemand seine Freunde beleidigt oder bedroht.“
„Und wie kommt es, dass er so ein Eisklotz ist? Ich meine...es ist normal, Fremden gegenüber misstrauisch zu sein und nicht gleich jedem sein Herz auszuschütten, aber deswegen muss man doch nicht gleich so unterkühlt sein“, erwiderte Rebecca.
„Das kommt von seiner Erziehung, soweit ich weiß. Beide Eltern kaum zu Hause, sehr streng und leistungsorientiert. Cyril ist der Erbe des Hauses, seine Erziehung war geprägt von Disziplin und Autorität. Tränen durfte es bei ihm nicht geben und Liebe scheint er auch nie wirklich bekommen zu haben. Eigentlich kann er einem leid tun, aber wenn Cyril eins nicht möchte, dann ist es Mitleid. Jeder, der ihm zu nahe kommt oder ihm etwas anderes als distanzierte Freundlichkeit entgegenbringt, ist ihm zuwider. Er sucht sich seine Leute und öffnet sich ihnen, wenn er es für richtig hält. Aber glaub jetzt bloß nicht, dass ich das alles von ihm selbst gehört habe! Das meiste hat Audric mir erzählt, er hat von uns den besten Draht zu ihm, obwohl Cyril und Lucien eigentlich am ehesten das gleiche Schicksal teilen.“
Rebecca schwieg. Hatte sie es sich gleich zu Anfang bei Cyril verscherzt oder war noch nicht alles verloren? Silvain wusste natürlich nicht, weshalb sie ihm diese Frage gestellt hatte, dennoch schien er zu spüren, dass sie nicht belanglos für Rebecca war.
„Hör zu, wir alle haben gesehen, dass es zwischen euch beiden nicht ganz so rosig aussieht, aber das ist noch lange kein Grund den Kopf hängen zu lassen. Gib ihm Zeit, sich an dich zu gewöhnen und versuch nicht immer, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Das ist weder gesund für deinen Kopf, noch für die Wand.“
„Ich bin ein solches Verhalten einfach nicht gewöhnt, Silvain! Er sagt mir ja noch nicht einmal wirklich, dass er mich nicht leiden kann, sondern springt zwischen verschiedenen Sympathiestadien! Damit komme ich einfach nicht klar!“
„Du wirst dich daran gewöhnen müssen, wenn du dich mit ihm anfreunden willst. Das ist nun mal seine Art und gegen die kannst du herzlich wenig ausrichten, selbst wenn du dich noch so sehr gegen sie wehrst.“
„Schon gut, ich habe verstanden“, sagte sie resigniert. „Vielen Danke für deine Hilfe und die Informationen, Silvain, du hast was gut bei mir. Und jetzt sieh zu, dass du vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause kommst, ich will morgen früh nicht deine Leiche aufsammeln müssen.“
„Charmant wie immer, Mademoiselle. Aber da ich dir nicht die Umstände meiner Beerdigung machen möchte...wir sehen uns morgen. Ruh dich ein bisschen aus, ja?“
„Das mache ich, versprochen. Und jetzt ab mit dir!“
Silvain verabschiedete sich noch kurz von Lucien, der sich allerdings weigerte, die Tür zu öffnen, weshalb der Gruß recht knapp und kühl ausfiel.
Sobald sich die Tür hinter Silvain geschlossen hatte, kam Lucien aus Rebeccas Zimmer.
„Ist der Kerl endlich weg? Ich dachte schon, er würde gar nicht mehr gehen. Was hast du noch so lange mit ihm besprochen, Becky?“
Rebecca blickte ihn nur nachdenklich an und in ging in Gedanken noch einmal das durch, was Silvain ihr gesagt hatte. Dass Lucien und Cyril das gleiche Schicksal teilten. Dass beide von ihren Familien keine Liebe erfahren hatten.
„Nichts“, sagte sie endlich. „Nur, wo er hingehen möchte, wenn er mit der Schule fertig ist, in welcher Klinik er gerne arbeiten würde. Mehr nicht. Und du? Hast du dich wieder abreagiert?“
Lucien scharrte verlegen mit seinem Fuß auf dem Boden. Eigentlich hatte er sofort wieder aus dem Zimmer herauskommen wollen, doch sein Stolz und sein Dickkopf hatten ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht.
„Tut mir leid, Becky. Ich habe mich kindisch aufgeführt. Aber weißt du, es ist ein Scheißgefühl, wenn niemand Vertrauen in dich hat und meint, dich immer kontrollieren zu müssen, nur weil du ein paar Mal Mist gebaut hast!“, rief er wütend und Rebecca bemerkte erstaunt, dass Tränen in seinen Augen glitzerten.
„Lucien, das stimmt doch nicht“, sagte sie leise und umarmte ihn vorsichtig. „Ich habe Vertrauen in dich. Du warst ein toller Bruder bisher, der beste, den man sich vorstellen kann. Jemand, der nicht erkennt, wie viel du wert bist, muss blind sein. Also mach dir darüber keine Gedanken mehr.“
„Danke, Becky...Danke für alles.“

Kapitel 6

„Schau dir mal diese bulligen Kerle an“, wisperte Audric Rebecca zu. „Was meinst du, was die hier wollen?“
„Ich vermute, dass sie den Unterricht überwachen werden, damit kein Lehrer etwas Falsches über die neue Regierung sagt“, meinte Rebecca finster. „Einige davon kenne ich noch vom Tag des Putsches! Bestimmt überwachen sie nicht nur die Lehrer, sondern kontrollieren auch, dass sich keine ausländischen Schüler in den Unterricht reinschleichen. Zumindest keine Ausländer, die nicht aus der EU kommen“, fügte sie mit einem Blick auf Audric und die anderen hinzu.
„Meinst du, die erkennen dich wieder?“, fragte Jean besorgt und schob sich ein Stück vor Rebecca, um sie aus dem Sichtfeld der Männer zu bringen.
Trotz der anfänglichen Angst hatte er sich zu einem treuen und fürsorglichen Freund entwickelt, der keine Gelegenheit ausließ, Rebecca seine Zuneigung und Dankbarkeit zu zeigen, weil sie ihm immer Mut machte und sein Selbstbewusstsein aufstockte, so gut sie konnte.
„Selbst wenn, sie haben ihr Ziel doch erreicht. Ich kann nichts mehr gegen sie ausrichten und das wissen sie. Außerdem...so, wie sie mich zugerichtet haben, würde es mich sehr wundern, wenn sie noch irgendeine Ähnlichkeit zwischen diesem Mädchen, was sie angegriffen hat und mir feststellen könnten“, erwiderte sie lächelnd.
Tatsächlich hatte sie immer noch Schrammen und Blutergüsse im Gesicht, obwohl der Angriff schon drei Tage zurück lag.
Cyril hatte seitdem nicht mehr mit ihr geredet und sich auch von den anderen ferngehalten. Seine Aufmerksamkeit galt allein Annika, mit der er jede freie Minute verbrachte. Niemand wusste, was die beiden taten und ob sie sich irgendwann wieder ihren Freunden zuwenden wollten.
Gerade, als Rebecca an ihn dachte, betrat er auch schon das Schulgebäude, natürlich in Begleitung.
Selbst auf die Entfernung konnte Rebecca sehen, wie sich seine Haltung verändert hatte, der verbissene Zug um seinen Mund weicher geworden und er ein seltsames Leuchten seine Augen getreten war, dass sie bei ihm noch nie wahrgenommen hatte. Ein Teil von ihr war Annika dankbar, dass sie Cyril so verändert und glücklich gemacht hatte, aber ein anderer Teil von ihr war erfüllt mit Hass. Sie konnte diese Schülerin und ihre Art einfach nicht ausstehen, und dass sie sich jetzt auch noch an Cyril rangemacht hatte...Nein, das ging zu weit!
Sie drehte sich demonstrativ von den beiden weg und versuchte, sie zu ignorieren, doch ihre Wut brach kurz darauf aus ihr heraus.
„Dieser elende Heuchler! Sich erst über die neue Lage aufregen und jedem Vorwürfe machen, der sich verliebt und jetzt so was! Ich hätte nicht gedacht, dass er sich diesen Leuten so gegenüber so lammfromm verhalten würde!“
„Was hast du denn? Sei doch froh, dass Annika ihn vor Dummheiten bewahrt!“, erwiderte Audric, der nicht verstehen konnte, warum Rebecca sich so aufregte.
„Das bin ich auch. Aber es passt mir nicht, dass sie sich an ihn ran macht!“
„Warum denn nicht? Siehst du nicht das Leuchten in seinen Augen? Es macht mich glücklich, zu sehen, dass Cyril sich endlich verliebt hat. Du solltest ihm diese Freude gönnen“, erwiderte Silvain und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
„Das tue ich doch auch, aber ich hatte gedacht, er nimmt jemanden der...nun ja, besser ist.“
„Meinst du vielleicht, jemanden wie dich? Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber wer könnte für ihn besser sein als Annika? Sie hat das nötige Engagement in der Politik, um mit ihm mithalten zu können, sie ist intelligent und kann es mit ihm aufnehmen. Sie kann ihn beeinflussen und hat ihn neulich vor großen Schwierigkeiten bewahrt. Es stimmt, du hast mehr menschliche Qualitäten, aber das bedeutet Cyril nichts. Sie könnte mit ihm eine Revolution auf die Beine stellen, die wahrscheinlich sogar funktionieren würde. Ich glaube nicht, dass du das schaffen würdest, dafür fehlt dir die Fähigkeit, Menschen in deinen Bann zu ziehen. Du handelst zu sehr nach deinem Herzen, nicht nach deinem Verstand.“
„Danke für diese aufmunternden Worte, Silvain. Schön, zu erfahren, dass du mich für dumm, schwach und unfähig hältst“, sagte sie bitter und schüttelte seine Hand ab.
„Das tue ich doch überhaupt nicht. Außerdem habe ich nicht gesagt, dass ich Annika mag. Sie ist eingebildet und buckelt vor jedem, der auch nur ein bisschen Autorität hat. Du bist mir tausendmal lieber als sie. Ich würde auch lieber Cyril und dich zusammen sehen, glaub mir. Du könntest ihn wirklich auftauen, ihm auch andere Seiten des Lebens zeigen, nicht nur die politische und kämpferische. Ihr würdet euch wunderbar ergänzen. Ich habe das ganze doch nicht als Angriff auf dich gemeint, Becky“, meinte er entschuldigend.
„Ja, ja, schon gut. Wahrscheinlich bin ich einfach nur neidisch, dass sie vor mir einen Freund gefunden hat, noch dazu jemanden, den ich gerne haben würde.“
„Aber was willst du dagegen tun?“, fragte Audric. „Liebe kann man nicht beeinflussen. Und wenn er sie ausgewählt hat...“
Er führte den Satz nicht zu Ende, aber Rebecca wusste, was er sagen wollte. Augenblicklich wurde ihr auch bewusst, dass sie soeben sich und den anderen eingestanden hatte, dass sie mehr als nur Freundschaft für Cyril empfand. Seltsamerweise schien das aber niemandem etwas auszumachen, niemand hatte gesagt, dass es doch nicht sein könne, weil beide bisher fast nur gestritten oder sich angeschwiegen hatten. Im Gegenteil, sie alle wollten anscheinend, dass sie mit Cyril zusammenkam!
In dem Moment kam eine Durchsage: „Alle Schülerinnen und Schüler begeben sich bitte sofort ins Hauptgebäude, um sich mit dem neuen Schulplan vertraut zu machen.“
„Neuer Schulplan?“, fragte Jean entsetzt und starrte die anderen mit aufgerissenen Augen an.
„Das war doch klar, oder nicht?“, erwiderte Yvy, knackte mit den Knöcheln und warf den fremden Männern Blicke zu, die sie auf der Stelle hätten töten sollen. Plötzlich drehte sich einer von ihnen so abrupt um und schaute ihr so direkt in die Augen, als ob ihre Blicke sich wirklich wie Dolche in seinen Körper gebohrt hätten. Bevor jedoch etwas Schlimmeres geschehen konnte, schon sich Christophe unauffällig vor sie, um Yvy abzuschirmen. Seine hünenhafte Gestalt wirkte anscheinend auch bei diesen abgebrühten Männern, denn der Putschist drehte sich um, ohne etwas zu sagen oder zu tun.
Nach und nach versammelten sich alle Schüler von der Unter- bis zur Oberstufe im Gebäude und blickten gespannt auf die Bühne, zu der nun die Männer gingen. Cyril und Annika standen zusammen und er warf noch nicht mal einen Blick zu den anderen, die sie ebenfalls keines Blickes würdigten. Als einer der Männer ein Mikrofon in die Hand nahm, verstummte alles Geflüster in der Aula, jeder war nur noch auf diesen einen Punkt fixiert.
„Diese Mitteilung geht an alle Lehrer und Schüler“, begann einer der Männer die Rede. „Das Land unter der Regierung von Oskar Noritz wird von nun an zentralistisch regiert. Der Hauptsitz befindet sich in Frankfurt. Ab sofort herrschen an allen Schulen klare Strukturen, denen die Werte der Disziplin, Ordnung und des Respekts zu Grunde liegen. Beleidigungen gegen Lehrkräfte werden nicht mehr hingenommen und stark bestraft, ebenso Widerstand gegen auferlegte Aufgaben und Pflichten. Vernachlässigung der Bildung durch Selbstverschulden bedeutet Strafe in Form von zusätzlicher Arbeit. Jeder Widerstand und jede Aussage gegen die Regierung muss sofort gemeldet werden, es wird größter Wert auf Gehorsam gelegt. Neben den normalen Fächern werdet ihr auch in Volkskunde, Disziplin und, jedenfalls die Mädchen, in Hauswirtschaft unterrichtet werden. Ihr begebt euch jetzt in eure Klassen, eure Lehrer werden euch alles weitere mitteilen.“
Der Mann ging von der Bühne hinunter, hinter ihm seine Kumpanen, und ließ die Schulgemeinde in einiger Verstörung zurück.
Augenblicklich kamen mehrere Mädchen aus den unteren Jahrgängen auf Rebecca und die anderen zugestürmt.
„Was hat das alles zu bedeuten? Was heißt Selbstverschulden durch Vernachlässigung?“
„Was haben wir für eine Regierung? Was darf man nicht mehr sagen?“
„Werden wir ausgeschlossen, wenn wir gegen irgendwas verstoßen?
„Werden wir eingesperrt?“
„Kinder, Kinder, nicht so viele Fragen auf einmal! Hört mal, ich will nicht, dass ihr gleich Ärger bekommt, also reden wir später ausführlich darüber“, erwiderte Rebecca und hob abwehrend die Hände. „Und jetzt ab in den Unterricht mit euch, ihr habt doch gehört, was der Kerl gesagt hat!“
Als die Jüngeren weg waren, wollte sie sich umdrehen und zu ihrem Klassenraum gehen, als Christophe und Yvy neben sie traten.
„Die Kinder tun mir leid. Sie werden mit dem neuen Schulsystem nicht zurechtkommen. Wir müssen aufpassen, dass sie sich nicht in Gefahr bringen.“
„Christophe, diese Leute können sie doch noch formen, wie sie wollen! Die Kleinen werden sich, wenn überhaupt, nicht lange widersetzen, dafür sind sie zu weich. Ich würde eher sagen, dass wir aufpassen müssen, nicht von ihnen verraten zu werden“, erwiderte Yvy, die den Schülerinnen eher misstrauisch hinterher schaute.
„Ach, Yvy, ich kenne diese Mädchen. Das letzte, was sie tun würden, wäre, uns zu verraten, da bin ich sicher. Außerdem haben wir bis jetzt noch nichts getan, was uns irgendwie gefährlich werden könnte, oder sehe ich das falsch?“
„Okay...ich gebe mich geschlagen. Aber ich würde trotzdem nicht zu viel Vertrauen in sie setzen oder zu viel von ihnen verlangen, sie sind schließlich noch Kinder.“
„Ich weiß, aber...ich habe trotzdem Angst um sie. Ich meine...sie hängen an mir! Und sie sind auch nicht so naiv, dass sie nicht merken würden, dass hier etwas vollkommen falsch läuft! Wir sind selbst noch fast Kinder! Warum setzen wir unsere Sicherheit aufs Spiel? Weil wir für die Menschen kämpfen wollen, die wir lieben! Nichts anderes werden sie auch wollen!“, erwiderte Rebecca verzweifelt.
„Becky, jetzt mach dir doch nicht so viele Sorgen. Wenn dir irgendwas passieren sollte, dann wird Christophe schon auf sie aufpassen und für sie sorgen, oder nicht? Du hast die Kleinen doch ins Herz geschlossen, oder?“, sagte Yvy und blickte Christophe durchdringend an. Dieser sah zwar etwas mürrisch aus, da seine weiche Seite so schamlos offenbart worden war, doch auch er wollte Rebecca beruhigen.
„Natürlich werde ich auf sie aufpassen, wenn nötig beschütze ich sie sogar mit meinem eigenen Leben. Irgendwie mögen sie mich ja, selbst wenn sie vor ein paar Wochen noch Angst vor mir hatten. Mach dir keine Sorgen, selbst wenn dir etwas passieren sollte...deine Kleinen sind sicher.“
„Aber wie lange noch? Und wie lange sind wir noch sicher?“, fragte Rebecca sich nachdenklich, als sie den Weg zum Klassenraum einschlugen, um nicht zu spät zu kommen.
„Becky...wir sind sicher, solange wir zusammen sind. Es hat nichts mit der politischen Situation, Strafen oder sonst irgendwas zu tun. Nur mit uns. Also hör auf, dir Sorgen zu machen, denn wir bleiben zusammen. Du, ich, Christophe und all die anderen“, sagte Yvy und legte Rebecca die Hand auf die Schulter. Dann verabschiedete sie sich hastig von den beiden, damit sie ihrerseits nicht zu spät kam.
„Meinst du, wir bekommen jetzt auch neue Lehrer?“, fragte Rebecca. „Ich meine...Mathe und so, das wird gleich bleiben, aber die eher linksgerichteten Lehrer...vor allem in PoWi und Geschichte...meinst du, die werden suspendiert?“
„Ich weiß nicht...es wäre gut möglich, aber dann sicher nicht alle auf einmal und sicher nicht aus den gleichen Gründen, das würde auffallen. Die da oben werden sich schon irgendwas einfallen lassen, damit wir nicht mehr zum Kritisieren angeregt werden“, erwiderte Christophe düster.
„Ich kann einfach nicht glauben, dass das in unserer Zeit passiert. Wir haben doch so vieles hinter uns...und jetzt holt uns unsere Vergangenheit schon wieder ein?“, fragte sie traurig, als sie ihren Stuhl vorzog und sich setzte. „Unser Volk hat so viel durchgemacht, war das denn alles umsonst?“
„Nichts war umsonst, wenn nur eine einzige Person daraus gelernt hat“, belehrte Audric sie, der plötzlich neben ihr saß. „Und wenn noch mehr Leute daraus gelernt haben, dann haben wir die Chance, etwas zu verhindern, das gerade mit unkontrollierbarer Geschwindigkeit auf uns zukommt. Aber wir sind schlauer als damals, oder? Wir wissen, dass wir uns wehren und etwas bewegen können, wenn wir es nur wollen.“
„Aber genau da liegt das Problem, Audric. Wer will sich denn wehren? Wer will denn etwas verändern? Dafür sind doch alle viel zu bequem geworden, selbst vor dem Putsch, als uns noch nicht der Mund verboten wurde, hat sich doch kaum jemand darum geschert, was in unserem Land vor sich geht! Die Leute sind nicht mehr kritisch genug, da können wir warnen, so viel wir wollen. Es bringt nichts.“
„So darfst du gar nicht erst denken“, erwiderte er streng, aber leise, da der Lehrer in dem Moment den Raum betrat, gefolgt von einem Fremden.
„Zum Teufel, soll der jetzt den Unterricht kontrollieren, oder was?“, fragte Christophe eine Spur zu laut und zog damit die Aufmerksamkeit des Fremden auf sich, der daraufhin dem Lehrer etwas ins Ohr flüsterte. Dieser nickte und sagte: „Belain, Strafarbeit. Der Unterricht hat begonnen und unerlaubtes Sprechen wird nicht mehr geduldet. Es zeigt Disziplinlosigkeit und keinen Willen zum Lernen. Dieses Verhalten wird in Zukunft nicht mehr toleriert werden. Ihre Strafe wird darin bestehen, den Schulhof zu kehren, und zwar, ohne ein Wort zu sprechen. Und um Ihrem losen Mundwerk Einhalt zu gebieten, ist Ihnen das Reden heute komplett untersagt.“
Christophe hatte schon den Mund aufgemacht, um zu widersprechen, doch Rebecca trat ihm hastig gegen das Schienbein und schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht, dass er sich in noch größere Schwierigkeiten brachte als ohnehin schon, außerdem wusste sie nicht, zu welchen Strafen die neue Schulordnung noch fähig war. Unauffällig schrieb sie einen Zettel und schob ihn zu Christophe hinüber.
„Handle dir bitte nicht schon am ersten Tag Ärger ein, das können wir gar nicht brauchen. Außerdem weißt du nicht, was diese Leute mit dir anstellen werden, wenn du dir noch weitere Fehltritte erlaubst. Denk an Yvy. Wir brauchen dich noch.“
Christophe nickte ihr nur zu und blickte dann starr nach vorne. Ihm graute es bereits davor, den Hof fegen zu müssen, denn so etwas hasste er.
Rebecca drückte ihm noch einmal kurz die Hand, bevor sie sich scheinbar dem Unterricht zuwandte und in ihren Gedanken versank.

Kapitel 7

Nicht nur Christophe hatte an diesem Tag eine Strafe einstecken müssen, auch Yvy, Lionel und (wen wunderte es) Cyril hatte es getroffen.
Die neuen Regeln wurden von allen Lehrern genauestens befolgt und jeder Verstoß bestraft. Hatte man früher noch ein Auge zugedrückt, wenn ein Schüler einmal nicht aufgepasst hatte, musste dieser nun damit rechnen, bestraft zu werden.
Obwohl Rebecca immer noch wütend auf Cyril war, hoffte sie, dass seine Strafe nicht so hart ausfallen würde, ebenso wie bei den anderen. Sie konnte sich nur schwach denken, was ihre Vergehen gewesen sein mochten.
Als der Unterricht für diesen Tag endlich vorbei war (er hatte sich gezogen wie Kaugummi), trafen sich Rebecca und Lucien wie üblich an den Fahrradständern.
„Ich bin so froh, dass dieser Tag endlich vorbei ist“, seufzte sie, als sie ihre Tasche in den Korb schleuderte. „Du glaubst gar nicht, wie anstrengend es war, die ganze Zeit die Klappe zu halten, vor allem bei diesem dauernden Geturtel von Cyril und Annika! Ich hätte die beiden am liebsten geschlagen, aber die Schüler haben ja die Pflicht, Ruhe und Ordnung walten zu lassen!“, brauste sie auf. „Kannst du dir vorstellen, wie schwer es war, meinen Mund zu halten?“
„Schon gut, Becky, beruhige dich! Es bringt nichts, wenn du dich jetzt aufregst, du kannst es sowieso nicht ändern. Komm, lass uns nach Hause fahren“, meinte er und schloss ihre Räder auf. Er wusste nicht, dass sie die anderen die ganze Zeit über mit ihrer schlechten Laune terrorisiert hatte, da es in ihrem Innern nur so kochte vor Eifersucht, selbst jetzt, wo dieser schreckliche Tag fast vorbei war. Ihre Freunde hatten es ihr nachgesehen, dass sie von Rebecca immer nur angefaucht wurden, da sie sich denken konnten, was der Grund für ihr Verhalten war. Auch jetzt noch brodelte sie Wut in ihr und verrauchte erst, als sie die Wohnungstür aufschloss. Dort überkamen Rebecca plötzlich Trauer und Mutlosigkeit.
Lucien verstand ihren plötzlichen Stimmungswechsel und legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter.
„Denk nicht mehr so viel an ihn. Er weiß nicht, wie wertvoll du bist und deswegen hat er dich nicht verdient. Warum versuchst du es nicht mit Audric? Ihr beiden könntet von eurer Art her Zwillinge sein. Glaub mir, ihr beiden würdet glücklich zusammen werden“, sagte er sanft. Er dachte, wenn er Rebecca eine Alternative zu Cyril aufzeigen konnte, würde sie über ihren Schmerz hinwegkommen, denn er konnte es nicht ertragen, sie so geknickt zu sehen. Da war ihm die vor Wut Feuer spuckende Rebecca tausend Mal lieber als dieses Häufchen Elend.
„Daran habe ich keinen Zweifel. Ich liebe ihn, aber nicht auf die Art. Frag mich nicht, warum Cyril mir so viel bedeutet, ich weiß es nicht! Aber wenn er glücklich wird...Und Audric wird jemanden finden, der besser zu ihm passt als ich. Glaub mir, ich werde schon darüber hinwegkommen“, erwiderte sie schwach lächelnd. „Wirklich“, fügte sie hinzu, als Lucien sie zweifelnd ansah.
„Jetzt schau mich nicht so an, ich bin stärker, als ich aussehe! Außerdem ist das nicht der erste Rückschlag, den ich einstecken muss.“
Lucien zuckte nur noch mit den Schultern und begab sich in die Küche, um das Mittagessen vorzubereiten. Rebecca hatte sich derart über seine Kochkünste beschwert, dass sie ihn angewiesen hatte, sich darin zu üben. Aus diesem Grund stand er jetzt mindestens einmal die Woche am Herd und ließ letztendlich Rebeccas mehr oder weniger vernichtende Kritik über sich ergehen (obwohl sie zugeben musste, dass er schon besser geworden war).
Sie ging währenddessen ins Wohnzimmer und begann mit den Hausaufgaben, um Lucien dann später helfen zu können. Diese Art der Arbeitsteilung hatte sich als äußerst wirkungsvoll erwiesen, da Rebecca ihre Aufgaben normalerweise erst spät erledigte, weil es ihr an Motivation mangelte.
Aber das war nun mal der Deal: Lucien lernte Kochen und sie machte ihre Hausaufgaben, ohne wenn und aber.
Im Gegensatz zu den letzten Wochen hatten sie heute ungeheuer viel aufbekommen, was sicherlich nicht zuletzt der neuen Schulordnung zuzuschreiben war. Der größte Teil bestand jedoch aus dem Abschreiben von Texten, um das eigene Denken ja nicht fördern zu können.
Der vorgeschobene Grund dafür war natürlich ein ganz anderer. Angeblich war die Rechtschreibung der meisten so schlecht, dass man sie nur auf diese Weise verbessern könne.
Frustriert klappte Rebecca die Bücher zu, nachdem sie alles abgeschrieben hatte und ging in die Küche, nur um zu sehen, dass diese mehr einem Schlachtfeld als einer Küche glich.
„LUCIEN! Was zur Hölle hast du gemacht?“, donnerte Rebecca und blieb wie angewurzelt stehen. Die gesamte Küche war mit einer undefinierbaren Masse bedeckt, die vielleicht entfernt an Linsensuppe erinnerte. Wie das jemals wieder sauber werden sollte, konnte sie sich nicht vorstellen.
„Na ja...weißt du...ich kam mit dem Dosenöffner nicht so ganz klar, also habe ich mir ein Beispiel aus der praktischen Physik genommen...und so lange mit der Dose gegen die Wand geschlagen, bis sie aufgegangen ist. Aber keine Angst, ich mach das wieder sauber, versprochen“, fügte er hastig hinzu, als er Rebeccas Blick bemerkte.
„Das sehe ich ja, wenn ich wieder da bin. Ich bin mal draußen, ruf mich an, wenn du das Mittagessen fertig hast. Bis dann.“
Sie hatte so schnell die Tür hinter sich zugeschlagen, dass Lucien gar keine Möglichkeit mehr hatte, etwas zu erwidern.
Immer noch kochend achtete Rebecca nicht darauf, wo sie hinlief und blieb schließlich vor einem kleinen Wäldchen stehen. Seltsamerweise war kein Laut zu hören, keine Vögel, kein Rascheln der Blätter oder Stimmen von Spaziergängern. Und seit wann war hier eigentlich ein Wäldchen?
Wo war sie hingelaufen? Der nächste Wald war über zwei Kilometer entfernt und so lang war sie noch nicht unterwegs gewesen.
„Verflucht, wo bin ich?“, fragte sie sich und sah sich um, nur um festzustellen, dass sie diesen Wald nicht kannte.
„Was zur Hölle geht hier vor?“, sagte Rebecca dann laut, um sich selbst ein wenig Mut zu machen und die drückende Stille zu vertreiben, die sie umgab. Doch auch das half nicht viel, denn es zeigte ihr nur die Einsamkeit auf, in der sie sich befand. Es war unheimlich, unheimlich und kalt, obwohl der Tag recht mild gewesen war.
Vorsichtig, um keine Geräusche zu machen, ging Rebecca weiter, sich immer wieder umsehend, ob sich nicht jemand einen Scherz erlaubte und hinter einem Baum lauerte.
„Das ist nicht lustig!“
Keine Antwort, die vollkommene Stille umgab sie immer noch und schien sich nicht vertreiben lassen zu wollen. Wie etwas...Lebendiges mit eigenem Willen. Etwas Böses, etwas, das ihr nichts Gutes wollte.
Rebecca begann zu rennen, denn instinktiv ahnte sie, dass sie in Gefahr schwebte, möglicherweise sogar in Lebensgefahr. Rannte fort von der unheimlichen Stille, der erdrückenden Einsamkeit und hoffentlich zurück in die lärmende Stadt, die ihr Schutz bieten konnte, doch es schien, als würde sie keinen Schritt vorwärts kommen.
Stattdessen begannen die Bäume sich zu biegen, zu ächzen und näher zu rücken, bedrohlich, wie ein Tier, das sich zum Sprung bereitmachte, um im richtigen Augenblick angreifen zu können.
Verzweiflung machte sich in Rebecca breit, Verzweiflung, nicht mit dem Leben davonzukommen, sollte sie es nicht schaffen, aus diesem Wald herauszukommen. Tränen flossen ihre Wangen hinunter und erschwerten ihr die Sicht, ebenso wie die Angst, die Rebeccas Blick einengte und sie nicht atmen ließ.
„Lucien!“, schrie sie, als plötzlich Reifen quietschten und ein lautes Hupen ertönte.
Augenblicklich blieb sie stehen und blinzelte verwirrt. Bis ihr auffiel, dass sie mitten auf einer dicht befahrenen Straße stand und der Mann, dem sie direkt vor das Auto gelaufen war, ausstieg.
„Bist du lebensmüde, Mädchen? Du kannst doch nicht einfach auf die Straße rennen!“, rief er zornig, bis er ihr tränenverschmiertes Gesicht und die noch nicht abgeebbte Panik in ihrem Blick sah. Er mochte vielleicht die falschen Schlüsse ziehen, doch sein Ärger schien im Nu verraucht.
„Bist du verfolgt worden, Kind?“, fragte er ernst und ging langsam auf Rebecca zu.
Ihr fiel in diesem Moment keine andere Ausrede ein für das, was passiert war, also nickte sie und blickte sich nach ihrem „Verfolger“ um. Gleichzeitig fragte sie sich, wie es ihr hatte passieren können, die Straße zu übersehen und im selben Moment zu glauben, in einem Wald festzustecken.
„Bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihnen so einfach vor das Auto gelaufen bin, aber ich war so in Panik, dass ich nicht mehr darauf geachtet habe, wo ich bin“, entschuldigte sie sich. „Ich sollte mich jetzt auf den Weg nach Hause machen, bevor der Kerl mich wiederfindet. Nochmals Entschuldigung.“
Bevor der Mann noch etwas erwidern konnte, war Rebecca auch schon fortgelaufen und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen.
Das, was sie erlebt hatte, konnte überhaupt nicht möglich sein, das widersprach jeglicher Vernunft! Und doch war Rebecca sich sicher, dass sie sich nichts eingebildet hatte. Aber was war dann geschehen?
Vollkommen verwirrt lief sie nach Hause, achtete dabei aber auf jede mögliche Veränderung ihrer Umwelt, damit sie nicht doch noch vor ein Auto lief, nur weil sie glaubte, auf hoher See zu sein oder ähnliches.
Erst kurz vor der Tür sah sie zufällig auf die Uhr und stellte erschrocken fest, dass sie über drei Stunden fort gewesen war. Lucien hatte in dieser Zeit zehn Mal angerufen, aber aus unerfindlichen Gründen hatte sie das Klingeln nicht gehört.
„Lucien, ich bin wieder da!“, rief Rebecca, als sie die Wohnung betrat und inständig hoffte, dass es wirklich ihre Wohnung war und keine Parallelwelt.
„Becky, Gott sei Dank! Warum gehst du nicht an dein Handy, ich hab zehn Mal versucht, dich anzurufen! Was war los?“, erwiderte er, als er aus dem Wohnzimmer gestürmt kam, das Telefon noch in der Hand.
„Du würdest es mir nicht glauben. Sei froh, dass ich noch lebe, ich bin fast überfahren worden“, sagte sie, als sie sich in der Küche auf einen Stuhl fallen ließ und die Augen schloss.
„Was ist dir passiert?“, fragte Lucien mit Grabesstimme und setzte sich ihr gegenüber.
„Du würdest mir nicht glauben“, wiederholte sie und sah ihn an. „Ich glaube es ja selbst kaum.“
Lucien zuckte mit den Schultern. Früher oder später würde Rebecca ihm schon erzählen, was vorgefallen war. Doch natürlich konnte er die ganze Sache auch beschleunigen.
„Du hast nicht zufällig nach mir gerufen, oder? Klang ziemlich verzweifelt, muss ich sagen. Aber vielleicht hab ich mir das auch nur eingebildet, weil ich mir Sorgen um dich gemacht habe.“
Er wusste, dass es ziemlich gewagt war, Rebecca zu berichten, was er gehört hatte, doch er spürte, dass sie ihm etwas verheimlichte.
„Was hast du gehört?“, wisperte sie und riss die Augen auf.
„Was schon? Du hast meinen Namen gerufen und dich dabei angehört, als wärst du in totaler Panik. Soll heißen, es hat sich angehört, als ob du meine Hilfe bräuchtest. Also, was war los?“
„Ich...ich...“
„Ja?“
„Ich weiß es nicht.“
„Du weißt es nicht?“
„Ja. Aber ich werde es dir trotzdem erzählen. Versprichst du mir, dass du mich nicht auslachen wirst?“
„Versprochen. Und jetzt schieß los.“
Kurz und knapp erzählte sie Lucien, was geschehen war und tatsächlich zog er noch nicht einmal zweifelnd die Augenbraue nach oben.
Als Rebecca geendet hatte, sagte er: „Seltsame Dinge scheinen hier vor sich zu gehen. Keine Angst, ich glaube dir, schließlich gibt es Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir nicht verstehen. Aber es beunruhigt mich, dass es jetzt alles zusammen kommt. Irgendwas muss das zu bedeuten haben.“
Rebecca zuckte nur mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich fast vor ein Auto gelaufen bin, weil ich nicht gemerkt habe, dass da die Straße ist. Und ich hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren, das Handy habe ich auch nicht gehört. Aber es klingt so...unglaublich, wenn ich behaupte, dass ich vielleicht in einer anderen Dimension war. Oder nicht?“
„Warum sollte es? Wir wissen nicht, ob es andere Dimensionen gibt oder nicht, wir wissen noch nicht mal, ob wir die einzigen „intelligenten“ Lebewesen im Weltraum sind. Warum sollte es da also keine Nebendimensionen geben?“
Rebecca verfiel in nachdenkliches Schweigen. Es stimmte, warum sollte es nicht sein können? Nur, weil man es bisher noch nicht bewiesen hatte? Die Menschen glaubten auch an Außerirdische, obwohl man bisher noch keine gesehen hatte.
„Okay...scheiß auf die allgemeine Meinung, ich war in einer anderen Dimension“, sagte sie schließlich. „Und was fangen wir jetzt mit dieser Information an?“
„Ich habe keine Ahnung“, gestand Lucien und zog die Schultern nach oben. „Vielleicht passiert es wieder, vielleicht auch nicht, wer weiß. Aber eins weiß ich ganz genau: Ich habe Hunger!“, sagte er, als sein Magen zu rumoren begann.
Obwohl sie sich eigentlich gar nicht danach fühlte, musste Rebecca lachen.
„Komm, ich mach uns was. Nicht, dass du mir noch verhungerst und ich dann ohne dich dastehe.“
Lucien erwiderte das Lachen und begann, den Tisch frei zu räumen. Er wusste ganz genau, dass Rebecca nicht ganz Unrecht hatte, vor allem nach dem Debakel vom Mittag, das er nur mit Mühe und Not hatte beseitigen können.
Es war schon nach acht, als die beiden fertig waren mit essen und den Tisch abräumten.
„Lucien“, sagte Rebecca und gähnte, „ich glaube, ich gehe schlafen. Es ist zwar extrem früh, aber ich schlafe gleich im Stehen ein. Ich hoffe, es macht dir nichts aus.“
„Nein, geh nur. Ruh dich aus, morgen wird wieder ein anstrengender Tag. Ich mach hier noch den Rest und meinen Schulkram, dann werde ich auch gehen.“
Rebecca stand schon in der Tür, als sie noch einmal stehen blieb und sich umdrehte.
„Würdest du heute Nacht bei mir schlafen, Lucien? Ich weiß nicht, aber...mir wäre dann wohler ums Herz.“
Lucien stutzte für einen Moment, nickte dann aber.
„Klar, alles, was du willst. Du hast für heute genug hinter dir. Geh schon mal vor, ich komm dann nach.“
Rebecca schlich, von einer bleiernen Müdigkeit ergriffen, in ihr Zimmer, fiel auf ihr Bett und war sofort eingeschlafen.
Sie wachte auch nicht auf, als Lucien sich zu ihr legte und sie vorsichtig in die Arme nahm. Nur ein Zittern verriet, dass Rebecca in dieser Nacht erneut Alpträume durchlitt.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.01.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /