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Ein Tag im Sommer

Es ist ein schöner Sommertag. Zu allen Seiten nur blauer Himmel und die spiegelglatte Oberfläche des Meeres. Einzig die seichten Wellen erinnern noch an die Stelle, an der unser Boot war. Die Sonne scheint, doch das Wasser, das meine Kleidung so schwer macht und meinen Körper hinabzieht, lässt mich vor Kälte zittern.

So fühlt es sich also an, wenn alles zu Ende geht.

 

Die letzten Monate habe ich mich vor diesem Moment gefürchtet. Ich hatte panische Angst. Immer. Keine Sekunde verging, in der ich mich nicht um mein Leben und das meiner Familie gesorgt habe. Aber das ist nicht mehr nötig. Meine Familie gibt es nicht mehr und mein eigenes Leben ist jetzt auch vorbei.

Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, hat meine Eltern unter sich begraben. Übrig ist nur noch ein Haufen aus Schutt und Asche. Die ganze Straße, die Häuser meiner Nachbarn und Freunde wurden zerstört. Alles, was ich hatte, alles, was mein Leben ausmachte, ist weg.

Vielleicht ist es deshalb nicht so schlimm. Niemand wird mich vermissen. Niemand muss um mich trauern, weil es niemanden mehr gibt, der weiß, wer ich bin. Das ist gut, denn ich habe selbst gespürt, wie sehr Traurigkeit einen Menschen innerlich zerreißen kann.

Mit jedem weiteren Verlust wurde mein Herz schwerer und meine Brust enger. Nicht heulen. Nur atmen. Einfach weitermachen. Nicht schwach sein. Wer schwach ist, stirbt. Und ich wollte nicht sterben. Ein törichter Wunsch in der heutigen Zeit.

Es hieß, wer leben will, muss fliehen. Also sind wir geflohen. Es gab sowieso keinen Ort mehr, an dem wir hätten bleiben können.

 

Das kalte Wasser kribbelt in den schlecht verheilten Wunden auf meinem Rücken. Es erinnert mich an die Splitter, die dort in meine Haut drangen, als ich mich schützend über den kleinen Körper meiner Schwester warf. Es war knapp, aber wir haben die Bomben überlebt. Sie verlor ihren Unterschenkel und ich kam mit tiefen Schnittenwunden davon. Heftig zitternd zog das tapfere Mädchen die Splitter aus meinem Fleisch und ich versorgte ihr Bein, so gut ich konnte. Für ein paar Wochen konnten wir so dem Tod entkommen. Sie war tapfer, hat nie geweint und ganz egal, wie schlimm es uns ging, sie hatte immer ein Lächeln für ihren großen Bruder übrig. Sie hat gekämpft bis zum Schluss und nur ihretwegen machte ich ebenfalls weiter.

Doch wofür? Wäre ich damals einfach gestorben, hätte ich nicht so viel Leid ertragen müssen.

Ich habe versagt. Ich wollte sie beschützen. Ich habe sie in Sicherheit gebracht und ihr zu essen besorgt, doch gegen die Entzündung und das Fieber war ich machtlos. Das Krankenhaus, in dem ich früher gearbeitet hatte, war zerstört. Es gab keinen Ort, an dem man ihr helfen konnte. Auch all mein Wissen über Medizin reichte nicht aus, um sie zu heilen. Es gab keine Möglichkeit, an Medikamente oder Desinfektionsmittel zu kommen. Ich wusste ganz genau, was zu tun war, aber mir fehlten die Mittel. Hilflos musste ich mit ansehen, wie sie starb und es hat mich fast auch umgebracht. Doch ich musste ihr versprechen, es allein zu versuchen. Sie bat mich, weiterzukämpfen, damit wenigstens einer von uns überleben würde.

 

Hinter dem Meer ist es besser. Dort gäbe es keinen Krieg. Immer wieder hörte ich von anderen, dass man es nur über das Meer schaffen müsse. Dann würde alles besser. Das machte mir wieder Hoffnung und ich schloss mich ihnen an und wanderte Richtung Küste. Für meine kleine Schwester, für meine Eltern, für meine ganze Familie.

Ich habe Landesgrenzen durchquert, jede Arbeit angenommen, die ich finden konnte und letztendlich alles, was ich hatte, für diese Überfahrt bezahlt. Für eine vage Hoffnung auf eine Zukunft, ein winziges Fischerboot, dass unzählige Menschen über das Meer bringen sollte. Hätte ich nur eine Sekunde nachgedacht, hätte mir klar sein müssen, dass es Wahnsinn ist, in dieses Boot zu steigen. Aber was hätte ich sonst tun sollen? Es gab keine Alternative, nur den Tod.

 

Auf dem Boot war es so eng, dass ich eine junge Frau auf meinen Schoß nehmen musste. Es ging ihr nicht gut und ich habe versucht, sie zu beschützen und nachts warmzuhalten. Doch mit jedem Tag auf dem Wasser wurde sie schwächer. Ich hoffe, sie starb in dem Moment, in dem sie ins Wasser fiel.

 

In meinem Studium habe ich gelernt, dass es nur eine, maximal zwei Minuten dauert, bis man sich nicht mehr gegen den Impuls, Luft zu holen, wehren kann. Wie lange mir wohl noch bleibt? Mein Zeitgefühl funktioniert nicht mehr. Bewegen kann ich mich kaum noch. Aber auch das ist normal.

Es ist merkwürdig, die Dinge jetzt zu erleben, über die ich vor einiger Zeit gelesen habe. Damals wollte ich lernen, wie ich Menschen retten kann, die fast ertrunken wären und jetzt bin ich einer dieser Menschen. Doch mich wird niemand retten. Immer tiefer durchdringt die Kälte meinen Körper und der Druck auf meine Brust nimmt zu.

Jemand greift nach mir. Große, kräftige Finger, wahrscheinlich von einem Mann, schlingen sich um meine Hand. Er klammert sich an mich, sucht Halt und einen Funken Hoffnung. Aber auch er versucht nicht mehr, nach oben zu kommen. Dort oben ist auch nichts, was uns helfen könnte. Hier unten ist es wenigstens ruhig, fast schon friedlich. Man hört niemanden schreien oder weinen. Alles ist still. Da ist nur dieser Mann, dessen Körper sich an mich presst und mich so ein wenig wärmt.

Noch nie war ich einem Fremden so nah, erst recht keinem Mann. Vielleicht ist er gar nicht echt? Viele Ertrinkende haben Halluzinationen, wenn es zu Ende geht. Dennoch mildert seine Anwesenheit die Angst. Ich versuche in seine Augen zu sehen, doch durch das dunkle Wasser kann ich kaum etwas erkennen. Er ist einfach da und hält mich. Genau wie ich ihn. Ich will ihn nicht loslassen, aber es wird immer schwerer, ihn nicht zu verlieren. Meine Arme gehorchen mir nicht mehr und für einen Moment droht mir der Fremde zu entgleiten. Doch dann packt seine Hand wieder meine. Fest verschlingen sich unsere Finger ineinander und zum ersten Mal in meinem Leben spüre ich ein so tiefes Gefühl der Zusammengehörigkeit, dass es mich von innen heraus wärmt. Als würden wir gemeinsam leuchten und den alles verschlingenden Ozean erhellen, bevor es für immer dunkel wird.

Der Drang zu atmen wird immer stärker und doch geht es nicht. Ich weiß, dass es mein Ende wäre und irgendwie schaffe ich es nicht, meine Lungen tun zu lassen, wozu sie mich zwingen wollen. Der Griff um meine Hand wird wieder schwächer.

Nein! Lass mich nicht allein!

Ich möchte schreien! Ich möchte in die Welt hinausbrüllen, wie ungerecht sie ist. Wieso hat sie mir alles genommen, ganz langsam und qualvoll, nur um mich jetzt hier sterben zu lassen?

Plötzlich öffnen sich Mund und Nase, ohne dass ich etwas dagegen tun könnte. Ich ersticke! Wasser strömt in meinen Körper, Hustenkrämpfe schütteln mich und die Hand, die eben noch meine hielt, ist fort. Die Wärme des Fremden fehlt mir.

Mein Körper gehört nicht mehr zu mir. Ich spüre ihn kaum noch. Träge fließen die Gedanken dahin, tanzen um mich herum wie kleine, glitzernde Feen mit Gesichtern so hübsch und unschuldig, wie das meiner kleinen Schwester. Ihre zarten Flügel sind wunderschön. Fast kann ich ihr helles Lachen hören, so wie damals in unserem Garten, als sie an einem wundervollen Sommertag wie diesem in den kleinen Pool sprang und alle um sich herum nass spritzte. Unzählige, im Sonnenlicht funkelnde Wassertropfen, die sich mit dem dunklen Meer vermischen und die Welt in sich auflösen.

Impressum

Texte: Coco Zinva
Bildmaterialien: Coco Zinva
Tag der Veröffentlichung: 01.07.2016

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