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Vertraute des Vargs: Fremder Alpha

Aus der Reihe

Vertraute des Vargs

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Alessandra Storm

Fremder Alpha

- Teil I -

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Prolog

Maine, Zukunft

 

Kein Schmerz setzte ein.

Der andere konnte Connor gar nicht getroffen haben. Die Klauen des Angreifers mussten seinen Hals verfehlt haben.

Doch Connor hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Die fünf wilden Vargs griffen immer wieder an und ließen nicht locker. Er sah zu seinen ehemaligen Rudelmitgliedern, doch Nathan und Jackson erging es noch schlechter als ihm selbst. Nathan war bereits völlig geschwächt und dennoch versuchte er Jackson zu verteidigen. Dieser lag schwer atmend und mit verdrehtem Bein auf dem Boden hinter Nathan. Die beiden brauchten Connors Hilfe, denn sonst würden sie in kurzer Zeit erledigt sein, denn Nathan konnte sich und Jackson nicht gegen seine beiden Angreifer verteidigen.

Connor spannte sich an und behielt den größten seiner Gegner im Blick, der sich für einen neuen Angriff bereit machte. Die gelben Augen des fremden Vargs waren genauso wirr wie die der anderen. Connor wusste, dass dieser Varg völlig ausgehungert und verwahrlost war.

Doch er hatte es versucht.

Er hatte versucht, sie zu stoppen und zu vertreiben. Aber es hatte nicht funktioniert. Jetzt war er an einem Punkt, wo er keine Gnade mehr zeigen konnte. Denn sonst würden sie seine Freunde töten. Und ihn selbst vermutlich auch.

Und dann würde er sie nie wiedersehen…

Ohne weitere Rücksicht warf er sich mit voller Kraft auf den Angreifer, so dass er ihn unter lautem Krachen der Knochen unter sich begrub. Ohne es heraus zu zögern schlug er seine Zähne in das dichte Fell am Hals, als der unter ihm festgenagelte Varg versuchte nach ihm zu schnappen. Das Blut spritzte ihm entgegen und innerlich musste er sich überwinden, auch das letzte bisschen Druck auszuüben, so dass seine Fänge tief genug ins Gewebe eindrangen. Er suchte den Blickkontakt mit seinem Feind, doch da war nichts. Kein Verstand, keine Furcht, keine Trauer. Sondern nur Wut. Also tat er seine Pflicht, den tödlichen Rest: Mit einem Ruck zerfetzte Connor die Aorta.

Der große, braune Varg röchelte, rollte sich zur Seite und kroch etwas abseits. Connor schmeckte das Blut im Mund, das ihm vorkam wie metallische Säure. Sein Magen rebellierte.

„Hilf mir!“, brüllte Nathan hinter ihm.

Connor schnellte herum, um zu sehen, dass der jüngste und schnellste Varg der angreifenden Gruppe Jackson wieder am Bein erwischt hatte. Jackson was bewusstlos und hatte bereits wieder menschliche Gestalt angenommen. Er zuckte noch nicht einmal mehr, als die scharfen Fänge sein Fleisch und seine Sehnen zerbissen und er weggezerrt wurde.

Sich zusammenreißend, rannte Connor auf den fremden Angreifer zu, schleuderte ihn von Jackson weg. Ignorierte seine Gewissensbisse, dass dieser Gegner noch ein halbes Kind war. Nathan rang in dieser Zeit seinen verbleibenden Gegner nieder und schaffte es ihn zu töten. Connor holte rasselnd Atem, als er sich über Jackson aufbaute.

Das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer.

Er wollte die wilden Vargs nicht töten. Diese Vargs stammten aus keinem bekannten Rudel, waren nicht ihre Feinde. Das hier wäre vermeidbar gewesen. Ein Fehler. Wie so viele in letzter Zeit. Seine Sicht verschwamm.

Connor bekam jetzt kaum noch Luft. Sein Hals brannte, zog sich fest zu. Es fühlte sich an, als würde eine bepanzerte Ritterfaust seinen Hals zerquetschen. Doch der Kampf war noch nicht vorbei. Die Wilden, die Connor zurückgelassen hatte, waren ihm gefolgt. Einer von ihnen attackierte nun Nathan. Dieser steckte einen Hagel an Schlägen und Krallenhieben ein, die er kaum parieren konnte. Connor knurrte auf und griff ein. Taumelnd, aber mit nur einem kraftvollen Hieb ließ er den fremden Varg gegen einen Baum fliegen. Der Schlag war gezielt auf die Wirbelsäule gekommen. Der Angreifer war tot durch Genickbruch.

Connor schöpfte Atem. Nun waren noch drei wilde Vargs übrig. Zwei, noch blutjung und eingeschüchtert, nahmen nun endlich Abstand, doch der älteste von ihnen baute sich vor Connor auf. Dabei war dieser ältere Wilde bereits schwer mitgenommen.

Wieso kämpfte der Wilde immer noch weiter, obwohl zwei seiner Verbündeten tot waren und die anderen beiden aufgeben wollten? Er musste doch wissen, dass er sterben würde, wenn er wieder angriff. Und tatsächlich schnappte er wieder ohne Sinn und Verstand nach Connor.

Auch diesen wollte er nicht töten, aber wenn er nicht aufhörte, war das der einzige Weg. Connor würde das Rudel ohne Kompromisse beschützen und er konnte nicht zulassen, dass die Wilden entkamen und eventuell sogar Menschen anfielen. Sie waren viel zu nah an der kleinen Stadt.

Plötzlich hörte er Nathan aufbrüllen. Gleichzeitig witterte er einen neuen Duft. Mehrere. Da kamen noch mehr Wilde. Mindestens vier weitere. Dann hieß es also zwei gegen sieben.

Sie brauchten Hilfe! Sofort.

Doch seine Brüder waren meilenweit entfernt. Wenn er Nathan und Jackson zurückließe, um Verstärkung zu holen, würde es für sie zu spät sein. Dann müsste er auch gar nicht mehr mit Hilfe zurückkehren.

Also musste er es mit den Feinden aufnehmen, doch seine Lungenflügel schienen kaum noch zu arbeiten, als käme keine Luft mehr bei ihnen an.

„Nathan, schaffst du es Hilfe zu holen, wenn ich bei Jackson bleibe?“, fragte er den älteren Varg, der zwar auch verletzt, aber noch zum Rennen im Stande war.

„Wenn ich gehe, dann…“, wandte Nathan ein.

„Schaffst du es hier raus?“, fuhr er den älteren Mann scharf an.

„Ja“, damit sah er sich abschätzend um. Die Neuankömmlinge waren noch weiter weg. Während Connor den älteren Wilden jetzt attackierte, gab er Nathan ein Zeichen, woraufhin dieser aufsprang und zwischen den Bäumen verschwand. Dabei brüllte Connor laut, damit die Feinde nicht auf Nathan achteten, sondern nur auf ihn. Es funktionierte. Zwei neue Vargs erschienen zwischen den dicht stehenden Kiefern und liefen ungeduldig auf und ab.

Zur Warnung knurrend stellte er sich nun vor den bewusstlosen Jackson, zog die Lefzen hoch, damit sie seine Zähne sehen konnten. Einer der Ankömmlinge wimmerte und zog sich zurück. Auch er war blutjung und hatte Angst. Sein Zustand war noch nicht so schlimm wie der des anderen. Dieser war ergraut, mager und hatte den gleichen wirren Ausdruck in den Augen. Und er fixierte Jackson.

Connor musste schnell handeln, denn er hatte das Gefühl, dass ihm selbst bald die Lichter ausgingen. Seine Sicht verschwamm immer wieder. Das Atmen war für Connor eine Qual.

Seine Schwäche nutzend griffen die zwei der älteren Vargs unvermittelt an. Einer sprang ihn von hinten an, während der andere ihn frontal anging. Sein Ziel war Connors Hals, während der andere versuchte ihm von hinten in die Beine zu beißen. Den vorderen fing er im Sprung noch ab, griff ihn an der Gurgel und presste ihn auf den Boden. Dieses Mal verschwendete er keine Zeit. Er erledigte ihn mit einem gezielten Schlag mit den Klauen. Den anderen, es war der ältere ergraute, trat er weg. Dieser jaulte auf, doch Connor setzte ihm nach. Da dieser Wilde schwach war, konnte Connor ihm fast ohne Gegenwehr das Genick brechen.

Mit gefletschten Zähnen kauerte er sich nieder und hoffte, etwas Kraft schöpfen zu können, bevor sie wieder angriffen. Mittlerweile hieß es wieder fünf gegen einen, obwohl er bereits so viele erledigt hatte. Denn es waren neue nachgekommen, die die jüngeren Vargs angrollten, dass sie kämpfen sollten. Und nach kurzem Zögern, machten sich diese zum Sprung bereit. Connor kniff die Augen zusammen, versuchte sich zu konzentrieren. Aber alles, woran er denken konnte, war, dass Bekka hunderte von Meilen von ihm entfernt war. Dass er sein Kind niemals kennenlernen würde. Dass er niemals verlieren durfte.

Alle fünf griffen zeitgleich an. Er schüttelte sie ab und konzentrierte sich auf den nächststehenden. Doch seine Sicht wurde immer verschwommener und seine Bewegungen fahriger. Dennoch erwischte er ihn und schlitzte ihm den Unterleib auf. Der Hieb war tödlich. Connors Atem blubberte und er bekam es mit der Angst zu tun. Seine Hand glitt nach oben an seinen Hals.

Blut. Unmengen an Blut.

Jetzt spürte er den Schmerz. Der Gegner hatte ihn am Anfang doch erwischt.

Wieder wurde er angriffen. Connor wusste, dass er trotz der überlegen Zahl und seiner Verletzung gewinnen konnte. Noch konnte er kämpfen. Es musste nur alles sehr schnell gehen. Also riss er den nächsten an sich und schlitzte ihm sofort den Hals auf. Er musste nur durchhalten, bis die anderen kamen. Sonst würden Jackson und er selbst sterben.

Und Bekka und sein Kind…

Rot trübte sein Sichtfeld.

Noch drei Gegner.

Noch stand er auf seinen Beinen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

Alaska, Gegenwart

 

Voll konzentriert saugte sie unbewusst die Unterlippe zwischen die Zähne und lehnte sich etwas zurück. Da sie kaum Platz hatte und viel zu viel Material, hatte sie kaum kreative Möglichkeiten. Also musste sie pragmatisch denken.

„Bekka?“

Seufzend entschloss sie sich, dass sie ihre neueste Idee aufgeben musste.

„Rebekka?“, erklang hinter ihr die Stimme von Adeline. Immer noch in Gedanken drehte sie sich auf der kleinen Trittleiter zu ihrer Cousine um, die eigentlich von allen nur Ade genannt wurde. Bekka und Ade sahen sich in keiner Weise ähnlich und waren auch sonst ganz verschieden.

„Ich hab schon tausendmal deinen Namen gerufen!“, beschwerte sich Ade mit vor der Brust verschränkten Armen. Doch ihr Blick war eher besorgt. Bekka räusperte sich und stellte dann die Dosen mit Erbsen wieder hin, die sie im rechten Arm gestapelt hatte. Dieser schmerzte auch langsam, wie ihr nun auffiel.

„Tut mir leid, ich war so in Gedanken!“, erklärte sie verlegen und wischte die Hände an ihrer Jeans ab.

Ihre Cousine sah sie belustigt an. „Aber was tust du denn schon wieder? Als ich dich vor einer Stunde gesehen habe, saßt du gemütlich im Wohnzimmer und hast gesagt, du wolltest mal wieder ein Buch lesen. Und als ich dann den letzten Kunden fertig hatte, bist du verschwunden…“

„Ja, ich habe festgestellt, dass ich seit Jahren kein Buch gelesen habe, weil ich einfach nicht so lange still sitzen kann.“

Und außerdem konnte Bekka nicht herumsitzen, weil sie nicht nachdenken wollte. Jede Ablenkung kam ihr recht und wenn es das Sortieren von Dosen war.

Schuldbewusst kam sie von der Trittleiter herunter, weil sie ein einziges Chaos veranstalte hatte. Überall standen Konserven auf dem Boden.

Ade streckte ihren langen Hals, um über die Regale zu sehen. Da ihre jüngere Cousine um einiges größer war als sie selbst, konnte Ade vermutlich ihren Vater hinter den Regalen sehen, der an der Kasse des Ladens saß.

„Hi Daddy!“

„Hallo Kleines, wie war es im Laden?“, hörte Bekka die Stimme ihres Onkels.

„Ach, nur die üblichen zwei Nervensägen“, rief Ade ihrem Vater zu.

„Nimmst du Rebekka wieder mit? Ich sagte ihr, dass sie sich nicht die Mühe machen muss.“

Jetzt musste Bekka sich doch einschalten und lief den schmalen Gang zwischen Wand und Regal entlang, bis zum Hauptgang, von dem aus man die Ladentheke und Onkel Gerard dahinter sehen konnte.

„Ich wollte dir keine Umstände machen!“, beteuerte sie. Der Mann war Mitte sechzig und es türmten sich Kartons mit Lebensmitteln, die eingeräumt werden mussten.

Gerards Augen blitzen amüsiert durch seine Brille, die er nicht nötig hatte. Doch er mochte die blaugetönten Gläser. Im Grunde war es erschreckend, wie ähnlich Gerard seinem Bruder, Bekkas Vater, sah. Obwohl sie einige Jahre trennten, hätten sie Zwillinge sein können. Dieselbe mittelgroße, aber breitschultrige Gestalt und das wilde Haar, was irgendwie nie ordentlich aussah.

„Ich weiß ja, meine Liebe! Aber du hast dir mehr Arbeit gemacht, als nötig war.“

Bekka wurde etwas rot. Sie hatte nur die Dosen mit dem Mais einräumen wollen, aber dann hatte sie die Sortierung des Regals verrückt gemacht. Alles stand einfach nur da. Kokosmilch neben Mais hatte ihr Magenschmerzen bereitet - also hatte sie Gemüse, Obst und anderes auseinander sortiert. Und dann nach optisch ansprechenden Farben wieder einsortiert. Aber dann standen die Gemüsesorten wieder nicht bei einander…

„Soll ich es wieder einräumen? So wie es war?“

Ihr Onkel lachte nur. „Räum es ein, wie du möchtest. Ich werde dir helfen…“

Als er sie nehmen wollte, hob Bekka die Hände: „Um gar keinen Fall, ich wollte dir nicht mehr Arbeit machen, sondern welche abnehmen!“ Bekka begriff selbst, dass sie eine Nervensäge war. Seit sie vor einer Woche völlig überraschend hier in Alaska aufgetaucht war, hatte sie das Gefühl, dass sie allen im Weg stand.

Ade schüttelte den Kopf und fing an, die Einmachgläser mit den Gurken einzuräumen.

„Wir sind zu zweit schneller fertig!“, sagte Ade grinsend, „Du hast dir entschieden zu viel Mühe gegeben. Hier in unserem kleinen Ort leben doch nur Landeier! Außerdem kommen sie zum Quatschen und wären traurig, wenn sie alles im Regal an Ort und Stelle fänden. Sie wollen doch noch miteinander lästern, anstatt schnell alles zu finden und wieder gehen zu müssen.“

In der Tat hatte die letzte Kundin nur mit Gerard geredet und dann noch ein bisschen mit ihr, bevor sie dann etwas Kleingeld für Salz dagelassen hatte. Schweigend räumten Ade und sie weiter ein, während Onkel Gerard schmunzelnd rausging, um eine zu rauchen.

„Du kannst wirklich nie die Füße still halten, oder?“, stellte Ade fest und strich ihr schweres, dunkelblondes Haar hinter die Ohren. „Ich könnte ja tagelang nur rumliegen und fernsehen.“

So sah Ade nicht aus. Eher als würde sie täglich stundenlag trainieren. Die Frau hatte Beine wie diese Covermodels. Dafür sollte man sie hassen, dachte Bekka für sich. Bei dem gehässigen Gedanken musste sie lächeln und an April denken. Sie vermisste ihre beste Freundin zum Lästern. Doch April lebte wie ihre andere beste Freundin Mia in dem Ort, den sie ihr Zuhause nannte.

Aber sie würde eine ganze Weile nicht mehr zurückgehen.

„Ich bin nicht hier, um Urlaub zu machen, weißt du? Ihr könnt mir ruhig eine Aufgabe geben, so fühle ich mich nur, als würde ich mich aushalten lassen.“

„So ein Blödsinn!“, Ade schüttelte den Kopf vehement. Kopfschütteln war bei ihr die typische Geste. Eine dieser Personen, die auch beim Ja-Sagen, den Kopf zur Bestätigung schütteln.

„Wir freuen uns alle, dass du hier bist! Es ist schön, dass wir uns mal wiedersehen. Das letzte Mal ist mindestens zehn Jahre her!“

„Ja, das ist wahr“, murmelte Bekka leise, als sie an den letzten Besuch hier dachte. Das war damals kurz nachdem Seth das Rudel endgültig übernommen hatte und sie und Connor endlich mal Zeit für sich gehabt hatten. Sie waren mit einem geliehenen Wohnwagen durch Kanada bis hier her nach Alaska gefahren. 

Die Erinnerung schmerzte sie.

Überhaupt fühlte sie sich elend und konnte kaum an etwas anderes denken, als an Connor und wie es nun mit ihnen weitergehen würde. Jede Nacht lag sie wach und vermisste ihn so sehr, dass sie meistens wieder aufstand und etwas tun musste. Erst, wenn sie nah der Erschöpfung war, konnte sie ins Bett und einschlafen. Kaum zu glauben, dass sie erst vor einer Wochen hier hergekommen war. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, in der sie nicht mit Connor gesprochen hatte. Doch sie hatte ihm gesagt, dass sie erst wieder kam, wenn sie glaubte, dass er mit sich im Reinen sei. Seitdem hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Weder er noch sie hatten versuchte, den anderen anzurufen.

 

„Komm, wir sind fertig!“, sagte Ade und stieß sie mit dem Ellenbogen an. Bekka blinzelte. Tatsächlich war alles wieder eingeräumt. Nachdenklich sah sie zu ihrer Cousine, die ihre riesige Ledertasche über die Schulter warf und sie auffordernd anstarrte.

„Wir gehen etwas spazieren!“, beschloss diese, als Bekka keine Anstalten machte sich zu bewegen und fasste sie am Arm. So dirigierte Ade sie vor den Laden.

Es war noch recht kühl für Anfang April und die Sonne würde bereits bald wieder untergehen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite spielten zwei Jungs Baseball. Und ein junger Mann putzte die Fenster des Friseursalons, der Ade und ihrer Mutter gehörte. Als ein Ball ihn am Kopf traf, kicherten die Jungs.

Ade schnaubte und zog Bekka mit zu dem jungen Kerl, der ausdruckslos die Kinder anstierte. Sein Gesicht zeigte rote Flecken.

Jake war vielleicht sechszehn Jahre und Ades kleiner Bruder. Sein dunkelbraunes, glattes Haar war viel zu lang und fiel in sein noch ziemlich kindliches Gesicht. Allerdings überragte er Ade um einiges, was ihn für Bekka ziemlich groß machte. Aber sie war an große Jungs gewöhnt. In der Tat erinnerte er sie an Cameron, bevor er von heute auf morgen nicht mehr ein schlaksiger Teenager gewesen war. Er wurde Connor immer ähnlicher.

„Lässt du dich etwa von diesen beiden kleinen Teufeln ärgern, Jake?“

Ades kleiner Bruder sah sie nur missmutig an. „Ich spiele mit dem Gedanken, sie zu beißen. Mal sehen, ob sie das auch so lustig finden würden!“ Er funkelte zu den beiden, die sich aber nun lammfromm den Ball zu warfen.

„Kannst du Mama sagen, dass ich mit Bekka spazieren gehe und wir nicht mehr zum Essen kommen werden?“, bat Ade ihren Bruder, „Es kann etwas dauern und wir essen vielleicht drüben bei Pete.“

„Sag es ihr doch selbst…“, brummte der Teenager.

Seine Schwester ließ ihn nicht ausreden, sondern gab ihm einen Klaps auf die Stirn. Bei dem Knall ihrer Finger auf seiner Stirn zuckte Bekka mit Jake mitleidig zusammen.

„Brav sein, Jacky! Du hast noch Bewährung. Kannst froh sein, dass Taylor so barmherzig ist – bei mir hättest du eine ordentliche Strafe bekommen! Und putz schön weiter, wehe auf dem Schaufenster sind nachher noch Streifen! Die Kundschaft bleibt sonst aus.“

Jetzt sah der Junge erst recht beleidigt aus. Er mied Bekkas Blick wie ein Welpe, der mit der Zeitung verscheucht worden war. „Ich gebe mir ja schon Mühe!“

Als er sich runter beugte um den Putzlappen auszuwaschen, murmelte er allerdings weniger reumütig, dass es nur einen Frisör im Ort gab und die Kundschaft eh kommen würde - egal, wie das Fenster aussah.

„Jaja“, sagte Ade nur lapidar und zog Bekka weiter mit sich die Straße entlang. Als sie bei den Jungs vorbei kam, meinte sie: „Werft auf den Eimer mit dem Putzwasser!“

Das Knurren, das hinter ihnen ertönte, überraschte Bekka nicht. Die Cousinen mussten nun beide lachen.

 

Sie liefen eine Weile, bis die Straße grade aus Richtung Wasser führte und es etwas weniger Häuser wurde. Am Ende der Straße war Petes Haus und sein kleines Restaurant, wo man Fisch und Burger essen konnte. Im Sommer wie auch im Winter gab es alles vom Grill.

„Willst du reden?“, erkundigte sich Ade abrupt.

Komisch, dachte Bekka, sonst wollte sie immer reden. Aber seitdem sie hier war, hatte sie dafür keinen Bedarf.

Ihr Blick glitt über das weite Meer und den steinigen Strand. Einige Boote waren draußen. Außer den Fischern machte gerade ein Fischadler Beute. Bekka beobachtete, wie das Tier sich nach einer kurzen Landung auf dem Wasser mit seinem Fang wieder erhob. Das Wasser konnte sie trotz der Entfernung aus seinem Gefieder rinnen sehen. Es war schön, so nah am Wasser zu sein. Bei ihnen zu Hause war nur Wald. Die Seen in der Gegend waren zwar riesig und zahlreich, aber Bekka war schon lange nicht mehr draußen zum Wandern oder Bootfahren gewesen. Auch nahm Connor sie nicht mehr mit in die Wälder. Früher waren sie tagelang zusammen draußen gewesen.

„Du willst wirklich nicht darüber reden, oder?“, meinte Ade nun etwas einfühlsamer. Sie schob die Hände in die Taschen ihrer roten, dicken Jacke.

Von hier aus konnte man Togiaks Küste fast sehen. Das war die nächste Stadt, zu der sie hin und wieder fuhren. Bis dahin hatte Mia sie begleitet, bevor

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Alessandra Storm
Bildmaterialien: Alessandra Storm
Cover: Pat Cellar
Lektorat: Pat Cellar
Tag der Veröffentlichung: 18.01.2019
ISBN: 978-3-7438-9374-0

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Der kleinen Wölfin, die mein Leben mit so viel Liebe bereichert hat.

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