Aus der Reihe
Vertraute des Vargs
Alessandra Storm
Süße Begierde
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„Sei ein braver Junge!“, gurrte sie und lockte ihn mit ihrem Zeigefinger zu sich. Dabei bewegte sie sich verführerisch lächelnd rückwärts, damit er ihr folgte. Doch dunkelbraune Augen sahen ihr nur nachdenklich hinterher, ohne sich zu rühren.
Also drehte April ihren Charme voll auf: „Na, komm schon, mein Großer!“
Doch er reagierte immer noch kein bisschen. Frustriert warf sie die Hände in die Luft und wies dann nochmal auf den fast überlaufenden Napf. „Das ist sogar dieses teure Gourmet-Futter, das du so liebst. Komm schon, Watson, lass mich nicht hängen! Bitte!“
Der braune, alte Boxer sah sie weiterhin nur an, als sei sie mitleidserregend. Womit er vermutlich recht hatte. Aber April war nun mal nicht das, was man einen Hundemensch nannte und wusste nie so genau, was man den Vierbeinern tun sollte. Dieses Spiel, in dem sie versuchte, ihn von der Wohnungstür wegzulocken, die sich eben nur nach innen öffnen ließ, spielten sie regelmäßig. Und es stand ungefähr 23 zu 4 für Watson.
Genervt schielte sie zum Fenster. Natürlich war das peinlich, doch sie hatten das Spiel schon oft genug gespielt. Einmal hatte sie versucht, ihn an den Vorderfüßen von seinem Lieblingsplatz an der Eingangstür fortzuziehen, hatte aber aufgegeben, als er dabei schmerzerfüllt gejault hatte. April wusste ja, dass er Probleme mit der Hüfte hatte, aber so wirklich abgekauft hatte sie ihm das Theater nicht. Watson war einfach gerissen und wusste, wie er seinen Willen bekam.
Also nahm sie mal wieder das Fenster, denn für diesen Kampf war sie noch zu müde! Noch nicht mal einen Kaffee hatte sie gehabt!
April wohnte im ersten Stock und konnte über die alte Feuerleiter runterklettern. Die Wollmütze tiefer ziehend und den dicken Schal feststopfend, schob sie das Fenster hoch und sah sich nochmal funkelnd zu dem männlichen Wesen um, mit dem sie nun bald unfreiwillig ein Jahr alleine lebte. Seit sich Richard entschieden hatte, dass er mehr auf blonde, taffe Karrierefrauen stand. Sie könnte würgen, wenn sie daran dachte.
„Egoistischer Mistkerl“, schimpfte sie und schlüpfte mit den Beinen zuerst durch den Spalt. Watson sah sie nur schnaubend an.
Eine böse Grimasse für ihn schneidend zog sie den Oberkörper nach. Als sie sich umdrehen wollte, knallte ihre Schulter allerdings erst gegen etwas Hartes und Großes und dann klatschte ihre Wange gegen bloße, warme Haut.
April kreischte erschrocken auf, stolperte von demjenigen weg, wobei sie die Augen schloss. Dann fing sie sich wieder und sah nach, gegen wen sie gestoßen war. Doch auf Augenhöhe vor sich war nur eine nackte Männerbrust. Sie blinzelte und konzentriert sich auf das Gesamtbild. Vor ihr stand ein Mann im Adamskostüm. Besagter Mann hielt eine schützende Hand vor seine Schamregion, während er sich mit der anderen die Rippen rieb.
„Ganz schön harter Kopf!“, lobte sie eine tiefe Stimme.
Aprils Augen weiteten sich zusehends mehr und mehr, als sie ihn erkannte. Der nackte Kerl auf ihrer Feuerleiter war der Mieter von oben. Er war letzten Sommer über ihr eingezogen und hatte sich seitdem eigentlich nicht blicken lassen.
Was tat er hier? Nackt?
Automatisch in Abwehr trat sie von ihm weg, soweit es die kleine Plattform aus Gittern zuließ, bevor sie gegen das Geländer stieß. Er war mit einem Meter neunzig eindeutig groß. Überragte sie über einen halben Kopf. Und der Körperbau war auch sehr maskulin – April verbat sich genauer hinzusehen. Auch wenn auf ihrer Augenhöhe sofort eine breite, muskulöse Brust mit interessanten Tattoos auf leicht gebräunter Haut war und sie kurz – oder etwas länger - abgelenkt wurde.
„Und, Lady? Bist du zufrieden mit dem, was du siehst?“, er sprach mit einem leichten Südstaatenakzent, den sie nicht genau verorten konnte. Eine tiefe, melodische Stimme, die vermutlich Frauen schnurren ließ. Aber April reizte diese vor Selbstgefälligkeit triefende Art, während er sprach. Er wusste genau, was sie zu sehen bekam.
Wütend blinzelte sie und öffnete den Mund, um ihn zu recht zu weisen, doch dabei blieb es. Der Kerl drehte sich genau in diesem Moment um. Wollte er etwa nun doch weglaufen?
„Was…?“, weiter kam April jedoch nicht, denn sie stockte nochmals. Zu ihrem Unglauben, fing dieser selbstverliebte Spanner nun an, für sie eine Pirouette zu drehen. Dabei zeigte er ihr einen ebenfalls tätowierten, muskulösen Rücken, der in eine schmale Hüfte überging. Und einen sehr knackigen Arsch. Als ihr klar wurde, dass sie nun wirklich starrte, klappte sie den Mund wieder zu und machte sich bereit ihn ausdruckslos anzusehen, wenn er sich wieder zu ihr umdrehte.
Mit funkelnden, fast schwarzen wirkenden Augen tat er dann genau das. „Nun, da du alles gesehen hast: zu mir oder zu dir?“
Sie schluckte einen ächzenden Ton der Empörung runter. Ihr dummer Gesichtsausdruck – den sie mit absoluter Sicherheit trug – sollte genügen, um sie zu demütigen. Jedenfalls grinste er nun breit.
„Wirklich sehr verlockend“, sagte sie bemüht trocken, „aber ich verzichte.“ Daraufhin grinste er nur breiter und ihre Augen weiteten sich, weil er einen großen Schritt auf sie zu machte.
„Augenblick!“, rief sie, was irgendwie erbärmlich klang, während sie ihre in Handschuhen steckenden Hände hochhielt.
Sehr eindrucksvoll, April… Kein Wunder, dass Watson nicht auf dich hört. Das klang wenig einschüchternd. Der Mann vor ihr war offenbar auch nicht überzeugt, so dass er sich ihr weiter näherte. Langsam bekam sie es mit der Angst zu tun.
War er ein Perverser, der sich Frauen sexuell aufdrängte? Denn wer stand sonst bei Minusgraden nackt draußen bei unbekannten Frauen vorm Fenster? Peinlich war es ihm schon mal nicht, dass sie ihn erwischt hatte.
Die Arme vor sich haltend wich sie ihm aus. Aber viel Platz war da nicht mehr. Ihr Kopf lief auf Hochtouren. Was sollte sie tun? Wenn er sie anfassen würde und bedrängen… Sie konnte sich ihm keine drei Sekunden widersetzen. Der Kerl bestand nur aus straffen Muskeln. Und ihre körperlichen Fitnessübungen beschränkten sich auf Klettertouren durch ihr Wohnzimmerfenster und eine Horde fünf-jähriger Kinder zu hüten.
Hilfesuchend sah sie runter zu der Gasse hinter dem Wohnhaus. Nirgendwo eine Menschenseele. Watson bellte rau auf und sie sah hilfesuchend zu ihm, aber ihr Hund hatte nur beschlossen schwanzwedelnd essen zu gehen. Der würde ihr schon mal nicht helfen…
„Lady, entscheide dich! Bevor mir etwa abfriert“, sagte der Kerl mit dieser verwirrend dunklen Stimme, der man anhören konnte, dass er eindeutig auf ihre Kosten amüsiert war.
Aprils Kopf fuhr herum und sie funkelte zu ihm auf. Da sie aber keine Hilfe bekam, half sie sich eben selbst! Dabei nutzte sie ihren besten Erzieherinnenblick: „Keinen Schritt weiter oder ich schreie!“
Das schien ihn dann doch innehalten zu lassen. Seine Stirn legte sich in Falten. Eilig folgte sie ihrem Impuls, bevor sie den Mut verlor. Mit ihren festen Winterboots ließ sie ihren Fuß auf seinen nackten runtersausen. Er keuchte überrascht auf und krümmte sich automatisch zusammen. April nutzte die Sekunde und schob sich mit den ausgestellten Ellenbogen an ihm vorbei, während er das Gesicht verzog und zur Seite wankte. Eilig rannte sie dann nach unten, wo sie schlitternd auf dem vereisten Boden ankam. Mit einem Blick nach oben, stellte sie erleichtert fest, dass er ihr nicht nachkam oder ähnliches. Ihre Augen trafen sich kurz, bevor sie herumwirbelte und flüchtete.
Der zehnminütige Weg bis zur Arbeit kam ihr verdammt lang vor. Die kalte Luft ließ ihre Nasenspitze abfrieren und sie rutschte hin und wieder fast auf dem Boden aus, da sie vor lauter schäumender Wut und Unglauben nicht bemerkte, wo sie da hintrat. Außerdem sah sie immer wieder nackte Haut vor ihren Augen…
„Perverser Mistkerl!“, fauchte sie, obwohl sie niemand hören konnte.
April war enttäuscht von sich selbst, da sie offenbar kein bisschen Respekt einflößend war und der Kerl sie überhaupt nicht ernst genommen hatte. Sie musste eindeutig an ihrem Auftreten arbeiten.
Und noch wütender machte sie, wie man so schamlos und unverschämt wie dieser Perverse sein konnte! Er hatte ernsthaft eine Pirouette nackt gedreht, damit sie freien Blick auf seine Ausstattung hatte! Und dann diese dummen, langweiligen Machosprüche! Zu mir oder zu dir? Einfallsloser ging es wohl nicht.
Sie knirschte wütend mit den Zähnen.
Der Perverse war aus Florida hergezogen und war der Neffe der Rickmans – so viel wusste sie. Die Rickmans selbst kannte sie nämlich. Das waren nette, ältere Eheleute, die aber ziemlich unter sich blieben. Besonders Nathan Rickman lebte sehr zurückgezogen. Das Paar war kinderlos geblieben, aber Annie Rickman war eine ruhige, nette Frau, die seit Jahren überall ehrenamtlich arbeitete und früher oft Kinder gehütet hatte. Sie hatte auch hin und wieder auf April aufgepasst, da sie in der Nähe von Aprils Eltern lebten. Das Ehepaar hatte keine Familie und nur wenige Freunde vor Ort. Vermutlich hatte die ältere Dame sich gefreut, als ihr Neffe hergezogen war, nur um dann festzustellen, was für ein ekelhafter Macho das war. Die arme Frau!
April dachte an den breiten Rücken dessen linkes Schulterblatt komplett mit diesem exotischen, schwarzen Muster überzogen war. Es hatte schön und kraftvoll ausgesehen. April verzog das Gesicht. Zu schade, dass er das genau zu wissen schien. Alles an ihm schrie, dass er ein eingebildeter, oberflächlicher Arsch war. Dieses Wissen in seinen Augen, dass sie mochte, was sie vor sich sah. Und er hatte ihr keine Sekunde zugehört, wie ein brunftiger Platzhirsch war er aufgetreten. Wäre vielleicht wirklich zudringlich geworden…
April schüttelte sich bei dem Gedanken und öffnete die Tür zu der Vorschule.
Vermutlich hätte er sie nicht angefasst, denn er hatte immerhin innegehalten, als sie dann mal den Mund aufgemacht hatte. Doch diese Art von Mann kannte sie schon und hatte sie abgehakt. Richard hatte auch viel von seinem Aussehen gehalten. Das waren alles oberflächliche, selbstgerechte Idioten!
Schlecht gelaunt stapfte sie den leeren Flur lang. Die Kinder kamen erst in gut einer Stunde. Die Lichter brannten hell, als April es einschaltete, und der sauber polierte Linoleumboden strahlte in hellgrün. Die Renovierungen waren letzten Herbst gemacht worden. Die Wände hatten sie mit den Kindern zusammen bemalt. So grinste sie nun ein etwas kubisch anmutender Löwe mit lila Mähne an, als sie die Tür zum Büro der Erzieher öffnete.
Sie war mal wieder die Erste. Darum war ihre erste Amtshandlung Kaffee kochen. Ärgerlich bemerkte April, dass sie wegen Watson und dem Nackten ihr Frühstück zuhause hatte liegen lassen. Sie zog eine Schnute, schmiss ihre Mütze und Jacke auf das alte Sofa und kramte in der Schublade nach einem Löffel. Viel Zucker! Nach so einem Start in den Tag brauchte sie einen Kaffee, der so süß war, dass sie auf der Stelle Karies bekam.
„April!“, rief ihre Lieblingskollegin laut, noch bevor sie die Tür auf hatte.
Manchmal war Rebekka Wood etwas unheimlich. Sie schien Leute wahrzunehmen, bevor sie sie sah. Andererseits war es fast jeden Morgen so, dass April vor Bekka ankam und alle anderen erst später. Alle anderen hieß: der Hausmeister, die Sekretärin und Greg, der einzig andere Erzieher. Es war ja nicht so, als gäbe es hier massig Kinder im kleinen Ort. Greg unterrichtete in der Grundschule, die im gleichen Gebäude war und war eigentlich einfach so anwesend, weil er April und Bekka lieber mochte als seine eigenen drei Kollegen, die die größeren Kinder unterrichteten. Aus demselben Grund waren auch der Hausmeister und die Sekretärin bei ihnen. April und Bekka teilten sich alleine dieses Jahr eine Gruppe von zwölf Vorschulkindern. Was enorm war! Immerhin lebten sie in einem Kaff mitten in einem Wald von Maine. Da gab es auch Jahrgänge mit gerade mal fünf oder weniger Kindern, wobei sie schon Altersgruppen zusammenlegten und Kinder aufnahmen die viel jünger waren. Dennoch waren es im vorletzten Jahr nur drei Kinder gewesen. In so einem Jahr ging April kellnern und Bekka übernahm die Vorschule alleine.
Nun kam Bekka in das kleine, anheimelnde Büro geschlüpft. Heute trug die kleine, zierliche Frau orangene Schneeboots, aus grellem Plastik-Stoff, und einen für ihre Verhältnisse unauffälligen braungrauen Parker, an dem aber eine Menge weißes Kunstfell prangte. Sie hatte ihr schwarz-braunes Haar zu einem Dutt zusammengefasst und grinste sie breit an. „Kaffee? Sag, dass du Kaffee gemacht hast!“, flehte sie. Wobei sie wieder so schnell sprach, dass man ihr eigentlich kein Koffein mehr geben sollte.
„Kommt gleich. Hast du etwas zu essen mit?“
„Jupp, Muffins mit Rosinen und Nüssen und Sandwichs.“ Bekka hatte immer Unmengen an Essen mit, dass sie gerne teilte.
„Muffin“, forderte sie nur knapp und nahm zwei Tassen heraus.
„Alles ok mit dir, April?“, erkundigte sich Bekka, während sie sich aus der Winterkleidung schälte. Ihre Augen musterten sie abschätzend.
„Nein, ich spiele mit dem Gedanken, meinem neuen Nachbarn die Polizei aufs Auge zu drücken. Ich habe den Mistkerl seit dem Einzug keine zwei Mal gesehen, aber dafür habe ich heute ALLES von ihm gesehen!“, erklärte sie, während sie die Tassen abstelle.
„Alles!“, echote sie, um es eindeutiger zu machen.
Bekka starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Unter ihrem Parker trug sie einen ihrer Kapuzenpullovern. Dieser hier wurde mit einem Muster aus vielen kleinen grünen Palmen geziert. Damit verspottete sie den Winter hier in New England.
„Nick Grant?“, fragte Bekka.
„Keine Ahnung, wie er heißt. Er ist wie ein Geist und hat sich nie vorgestellt.“ Vermutlich hatte sie den Namen einmal gewusst, aber vergessen.
„Du meinst den Neffen der Rickmans, oder? Sein Name ist Nick“, erklärte Bekka und hob eine riesige Frühstückstüte heraus. „Und, was meinst du mit alles? Etwa alles Alles?“
„Ja, eben alles. Er stand nackt auf der Feuerleiter herum. Ich bin gegen ihn gerannt, weil ich mal wieder aus dem Fenster raus musste und da stand er, wie Gott ihn schuf!“
Ihre Freundin schien nicht so entsetzt, wie April es sich ausgemalt hatte. Über ihren feinen schwarzen Augenbrauen bildeten sich Stirnfalten und ihre dunkelbraunen Augen sahen April fast misstrauisch an. „Was ist passiert?“
„Was passiert ist? Ich denke, dass er ein geiler Bock ist, der gerade nackt aus einem Bett geflohen ist. Oder aber sogar ein Perverser, der mich nackt beobachtet hat, weil es ihn anmacht oder… Bäh.“ Sie schnitt eine angeekelte Grimasse, doch Bekka starrte sie nur weiter fragend an. April goss stirnrunzelnd den Kaffee ein und überdachte ihre Worte, weil ihre Freundin irgendwie falsch reagierte. Aber April fielen nicht allzu viele Gründe ein, wieso ein Mann nackt vor ihrem Fenster stehen sollte. Vor allem war er kein bisschen peinlich berührt gewesen. Es sah nicht nach einem verlorenen Schlüssel oder ähnlichem aus.
„Jedenfalls ist es seltsam. Wer steht bei dieser Affenkälte nackt herum?“, grummelte sie.
Bekka gab ihr einen Muffin und sie reichte ihr dafür einen Kaffee.
„Sah er ok aus?“
„Ob er ok war?“, fragte April ungläubig nach.
Irgendwie checkt Bekka das Problem nicht, dachte sie düster und enttäuscht. Sie wollte sich aufregen und nicht über das Wohl des nackten, aufdringlichen Kerls reden.
„Ja, er sah toll aus. Prächtig! Sein stahlharter, muskulöser Körper wurde vorteilhaft von der Morgensonne beschienen. Ganz Alphamännchen. Und er hat mich auch ohne zu Zögern angegraben: Ob ich zu ihm oder zu mir wolle“, schnappte sie aufschäumend. „Noch ärmer geht es wohl kaum!“
Bekka biss sich auf die Unterlippe und sah sie fast entschuldigend an. „Ich versichere dir, dass er das nicht so meinte.“
Jetzt war April davon überzeugt, dass Bekka nicht auf ihrer Seite war.
„Du kennst ihn?!“, fragte sie entrüstet. „Den Typen, über den alle munkeln, weil er neu hier ist und ihn eigentlich keiner zu Gesicht bekommt? Ich meine, er wohnt über mir und ich sehe ihn nie. Er scheint in seinem Büro zu leben. Oder in fremden Betten, denn von so einem kam er vermutlich nämlich gerade Heim.“
Sie stopfte ein Stück Muffin ärgerlich in sich. Das war ihrer Meinung nach der wahrscheinlichste Grund in Anbetracht seines Charakters. Vielleicht war er nebenberuflich Callboy. Das machte ihn ihr aber nicht sympathischer, als wenn er ein perverser Stalker gewesen wäre.
„Naja, er und Connor sehen sich oft…“
„Dein Mann!“, blaffte sie. Abgesehen davon, dass Connor zur berüchtigten Familie Wood gehörte, hatte April schon vor langer Zeit festgestellt, dass der Berg von einem Mann, eigentlich nett war. Er arbeitete in der städtischen Bücherei, wo er sich in die Verwaltungsräume verzog. Ein solcher Mann, der Bücher katalogisierte, bestellte und Kinder-Lese-Stunden organisierte, konnte kaum boshaft sein. Die anderen Wood-Brüder sah sie da kritischer. Die schienen alle brutale, gefährliche Kriminelle zu sein. Aber Connor war anders, umso mehr konnte sie nicht glauben, dass er ein Freund von diesem Typen sein sollte.
Zornig kauend zerstörte sie ihren Muffin.
„Ja, er ist nett. Auch wenn er eine große Klappe hat. Bitte, zeig ihn nicht an!“
Bekka bedachte sie mit ihrem bittenden Lächeln, das einem sagte, dass man eigentlich im Unrecht war und gar nicht ablehnen konnte. April verzog das Gesicht. Das war das Lächeln, bei dem alle Kinder die Spielsachen freiwillig teilten oder wegräumten. Irgendwie musste Bekka nie schimpfen, um sich durchzusetzen. Man wollte sie nur nicht enttäuschen.
„Von mir aus“, gab sie sich geschlagen. „Aber taucht er noch mal nackt - oder auch angezogen – bei mir vor dem Fenster auf dann, renne ich zu Sherif Jordan!“ Das war ein Schulfreund ihres Vaters und der würde nicht lange zögern eine solche Anzeige ernst zu nehmen.
„Mach das!“, sagte Bekka eifrig, doch sie schien seltsam nachdenklich. April beschloss den Vorfall ruhen zulassen, aber trotzdem fühlte sie sich seltsam aufgekratzt und konnte die Bilder nicht aus ihrem Kopf verbannen.
Den restlichen Tag über gelang es ihr erstaunlich gut, normal zu verbringen. Abends stand sie dann in ihrer Küche und kochte Nudeln, als über ihr ohrenbetäubend laute Musik eingeschaltet wurde. Aber nur für wenige Sekunden, bevor sie wieder herunter gedreht wurde. Gelächter folgte sowie eine Frauenstimme. April verzog das Gesicht. Offenbar war ihr Nachbar immer noch da, dabei war er sonst wirklich nie da. Und er hatte Frauenbesuch. Da war ihr seine vorherige permanente Abwesenheit lieber gewesen. Aber anscheinend hatte sie ihn mehr als richtig eingeschätzt. Er war ein Weiberheld. Sie sah zu ihrem Hund, der vor ihr hockte und um ein Stück Käse bettelte, das sie gerade auswickelte.
„Vergiss es! Du warst heute Morgen keine Hilfe, Watson. Der hätte mich entführen können und dich hätte es kalt gelassen.“ Mit gespielt verletzter Miene drückte sie sich die Hand auf die Brust und griff mit der anderen Hand nach dem Glas Rotwein, während sie schmollend Watson ansah, der sie als Antwort nur heiser anblaffte.
Oben polterte es und die Frau rief etwas. War das eine Frau aus dem Ort? Dann war sich April sehr sicher, dass sie diejenige kannte, sie sich dort oben wie ein Playboy-Bunny verhielt. Die nächsten Worte, die die Frau gurrte, verstand sie ebenfalls bestens. Beinahe hätte sie ihren Wein wieder ausgespuckt. Meinte sie das ernst?
Noch einmal bettelte die Frau, um sein bestes Stück und was er damit tun sollte. Und April klappte den Mund auf und murrte ehe sie sich zurückhalten konnte: „Oh, ja! Gib es ihr, damit sie endlich ihren schmutzigen Mund hält!“
Es folgte sein raues, männliches Lachen, das durch die trennende Zimmerdecke direkt zu ihr gelang und sie zusammen zucken ließ. Wie viel hörte man in der Wohnung über ihr, von dem, was sich bei ihr abspielte? Sie war leise gewesen!
Die Eieruhr rappelte zum Glück und sie goss die Nudeln ab, sodass sie abgelenkt wurde.
Als sie später mit dem Teller Makkaroni mit Käse vorm Fernseher saß, begann das laute, animalische Brüllen. April zuckte panisch zusammen. Wenig später hörte sie Türenknallen und Laufschritte im Hausflur. Verwirrt und neugierig schlich sie zur Wohnungstür, vor der mal wieder Watson lag, und sah über ihren Hund gebeugt durch den Spion raus. Eine weibliche Gestalt huschte an ihr vorbei.
Was für kranke Sexspiele zog der Kerl denn bitte ab, dass diese Frau mit dem unfassbar schmutzigen Wortschatz so schnell davon lief? April lauschte noch einmal, aber es war kein Gebrüll mehr zu hören.
Die Augen verdrehend lief sie zum Sofa zurück. Das ging sie alles gar nichts an. Dieser Kerl sollte sich nur von ihr fernhalten.
Die Schritte seiner heutigen Abendgesellschaft verhallten unten im kleinen Hauseingang. Und er verharrte genauso lange, bis sie verschwunden war. Dann brach er zusammen und streckte sich genau da, wo er gerad noch gestanden hatte, auf dem Boden aus. Mit dem Gesicht nach unten und die Augen fest geschlossen. Sein Schädel hämmerte wie wild. Schwindel ließ ihn verschwommen sehen. Nick war sich nicht sicher, was genau der schlimmste Teil dieses Tages gewesen war. Er hatte da reichlich Auswahl…
Aber die Szene gerade rangierte ganz weit oben. Das war einfach peinlich!
Bereits vor einer Woche hatte er mit der sexy, kleinen Verkäuferin im Supermarkt geflirtet und seitdem an einem Stelldichein gearbeitet. Und die Kleine war auch nicht abgeneigt gewesen. Vorhin war er mit ihr zum ersten Mal ausgegangen und sofort hatte sie mit ihm nach Hause gewollt. Zwar nahm er für gewöhnlich nie Frauen mit zu sich, aber das war noch eine Regel aus Florida gewesen. Seitdem er hier im Norden wohnte war er sehr auf Sparflamme gebrannt und hatte sich entschieden, dass er angesichts seines unfreiwilligen Zölibats mal eine Ausnahme machen könnte. Zumal er in diesem Kaff eh nicht verheimlichen konnte, wo er lebte.
Immer noch auf dem Boden liegend lachte er trocken, schon beinah bösartig auf. Der Umzug nach Maine war ihm wie eine Erlösung erschienen. Aber so langsam zweifelte er daran, ob die Entscheidung klug gewesen war. Nachdem er dem Ruf in sich nachgegeben hatte, war es nur noch schlimmer und schlimmer statt besser geworden. Sich auf den Rücken rollend rieb er sich über das Gesicht. Jedenfalls hatte er diese Art von Problemen vorher noch nie gehabt… Das kam einer Erektionsstörung bei Menschen schon recht nah.
Anfangs war es wie immer gelaufen. Nick hatte sich gut gefühlt und die Kleine hatte seine voll Aufmerksamkeit gehabt. Und nach einigem harmlosen Küssen, war es sofort zur Sache gegangen – weil sie es anscheinend nicht langsam und nett wollte. Und ja, er hatte Spaß gehabt und sie nicht ausgebremst.
Nur leider war es dann passiert. Je näher er seinem Höhepunkt gekommen war, desto mehr spürte er etwas anderes in sich. Aber es war zu spät gewesen, er hatte sich nicht mehr bremsen können. Hinter ihrem Rücken hatte er seine Hände versteckt sowie sein Gesicht an ihrem Hals und weitergemacht. Doch dann hatte er alle Kontrolle und Disziplin verloren und sie beim Kommen nach einem Brüllen gebissen. Die Kleine hatte ihm so fest eine gescheuert, dass seine Unterlippe besorgniserregenden angeschwollen war. Er hatte sie zu Tode erschreckt, aber zum Glück nicht verletzt. In letzter Sekunde hatte er sich zusammengerissen und nicht voll zu gebissen. Seine Zähne hatten nur rote Abdrücke hinterlassen, die nicht durch die Haut gedrungen waren. Dennoch war das schlecht. Sehr schlecht.
Nick legte einen Arm über die Augen und lag weiter splitternackt auf dem gefliesten Boden seiner Küche. Der Tag endet, wie er auch begonnen hatte: Scheiße!
Musste er damit zu den anderen im Rudel? Es stellte durchaus ein Sicherheitsrisiko dar, wenn die Kleine darüber reden würde.
Er würgte den Gedanken ab. Nein, darüber würde er mit niemandem sprechen. Das Rudel würde ihm zwar sicher zu hören. Aber seine Probleme waren seine Probleme. Er wollte ihre Hilfe nicht. Und vor allem wollte er ihr Mitleid nicht. Und die Kleine würde wohl auch kaum sofort aus seinem Verhalten schließen, dass er ein „Werwolf“ war. Gesehen hatte sie seine Veränderungen ja zum Glück nicht.
Zweimal an einem Tag fast erwischt… Und so führten ihn seine Gedanken wieder zu der Brünetten, die unter ihm wohnte. Die ihn auch gerade eindeutig belauscht hatte. Seine Mundwinkel zuckten nun doch unwillkürlich.
Ja, das war noch eines dieser heutigen Erlebnisse, das ziemlich mies gelaufen war. Nach einer weiteren schlaflosen Nacht, in der er sich nicht zurückhalten konnte, war er viel zu spät heute Morgen heimgekehrt. Er war bei den ersten Anzeichen der Morgendämmerung erschöpft und mit schmerzenden Knochen an einem nicht komplett zu gefrorenen Fluss wach geworden. Seine Haut schmutzig und zerschrammt, weil er in der Nacht unachtsam gewesen und einen steilen Bergabhang runtergerutscht war.
Somit hatte er sich erst einmal mit dem eiskalten Wasser waschen müssen, weil er niemandem so unter die Augen kommen wollte. Er konnte das Lachen der anderen Vargs bereits hören, wenn der „Neue“ mal wieder tollpatschig gewesen war. Für die anderen Rudelmitglieder waren die Wälder ihr wahres Zuhause. Bei ihnen gab es keine Fehltritte, keine unklaren Fährten oder falsch gedeutete Instinkte. Sie bewegten sich, als gäbe es keine Hindernisse und offenbar blieb ihnen nie eine Gefahr oder ein anderer Varg verborgen. Und schon gar nicht verloren sie ihre Kontrolle. Nick rannte von einem Steinschlag und unsicherem Boden in den nächsten und vergaß dabei sich selbst.
Eigentlich hatte er die Nacht nur etwas laufen gehen wollen, damit sein Körper müde wurde und er vielleicht endlich etwas im eigenen Bett schlafen konnte, stattdessen war er im instinktiven Rausch bis zur Besinnungslosigkeit gerannt und hatte gejagt.
So wach zu werden, war beschämend. Und es die anderen sehen zu lassen, noch schlimmer. Also hatte er völlig nackt nach Sonnenaufgang nicht die große Wahl gehabt. Er musste heimlich nach Hause, da er sonst nirgends hin konnte oder wollte.
Und leider musste er nackt gehen, da ein nackter Mensch immer noch weniger auffällig war als ein fellbedeckter Varg.
Sein Plan war es gewesen, sich mal wieder ungesehen über die Feuerleiter hochzuschleichen, wie so oft. Auch wenn es dieses Mal eben schon früher Morgen und nicht späte Nacht gewesen war.
Nur zu dumm, dass seine Nachbarin durchs Fenster raus wollte, als er nach oben zu seinem Fenster rein wollte! Wie hätte er auch damit rechnen können, dass sie auf diesem Weg ihre Wohnung verlassen würde? Welcher normale Mensch tat das?
Aber auch daran war er schuld. Denn eigentlich hätte er sie lange bevor sie aus dem Fenster geklettert kam, hören oder wittern müssen. Aber so müde und platt wie er gewesen war, hatte er gar nichts mitbekommen. Er war nur so vor sich hin gestolpert und war von ihr völlig übertölpelt worden.
Als es dann zu spät gewesen war, hatte er gehofft, dass sie sich von der Tatsache ablenken ließ, dass er nicht nur nackt war, sondern auch mit etwas restlichem Blut und Dreck auf der Haut besudelt war. Also hatte er etwas offensiv geflirtet, aber leider, war das mit dem Charme nicht ganz geglückt. Kein Wunder, er hatte vor Müdigkeit kaum klar denken können.
Aber diese dunkelbraunen Rehaugen hatten ihn verwirrt. Sie sprangen von einer Emotion in die nächste. Zu Beginn hatte er gedacht, dass ihr gefiel, was sie sah und er Erfolg hatte.
Doch dann war da plötzlich Angst in ihren Augen gewesen. Etwas, was ihn kalt erwischt hatte. Plötzlich hatte er sich völlig ertappt gefühlt, als hätte sie das Monster gesehen, was er nicht mehr zügeln konnte. Eine Sekunde vor der er sich sein ganzes Leben gefürchtete hatte. Doch dann war sie geflüchtete und er hatte nur Erleichterung gespürt, dass dieser Augenblick zu Ende war.
Nick starrte hoch zur Deckenbeleuchtung. Passiert war passiert. Und keines von beidem würde er jemandem erzählen. Als sein Körper sich endlich beruhigte, stemmte er sich vom Boden hoch und schleppte sich zum Bad. Eine Dusche und dann das Bett. Vielleicht würde er ja einfach mal einschlafen. Sein Körper schrie ausnahmsweise nach keiner Verwandlung. Vielleicht wegen der letzten Nacht und dem Sex, den er gerade gehabt hatte. Er stellte die Dusche auf heiß und trat unter das prasselnde Wasser, um sich dann in Rekordzeit zu duschen. Er wollte einfach nur in einen bewusstlosen Schlaf fallen.
Sich abtrocknend lief er zum Schlafzimmer. Doch schon wenige Minuten im Bett, wurde ihm klar, dass das nichts werden würde. Seine Beine wurden unruhig. Bald schon warf er sich hin und her. Hinzukam, dass es ihn nervös machte nichts zu hören.
Nichts außer den Wald.
Nick war in der Großstadt aufgewachsen. Das nächste bisschen Natur war ein kleiner Park gewesen, in dem ganze acht Bäume standen.
Als Varg hatte er schon immer bessere Sinne gehabt und besonders seit der Pubertät waren diese so gut, dass es mehr oder weniger eine Qual geworden war. Mit fünfzehn hatte er sich nachts Kissen um den Kopf gewickelt, obwohl er schon Ohrstöpsel und Ohrschoner trug, nur um endlich Ruhe zu finden. Autos, Menschen, Musik – alles war so penetrant laut geworden, dass er es eigentlich nie ausblenden konnte. Seine Tage hatten aus 24 Stunden Krach bestanden, seit er ein verwandelungsfähiger Varg geworden war. Manchmal hätte er gerne vor Wut alles zusammengeschlagen und geheult.
Aber irgendwann war es in seinem Leben normal geworden. Er hatte die volle Kontrolle über seine Instinkte gehabt. Als Teenager hatte er völlig auf sich alleine gestellt gelernt, damit umzugehen und er hatte es geschafft, seine vargische Seite einzusperren, wann immer er wollte.
Und jetzt hockte er hier in einem winzigen Ort in Maine und warf sich im Bett hin und her, weil er außer dem Rauschen der Bäume und Eulen nichts hörte. Aber es war das gleiche Problem wie früher und er musste wieder die Kontrolle erlangen. Etwas, was er schon mal alleine geschafft hatte. Nur musste er nun lernen, seine Vargseite in Anbetracht der lockenden Freiheit zu zügeln – etwas, was verdammt wehtat. Denn hier könnte er den ganzen Tag jagen und seinem Inneren folgen. Doch dazu durfte er es nicht kommen lassen. Vielleicht verlor er sich sonst, wie die wilden Vargs. Er musste es so machen, wie die anderen im Rudel. Ein Gleichgewicht finden. Und das würde er schaffen.
Aber nicht heute Nacht. Seine Haut juckte wie verrückt und seine Muskeln zuckten. Nick würde sich dieses Mal ein wirkliches Limit setzen. Eine Stunde und dann würde er wieder ins Bett gehen. Nur eine Stunde rennen und jagen.
Nick ließ den Kopf hängen, als er sich wandelte. Sofort wurde sein Körper von Adrenalin, Endorphin und purer Erlösung überflutet. Er stöhnte auf.
Er war ein beschissener Junkie geworden, schoss es ihm durch den Kopf.
April lief unruhig im Wohnzimmer auf und ab. Irgendwie war ihr nach dem Abendessen schlecht gewesen und schlafen konnte sie auch nicht. Watson lag breit neben ihrem Bett und döste. Sie aber war aufgestanden und rannte Spuren in ihren Teppich. Ab und zu litt sie unter Schlaflosigkeit. Der Kopf fand dann einfach keine Ruhe und sie grübelte über alles nach. Zwar lief es zurzeit im Grunde ganz gut bei ihr. Sie mochte ihre Jobs, sie hatte tolle Freunde und auch, wenn ihre Eltern etwas anstrengend waren und sie sich manchmal sorgten, waren es tolle Eltern. Und dennoch wusste sie, warum sie schlecht schlief. Grant auf ihrer Feuerleiter schwirrte durch ihren Kopf. Und das ließ April an Richard denken. Und wieder an Grant.
April seufzte, weigerte sich aber an einen von Beiden zu denken.
Beziehungen waren nicht ihr Ding. Und dennoch wollte sie genau das. Vielleicht sollte sie wieder in den Sattel steigen. Das Date musste ja keinen Erfolg haben, aber sie wollte nicht mehr an Richard oder den Nackten denken. Beides war dumm. Sie brauchte Ablenkung, wenn schon kein erfolgsversprechender Kandidat zur Hand war.
Also noch ein Date mit Greg? Er war echt nett gewesen und sie hatten tolle Abende gehabt. Doch leider war er langweilig und sah nicht so aus wie…
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und ihr Pyjamahemd aus schwarzem Satin bauschte auf. Gereizt verdrängte sie den Gedanken an den Nackten. Aber sie konnte sich nichts vormachen, das Bild würde sie nie wieder vergessen. Der Mann war gebaut wie eine griechische Kriegerstatur und dann diese hübsche Deko auf seiner Haut. So etwas sah man sonst nur im Fernsehen.
April klatschte sich die Hand vor die Stirn, damit sie aufhörte. Das war schlimmer, als an Richard zu denken, wie er sie mit seinen leuchtenden Augen angrinste. Der war wenigstens am Anfang sehr charismatisch und nett gewesen. Hatte ihr die große Liebe geschworen… Ihr Herz zog sich schmerzvoll zusammen.
Vielleicht sollte sie morgen Greg anrufen, soviel sie wusste, war er mit niemandem zusammen. Seufzend lief sie zum Fenster und lehnte sich mit einer Schulter an den Rahmen. Ein Date mit ihm war zumindest vernünftig, da er ein ehrlicher und sensibler Mann war. Nachdenklich sah sie aus dem Fenster und…
Sämtliches Blut wich aus ihrem Kopf und beinah hätte sie geschrien, aber vor Schock biss sie sich nur auf die Zunge.
An ihrem Fenster war etwas sehr Großes vorbeigefallen - oder eher gesprungen. Nun sah sie es auf allen Vieren landen. Im Mondschein konnte sie dunkles Fell sehen. Und dieses Wesen war gigantisch. April konnte nur starren und presste die Stirn gegen das kalte Fenster, das durch ihren Atem beschlug. Das Wesen war kein Bär, dafür war es zu schlank. Ihr erster Gedanke war Wolf gewesen. Aber das war auch unmöglich!
April stolperte rückwärts, als sich das Wesen auf zwei Beine aufrichtete. Aber dabei kein bisschen wie ein Bär wirkte. Nein, dieses Wesen stellte sich völlig gerade auf. Drückte den breiten Rücken durch. Und der Schwanz wackelte zwar, aber das waren menschliche Proportionen und… Ihr Kopf überschlug sich. Das konnte nicht wahr sein!
April wischte mit dem Ärmel über das Glas, als es völlig weiß beschlug, weil sie dagegen atmete und es draußen eisig kalt war. Das Wesen verharrte kurz, drehte leicht den Kopf zu ihr. Ihr Herz raste so schnell, dass ihr schon übel wurde.
Aber sie sah es klar und deutlich, dieses Wesen stand und bewegte sich wie ein Mensch! Der Körper war zwar mit Fell bedeckt und das war eine eindeutig Schnauze. Ein Wolfskopf – und dennoch war es die Statur eines äußerst kräftigen Mannes. April keuchte. Augenblicklich beschlug das Fenster abermals und dann, als sie wieder sehen konnte, war er weg.
Hektisch lief sie hin und her und sprang von Fenster zu Fenster, aber sie konnte ihn durch keines wiederentdecken. Fest biss sie sich auf die Unterlippe. Vielleicht sollte sie rausgehen und nachsehen? Doch der Gedanke machte ihr tierisch Angst.
Nein, diesem Ding wollte sie nicht zu nah kommen. Es war viel zu groß und muskulös gewesen. Hatte starke Arme und Beine gehabt. Ein Kraftpaket, das aussah als könnte es mit Leichtigkeit einen erwachsenen Mann herumwerfen. Nein, sie konnte nur hoffen, dass dieses Wesen nicht gefährlich war und sie nicht wahrgenommen hatte.
Mit bebenden Fingern strich sie sich das Haar aus der Stirn und versuchte ruhig zu atmen. April ließ die Hand an der Schläfe liegen und fragte sich, ob sie vor lauter Müdigkeit vielleicht halluzinierte oder sogar bereits schlief und es nicht wusste. Aber es war so verdammt real gewesen, das sie das nicht glauben konnte.
Die Alternative sah jedoch nicht besser aus. Denn ihr gefiel es kein bisschen, dass es Monster gab. Etwas wackelig lief sie in die Küche und holte eine Flasche Rum raus, die sie sonst nur zum Backen nahm und goss sich in einem Wasserglas ordentlich etwas ein. Der starke Alkohol brannte in ihrem Hals, worauf sie die Augen zukniff und das Gesicht verzog. Es beruhigte sie etwas, allerdings fühlte sie sich nun völlig fertig.
Das konnte nicht wahr sein. Es gab keine Monster in der Realität. April hatte rein gar nichts für Science Fiction oder Fantasy übrig. In ihrer Welt mochte sie es klar und möglichst ohne Wahnsinn. Davon hatte sie genug, seitdem sie ungefähr drei Jahre alt war. Ihre Eltern waren mehr als wunderlich und oft anstrengend, April hatte früh beschlossen, dass sie nicht so werden wollte. Daher waren spirituelle Dinge sowie Aberglauben und so weiter nicht ihr Ding. Sie probierte gerne Dinge aus, aber nichts „Mythisches“ oder „Magisches“.
Doch nun stand sie um halb eins nachts in ihrer Küche und trank gierig das Glas Rum aus, weil sie ein Wesen geglaubt hatte zu sehen, das es nach gesundem, rationalen Verstand nicht geben sollte. Noch mal blickte sie suchend nach draußen, aber es zeigte sich nur der gewohnte Anblick von den nachts ruhigen Geschäften und dem leerstehenden Café. Dahinter waren kleine Hinterhöfe und einige Schuppen. Danach war dann schon eine Mauer oder ein Zaun zum angrenzenden Wald. Irgendwie musste man hier im Ort nie lange laufen, um auf Wald zu stoßen…
Die wunderschönen Wälder von Maine…
Spöttisch schnaubte sie, denn genau dieser Wald schien Grund dafür zu sein, dass hier unbemerkt Monster herumlaufen konnten.
Das Glas war leer, doch sie starrte weiter in die Nacht, als würde sie es vielleicht wieder sehen können. Zum Glück hatte sie das Licht ausgeschaltet gelassen, so hatte dieses Wesen sie vermutlich auch nicht gesehen.
Ihr Gehirn schlug Saltos. Sie wusste, was sie gesehen hatte. Das war echt gewesen!
Es sei denn sie war verrückt geworden und sah Dinge, die es nicht gab. Aber irgendwie schloss April das kategorisch aus. Dazu war sie nicht der Typ Mensch.
Klar, weil alle Verrückten, immer gleich von sich merkten, dass sie verrückt waren… Leise fluchend lief sie ins dunkle Wohnzimmer zurück. Aber nach einer Stunde aus dem Fenster starren, wurde ihr so kalt, dass sie mutlos ins Schlafzimmer lief. Was auch immer sie da gesehen hatte, sie war nicht mutig und lebensmüde genug, um es suchen zu gehen. Oder darüber zu reden.
Das kleine Büro, das er sich noch zusätzlich zu seinem Arbeitsplatz bei der kleinen örtlichen Zeitung gemietet hatte, sah aus wie ein Schweinestall. Überall flogen Papiere und Kaffeetassen zwischen Kabeln, alten Festplatten und PC-Gehäusen herum. Jetzt gerade liefen drei der Bildschirme gleichzeitig. Zwei zeigten Videoaufnahmen, aber auf dem dritten arbeitete er. Connor beugte sich über seine Schulter und verzog das Gesicht.
„Keine Ahnung, wie man daraus schlau werden kann. Ich sehe nur Hieroglyphen.“
„Ich sehe alles, was wir brauchen.“
„Kaum zu glauben, dass du ein Nerd bist“, witzelte Connor und ließ sich auf dem einzigen anderen Stuhl im Raum fallen. Der breite Varg rutschte auf dem Holzstuhl herum und sah sich weiter neugierig um. „Und hier kannst du alles von uns sehen?“
„Ja, jeder eurer Schritte wird festgehalten. Also hör auf in deinen Garten zu pinkeln“, sagte er und ging die Meldungen der letzten Tage durch. Dabei war er so müde, dass er ständig gähnte. Seine Kiefergelenke knackten bedrohlich.
Connor verschränkte die Fußknöchel und wackelte mit dem oberen Fuß. Dabei musterte er das Hochglanzplakat an der Wand gegenüber. „Für Nicky“, las er das Autogramm laut vor, „Deine Lindsay.“ Connor hob die schwarzen, dichten Augenbrauen. „Sag bloß, du kennst sie. Sieht aus wie ein Supermodel.“
Kurz sah er zu dem Plakat, das Lindsay im knappen neongrünen Bikini im türkisfarbenen Wasser zeigte. „Meine Ex vom College. Wir sind noch im Kontakt.“
„Ernsthaft? Du hattest ein gutes Leben da unten in Florida, was?“
„Kann man so sagen.“ Alle Meldungen zeigten nur das Rudel selbst. Kein Fremder war in der Nähe der Häuser gewesen. Aber davon war er auch nicht ausgegangen, das hier war eher der zusätzliche Checkup. Eine Stichkontrolle, ob das neue Programm wirklich alles erfasste.
„So, keine unerwünschten Vorfälle.“ Er schob sich vom Tisch zurück und gähnte noch einmal, bis ihm fast die Tränen kamen. Zwar hatte er letzte Nacht im Bett geschlafen, aber maximal für drei Stunden. Und mit wirren Träumen.
„Himmel, Nick, geh nach Hause pennen! Ich laufe schnell alleine den westlichen Teil ab und du hältst mal die Füße still.“
„Nein, ich komm mit.“ Das hatte er vielleicht etwas zu eilig gesagt, aber es würde die Hölle sein, still sitzen zu müssen.
Die dunkelbraunen Augen seines Freundes sahen ihn kritisch an. „Ist es denn nicht besser geworden, seitdem du hier bist?“
Nick verspannte sich augenblicklich. Darüber redete er mit niemandem, auch wenn er wusste, dass die Woods nicht dumm waren und es vermutlich eh wussten. Denn es war ihnen ja bekannt, wie er aufgewachsen war und kein Varg ging davon aus, dass ein solches Leben einen unbeschadet ließ. Und auch wenn Connor nett war und ihn nie aufgezogen hatte, wollte er nicht mit dem erfahrenen Varg darüber sprechen. Er würde nicht noch tiefer in ihrer Meinung sinken.
„Nein, alles bestens“, sagte er nur knapp und suchte seine Sachen zusammen.
Nick sah, wie Connor den Mund aufklappte, um etwas zu sagen, doch er schloss ihn dann wieder. Der älteste Sohn der Familie Wood war ein angenehmer Typ. Er redete nicht zu viel und nicht zu wenig und er stellte in der Regel keine unliebsamen Fragen. Vermutlich sorgte er sich wirklich um Nick, aber das machte es ja nur noch armseliger.
„Sag mal…“, jetzt räusperte sich Connor allerdings doch verlegen und beugte sich auf dem Stuhl leicht vor. Seinen kantigen Kiefer angespannt, der von dunklen Stoppeln überzogen war. Nick sah ihn nur abwartend an, aber innerlich wappnete er sich. Wie bekam er Connor dazu, dass er aufhörte?
Schweigend fuhr er den PC runter und wartete einfach. Der ganze Kram hier war so gesichert, dass Warn-Nachrichten auf seinem und Seths Handy explodieren würde, wenn jemand versuchen würde, hier an den PCs rumzufummeln oder sich auch nur den Häusern nähern würde. Abgesehen davon hatte er eine Sicherung an Türen und Fenstern angebracht.
Connor saß immer noch mit gerunzelter Stirn da.
„Was willst du sagen, Mann?“, fragte er ohne das leise Knurren in seiner Stimme unterdrücken zu können.
„Gestern hat mir Bekka erzählt, dass du nackt auf Feuerleitern herumstehst und hübsche Frauen beobachtest.“ Nick sah überrascht auf. Damit hatte er nicht gerechnet.
„Das ist ja auch kein Problem!“, fuhr Connor leicht grinsend fort, „Nur scheint es so, als seist du erwischt worden und Bekka musste dafür sorgen, dass April nicht zum Sheriff läuft und sich über dich auslässt.“
„April? So heißt sie also, ja?“ Er stand auf und griff nach seinem Mantel. Eigentlich war Winterkleidung bei ihnen mehr Show als eine Notwendigkeit, aber es stimmte schon, dass es im Alltag ohne Fell angenehmer war.
„Ja, so heißt sie.“ Connor stand langsam auf und gab Nick mal wieder das Gefühl eine halbe Portion zu sein. Der Kerl war so breit, dass man sich ernsthaft fragen musste, ob er eher ein Werbär als Werwolf war. Das war unter den Jüngeren des Rudels sogar eine Art Witz geworden, so wurde Connor oft nur Bear von ihnen genannt.
„Hör zu, Nick, du wirst deine Gründe gehabt haben – Aber, Mann, sei vorsichtiger! Nicht das du irgendwann auch noch als Varg gesehen wirst.“
„Keine Sorge, bei euch in dem Kaff ist doch eh nichts los.“
„Kann ja sein, dass es dir wie ein Witz zu Jacksonville vorkommt. Aber hier kennt jeder jeden und die Menschen achten auf einander – was auch heißt, dass sie neugierig sind. Und du bist im besten Alter und neu hier!“ Connor feixte ihm zu. „Und dazu noch diese rote, wallende Haarmähne, da hat man schnell Fans“, zog er ihn weiter auf.
Nick schnaubte: „Außer den älteren Hausfrauen interessierte sich keine bis jetzt für mich.“
Die Sache mit der kleinen Verkäuferin behielt er lieber mal für sich.
„Das meinte ich nicht.“ Sie gingen zusammen den Flur lang und latschten Schulter an Schulter die Treppe runter. „Ich wollte sagen, dass sie neugierige Aasgeier sind. Sie werden dich beobachten.“
„Ja, schon klar. Ich pass auf“, gab er genervt von sich. Er hasste das Gefühl, dass sie ihn als Sicherheitslücke sahen.
Connor und er traten zusammen raus an die frische, eiskalte Luft. „Und such dir lieber eine andere Wohnung. Kann ja verstehen, dass es auf die Schnelle nicht anders ging, aber du wohnst mitten in der Stadt.“
„Na, komm, es ist zehn Meter zum Wald. Hier gibt es keine Mitte in der Stadt. Irgendwie ist es nur eine lange Straße mit Seitenstraßen…“
„Ja, aber du wohnst auf dieser Hauptstraße. Nur zwei Meter zum nächsten Haus und zu Mias Café. Du sitzt auf dem Präsentierteller. Und jetzt hast du noch April gegen dich aufgebracht. Zieh lieber heute als morgen aus!“
Das war lächerlich, früher hatte er in einem Haus mit dreißig Appartements gewohnt - und außerdem war er eh nie in dieser Wohnung.
Zum Abschied klopfte Connor ihm auf die Schulter und marschierte davon. Die breiten Schultern unter die braune Lederjacke vorgezogen und leicht gebeugt. Connor hielt sich lieber bedeckt und fiel nie gerne auf. Nick sah ihm nach, bevor er losging.
Die Vargs hier blieben immer unter sich und das ganze Rudel fand, er lebte zu nah an den Menschen. Selbst sein Onkel meinte das. Selbst untereinander blieben die Rudelmitglieder im Familienbund und ließen sich kaum mit anderen aus dem Rudel ein. Nick wohnte erst ein halbes Jahr hier und hatte außer zu den Woods keinen privaten Kontakt zu den Anderen. Sie waren unfassbar vorsichtig und Einzelgänger. Es würde ihn nicht wundern, wenn einer der anderen Vargs, ihm ins Knie schießen würde, wenn er sich unangemeldet ihrem Haus näherte – wenn sie so etwas wie Waffen haben sollten. Diese Vargs hielten nicht viel von Waffen. Nick hatte den Woods erst die Vorteile erklären müssen, die in ihrem Leben nie zuvor Waffen benutzt hatten.
Schlecht gelaunt ging Nick zu seiner Wohnung, da Connor ihn offenbar gerade beurlaubt hatte. Das gelb gestrichene Haus lag neben dem Café von Connors Schwägerin und er winkte kurz Mia zu, die ihn aber nicht bemerkte. Schultern zuckend, wollte er weiter, doch dann verharrte er.
Die junge Frau mit den langen braunschwarzen, wilden Locken kannte er doch.
Ja, diese großen Rehaugen würde er immer wiedererkennen. Auch wenn diese prachtvolle Mähne unter einer Mütze gesteckte hatte. Ebenso hatte sie diesen beachtenswerten Ausbau versteckt… Er kniff die Augen zusammen und sah ihr zu. Sie trank aus einer großen Tasse und hatte vor sich ein Stück Apfelkuchen stehen. Und der sah verdammt lecker aus.
Sie teilte ein Stück und führte ihn zu ihrem Mund. Und verflixt, was für ein Mund! Üppig und mehr rund als breit. Aber sehr weiblich und voll. Ein Kussmund.
Und in diesem verschwand der Apfelkuchen, auf eine Weise, die eindeutig etwas Sinnliches hatte. Nick musste seinen Blick von ihr losreißen. Kurz musterte er die Lage. April war alleine und er musste noch etwas gut machen… Vielleicht konnte er sie einladen und etwas besänftigen.
Vermutlich machte sie sich lächerlich! Aber aus irgendeinem Grund nahm ihr Leben einen komisch Wendung. Gestern Nacht war sie schon nach einem Glas Rum betrunken gewesen. Heute auf der Arbeit hatte sie einen Kater. Und es hatte sich herausgestellt, dass man besser keinen Kater hatte, wenn man auf eine Meute Kinder aufpasste, die alle volle Aufmerksamkeit verlangten… Ach, ne! April, darauf wärst du nie gekommen!
Sich selbst bemitleidend hatte sie sich ein großes Stück Apfelkuchen mit Vanillesoße bestellt. Genießerisch kaute sie auf einem Stück herum.
„Dein Gesichtsausdruck ist viel zu sexy für die Öffentlichkeit. Der Kuchen muss sündhaft gut sein.“
Diese unverschämt tiefe Stimme mit leichtem Südstaatenakzent kannte sie nun – und würde sie immer wiedererkennen. Ärgerlich spürte sie, wie ihr Herz anfing schneller zu schlagen und sie dem Klang seiner Stimme lauschte. Um sich zu sammeln, ließ April noch die Augen zu. Vielleicht verschwand er ja einfach genauso von alleine wie der Werwolf letzte Nacht vor ihrem Fenster.
Doch dann hörte sie nur, wie ein Stuhl zurück geschoben wurde und öffnete die Augen, wodurch sie sehen konnte, dass sich ihr Nachbar gerade zu ihr an den kleinen Tisch aus schwarzem Guss und blütenweißer Tischdecke setzte. Nikolai Grant.
April hatte sich über Grant erkundigt. Der Neffe der Rickmans, der nur Nick genannt wurde, war überraschend erfolgreich. Er arbeitete für die örtliche Zeitung, wo er für die Software und die Internetseite zuständig war. Zu Aprils Überraschung hatte die Mini-Zeitung seit Neustem eine eigene Internetseite. Außerdem arbeitete Grant als Entwickler – wofür auch immer. Computer und dergleichen interessierten sie nicht. Und sie hatte herausgefunden, dass sein Vater aus dem tiefsten Russland stammte, woher er seinen Vornamen hatte. Aber seine Eltern hatten nie geheiratet.
Besagter „Entwickler“ saß nun auf dem zwar robusten, aber eindeutig mädchenhaften Stuhl, der viel eher in irgendein Bilderbuch-Café in Frankreich als in ein Kaff in Maine gehörte. April fiel auf, dass die hauptsächlich weibliche Kundschaft sehr an ihm interessiert war.
Was kein Wunder war, da er den ganzen Raum ausfüllte. So angezogen hätte sie ihn fast nicht erkannt. Er gab ein ganz anderes Bild ab. Keine Spur von dem Gigolo mit tätowierter Haut und dem wildem Haar, sondern ein geschniegelter Geschäftsmann. Seine breiten Schultern spannten unter dem teuren Mantel und seine leicht gebräunte Haut stach vom blütenweißen Hemd…
Aber er ist dennoch ein Kotzbrocken, fauchte sie innerlich.
„Wie meinen Sie das?“, fragte sie nach und griff dann zu ihrem extra großen Kaffee. Ihr Kopf fühlte sich immer noch an, als wäre er mit vollgesogenen Schwämmen gefüllt.
„Dein Gesicht hat vor absoluter Hingabe und völligem Genuss nur so gestrahlt. Das war eindeutig nicht mehr für die Öffentlichkeit bestimmt. Sehr verführerisch“, bei dem letzten Wort senkte Grant die Stimme ab, so dass sie unweigerlich sehr intim wurde. Der tiefe, raue Ton strich über ihre Sinne. Vielleicht war er wirklich eine Art Callboy. Er machte das viel zu gut und hatte vermutlich oft Erfolg bei den Frauen.
Doch ihre Gesichtsmuskeln wurden starr. Er machte wirklich da weiter, wo er aufgehört hatte? Kein Wort zur Erklärung? Keine Entschuldigung? Der Kerl war dermaßen unverschämt. Da konnte er noch so viele Komplimente mit dieser fantastischen Stimme sprechen! Außerdem hatte sie nicht vergessen, dass er noch am gleichen Abend eine Frau beim Sex angeknurrt hatte und diese vor ihm geflohen war.
„Mit unsittlichen Handlungen in der Öffentlichkeit kenne Sie sich ja aus“, sagte sie möglichst gleichgültig. Dann schenkte sie ihm einen möglichst ausdruckslosen Blick. „Und ich bin mir sehr sicher, dass Sie etwas mehr Verführung als Apfelkuchen gewöhnt sind. Was ich so gehört habe.“ April gratulierte sich, dass sie dieses Mal um einiges cooler klang, als beim letzten Mal. Auch wenn sie sich gleichzeitig kindisch fühlte, weil sie so zickig war.
Aber Grant blieb, wo er war und sah sie nun einfach nur ruhig an. Langsam verschränkte er die Arme vor der Brust und seine dichten Augenbrauen hoben sich.
„Gelauscht? Wohl neugierig.“ Natürlich war er kein bisschen verlegen. Im Gegenteil.
„Es war ja kaum zu überhören“, grollte sie und blickte bedauernd auf ihren Kuchen, der ihr mit seiner Gesellschaft vermiest wurde.
„Du hättest
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Alessandra Storm
Bildmaterialien: Alessandra Storm
Tag der Veröffentlichung: 07.01.2017
ISBN: 978-3-7396-9219-7
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