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Kapitel 1

„Emilia, beeil dich! Du verpasst sonst den Bus“, brüllte Mum die Treppe hoch wie jeden Morgen.„Ja, Mum.“

Ich stand noch vor dem Spiegel und begutachtete mich. In meiner blauen Schuluniform, meinen ordentlich zu einem Pferdeschwanz gebunden roten Haaren und meinem Sommersprossen übersäten Gesicht, sah ich aus wie das brave Mädchen von nebenan. Naja, im Prinzip war ich das auch – ich war eine recht unauffällige aber fleißige Schülerin mit Noten im mittleren Drittel und ich half meiner Mum wo ich konnte, schließlich musste sich jemand um den kleinen Matt(hew) kümmern, während sie noch arbeiten musste. Nach der Schule, holte ich meinen kleinen Bruder immer von der Elementary School ab und ging mit ihm einkaufen, kochte zuhause das Essen und wenn meine Mum Nachschicht hatte brachte ich ihn ins Bett.

Hätte ich einen Dad, wäre mein Leben vermutlich etwas normaler, ich hätte mehr Zeit für Freunde und Hobbys. Ich meine, klar hatte ich einen Vater, aber den habe ich selbst nie kennengelernt. Er war Soldat und ist kurz nach meiner Geburt eingezogen worden um im Krieg dem Land zu dienen. Ich kannte ihn somit nur von Fotos und Erzählungen – und einem Video, welches ich mir immer wieder gerne ansah. Es zeigt den ersten Besuch von meinem Dad kurz nach meiner Geburt und wie er mich zum ersten Mal auf den Arm nimmt. Jedes Mal überkommt mich ein Glücksgefühl, wie er da sitzt und mich stolz anschaut und sagt, wie glücklich er sei, Vater einer so hübschen Tochter zu sein. Verdammt, jetzt fange ich fast wieder an zu weinen. Mein Dad ist jedoch nicht der Vater von Matt. Die jahrelange Abwesenheit und die Ungewissheit, ob mein Vater jemals wieder nach Hause zurückkommt haben meine Mum an ihre Grenzen getrieben. An einem der Abende, wo sie mit Freundinnen unterwegs war und einiges getrunken hatte, passierte es. Ein One-Night-Stand und 9 Monate später hatte ich einen Bruder. Sie selbst hasste sich für das was sie getan hatte und doch liebte sie meinen Bruder von ganzem Herzen.

„Emilia, verdammt, du kommst noch zu spät!“ – „Ich komm ja schon“, sagte ich und ging aus meinem Zimmer, die Treppe runter und in die Küche.

„Hier ist dein Lunchpaket, und denk dran nach der Schule direkt mit Matthew nach Hause zu kommen. In den Nachrichten haben sie einen Sturm angesagt, nicht das ihr da reinkommt! Ich komme heute auch extra früher nach Hause. Habe das gerade mit der Tine abgesprochen, sie kommt etwas früher, damit ich eher gehen kann!“ Ich nickte und packte währenddessen mein Lunchpaket ein.

Matt stand schon angezogen im Flur und wartete auf mich. „Na kurzer“, sagte ich grinsend und wuschelte ihm durch die Haare. Das mochte er so gar nicht und er versuchte sich die Haare direkt wieder zu Recht zu legen. Ich schlüpfte in meine Schuhe und schnappte mir meinen Schlüssel und meine Jacke. Dann öffnete ich die Tür, nahm Matt an die Hand und rief noch kurz „bis später, Mum“, als ich die Tür schloss und durch die Kälte stapfte.

Das Wetter war düster mit graubehangenem Himmel, die Temperaturen lagen gerade mal bei mageren 5 Grad. Ich zog meine Jacke über und lief mit Matt unsere Sackgasse entlang bis zum Anfang, wo an der Ecke direkt die Schulbushaltestelle war. Kaum dort angekommen, konnte ich den Bus auch schon von weitem sehen, ich hielt meine Hand raus, der Bus blinkte und kam direkt vor uns zum Stehen. „Guten Morgen, Miss Holmes.“, sagte der Busfahrer lächelnd und schaute dann zu Matt, „na, Matty, alles klar!“ Er schloss die Türen wieder und ich setzte mich mit Matt auf eine freie Bank.

Nachdem ich meinen kleinen Bruder zur Elementary School gebracht hatte begab ich mich auf den Weg zu meiner Schule, welche mit der Underground schnell zu erreichen war. Ich ging runter zur Station, wo ein Mann laut rief „Haltet den Jungen! Haltet diesen Jungen!“ und im selben Moment wurde ich von einem Jungen, welcher mich zu spät gesehen hatte, angerempelte und mit ihm zu Boden gerissen. Autsch! Er sah mich erschrocken an … Seine Augen, Angsterfüllt und strahlend Blau, seine schwarzen Haare lagen ihm zerzaust in sein blasses Gesicht. Die Männerstimmt wurde lauter „so haltet doch diesen verdammten Dieb“, der Junge schaute erschrocken zu dem Mann hoch, welcher noch etwa 10 Meter entfernt war, rappelte sich auf und rannte davon, schaute aber noch einmal kurz zurück.

Langsam rappelte ich mich auf und merkte erst jetzt, dass ich meine rechte Hand blutete. Ich musste mich beim Sturz geschnitten haben. Der schreiende Mann blieb vor mir stehen, keuchend und schaute wütend in die Richtung in die der Junge verschwunden war, „Mädchen … warum hast du ihn nicht festgehalten!“ Ich stotterte vor mich hin, doch brachte kein richtiges Wort raus. Seine Miene wurde weicher und er fing an mich besorgt anzusehen „Naja, ist nicht so wild, den krieg ich schon noch. Bist du verletzt?“ Ich schüttelte schüchtern den Kopf und versteckte meine Hand hinter meinem Rücken. „Okay, dann bin ich ja beruhigt. Weißt du ich verfolge schon länger eine Bande von Jugendlichen. Sie lungern hier rum und beklauen die Fahrgäste. Diesen hatte ich gerade erwischt, wie er einem Mann die Geldbörse entwendet hat. Kannst du dich erinnern, wie der Junge aussah?“ Noch immer sah ich den Mann leicht verwirrt an und schüttelte dann den Kopf. Warum ich ihm nicht sagte, was ich wusste, konnte ich mir selber nicht erklären. Immerhin hatte ich den Jungen gesehen, doch irgendetwas sagte mir, dass ich es diesem Mann nicht sagen sollte. „Okay, du bist vermutlich gerade noch etwas durch den Wind, was. Wenn dir doch noch etwas einfallen sollte, kannst du dich hier melden“, er reichte mir eine Visitenkarte, „Ruf da einfach an und sag das du mit Oberkommissar Thompson reden möchtest – das bin ich.“ Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie ein weiterer Mann auf uns zukam. „ Ist er Ihnen entwischt?!“ „Ja, leider. Das tut mir leid. Aber den kriegen wir schon noch“ Er verabschiedete sich kurz von mir und wendete sich dann komplett dem anderen Mann zu „Wollen Sie gleich eine Anzeige aufgeben, oder später auf dem Revier vorbeikommen? Diese Bande ist echt hartnäckig …“

Ich sah den Mann an, wessen Geldbörse scheinbar geklaut wurde – ein Anzugträger, schlank, mit großen Augenringen, einer Aktentasche und einer großen, teuer aussehenden Uhr am linken Handgelenk. Er sah aus als habe er einen gutbezahlten Job, vielleicht in der Wirtschaft oder gar in der Politik.

Endlich an der Schule angekommen, hatte ich erst eine Auseinandersetzung mit der Sekretärin, die mir einen Zettel ausstellte, den ich von meiner Mutter unterschreiben lassen musste, da ich mehr als 5 Minuten zu spät war und ging zum Waschraum und versuchte mir das Blut von der Hand zu waschen. Als das Wasser über die Wunder floss, fuhr ein brennender Schmerz durch meine Hand. Gott sei Dank war der Schnitt nicht tief und hatte bereits aufgehört zu bluten. Ich schaute in den Spiegel, doch was ich sah ließ mich erschrecken. Da stand hinter mir der Junge, der mich zuvor in der Underground umgerannt hat. Ich wirbelte herum, doch … der Waschraum war menschenleer. Ich atmete kurz tief durch, beruhig dich, Emilia! Was bist du denn so schreckhaft, trocknete mir die Hände ab und ging dann mit 20 Minuten Verspätung in den Unterricht. Meine Lehrerin war nicht gerade begeistert, sagte jedoch nichts weiter dazu und fuhr mit dem Unterricht fort. Englisch – Mathe – Pause – Bio- Mittagspause – Religion

Das Klingeln der Schulglocke riss mich aus meinen Tagträumen. Ich schaute aus dem Fenster, wo es immer dunkler wurde und bereits der erste Regen fiel. Ich packte meine Sachen zusammen, zog meine Jacke an und holte meinen Regenschirm aus meiner Tasche. Ich ging über den Schulhof und konnte den Schirm kaum aufhalten, weswegen ich ihn deswegen lieber wieder in die Tasche packte. Ich lief zur Underground Station und kam in eine Traube von Schülern, die alle nach Hause wollten.

Ich stieg in die nächste Bahn ein, eng an eng mit den anderen Schülern, die sich lautstark unterhielten: Hhey, Charles, treffen wir uns heute Abend noch? Mary und Sue haben sturmfrei und sie haben ‚Angst‘ wegen des Sturms“. Der Junge lachte amüsiert. „Ach, du willst dir die Sue doch nur klar machen. Meinst du sie lässt dich endlich ran?“ Oh man, dass Kerle immer nur an das Eine denken. Die Bahn kam an der Haltestelle ‚Ickenham‘ zum Stehen, die Türen öffneten sich und ich versuchte mich mit mehrfachem „Entschuldigung, darf ich mal“ und „ich muss hier aussteigen“ durch die Menschenmenge zur Tür durchzuschieben. Im letzten Moment erreichte ich die Tür und sprang auf den Bahnsteig, als die Türen sich auch schon hinter mir schlossen. Die Bahn fuhr an und ich bewegte mich Richtung Ausgang. Auf der Treppe bekam man schon deutlichen Zug vom Wind, der draußen immer heftiger wurde.

Matt wartete schon mit seiner Betreuerin auf mich, die schon alles abgeschlossen hatte. „Guten Tag, Emilia“, sagte sie zu mir und wandte sich dann an Matt, „wir sehen uns dann am Montag wieder, Matthew.“ Sie lächelte und sah mich dann besorgt an. „Macht euch am besten gleich auf den Heimweg. Das Wetter wird immer schlechter, wer weiß, wie stark der Sturm letztendlich noch wird. Schönes Wochenende und Grüße an deine Mama“, sie winkte noch kurz und ging dann zu ihrem Auto und fuhr davon.

Ich drehte mich zu meinem kleinen Bruder und hielt ihm die Hand hin. „Na Matt, wie war es? Habt ihr schön gespielt?“ Er erzählte mir von seinen großen Feuerwehreinsätzen, die er mit David hatte, nachdem ein Haus brannte und sie alle Bewohner retten konnten und dass sie danach zu einer Rettung einer Katze gefahren sind, die nicht mehr vom Baum runter konnte. Dann haben sie noch einen Dinosaurierangriff gemeistert, wobei eines der Fahrzeuge leider kaputt gegangen war … Jaja, die Fantasie eines 4-jährigen ist unbegrenzt, schmunzelte ich leicht. Der letzte Schulbus kam etwa 30 Minuten verspätet auf Grund des Unwetters. Mum machte sich bestimmt schon sorgen. An unserer Haltestelle angekommen verabschiedete sich James, der Busfahrer, von uns, wünschte uns ein schönes Wochenende und fuhr dann weiter.

Kapitel 2

Als wir unsere Straße entlang gingen waren an den meisten Häuser schon die Jalousien runtergelassen, doch vereinzelt konnte man sehen, dass Licht brannte. Nur unser Haus war noch gar nicht auf den Sturm vorbereitet. Es brannte nicht einmal Licht. Ob Mum wohl doch noch länger bleiben musste? Wir gingen die Veranda hoch und ich wollte die Tür aufschließen. Doch diese war bereits offen – wir traten ein und ich schaute mich um. „Mum?“ – keine Antwort. Ich ging in die Küche, doch auch hier war niemand. „Mia, wo ist Mummy?“, fragte mich Matt, doch ich wusste keine Antwort auf seine Frage. Ich sah ihn an und hockte mich runter, „du wartest hier Matt, ja? Ich seh oben nach. Aber vermutlich hat sie einfach vergessen die Tür abzuschließen und kommt jeden Moment zur Tür rein.“ Ich lächelte ihn zuversichtlich an und hoffte, dass er meine Nervosität nicht mitbekam. Denn eigentlich war es gar nicht üblich, dass meine Mum die Tür nicht absperrte und wenn sie verspätet war nicht mal anrief. Ich schaute auf mein Handy – nein, keinen verpassten Anruf und auch keine Nachricht.

Ich richtete mich wieder auf und schaute dann die Treppe hinauf. Knarr Was war das? „Mum?“. Ich ging leicht verunsichert und mit pochendem Herzen langsam die Treppe hinauf. Wenn sie oben war, wieso antwortete sie dann nicht? Und wieso brannte kein Licht? Am Treppenabsatz angekommen, schaute ich mich vorsichtig um. Alle Türen waren verschlossen … nur die zum Schlafzimmer stand einen Spalt weit offen! „Mum?“, kam es wie ein Flüstern aus meinem Mund. Mein Herz pochte immer wilder und ich hörte es deutlich, es grenzte fast schon an ein Wunder, dass Matt es unten nicht hört. Vorsichtig ging ich auf die Schlafzimmertür zu. Jeder meiner Schritte hörten sich für mich so laut an, als würde ich durch das Haus stampfen. Wieder hörte ich Geräusche, es war wie ein Rascheln, als wenn jemand etwas sucht. Dann hörte ich ein Rumps, das Knallen einer Schublade. Da war jemand im Schlafzimmer und durchsuchte Mums Sachen. Ich stand nun direkt vor der Tür und konnte durch den Spalt einen Teil des Zimmers sehen. Doch was ich da sah entlockte mir einen lauten Schrei …

Im Haus wurde es Mucks-Mäuschen still, nur mein Schrei, begleitet vom tobenden Wind, der ums Haus pfiff, erfüllte diese furchtbare Stille. Ich starrte auf den Boden des Schlafzimmers, wo mich glasige, leere, grüne Augen anstarrten, noch feucht von Tränen, die noch an den Wangen hingen. Das rote Haar fiel ins Gesicht und das viele Blut bildete eine riesige Pfütze unterm Kopf: „Mum?!“

Ich stolperte vorsichtig rückwärts als auch schon die Schlafzimmertür aufgerissen wurde und ein großer Mann im Türrahmen erschien. Er sah mich erschrocken an, doch fasste sich relativ schnell und kam leicht torkelnd auf mich zu. Wer auch immer dieser Mann war, er hatte meine Mum getötet und war nun bestimmt nicht auf Frieden aus.

Matt! Ich musste hier schleunigst raus und ihn in Sicherheit bringen und die Polizei alarmieren.

Ich wich weiter zurück und versuchte die Treppe zu erreichen ohne den Fremden aus den Augen zu lassen. „Emilia, was ist los?“, hörte ich Matt von unten hoch sagen, seine Angst war deutlich erkennbar an seiner schwachen, zittrigen Stimme. Wie sollte ich ihm das je erklären, was mit Mum passiert ist? Plötzlich merkte ich im Rücken einen Widerstand. Das Treppengeländer, Gott sei Dank!

Der Mann kam weiter auf mich zu, sein linker Arm hob sich langsam und erst jetzt sah ich, dass er etwas in seiner Hand hielt. Ich vergaß fast zu atmen, als ich die Pistole in seiner Hand sah. Er legte den Kopf schräg und fing an zu sprechen. „Es tut mir sehr Leid … Emilia. Das solltes du nich seh‘n … es sollt keine Zeug‘n geb‘n, doch sie hat‘s verdient … Sie hat mich betrog‘n!“, lallte der Mann vor sich hin. Er richtete die Pistole nun genau auf mich und eine Träne floss seine Wange hinunter. Ich überlegte nun nicht mehr, sondern wirbelte herum und rannte so schnell ich konnte die Treppe hinunter, als sich auch schon ein Schuss löste. Ein höllischer Schmerz durchströmte meinen Körper. Er hatte mich an der Taille erwischt. Ich drückte meine linke Hand auf die Wunde. Ein weiterer Schuss war zu hören, doch er schien daneben zu gehen. Matt schrie wie am Spieß, als ich endlich das Untergeschoss erreicht hatte nahm ich ihn auf den rechten Arm, was mich kurz aufstöhnen ließ, doch das Adrenalin wirkte gegen den Schmerz. Ich hörte, wie der Fremde die Treppe runtergestolpert kam und dabei fluchte und immer wieder meinen Namen schrie. Ich öffnete die Haustür mit meiner freien Hand, die mit Blut bedeckt war.

Draußen peitschte der Wind mittlerweile so heftig, dass ich mich vorbeugen musste um Widerstand zu leisten. Ich sah zu den Nachbarhäusern, doch man konnte nicht viel erkennen und Hilfe konnte man erst recht nicht erwarten. Wir hatten kein gutes Verhältnis zur Nachbarschaft, weil wir nicht reichen, snobbigen Engländer von nebenan waren. Der Mann stand nun schon an der Haustür „Komm zurück, Emilia! Sei ein braves englisches Mädchen!“, sagte er bestimmerisch mit einem starken amerikanischen Akzent wie ich erst jetzt feststellte. Doch ich drehte mich nicht um, sondern lief zum Anfang der Straße. Ein weiterer Schuss war zu hören, dann war Stille. Ich drehte mich immer noch nicht um, wollte einfach nur so viel Abstand zwischen diesem Mann und mir bringen und ich hoffte inständig, dass hier noch ein Bus lang fuhr bei diesem Wetter, doch vermutlich wurde der Betrieb bereits aus Sicherheitsgründen stillgelegt.

Am Ende der Straße bog ich links in die Park Lane ab, auf meinem Arm immer noch mein quengelnder kleiner Bruder, der fragte was los war, wo Mummy war und wer dieser Mann war. Ich musste zum Krankenhaus! Dort waren wir in Sicherheit. Meine Verletzung würde behandelt und sie könnten die Polizei verständigen! Von hier war es etwas eine Meile bis zum Hospital. Der Weg war einfach und unter normalen Umständen dauerte es gerade mal 20 Minuten zu Fuß bis dahin, doch das Wetter und die Umstände würden es erschweren. Ich musste es aber versuchen, einen anderen Plan hatte ich nicht. Die Schmerzen konnte ich inzwischen auch nicht mehr verstecken, aber ich musste es wenigstens bis zum Krankenhaus schaffen. Dann war Matt in Sicherheit! Ich versuchte ein wenig schneller zu gehen und hoffte, dass hier ein Auto lang fuhr, welches uns bis zum Hospital bringen könnte. Jedoch waren die Straßen menschenleer. Das einzige was einem hier begegnete waren heruntergefallene Äste und peitschender Wind. Matt zitterte wie Espenlaub und wurde immer ruhiger. Ich versuchte ihn wach zu halten, dass er nicht einschlief und auch ich zitterte am ganzen Leib.

Es kam mir vor als wären wir bereits eine Stunde unterwegs gewesen, als wir endlich den Park ‚The Green‘ erreichten. Von hier aus war es nicht mehr weit. Lediglich die Rickmansworth Road hoch und dann links den Weg zum Krankenhaus.

Das Zittern hatte sich inzwischen gelegt, Matts Lippen waren leicht bläulich: „Matty, nicht mehr weit. Wir sind gleich da. Halte durch mein tapferer Feuerwehrmann!“ Ein leises Wimmern kam von ihm, was mich jedoch beruhigte. Kurz vor dem Krankenhaus wurden meine Beine immer schwerer und ich versuchte meine Schritte zu beschleunigen, aus Angst meine Beine könnten vorher versagen. Ich sah nur noch den Eingang, an dem keine Menschenseele zu sehen war und blendete alles andere um mich herum aus. Doch das war ein Fehler!

Ich hörte, wie jemand direkt hinter mir eine Vollbremsung machte, als ich über die Straße ging, auswich und mit seinem alten VW-Bus ein paar Meter vor mir zum Stehen kam. Der Fahrer lehnte sich aus seinem Fenster und brüllte „Pass doch auf wo du hin-…“ Der Satz brach ab und er starrte mich erschrocken an. „Du schon wieder!“ In der Dunkelheit viel es mir schwer mehr als seinen Umriss zusehen. Dann stieg der Fahrer aus und kam auf mich zu und blieb vor mir stehen. „Hast du dem Polizisten irgendetwas gesagt, Mädchen?!“ Ich starrte ihn an und brachte ein verwirrtes leises „wie bitte? Ich verstehe nicht“ raus, als er mich am Arm packte und samt meinem Bruder um das Fahrzeug rumführte. Er öffnete die Schiebetür des Busses und sagte „los rein da. Wir haben noch etwas zu klären!“ Er sah Matt an „außerdem solltet ihr bei dieses Wetter nicht mehr draußen rumlaufen.“ „Nein“, sagte ich, „ich muss zur Polizei. Meine Mum …“. Doch mehr brauchte ich nicht raus, zu schwer wurde mein Körper. Die Umgebung fing an sich zu drehen und alles wurde auf einmal schwarz.

Kapitel 3

Chester, mein bester Freund und Mitbewohner, und ich kamen an unserem Unterschlupf, einem alten, verlassenen Firmengebäude am Ufer der Themse, nach etwa einer Stunde an. Nachdem das Mädchen zusammengebrochen war, hatten wir sie und den kleinen Jungen, welcher auf ihrem Arm war, in den VW-Bus gelegt und sind direkt losgefahren. Der Sturm hatte es uns nicht leicht gemacht, da einige Straßen überschwemmt waren und umgestürzte Bäume die Straßen versperrten.

Ich stieg aus und öffnete die hintere Schiebetür. Chester war inzwischen auch ausgestiegen und stellte sich neben mich.

»He, Mädchen, wach auf!«, ich stupste sie an, doch keine Reaktion.

»Ist sie tot?«

»Was laberst du für‘n Müll, Chester?! Natürlich ist sie nicht tot! – Glaub ich …«

»Und was ist mit dem Jungen? Seine Lippen sind ganz blau!«

Ich schaute den Jungen an, den das Mädchen vorher noch getragen hatte. Er war blass und hatte bläuliche Lippen, sein blondes Engelshaar fiel ihm nass ins Gesicht. Schritte kamen von hinten näher.

„Na da seid ihr ja endlich. Habt ihr die Medikamente?“. Es war Katherina, ein braunhaariges, schlankes Mädchen, gerade einmal 20 Jahre alt. Sie war vor etwa drei Jahren zu uns gekommen und hatte uns um Hilfe gebeten. Was ihr geschehen war hatte sie uns nie erzählt, nicht einmal mir, obwohl wir bis vor einem Monat noch miteinander gingen. Um ihr Vergangenes besser ertragen zu können nahm sie regelmäßig Unmengen an Alkohol zu sich, doch ich vermutete, dass es nie dabei blieb.

„Hier fang“, sagte ich in ihre Richtung und warf ihr den Beutel mit den Medikamenten zu. Sie wirkte etwas verblüfft, aber fing den Beutel mit Leichtigkeit auf. „Was starrt ihr denn so in den Bus?“. Ich kletterte in den Bus und fühlte den Puls des Jungen. Er war schwach, doch er war da. Ich hob den Oberkörper leicht an, legte meinen Arm um ihn und nahm seine Beine. Er war so leicht, wog maximal zwanzig Kilogramm, und er war verdammt kalt. Ich kletterte samt Jungen aus dem Bus und ging durch die große Lagerhalle der außerbetrieb stehenden Firma.

Das Haus war recht groß und bestand aus 3 Etagen. Im Erdgeschoss befand sich das riesige Lager sowie die Produktionshalle, welche jedoch seit Jahren leer stand. Michael, der älteste von uns, hatte hier vor etwa acht Jahren sein Lager aufgeschlagen und mit dem damaligen Erbe seines Vaters nach und nach sämtliche Möbel angeschafft. Er hatte mich vor sechs Jahren aufgelesen, genauso wie Katherina vor drei und Chester vor einem Jahr; Er war somit unser Anführer.

Hier in der Lagerhalle war nun unser Wohn- und Hobbyzimmer entstanden. Sofa, Musikanlage, sowie ein Kühlschrank waren auf der einen Seite, und auf der anderen Seite imponierte unser selbstgebauter Skatepark, sowie die ein oder anderen Sportgeräte.

In der ersten Etage waren damals die Büros und Planungsräume der Firma gewesen, welche nun als Schlafzimmer dienten. Da wir hier nur zu viert lebten hatte jeder sein eigenen Rückzugsort und teilten uns drei Bäder, von denen zwei sich im ersten Obergeschoss befanden, das letzte im zweiten. Die Küche war noch voll funktionsfähig und ebenfalls im ersten Stock. Ganz oben befand sich ein großer Tagungsraum, welcher mit reichlich Kissen, Sitzsäcken und Decken ein weiterer Raum war, der zum Ausruhen einlud. Ich war sehr gerne da oben zum Nachdenken, manchmal schlief ich dort auch ein. Die Dachterrasse war von außen nicht einzusehen, weswegen sie einlud, wenn das Wetter draußen angenehm war ohne dass wir gesehen wurden.

Ich legte den Jungen auf eines der Sofa in der Lagerhalle und bat Katherina Decken zu holen, sowie Tee zu kochen. Seine durchnässten Klamotten zog ich ihm vorsichtig aus, damit er nicht weiter auskühlte und deckte ihn mit den Decken, welche Katherina mir kurze Zeit später brachte zu.

Sie mussten eine ganze Weile in dem Sturm gelaufen sein, dass sie so unterkühlt am Krankenhaus angekommen waren.

Am Krankenhaus hatte ich beschlossen sie mitzunehmen, weil das Mädchen mich erkannt hatte und mich das zweite Mal erwischt hatte, wie ich an einem Diebstahl beteiligt war. Es wäre zu gefährlich gewesen, zumal sie auch etwas von Polizei geredet hatte. Zu groß war die Angst, dass die Polizei etwas erfahren könnte und unser Versteck ausfindig machte. Chester war illegal von Afrika nach England gekommen und würde direkt abgeschoben werden. Auch Katherina verschwieg etwas, denn jedes Mal wenn sie Polizisten sah wurde sie ganz unruhig. Es wäre einfach zu riskant gewesen.

Katherina kam mit dem Tee runter, nachdem sie Michael die Medikamente gegeben hatte. „Würdest du dich um ihn kümmern? Ich sehe noch mal nach dem Mädchen. Vielleicht ist sie inzwischen wach geworden“, ich sah Katherina bittend an und sie nickte widerwillig. Man merkte, dass sie immer noch nicht über die Trennung hinweg war, doch das war mir nun gleich.

Ich ging zu dem Mädchen, welches immer noch vor dem Tor der Lagerhalle im Bus lag. „Wie geht es ihr?“, fragte ich Chester, welcher weiterhin versucht hatte, das Mädchen zu wecken. Vergebens. „Nun gut, dann folgt nun Plan B“, ich drehte mich um und holte einen Eimer.

 

***

 

Stille, dann laute Geräusche, Wasserplätschern, Schritte die näher kamen. »Na gut, Mädchen, du hast es nicht anders gewollt«, sagte die männliche Stimme des Fahrers. Platsch machte es, ich schrak auf und fing an zu husten. Wasser lief mir über mein Gesicht. Als ich realisierte, dass mir jemand einen Eimer mit Wasser über meinen Kopf gekippt hatte sah ich mich verängstigt um.

Ich lag in einem kleinen Bus, es war dunkel, doch die Schiebetür stand offen, dahinter helles Licht, aus dem mich vier Augen anstarrten. Ein braunes warmes Paar, welches zu einem Jungen gehörten, der offensichtlich afrikanischer Herkunft zu sein schien. Er trug Klamotten, die schon älter aussahen und ihm etwas zu klein waren. Das andere paar Augen kam mir bekannt vor. Dieses Blau, kalt wie Eis und dennoch tief wie unergründbares Wasser, die blasse Haut und dieses rabenschwarze Haar. Es war der Junge von heute Morgen, der mich an der U-Bahn Station umgerannt hatte.

Ich versuchte mich aufzurichten, doch dabei durchzog mich ein stechender Schmerz und ließ mich wieder zurückfallen. „Was hast du, Mädchen?“, fragte der Junge mit den blauen Augen besorgt. Meine Hand wanderte automatisch zu der Stelle, wo der Schmerz seinen Ursprung zu haben schien. Ich nahm die Hand wieder runter und sah eine rote Flüssigkeit, die sie nun zierte. Blut!

In diesem Moment viel mir wieder alles ein, was zuvor gesehen war und Panik überkam mich. Ich sah mich wieder um … Matt! Wo ist mein kleiner Bruder? Ich richtete mich unter schmerzverzerrtem Gesicht auf und wollte aussteigen. Die Umgebung fing an sich zu drehen… „He, was soll das?“, sagte der Junge mit den blauen Augen und hielt mich fest, sodass ich nicht umkippen konnte, aber auch nicht weglaufen konnte. „Wo ist mein Bruder? Was habt ihr mit ihm gemacht?!“ erwiderte ich, doch das Stehen bekam mir gar nicht gut. Mir wurde immer schwindeliger und die Umgebung um mich herum verschwamm vor meinen Augen. „Jas, sie wird ohnmächtig!“ – „Ja, ich merk es“ hörte ich ihn noch Antworten und seine Arme fingen mich auf.

 

***

 

Das Mädchen wurde wieder ohnmächtig und ich hielt sie fest, sodass sie nicht umkippte. Chester sah mich beunruhigt an „Jas, sie blutet! Bring sie am besten schnell rein, damit wir sie schnell versorgen können und sie raus aus der Kälte kommt. Denn so wie es aussieht, hat sie nicht gerade wenig Blut verloren. Aber bei dem Wetter schaffen wir es nicht zu einem Krankenhaus, das wäre viel zu gefährlich“ Draußen nahm der Sturm immer mehr Fahrt auf und Chester hatte Recht, dass es zu gefährlich wäre sie zu einem Krankenhaus zu bringen. Ich fing an mir Vorwürfe zu machen, dass ich sie überhaupt erst mitgenommen hatte, doch da wusste ich ja noch überhaupt nicht, dass sie verletzt war. Ich hoffte, dass Chester hier helfen konnte. Er war recht geschickt in Erster Hilfe und hatte auch schon einiges erlebt auf seiner Flucht aus Afrika.

Ich sicherte noch einmal den Griff unter ihren Armen und hob ihre Beine hoch, während ihre Arme und ihr Kopf leicht nach unten hingen. Von ihrer Statur her hätte ich sie leichter geschätzt, doch ihre Klamotten waren komplett durchnässt, weswegen sich ihr eigentliches Gewicht schlecht schätzen ließ. Sie trug ihre Schuluniform, die sie auch schon heute Morgen getragen hatte, und einen Wollmantel, welcher so durchtränkt bestimmt schon einige Kilos wog. Ich legte sie ebenfalls auf eines der Sofa in der Lagerhalle und zog ihr den Mantel aus. Es kam mir schon ein wenig eigenartig vor, ein wehrloses Mädchen auszuziehen, aber Chester gehieß es mir so, damit wir die Wunde lokalisieren konnten, während ich die finsteren Blicke von Katherina auf mir spürte.

Als ich ihr den Mantel endlich ausgezogen hatte, was bei der Nässe und einem leblos erscheinenden Körper nicht so einfach war, suchten wir nach irgendwelchen Anzeichen und fanden ein zerfetztes Loch an ihrer linken Taille. „Sieht aus wie ausgerissen, als sei sie irgendwo hängen geblieben oder…“ Nein das konnte unmöglich sein.

„ .. Ein Streifschuss“, beendete Chester den Satz, nachdem ich ihr den Blazer ausgezogen hatte und die Bluse an der Seite der Verletzung aufgerissen hatte. „Ein Streifschuss“, wiederholte ich ungläubig. Wer konnte sie angeschossen haben? Und vor allem warum? „Ja ich bin mir ganz sicher. Von denen habe ich etliche gesehen, als ich noch in Afrika war.“ Ich sah wie Katherina auf einmal schluckte und versuchte etwas zu sagen, doch die Worte wollten nicht raus. Chester forderte sie auf ein paar trockene Klamotten von sich zu besorgen und mir den Verbandkasten aus dem Bus zu holen.

Ich lief eilig zum Bus und suchte den Verbandkasten im Heck. Dabei fiel mir auch erst jetzt die kleine Blutlache am Boden der Ladefläche auf, an der Stelle, an der das Mädchen zuvor gelegen hatte. Mir wurde richtig mulmig zu Mute und ich wurde immer hektischer. Wo zum Henker ist dieser verdammt Verbandkasten?! Endlich fand ich ihn und eilte samt Verbandkasten zu Chester, welcher kurze Zeit später einen sogenannten Druckverband anlegte, nachdem er sich ausgiebig vergewissert hatte, dass sich keine Kugelsplitter in der Wunde befanden. Danach zogen Chester und ich uns für eine Weile zurück während Katherina dem Mädchen die nassen und mit Blut getränkten Klamotten auszog und ihr frische Anziehsachen von sich anzog.

 

„Was unternehmen wir jetzt“, fragte Katherina in die Runde, die einerseits besorgt klang, aber andererseits versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass sie nicht gerade begeistert war, dass das Mädchen hier war. Wir hatten uns zusammen in eine Ecke der Lagerhalle gesetzt, etwas abseits von dem Mädchen und ihrem Bruder und überlegten, wie wir nun weiter vorgehen sollten. Ich sah Chester an, „Meinst du sie schaffen es ohne eine professionelle ärztliche Versorgung? Ich meine, nicht dass deine Versorgung schlecht ist, aber …“

Chester zuckte die Achseln und sagte: „Ich bin kein Arzt, aber zu einem Krankenhaus können wir eh erst fahren, wenn der Sturm nachgelassen hat. Ein Krankenwage wird bei diesem Wetter bestimmt auch nicht fahren, die haben beim letzten Sturm schon aus Sicherheitsgründen keine Fahrzeuge mehr rausgelassen. Mal abgesehen davon, dass wir damit auch unseren Unterschlupf verraten würden und es somit das Ende für so manchen hier sein würde.“ Er machte eine kurze Pause, dann sprach er weiter. „Die Wunde des Mädchens müssen wir beobachten und hoffen, dass sie sich nicht entzündet, aber die Blutung scheint vorübergehend gestillt zu sein. Es sollte eigentlich genäht werden, damit keine große Narbe entsteht, aber auch so würde es verheilen. Bei dem Jungen habe ich eher Bedenken. Die Unterkühlung scheint er so ganz gut überstanden zu haben, jedoch befürchte ich, dass er bald hohes Fieber bekommen könnte und damit ist wirklich nicht zu spaßen.“ Er sah leicht besorgt aus, doch ergänzte dann „wir sollten, beide in den nächsten 24 bis 48 Stunden beobachten und dann weiter sehen. Am besten immer abwechselnd, damit wenn sich etwas verändern, wir es direkt mitbekommen. Ich werde die erste Schicht übernehmen, wenn mich einer um Mitternacht ablöst und so weiter.“

„Ich soll Babysitter spielen? Wer ist das überhaupt und warum habt ihr sie überhaupt hierher gebracht?“ Ich schaute sie wütend an, „dir ist schon klar, dass sie angeschossen wurde oder? Und in ein Krankenhaus bringen ist nun erst einmal nicht möglich. Außerdem weiß sie zu viel. Sie hat mich bereits zweimal gesehen, sie kennt unseren Bus und nun sogar unser Versteck. Wir könnten auffliegen und dann würden sie Chester abweisen und uns festnehmen.“ Katherina schaute das Mädchen missbilligend an. „Wegen deiner Unachtsamkeit haben wir nun also zwei Kinder an der Backe, super gemacht, Jasper!“. Chester mischte sich nun auch ein: „Kath, denk dran, dass du damals auch noch nicht volljährig warst und somit noch ein Kind. Und Michael und Jas haben dich, sowie auch mich, trotzdem in ihre Obhut genommen, weil wir ihre Hilfe brauchten. So wie es aussieht brauchen die beiden hier auch ganz dringend Hilfe!“ Er sah zu den beiden rüber. „und nun geht schlafen. Ich bin hier. Jas, löst du mich um Mitternacht ab?“ Ich nickte und stand auf. Noch einmal sah ich zu dem Mädchen und ihrem kleinen Bruder rüber Was ihnen wohl widerfahren war dachte ich und wandte mich dann ab und ging hoch in mein Zimmer.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 31.12.2014

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