AUF EIN GLAS WEIN MIT DEM GABLESTONE-CLAN
© Norma Banzi
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Gestaltung des Covers:
Norma Banzi
Edition Banzini
Kurvenstraße 25
22043 Hamburg
Ich bin total aufgeregt. Heute darf ich mit Vincent Gable sprechen, meiner zentralen Figur aus der Popstar-Reihe. Während ich schon in seinem Raucherzimmer sitze, muss er noch in seinem Büro nebenan telefonieren. Der Butler Bruno hat mir einen Milchkaffee serviert und mir eine Dannemann Moods herausgelegt. Das ist ein Zigarillo mit Filter. Ja, ja, ich weiß, das ist eine Rauchware für Warmduscher. Wenn ich könnte, wie ich wollte, … Aber lassen wir das. Für Vincent liegt eine schmale Romeo y Julieta bereit. Seit er wegen seiner Leukämie dem Rauchen (fast) abgeschworen hat, gönnt er sich nur noch selten eine Ausnahme.
Endlich betritt Vincent das Zimmer und sein charmantes Lächeln lässt mich dahinschmelzen. Er setzt sich mir gegenüber auf einen Sessel und bietet mir Feuer an. Kurz berühre ich seine kräftige Hand, während ich die Dannemann anzünde. Nachdem auch die Romeo y Julieta brennt, aktiviert Vincent den Dunstabzug und unser Rauch wird durch einen Aktivkohlefilter gepumpt. Ich beglückwünsche mich zu meiner Idee, hochpreisige Küchendunstfilter in die Raucherräume meiner Romanfiguren einbauen zu lassen. Die sind auch nicht so laut wie das preiswerte Modell in meiner eigenen Küche. Fantasiegeld in Romanen gibt sich eben leichter aus als das echte in der Realität.
Ich: „Hallo Vincent! Ich freue mich, dass du Zeit für mich erübrigen konntest.“
Vincent: „Für dich immer, meine Liebe. Ohne dich würde es mich nicht geben.“
Ich: „Stimmt irgendwie! Einige meiner Leserinnen und Leser wünschen sich Figurendatenbögen für die Charas aus der Popstar-Reihe. Aber ich weiß noch nicht, wie ich sie anlegen soll und ob ich mir gerade bei Personen wie dir nicht die Finger wundschreiben würde. Denn du bist ja eine wiederkehrende Figur und hast schon viel erlebt. Deshalb habe ich mich entschlossen, dir fünf Fragen zu stellen.“
Vincent: „Schieß los!“
Ich werde ein bisschen rot als ich sage: „Die erste Frage hasse ich selbst, wenn sie mir gestellt wird, aber du als Anwalt hast bestimmt keine Probleme damit: Also: Bitte stell dich selbst kurz vor!“
Vincent lächelt amüsiert. „Das ist genau genommen keine Frage, sondern eine Bitte. Ich bin Vincent Gable, Anwalt für Vertrags- und Urheberrecht, Vater von vier aufgeweckten Kindern, glücklicher Ehemann von Marc Stone und außerdem romantisch involviert mit der bezaubernden Marina und den beiden coolen Ex-Navy SEALs Orlando und Marius. Geboren und aufgewachsen bin ich in Chicago, wo ich auch die Uni besuchte und mir meine ersten Lorbeeren als Anwalt verdiente. Ich hatte das Glück, ein paar Hollywood-Stars bei ihren juristischen Problemen zur Seite stehen zu dürfen und mein Vermögen wuchs mit der Bedeutung meiner Fälle.
Aufgrund meiner Wurzeln kann ich auf Italienisch fluchen, sonst verstehe ich kein Wort dieser bestimmt sehr schönen Sprache. Meine Mutter brachte mir, meinen Brüdern und Schwestern das Kochen bei und ich habe einen Fundus italienischer Rezepte. Beim Kochen kann ich mich wunderbar entspannen. In meiner Jugend spielte ich Football, mittlerweile ziehe ich das Golfen vor …“
Ich: „Und Bettsport!“, labert mein Mund, bevor sich mein Gehirn einschaltet. Peinlich! Zum Glück grinst Vincent und nimmt mir diese Indiskretion nicht übel.
Vincent zwinkert mir zu: „Bettsport gehört zu einer meiner liebsten körperlichen Betätigungen. Jedenfalls bietet mir der Reichtum die Möglichkeit, mir einen Personal-Trainer zu engagieren. Der achtet darauf, dass ich nicht zu viele Pfunde wegen des guten, italienischen Essens ansetze. Mein Katerchen, Marc, überredete mich schon vor Jahren dazu, Tango zu lernen. Die Tanzlehrer kommen einmal die Woche. Außerdem schwimme ich jeden Tag. Der eigene Pool macht das so einfach …“
Ich: „Ja, ja, mach mich nur neidisch.“
Vincent: „Du hättest ja auch über arme Romanfiguren schreiben können.“
Ich: „Nope! Ich liebe es, meine Romanfiguren im Luxus leben zu lassen. Die Recherche macht ungeheuer Spaß.“
Vincents Gesicht verdüstert sich ein bisschen. Er saugt an seinem Zigarillo und sagt dann leise: „Luxus schützt nicht vor Unglück und Tragödien.“
Ich: „Ja, da habe ich dir einiges zugemutet.“
Vincent zieht eine Braue hoch. „Nicht nur mir, Frau Autorin.“
Ich ziehe noch einmal an meiner Dannemann und stecke sie dann in so einen Aschenbecher mit kleinen Fächern, in denen die Zigarren von allein ausgehen.
Ich: „Darling, wenn es nach mir ginge, dann wäre in deinem und dem Leben deiner Lieben immer nur alles Friede, Freude, Eierkuchen. Aber dann hätte ich keine Leser und dein Leben wäre schon nach dem ersten Roman in der Schublade verschwunden. Ich liebe euch alle, … na ja, außer die ganz bösen Bösewichte …“
Vincent schmunzelt. „Es soll ja Autoren geben, die ihre Bösewichter mehr mögen und interessanter finden als ihre Heldinnen und Helden …“
Ich: „Himmel nein! Dazu gehöre ich ganz sicher nicht. … Also ich mag natürlich Dimitri. So ein russischer Mafiaboss ist nicht zimperlich bei der Durchsetzung seiner Ziele. Aber Dimitri hat einen Moralkodex. Das war mir sehr wichtig.“
Vincent: „Möchtest du noch einen Milchkaffee oder einen Aperitif?“
Ich: „Das, was du gerne als Aperitif trinkst.“
Vincent: „Also Rotwein!“ Er greift zum Telefon, das auf dem Tisch steht und bestellt einen Wein, den ich nicht kenne. Ist bestimmt ein guter.
Ich: „Meine zweite Frage ist indiskret und bezieht sich auf deine sexuelle Orientierung …“
Vincent: „Bestimmte Vorkämpfer für LGBT-Rechte würden sich strikt weigern, eine solche Frage zu beantworten oder sich selbst einzuordnen. Aber ich bin kein Bürgerrechtler …“
Ich frage überrascht: „Bist du nicht?“
Vincent: „Ist das deine dritte Frage?“
Ich: „Nein, nur ein Nachhaken des Verständnisses wegen.“
Vincent: „Man hat schon öfter versucht, mich, Marc und Marina vor einen Karren zu spannen. Wir geben nur ganz selten direkte Statements zu Tagesereignissen ab und lassen uns keine Worte in den Mund legen.“
Ich: „Bei Wikipedia steht, dass du ein einer polyamoren Gemeinschaft lebst. Du hast das niemals angefochten.“
Vincent zuckt mit den Schultern. „Um deine Frage zu beantworten: Ich dachte immer, ich bin stockschwul. Marina war die erste Frau, mit der ich schlief. Aber bei Gruppensexpartys, bei denen sich Männer mit Frauen vergnügten, habe ich auch nicht weggeschaut. Manchmal machte mich der Anblick sogar an. Ich bin zu 98 Prozent schwul und zu 2 Prozent hetero.“
Es klopft an der Tür. Bruno tritt in den Raum und serviert eine bereits geöffnete Flasche Rotwein, um die ein weißes Tuch gewickelt ist. Offenbar vertraute Vincent seinem Butler, denn er verzichtet auf das ganze Weinprobierbrimborium. Als Bruno wieder verschwunden ist, prostet mir Vincent zu. Wow, der Wein mundet! Er ist frisch und leicht und trotzdem reichhaltig an Aromen.
„Schmeckt wunderbar“, sage ich und bin froh, dass Vincent mich nicht fragt, wonach der Wein meiner Meinung nach schmeckt. Bei solchen Fragen versage ich immer kläglich. Wenn andere Zitrusfrüchte aus einem Wein herausschmecken, denke ich immer: Häh? Ich erzähle es Vincent und er schmunzelt amüsiert.
Ich: „Jetzt kommt die Frage, vor der ich am meisten Angst habe …“
Vincent: „Was war dein bisher schrecklichster Tag?“
Ich: „Äh ja …“
Vincent: „Verrate mir deinen, dann verrate ich dir vielleicht meinen.“
Ich: „Das ist vielleicht eine verdammt schwere Frage. Ich bin ja nun auch schon einige Jahre auf der Welt. Als mich als Kind eine Wespe gestochen hat und nicht nur meine Hand, sondern auch mein Unterarm auf das Doppelte angeschwollen sind, das war schon ziemlich blöd …“
Vincent: „Da hast du mir doch einiges Mehr zugemutet, Frau Autorin!“
Ich: „Aber ich bin nur eine langweilige, deutsche Autorin, du bist ein faszinierender Romanheld. Romanfiguren müssen Schlimmes erleben.“
Vincent grollt: „Wer sagt das?“
Ich: „Ohne dramaturgische Tiefen in einem Buch kann es darin keine Höhepunkte geben.“
Vincent: „Ach komm mir doch nicht so!“
Ich schrecke zusammen: „Wir können auch gleich zur nächsten Frage übergehen.“
Vincent fährt sich durch die dichten schwarzen Haare mit den silbernen Strähnen. „Sorry!“, entschuldigt er sich.
Ich: „Ich kann deinen Aufruhr ja verstehen.“
Vincent: „Die Sache mit Jamie hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Ich habe das nur überstanden, weil ich für Marc stark sein wollte.“
Ich schaue in mein Weinglas und weiß gerade, dass alle meine Fans jetzt mit Vincent leiden und mir am liebsten einen Tritt in den Allerwertesten versetzen würden.
Vincent kippt seinen Wein herunter und gießt sich ein zweites Glas ein. Als aufmerksamer Gastgeber füllt er auch mein Glas nach.
„Welches ist dein Lieblingsgericht“, frage ich in die Stille.
„Pizza, Pizza, Pizza“, sagt Vincent und wirkt schon wieder entspannter. “Ich bereite sie gerne zu und ich esse sie auch gerne.”
„Amerikanischer oder italienischer Art?“
„Amerikanisch, italienisch, französisch, völlig egal!“
Ich wundere mich: „Französische Pizza?“
„Elsässischer Flammkuchen, Pissaldière und so weiter.“
Ich nicke, weil ich nicht zugeben möchte, dass ich nicht weiß, was eine Pissaldière ist, wahrscheinlich eine Art belegter Teig vom Blech. Zum Glück werden wir von Marc unterbrochen, der ins Zimmer kommt, sich hinter Vincent stellt, seine Hände um ihn schlingt und ihn auf den Kopf küsst.
„Kommt ihr runter, kochen?“
Ich springe auf und sage: „Klar!
Marc und ich sitzen an der Küchenbar der Gablestone-Villa und ich nippe an meinem Weinglas, während Marc auf dem Kochblog der Familie Gable nachschaut, welches sein Lieblingsgericht ist. Er weiß, welche Fragen ich ihm stellen möchte und will die letzte wohl zuerst beantworten. Manchmal zeigt er mir ein Rezept und sagt: „Das finde ich auch toll!“
Ich: „Möchtest du dich meinen Lesern und Leserinnen nicht erst einmal vorstellen?“
Marc: „Das können die doch alles auf Wikipedia nachlesen.“
Ich seufze.
Marc: „Na gut! Ich bin Marc Stone, Künstlername Angel, ehemaliger Kinderstar, ehemaliger Popstar. Mittlerweile führe ich mit der Jamastone ein eigenes Musiklabel. Ich habe die Firma zusammen mit meinem Cousin Jamie gegründet. Natürlich hat uns Vince dabei geholfen. Das „Ja“ steht für Jamie das „Ma“ für Marc …“ Marc muss schlucken und für einen Moment denke ich, dass Tränen in seinen wunderschönen blauen Augen glitzern, aber er fängt sich.
„Nach der Sache mit Jamie trete ich nicht mehr als Angel auf. Es tut zu weh. Ich kann mich auch als Komponist und Produzent der Musik widmen. Mein geliebter Ehemann Vince unterstützt mich dabei.“ Marc wirft dem am Herd stehenden Vincent eine Kusshand zu.
„Mit meiner süßen Marina habe ich eine leibliche Tochter und drei Stiefkinder.“
Auf dem Computer zeigt Marc mir stolz die Fotos der Familien-Sprösslinge. Ich kann an der Ähnlichkeit mit den jeweiligen Vätern sehen, welches Kind von wem gezeugt wurde.
Marina blickt von ihrem Handy auf und lächelt bei der Erwähnung von Lauren, Ramon, Violetta und Lionel. Eigentlich besteht Vincent darauf, dass seine Lebensgefährtin ihr Handy in ihrem Zimmer lässt, aber vielleicht erwartet sie einen dringenden Anruf und darf es deshalb mit in die Küche nehmen.
Marc fährt fort: „Außerdem bin ich mit Orlando und Marius liiert. Die beiden kommen aber später. Mehr weiß ich jetzt nicht. Na ja, ich könnte dir natürlich auch noch meine offizielle Version vorbeten, Musikpreisgewinne, Oscar und so … Aber du willst deinen Leserinnen und Lesern ja den privaten Marc vorstellen und nicht die Kunstfigur Angel. War das bisher so in Ordnung für dich?“
Ich: „Absolut! Wie würdest du deine sexuelle Orientierung selbst einschätzen? Ich weiß, sowas fragt man eigentlich nicht, aber bei Büchern geht es ja auch um Genreeinordnungen.“
Marc kichert: „Ich bin stockschwul und außerdem marinahetero – het for you, sozusagen.“
Marina strahlt: „Danke, Darling!“
Marc: „Gerne, Schätzchen!“
Ich muss lachen. Het for you gefällt mir und brumme vor mich hin: „Mainstream sind meine Bücher wirklich nicht. Viele Leserinnen mögen es nicht, wenn schwule Romanfiguren plötzlich Lust auf eine Frau verspüren.“
Marc gibt ein zischendes Geräusch von sich: „Ich kann doch nicht mein Liebesleben nach dem Geschmack deiner Leserinnen ausrichten. Ich ficke, mit wem ich will, basta!“
Ich: „Immer mit der Ruhe, Katerchen! Dein Liebesleben ist sicher vor den Einflüssen des Mainstreams!“
Marc gibt mir einen Daumen hoch. „Es klingt komisch, wenn mich jemand anderes als Vince Katerchen nennt.“
Ich schaue betreten: „Sorry!“
Marc: „Nee, mach ruhig. Du als meine Autorin darfst das.“
Ich: „Danke!“
Marc platzt heraus: „Mein schrecklichster Tag in meinem Leben war, als das mit Jamie passierte.“
Marina springt von ihrem Platz auf und nimmt ihn in den Arm.
Marc: „Puh, das habe ich hinter mir.“
Ich nicke ihm zu und freue mich, dass er diese Frage beantwortete, bevor ich sie ihm stellen musste.
Marc: „Und wo wir gerade dabei sind: Der Abend, als Jamie und ich das erste Mal mit Vince schliefen, gehört zu den glücklichsten meines Lebens, gleich gefolgt von dem Tag, als ich erfuhr, dass ich Vater werde.“
Marina kichert: „Du hattest eine Scheißangst, erzählte mir Vince.“
Marc: „Das auch! Hm … Meine Heirat mit Vince war auch ein wunderbarer Tag. Weshalb muss ich mich überhaupt entscheiden?“
Ich: „Musst du ja nicht.“
Marc: „Kannst du bitte dafür sorgen, dass Vince und ich Marina heiraten dürfen?“
Ich: „Bitte? Wie soll das gehen.“
Marc: „Na es ist doch deine Romanwelt.“
Ich: „Die sich an der Realität orientiert.“
Marc: „Du schreibst doch auch Science Fiction.“
Ich verdrehe die Augen: „Ja, aber mit anderen Romanfiguren.“
„Pft!“ Marc schmollt und ich lasse ihn eine Weile, während mir Vincent ein Tellerchen mit Soße zum Kosten gibt. Lecker, lecker, lecker!
Marc konzentriert sich wieder auf den Kochblog, bis er plötzlich ruft: „Ich hab`s! Mein Lieblingsgericht ist der Apple Crumble! Immer, wenn wir von einer anstrengenden Tour nach Hause kamen, servierte meine Mom Apple Crumble mit Vanillesoße oder Schlagsahne.“
Ich: „Sehr kuschelig!“
Marc strahlt mich an und schnappt sich das Haustelefon, ruft jemanden an und sagt nach kurzer Zeit: „Lisette! Machst du bitte am nächsten Backtag Apple Crumble nach dem Rezept meiner Mutter für uns?“ Die Haushälterin stimmt wohl zu, denn als Marc den Hörer wieder auflegt, strahlt er über das ganze Gesicht.
Orlando und Marius sind noch mit den Hunden draußen, während Vincent schon mit dem Kochen begonnen hat. Marina hat aufgehört, mit ihrem Handy zu spielen und plaudert nun mit mir. Sie wünscht sich eine Assistentin, ich soll sie ihr bitte in die Buchserie schreiben.
Ich: „Für Einstellungen ist Orlando zuständig.“ Kaum habe ich das gesagt, als die beiden Hunde in die Küche gewuselt kommen und sich auf ihre Wassernäpfe stürzen. Schade, dass die Katzen nirgendwo zu sehen sind. Als Orlando und Marius Hand in Hand hereinschlendern, macht mein Kreislauf einen Satz. Oh mein Gott! Ich schmelze vor so viel männlicher Präsenz dahin. Die beiden wirken in Natura noch größer und muskulöser als in den Büchern. Marina kichert und drückt mir auf das Kinn. Ich habe gar nicht gemerkt, dass mein Mund offen steht.
Marina: „Ich finde sie auch heiß.“
Marc springt auf und drückt Marius einen Kuss auf den Mund, Orlando stellt sich hinter Vincent, küsst ihn auf den Nacken und flüstert ihm etwas ins Ohr, was diesen lachen lässt. Dann richtet sich sein Blick auf mich. Sein Tonfall wirkt warnend, als er sagt: „Hallo Norma!“
Er ist bereit, meine Fragen zu beantworten, aber ich soll es ja nicht wagen, Marius zu belästigen, der ihm nun seinerseits ein amüsiertes und gleichzeitig strenges „Lando!“ entgegenhält.
Marius: „Hallo Norma, schön dich einmal persönlich kennenzulernen.“
Ich strahle ihn an und wahrscheinlich sende ich ihm Herzchen mit meinen Augen: „Gleichfalls!“
Marius zwinkert mir charmant zu. Da blitzt der Mann von früher durch, als Marius noch Mike hieß und eine so außergewöhnliche erotische Ausstrahlung hatte, dass ihm praktisch niemand widerstehen konnte.
„Wollen wir uns an den Tisch setzen?“, fragt Vincent. Offenbar ist das Essen fertig gekocht und es kann losgehen. Der Butler und die Haushälterin tauchen auf. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass Vincent sie herbeizitiert hat. Vielleicht wissen Bruno und Lisette aber auch von sich aus, wann sie gebraucht werden. Vincent geleitet mich aufmerksam zu meinem Sitzplatz am einen Ende des Tisches, auf dem Weg zu dem seinen am anderen Ende gibt er Marina einen spielerischen Klaps auf den Po. Süß!
Marina und Marc setzen sich jeweils neben ihn und einander gegenüber, Marius gesellt sich zu Marina. Orlando nimmt neben Marius Platz. Zwei Stühle auf der anderen Seite des Tisches bleiben frei. Dort sitzen wahrscheinlich normalerweise Lauren und Ramon. Der Tisch kann auch ausgezogen werden, wenn sie noch mehr Gäste in ihrer Küche bewirten wollen. Das Speisezimmer nutzen sie nur zu größeren Anlässen.
Ich liebe es, neben meiner Lieblingsfigur Orlando zu sitzen, aber ich weiß, dass er sich nicht aus Sympathie dorthingesetzt hat. Er bildet bewusst ein Bollwerk zum Schutz seiner Lieben … vor mir. Das amüsiert mich ein bisschen. Ich bin die Autorin, vor mir gibt es keinen Schutz.
Bruno füllt die Wein- und Wassergläser und serviert die von Lisette in schönen Schalen angerichtete Vorspeise, eine Tomatencremesuppe mit Hechtstreifen. Die Tomaten, aus denen die Suppe gekocht wurde, stammen von dem Gut, das Marinas Großmutter bewirtschaftet, und wurden in Frankreich von dieser selbst eingekocht. Die Weckgläser fanden im Diplomatengepäck von Marinas Vater den Weg nach Los Angeles. Die Suppe schmeckt wunderbar. Ich mache Vincent ein Kompliment.
Marius überrascht mich mit: „Darf ich anfangen?“
Ich: „Womit willst du anfangen?“
Marius: „Deine Fragen zu beantworten.“
Ich: „Äh … Orlando hat mir deutlich gemacht …“
Marius: „Ich entscheide selbst über mein Leben.“
Orlando presst die Lippen zusammen, sagt aber nichts.
Ich: „Dann stell dich bitte vor, lieber Marius.“
Marius: „Ich wurde als Daniel Hochleitner in eine Amish-Familie geboren, änderte meinen Namen in Mike Grell, als ich zur Navy ging und noch einmal nach meiner schweren Kopfverletzung, bei der ich mein Gedächtnis verlor. Ich weiß das aus Erzählungen der anderen. An meine Zeit als Daniel oder Mike kann ich mich natürlich nicht erinnern. Nach meiner Zeit als Navy SEAL arbeitete ich als Luxuscallboy …“
Marius errötet. „Laut Orlando war ich vor dem Anschlag auf mein Leben eine Art anpassungsfähiges Sextalent, ein Mutable auf dem Gebiet der Erotik. Ich finde das ehrlich gesagt etwas schräg …“
Marina mischt sich ein: „Es ist wahnsinnig romantisch, dass du Orlando gesehen hast und sofort wusstest, dass er der Eine für dich ist. Wie heißt das Buch doch gleich, Norma?“
Ich: „Two Snipers – Ein perfektes Team“.
Marius wirkt plötzlich grüblerisch. „Vielleicht sollte ich es lesen und mir fallen mehr Dinge aus meiner Vergangenheit ein. Das würde Orlando bestimmt gefallen.“
Orlando nimmt Marius‘ Hand und küsst sie.
Ich: „So einfach ist das nicht. Ihr seid die Buchfiguren, ihr könnt leider nicht selbst eure Bücher lesen.“
Marc: „Schade!“
Marius: „Jedenfalls habe ich die Zeit meiner Rekonvaleszenz nach dem Anschlag nur sehr unklar in Erinnerung. Ich ging nach New York, weil mich hier alles zu sehr stresste. Ich erinnerte mich ja auch nicht an die anderen …“
Ich: „Sind mittlerweile einige Erinnerungen zurückgekommen?“
Marius: „Nein, nicht wirklich. Aber eine Liebe wie die von Orlando und mir ist einfach stärker als das Schicksal und eine Autorin, die ihre Romanfiguren so schreckliche Sachen erleben lässt.“
Ich werde rot und ernte einen hasserfüllten Blick von Orlando. „Tut mir leid“, flüstere ich.
Marius: „Na ja … was soll ich sonst noch über mich erzählen? Ich arbeite für die New Yorker Firma Carter & Weber Security, kann das aber hier in Los Angeles im Home Office erledigen. Ich lebe mit Orlando und bin liiert mit Vince, Marc und Marina. Manchmal wird mir immer noch alles zuviel und dann ziehe ich mich in meine kleine Wohnung auf dem Grundstück der Jamastone zurück.“
Orlando küsst Marius auf die Schläfe. „Iss deine Suppe zuende“, sagt er sanft.
Oh ja, die Suppe. Ich löffele selbst meinen Rest aus der Schale und würde sie am liebsten auslecken, was sich natürlich nicht gehört.
Als Bruno den ersten Gang abräumt, sage ich zu Orlando: „Ich bin erstaunt, dass du den anderen von den Mutables erzählt hast.“
Marc und Marina kichern.
Orlando: „Die beiden Spaßvögel glauben mir sowieso nicht, Vincent hält dicht und für Marius war diese Information wichtig, damit er sich besser versteht.“
Ich: „Unterliegt das Projekt nicht der Geheimhaltung?“
Orlando: „Ha, da bist du in deinen Romanen selbst inkonsequent. Einmal schreibst du, dass es der Geheimhaltung unterliegt, ein anderes Mal, dass nur die Einzelheiten geheim sind, beispielsweise in „Konsequenzen“.
Ich: „Wirklich?“
Orlando: „Yep!“
Ich zucke mit den Schultern. „Na ja, da kann sich dann wieder irgendein Rezensent drüber aufregen.“
Bruno serviert jetzt einen Zwischengang, eine Art Minisalat mit einem Dressing, in das ich mich reinlegen könnte, so gut schmeckt es.
Ich zu Marius: „Was war dein bisher schönstes Erlebnis?“
Marius: „Schwer zu sagen! Meine Emotionen sind manchmal ein bisschen durcheinander. Vielleicht, als es mir gelang, den Soldaten Mike in mir mit mir selbst in Einklang zu bringen.“
Ich: „Du hast eine Zeitlang die rudimentären Erinnerungen von früher als fremd empfunden, nicht zu dir gehörend?“
Marius nickt.
Orlandos Blick scheint Dolche in meiner Richtung zu werfen. Ich soll es ja nicht wagen zu fragen, was Marius‘ bisher schlimmstes Erlebnis war.
Marius drückt ihm einen Ellbogen in die Seite. „Ich bin nicht so schwach.“
Orlando: „Das weiß ich.“
Marius: „Also … mein schlimmstes Erlebnis war, als mich zwei Männer abpassten und mir schreckliche Dinge aus Orlandos Vergangenheit erzählten, die sie völlig aus dem Zusammenhang rissen, um mich gegen ihn aufzubringen.“
Marina: „Davon weiß ich ja gar nichts.“
Vincent: „Das hat sich alles längst erledigt.“
Marc: „Ich finde es doof, wenn du und Orlando Geheimnisse vor mir habt.“
Vincent: „Wir haben keine Geheimnisse, wir sagen dir nur nicht alles.“
Marc: „Wo liegt der Unterschied?“
Vincent: „Das war eine Sache zwischen Orlando und Marius, die die beiden mir im Vertrauen erzählten. Als Anwalt trage ich Wissen in mir, das ich nicht an dich weitergeben darf.“
Marc: „Sie erzählten es dir in deiner Eigenschaft als Anwalt?“
Vincent nickt knapp und Marc seufzt, scheint aber mit dieser Erklärung halbwegs zufrieden zu sein. Marina schaut schon wieder heimlich auf ihr Handy.
Ich an Marius: „Ich bin froh, dass du nicht auf diese Ungeheuer hereingefallen bist.“
Marius: „Du hast die Szene erdacht und geschrieben.“
Ich: „Aber es war deine Charakterstärke, die dich hat widerstehen lassen. In gewisser Weise haben meine Romanfiguren eine Art eigenen Willen. Wenn ich sie innerhalb ihrer Parameter agieren lassen möchte, kann ich ihnen nicht alles auf den Leib schreiben, was mir gerade einfällt.“
Marius: „Danke, dass du mich für charakterstark hältst.“
Ich: „Ich lege im Prinzip alle meine Romanfiguren charakterstark an. Hm … vielleicht ist das eine Schwäche von mir.“
Orlando grollt: „Eine Schwäche?“
Ich: „Na wenn Romanfiguren zu viele Stärken haben, ist das problematisch …“
Orlando schnauzt: „Wer sagt das?“
Er möchte wohl nicht, dass ich ihn schwächer schreibe und schaut mich böse an, es ja nicht zu wagen. Ich hebe meine Hände und mache ein entschuldigendes Gesicht.
Marc: „Findest du mich auch charakterstark?“
Ich: „Na klar, allerdings bist du manchmal ziemlich nervig.“
Marc lächelt. Ihm ist es egal, dass ich ihn nervig nenne. Er freut sich darüber, dass ich ihn als charakterstark betrachte. Süß!
Marius zu mir: „Jetzt möchtest du sicher wissen, wie ich selbst meine sexuelle Orientierung einordne?“
Ich schaue etwas nervös zu Orlando, der allerdings gerade dabei ist, Bruno seine leere Suppenschale zu reichen.
Ich zu Marius: „Wenn es dir nicht zu viele Umstände macht.“
Marius: „Ich denke, ich bin bisexuell. Mich erregen Männer und Frauen, also bin ich wohl bi. Lando behauptet, dass Mike den Sex mit Männern etwas lieber mochte. Für mich kann ich das noch nicht sagen. Frag mich in ein oder zwei Jahren noch einmal.“
Mir entfleucht ein: „Aber mit Orlando schläfst du am liebsten?“
Marius lacht etwas verschämt. „Er ist ein Meister darin, mich um den Verstand zu vögeln.“
„Nicht nur dich“, kommentiert Marina die Aussage und Marc rutscht nervös auf seinem Stuhl herum. Vincent lächelt amüsiert.
Orlando sagt: „Der Meistervögler in unserer Gruppe ist Vincent.“
Vincent ziemlich ungeniert: „Danke für dein Vertrauen, Lando.“
Die Männer lächeln sich liebevoll zu.
Jetzt wird die Hauptspeise serviert. Es gibt Lammkarree mit einem Knoblauch-Kartoffelpüree und Prinzessbohnen im Speckmantel. Himmel, kann dieser Mann kochen! Das Fleisch ist auf den Punkt gelungen, die Soße ein Gedicht. Ich strahle Vincent an. „Danke für diesen Genuss!“
Vincent: „Keine Ursache!“
Marius murmelt: „Vielleicht sollte ich doch mal wieder Shepherd‘s Pie probieren, so gut, wie dieses Lamm schmeckt.“ Dann blickt er zu mir: „Mein Lieblingsgericht ist Cottage Pie, also die Variante mit Rindfleisch. Orlando sagt, ich mochte früher auch die Variante mit Lammhack.“
Ich: „Ich mag beide Versionen sehr gerne. Es ist aber nicht mein Lieblingsgericht.“
Vincent blickt mich interessiert an. „Was ist deines?“
Ich: „Vielleicht sage ich es nach Abschluss meiner Interviewreihe. Ich kann es dir aber später unter vier Augen flüstern.“
Marc kichert. „Du willst ja nur mehr Zeit mit Vince verbringen.“
Ich: „Ich mag euch alle … Na ja, außer die Bösewichte.“
Marc wirft mir eine Kusshand zu.
Nach der wunderbaren Hauptspeise möchte Orlando eine kurze Runde im Garten drehen und fragt mich, ob ich ihn begleite. Mit anderen Worten: Er will nicht, dass wir sein Interview in Gegenwart der anderen führen. Luis springt von dem Hundekissen auf, das er sich mit Whity teilt, und folgt uns.
Der Sicherheitschef Joel verdreht die Augen, als er uns über den Weg spazieren sieht. Orlando und er zünden sich Zigaretten an und reden über irgendwelche Sicherheitsbelange, während ich dem Chihuahua einen kleinen Ball werfe, den er eifrig immer wieder zu mir zurückbringt. Endlich spazieren Orlando und ich weiter. Der Weg ist schön beleuchtet. Abrupt beginnt Orlando zu sprechen:
„Der Katholizismus ist eine gnadenlose Religion, oder? Er verbietet es vergewaltigten Frauen, die ihnen aufgezwungenen Kinder abzutreiben. Meine Erzeugerin ist nicht besonders gläubig. Weshalb sie ausgerechnet dieses Gebot befolgt hat, nachdem mein Erzeuger sie brutal überfallen hat, ist mir ein Rätsel. Er wurde übrigens wegen dieser Tat verurteilt und starb im Gefängnis.
Meinen Namen gab mir eine mitleidige Krankenschwester, als die Frau, die mich geboren hat, mich in der Geburtsklinik ignorierte. Ich denke, meine Erzeugerin nahm mich nur mit nach Hause, weil ihre Familie ihr eine monatliche Rente versprach, wenn sie sich um mich kümmert. Die Ramirez sind sehr wohlhabend. Irgendwie habe ich meine ersten Jahre überlebt, was nicht an meiner Erzeugerin lag. Soweit ich weiß, kümmerten sich eine Nachbarin und eine meiner Tanten um mich, bis ich alt genug war, selbst an den Kühlschrank zu gehen, um mir dort mein Essen zu holen. Ich will deine Leserinnen und Leser nicht mit den traurigen Einzelheiten meiner Kindheit nerven. Jedenfalls hatte ich meistens genug zu essen, weil meine Erzeugerin einen Lieferdienst beauftragte. Solange ich ihr aus dem Weg ging, ließ sie mich zufrieden …“
Orlandos Gesicht bleibt die ganze Zeit unbewegt. Er macht nur eine kleine Pause, weil er mit der Taschenlampe in einen Busch leuchtet, dann redet er weiter:
„Ich bin ein Mutable, ein Anpassungsfähiger, jemand, der praktisch in jede Rolle schlüpfen kann, die er will. Außerdem lerne ich Sprachen rasend schnell. Ich war Soldat bei der Navy und habe nach meinem Abschied Literatur studiert …“
Orlando öffnet die Gartentür zur Eventvilla und ich schlüpfe hindurch. Zum Besitz gehören drei Villen. Die Gablestone-Villa liegt in der Mitte. Die Gärten sind in einem einheitlichen Konzept angelegt, allerdings werden die Grundstücke durch Sicherheitszäune voneinander getrennt. Man kann sie durch Gartentüren passieren, die mit Handscan geöffnet werden.
„Bei der Navy lernte ich Mike kennen. Wir verliebten uns auf den ersten Blick ineinander. Er war mein Spotter.“
Ich: „Und du der Scharfschütze.“
Orlando: „Yep! Hast du mich so düster angelegt, um ein Gegengewicht zu meinen außergewöhnlichen Talenten zu schaffen?“
Ich: „Nein, es war keine bewusste Entscheidung. Aufgrund deiner Kindheit ergab sich der düstere Aspekt fast ganz von selbst.“
Orlando: „Hm …“ Es klingt dunkel und gefährlich und ich stolpere. Orlando hält mich. „Brich dir nicht das Genick, du musst noch meine Hochzeit mit Marius schreiben. Und keine unangenehmen Überraschungen an diesem Tag, wenn ich bitten darf.“
Ich: „Setz mich nicht unter Druck! Außerdem musst du ihn erst fragen. Aber nicht zu früh, sonst verschreckst du ihn!“
Wieder knurrt Orlando. Luis kommt angelaufen, um zu schauen, ob alles in Ordnung ist. Orlando krault ihn kurz hinter den Ohren und der Hund wuselt wieder fort.
Ich: „Du hast eine Zeitlang als Butler für Vincent gearbeitet?“
Orlando: „Stimmt! Und danach als Kinderbetreuer von Lauren. Bis der Sex uns dazwischen gekommen ist.“
Ich: „Bereust du die persönlichen Entwicklungen?“
Orlando: „Ist das deine dritte Frage?“
Ich: „Ha, ha! Das ist eine Unterfrage zur ersten Frage.“
Orlando: „Marius, Vincent, Marc, Marina und die Kinder sind meine Familie. Wie könnte ich also etwas bereuen?“
Ich: „Das hast du süß gesagt.“
Orlando: „Ich bin nicht süß!“
Ich: „Zum Anbeißen!“
Ich erwische Orlando bei einem kleinen Lächeln. Ganz so schrecklich findet er es offenbar nicht, von mir als süß bezeichnet zu werden. Er führt mich in die Küche der Eventvilla, wo er in den Kühlschrank greift und einen Karton herausholt.
Orlando: „Der Nachtisch!“
Ich: „Was ist da drin?“
Orlando: „Das wirst du ja dann sehen.“
Ich: „Hoffentlich keine Cupcakes.“
Orlando hebt eine Braue. „Magst du die nicht?“
Ich: „Jedenfalls mag ich andere Sachen lieber. Aber bestimmt sind die Cupcakes von Nicolas und John wahnsinnig lecker. Welches ist übrigens dein Lieblingsessen?“
Orlando überlegt, als wisse er spontan keine Antwort auf die Frage. Dann sagt er: „Meine Erzeugerin beschäftigte eine Weile eine Haushälterin, die das für mich bestimmte Essen aus dem Kühlschrank stahl. Ich durfte die Sachen für meine Mutter nämlich nicht berühren. Diese Diebin wusste ganz genau, dass die Frau, bei der ich lebte, mich verprügelt hätte, wenn ich ihr von den Diebstählen erzählt hätte. Also musste ich hungern. Einer meiner Mitschüler hatte Mitleid mit mir und gab mir von seinen Sandwiches ab. Seine Mutter kaufte sie immer fertig verpackt im Laden. Weißt du, was ich meine?“
Ich: „Ja, die in den eckigen Plastikverpackungen?“
Orlando: „Genau! Die mag ich immer noch sehr gerne.“
Ich: „Echt?“
Orlando: „Yep!“
Ich: „Andere Leute würden sagen, dass ihnen die Dinger zu pappig sind.“
Orlando: „Mir nicht.“
Ich lege ihm sanft eine Hand auf die Schulter. „Ich mag die Schnittchen auch. Am liebsten die mit Ei, Gurke, Käse und Majonäse.“
Orlando lächelt mich an – ein bisschen jedenfalls.
Ich: „Wenn du möchtest, können wir die Frage nach deinem schlimmsten Erlebnis auslassen.“
Orlando: „Als ich in Marius` Wohnung in New York saß und mir selbst einen Dolch zwischen die Rippen rammen wollte, weil ich Angst hatte, ihm in meiner Wut zu schaden.“
Ich: „Oh Gott, das war vielleicht eine grauenhafte Szene.“
Orlando: „Wenn sie für dich auch so schrecklich war, weshalb hast du sie dann geschrieben?“
Ich: „Weil die Situation immer mehr eskalierte, ohne, dass ich dafür etwas konnte. Ich …“
Orlando: „Schon gut, ich bin selbst Autor und verstehe, was du meinst.“
Wir gehen eine Weile schweigend nebeneinander. Orlando führt mich noch zum Grundstück der Jamastone und ich bewundere den Kräutergarten des Hausmeisters.
Ich: „Magst du mir deinen bisher schönsten Tag verraten?“
Orlando: „Als mir klar wurde, dass Mike mich liebt, ich sein bin und er mir gehört.“
Ich: „Das war in Afghanistan?“
Orlando: „Yep!“
Ein Dobermann rast heran und ich bleibe wie angewurzelt stehen. Das muss Lady sein, die junge Hündin des Hausmeisters. Eigentlich halte ich Dobermänner nur für zu groß geratene Pinscher, aber Lady hat etwas so Schneidiges an sich, dass sie mich doch erheblich einschüchtert. Ein Pfiff ertönt und Lady trollt sich. Ich suche mit Blicken nach Steven, kann ihn aber nirgends entdecken. Orlando führt mich jetzt zurück auf das Gablestone-Anwesen. Bevor wir das Haus wieder betreten, sagt er noch: „Ich bin übrigens mehr an Männer als an Frauen interessiert. Wenn du unbedingt eine Zahl wissen möchtest, vielleicht 60/40.“
Ich: „Vielen Dank für das Gespräch. Ich weiß, es muss dir schwer gefallen sein.“
Orlando neigt den Kopf.
Ich: „Ich geh schnell noch in dieses wunderbare Gästebad, mir den Hundesabber von den Händen waschen.“
Orlando zwinkert mir zu. „Lass dir ruhig Zeit, an den Parfümen von Marina zu riechen.“
Statt zurück in die Küche führt mich Orlando in Marinas Zimmer. Es ist, oh Wunder, aufgeräumt. Marina lächelt mich an. „Du schreibst ja immer, mein Raum sei total unordentlich. Ich wollte dir das Gegenteil beweisen.“
„Wer hat aufgeräumt? Orlando?“
„Ha, ha, sehr komisch“, antwortet Marina und ihre Wangen röten sich sanft. „Wir haben es zusammen getan. Er hat mir dabei geholfen.“ Sie wirft ihrem Lebensgefährten, der in der Tür steht, eine Kusshand zu. „Du kannst uns jetzt alleine lassen, ma panthère.“
Orlando zögert einen Augenblick und geht dann. Ich finde es ja rührend, wie er alle seine Lieben vor mir beschützen möchte, obwohl das gar nicht geht, weil ich die Autorin bin. Neugierig schaue ich auf den Schrank, in dem Marina die Kosmetik aufbewahrt, die sie von den Firmen zugesandt bekommt. Sie führt mich dorthin und lässt mich stöbern. „Du kannst mitnehmen, was dir gefällt.“
„Das geht leider nicht. Aus einer Romanwelt kann ich nichts mit in die reale nehmen.“
„Doof!“
Wir setzen uns gemeinsam auf die Couch und der Butler Bruno bringt kurz unsere Weingläser vorbei.
„Also, dann stelle ich mich mal selbst vor“, beginnt Marina. „Ich bin Marina Bernard. Beruflich arbeite ich als Model, Bloggerin und Influencerin bei Instagram. Außerdem moderiere ich Koch- und Lifestylevideos, die Kochvideos zusammen mit unserem Hausmeister Steven. Dabei kann ich gar nicht kochen. Ich agiere als ungeschickte Assistentin von Steven. Das ist ein Running Gag der ungeheuer gut beim Publikum ankommt.“
„Ich bin übrigens ungeheuer neidisch auf deine Abonnentenzahlen in den sozialen Medien“, verrate ich Marina. „Mein Instagram-Account Beschwipstes Kochen hat gerade einmal 70 Follower.“
Sofort zückt Marina ihr Handy und ruft Beschwipstes Kochen auf. „Cool! Ich folge dir gleich mal. Ich kann auch Werbung für dich machen.“
„Leider hilft mir Werbung in der fiktiven Welt nicht im realen Leben.“
„Wie blöd!“ Nachdenklich nippt Marina an ihrem Weinglas. „Ach ja, mein Privatleben ist ja für deine Leserinnen auch interessant. Also: Als Diplomatentochter bin ich viel in der Welt herumgekommen. Das hat Spaß gemacht. Jetzt bin ich aber froh, in der Gablestone-Villa ein Zuhause bei meinen Schätzen Vincent und Marc gefunden zu haben. Also ich reise immer noch gerne. Als Model wäre es ja doof, wenn man das Reisen hassen würde. Ich bin Mutter von vier entzückenden Kindern. Die Fotos von Lauren, Ramon, Lion und Violetta habe ich dir ja schon gezeigt. Wenn du möchtest …“
„Himmel! Kein Kontakt mit den Kleinen, bitte. Orlando würde die ganze Zeit mit finsterem Gesicht dabei stehen und mich mit Argusaugen beobachten. Sie sind auch noch zu klein, um sie interviewen zu können.“
Marina kichert. „Gute Ausrede! Magst du keine Kinder?“
„Doch, die, die ich mir selbst erdacht habe. Lauren ist so ein charmanter Naseweiß und Ramon hat einen ziemlichen Bewegungsdrang, oder?“
Marina nickt. „Und die Zwillinge sind praktisch immer gut gelaunt.“
Ich wundere mich. Babys, die immer gut gelaunt sind? Brüllen die nicht ständig?
„Bitte, bitte, bitte sorge doch dafür, dass ich Marc und Vince heiraten kann.“ Marina schaut mich so hoffnungsvoll an, dass ich ihr kein zweites Mal vorbeten möchte, dass sich eine Contemporary an der Realität orientiert und ich nicht einfach irgendwelche Gesetze erfinden kann, um meinen Lieblingsromanfiguren diesen Herzenswunsch zu erfüllen.
Ich werde darüber nachdenken“, verspreche ich ihr. Marina umarmt mich spontan und drückt mir einen Kuss auf die Wange. „Danke!“
Zum Glück will sie nicht auch noch Orlando und Marius heiraten, ihre beiden anderen Lover und Gefährten.
„Wie ordnest du deine sexuelle Orientierung ein?“, frage ich sie.
„Hetero, aber experimentierfreudig. Du könntest ruhig einmal eine lesbische Szene mit mir ausschreiben.“
„Geht nicht, meine Leserinnen wollen lieber M/M-Action.“
„Da bin ich aber froh, dass du mich dabei nicht vergisst.“
„Die Freiheit nehme ich mir.“ Wir grinsen uns an.
„Nun wird es etwas unangenehm“, beginne ich.
„Ach, du möchtest wissen, was mein schrecklichstes Erlebnis war – der Unfall, bei dem ich fast Lauren verloren hätte und der zu einer Frühgeburt geführt hat.“ Obwohl es warm im Raum ist, fröstelt Marina und sie streicht sich über die Arme.
„Oh je, es hat mir richtig weh getan, als ich diese Szenen schrieb.“
Marina springt auf, zieht sich vor dem großen Spiegel ihren Lippenstift nach und sagt: „Wollen wir runter, den Nachtisch essen?“
„Gerne“, sage ich und lächele sie an. Wir schlendern die große Treppe hinunter und ich frage sie dabei: „Was ist dein Lieblingsessen?“
„Ach, ich bin nicht wählerisch, aber bei meiner Großmutter schmeckt es mir am besten. Ich bin froh, dass Papa regelmäßig ihre Fresskörbe in seinem Diplomatengepäck aus Frankreich in die USA schmuggelt.“
Mit Frank Gable, dem ältesten Bruder von Vincent, treffe ich mich in einem Geschäft für spezielle Lederbekleidung. Er begrüßt mich herzlich an der Tür und führt mich zu einer Sitzecke mit einer Ledercouch und zwei Chromglastischchen. Dort steht ein Kühler mit einer Prosecco-Flasche darin. Frank ist sehr aufmerksam. Er hat also mitbekommen, dass ich Prosecco lieber mag als Champagner. Außerdem wurde eine Auswahl von Tapas für mich vorbereitet. Ich sehe Käse, Schinken, verschiedene eingelegte Speisen und Dips.
Als ich mich setze, bemerke ich, dass sich außer uns kein anderer Kunde im Verkaufsraum befindet. Von irgendwoher höre ich das Rattern einer Nähmaschine.
„Produziert dieser Laden seine Sachen selbst?“, frage ich Frank.
„Einen Teil davon“, antwortet er. „Möchtest du erst eine Führung von mir bekommen oder wollen wir zuerst reden?“
In Läden mit kinky Ware bin ich immer etwas schüchtern. Ha, ha – Als Autorin schreibe ich heiße Szenen, aber in Läden mit heißer Ware bekomme ich rote Wangen.
„Erst reden!“
Frank setzt sich mir gegenüber, nimmt die bereits geöffnete Flasche aus dem Kühler und gießt uns ein. Wir stoßen an und nippen an den Gläsern.
„Also stelle ich mich mal selbst vor“, beginnt Frank. „Ich bin Frank Gable, ältester Sohn von Maria und Frank Gable. Lange Zeit lebte ich ein beschauliches Leben in Chicago, bis meine Frau Silvia mich verließ und ich deshalb in ein seelisches Loch fiel. Wegen der Scheidung verlor ich mein Haus und zog auf Vincents Drängen nach Los Angeles, wo er mir eine Stelle als Buchhalter in seiner Anwaltskanzlei anbot. Durch Vincent kam ich in Kontakt mit den Schönen und Reichen. Meine zweite Frau Cheryl war zunächst ein Auftrag. Ich sollte ihre chaotische finanzielle Situation in den Griff bekommen, was mir auch gelungen ist.“
„Aber du hast schon vorher für sie geschwärmt.“
Frank nickte. „Ich hätte nie gedacht, dass ich eine Chance bei ihr habe.“
„Also du besitzt aber schon einen Spiegel, oder?“, frage ich und mustere den attraktiven, kräftigen Mann ungeniert. Er zwinkert mir selbstbewusst zu.
„Ich war früher anders und besaß weniger Ausstrahlung.“ Nachdenklich reibt sich Frank über das Kinn.
„Aber dein gutes Aussehen hattest du doch damals schon.“
„Als ältester Sohn trug ich viel Verantwortung, kümmerte mich um meine jüngeren Geschwister. Als dann Silvia mit Mario schwanger wurde, musste ich neben dem Studium auch noch eine Familie ernähren und dafür sorgen, dass sie ein Dach über dem Kopf hat. Klar, ich konnte über mein Aussehen nicht klagen, aber der Stress band mich. Außerdem hätte ich Silvia natürlich nie betrogen.“
„Aber jetzt lebst du poly. Wie würdest du deine sexuelle Orientierung beschreiben?“
„Ich spiele eben gerne. Früher hätte ich mich zu hundert Prozent als hetero eingeschätzt, aber da Brandon auf meinem Grundstück lebt und wir eine Beziehung miteinander führen, bin ich wohl auch ein bisschen bi.“
„Außerdem hast du ein paar Subs männlichen und weiblichen Geschlechts, mit denen du regelmäßig Sessions hältst.“
„Was du so alle weißt“, grummelte Frank.
„Ich bin die Autorin“, erinnere ich ihn. „Ich weiß alles!“
„Weshalb führst du dann diese Interviews?“
„Die machen mir viel mehr Spaß und außerdem fallen mir erst im Gespräch mit euch viele Aspekte eures Lebens ein.“
„Haben wir überhaupt einen eigenen Willen?“, fragte Frank.
„Aber natürlich! Davon können Autoren ein Lied singen. Romanfiguren, die sich anders entwickeln als vorgesehen, sind ein ständiger Quell für zusätzliche Arbeit. Ich selbst schreibe ja keine allzu detaillierten Entwürfe, aber andere Autoren müssen gelegentlich alles über den Haufen werfen.“
Frank grinst.
„Übrigens habe ich dich nicht als dominanter Mann mit starker Neigung zum BDSM angelegt. Gott, war ich überrascht, als du dich plötzlich so kinky verhalten hast.“
Jetzt lacht Frank aus vollem Hals und ich nehme mir ein Stück Weißbrot, belege es mit Schinken und Käse und schiebe es mir in den Mund. Köstlich!
„Was war dein schrecklichster Tag?“, frage ich Frank.
„Ich glaube, als ich als Kind fast ertrunken wäre.“
Verdutzt schaue ich ihn an. „Davon weiß ich ja gar nichts.“
Frank zuckt mit den Schultern. „Du kannst in meinen Kopf reinschauen, aber ich nicht in deinen.“ Er genehmigt sich jetzt eine eingelegte Tomate und ich probiere einen Dip, von dem ich nicht weiß, ob er aus Sour Cream, Quark oder Joghurt hergestellt wurde. Kennen die Amerikaner überhaupt Quark?
„Mein schönstes Erlebnis war übrigens, als ich Mario das erste Mal in den Armen hielt. Ich wollte so früh noch nicht Vater werden, aber all mein Groll darüber, dass Silvia und ich nicht besser aufgepasst haben, verflog, als ich ihn ansah.“ Jetzt zückt Frank sein Handy und zeigt mir doch tatsächlich ein paar alte Babyfotos von Mario. Süß!
„Darf ich dir jetzt den Laden zeigen?“
„Klar!“, sage ich, weil mir bewusst wird, dass wir ja allein sind.
„Ich bin übrigens ein stiller Teilhaber, seit ich dem Eigentümer bei einem finanziellen Engpass ausgeholfen habe.“
„Ach, deshalb konntest du ihn dafür gewinnen, den Laden heute für dich persönlich zu reservieren.“
„Wer genug bezahlt, kann private Events hier buchen“, antwortete Frank. „Ich zahle allerding einen günstigeren Preis.“
Bei den Lederschürzen zum Grillen fällt mir noch ein, ihn nach seinem Lieblingsgericht zu fragen.
„Pizza und Pasta“, antwortet Frank.
Ich fahre mit den Fingern über die Oberfläche einer Schürze und frage mich, ob man damit nicht unendlich schwitzt, wenn man vor einem heißen Grill steht.
Tag der Veröffentlichung: 17.04.2018
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