Cover

Prolog

"Ich geh' jetzt ins Kino!", rief ich meiner Schwester Amy zu und wollte schon die Tür öffnen. "Warte kurz, ich muss mit dir reden, Lilly!" 

Ich hasse reden. Ich wollte mich gerade aus dem Staub machen, da kam sie schon auf mich zu gerannt und hielt mich am Arm fest. "Lilith Hope Miller! Wolltest du etwa davonlaufen? Ich sagte doch ich will mit dir reden.. Es ist wirklich wichtig", meinte sie dann mit etwas leiserer Stimme. "Na gut. Und worüber? Ich hab wirklich keine Lust.. und der Film fängt bald an", meinte ich. Ich wollte wirklich nicht reden. "Am besten setzen wir uns hin, es geht um.. Dad."

Ich schnaubte. Na toll. Es geht also um Dad. Wollte sie mir jetzt reindrücken, wie sehr er mich doch hasste? So wie sie selbst? Aber verübeln kann ich es ihr nicht. War ja auch alles meine Schuld.

"Was ist denn jetzt wieder mit Dad?", fragte ich leicht angesäuert. "Lilith, du weißt ich liebe dich, Schwesterchen, aber es ist nun mal so.. nicht nur du leidest und dem Tod von Mum und Emily. Und du weißt ich gebe dir nicht die Schuld dafür, ich kann aber einfach nicht mitansehen wie sehr du darunter leidest. Ich bin auch nicht so stark wie ich aussehe. Mir macht es auch zu schaffen. Denk jetzt bitte nicht, dass ich dich loswerden will, aber Dad hat mir angeboten, dass du für eine Weile zu ihm ziehen kannst.."

"ICH SOLL ZU DAD ZIEHEN!?", unterbrach ich sie laut. "Ja, ich habe dich dort an der Schule schon angemeldet, du weißt ja, dass er in einem Vorort wohnt. Du kannst in dem Gästezimmer schlafen. Keine Sorge, das ist groß genug und hat sogar mehrere Betten. Und er ist zwar nicht allzu oft zu Hause, aber du bist fast nie allein. Da ist so ein Typ der unserem Dad immer hilft, der ist fast immer da.", versuchte sie mich zu beruhigen. Sie weiß eben, dass ich es hasse allein zu sein.

"Aber Dad hasst mich. Und das zu Recht", sagte ich bitter. "Tut er nicht, er liebt dich, genauso wie ich. Er brauchte nach dem Tod unserer Mutter nur etwas Zeit für sich, verstehst du? Und du brauchst ihn. Du wirst sonst nie damit fertig, außerdem hör auf immer dir die Schuld zu geben! Du kannst nichts dafür, das habe ich dir oft genug gesagt." Sie streichelte mir liebevoll über meine rot-orangen Haare mit den vielen schwarzen Strähnen. Ich schob ihre Hand grob weg und stand auf. "In Ordnung, ich werde zu ihm ziehen. Aber denk' bloß nicht ich tue das freiwillig! Ich mach das nur, weil ich hier sowieso keine Freunde habe, die mich vermissen werden. Oder sonst irgendjemanden", zischte ich, nahm meine Tasche und verschwand durch die Tür. 

1. Kapitel

 Ein letztes Mal blickte ich in den großen Spiegel, der an der roten Wand in meinem Zimmer hängt. Ich sah mich an. Ich war es, und doch wieder nicht. In den letzten drei Jahren hatte ich mich verändert. Ich war jetzt ein bisschen größer als mit vierzehn. Ich war jetzt 1m 72 groß. Hatte mehr Kurven bekommen, auch wenn ich die unter meinen großen langarm-Shirts verstecke. Ich ziehe nur noch schwarze, rote, orangene und neonfarbene Klamotten an. Seit drei Jahren habe ich es geschafft, nichts Weißes anzuziehen. Das mache ich nur einmal im Jahr. An dem Todestag meiner Mutter und meiner Schwester Emily. Ich schminke mich, wenn überhaupt, mit schwarzem Kajal und schwarzem Liedstrich. Damit stechen meine bernsteinfarbenen Augen hervor.

Meine wunderschönen, tollen Haare (Achtung, Sarkasmus), band ich mir zu einem hohen Zopf und ließ nur ein paar einzelne Strähnen vorne hervorgucken. Ich schlüpfte in meine schwarzen Schnürstiefel und schnappte meine Tasche. Obwohl es erst Ende Sommer war, trug ich fast immer meine Stiefel, ich liebte sie einfach. 

Ich nahm meinen Koffer und ging damit zum Auto meines Vaters, der dort schon auf mich wartete. "Hallo Lilith, schön dich mal wieder zu sehen", begrüßte er mich. "Hi, Dad", sagte ich nur knapp.

Ich mochte meinen Vater, wirklich, aber ich denke er würde lügen wenn er behaupten würde er liebte mich. Dazu habe ich einfach einen zu großen Fehler gemacht. Oft fragte ich mich auch, wie meine Schwester es mit mir ausgehalten hatte. Ich war Depressiv, aggressiv, sarkastisch und, wenn wir ehrlich sind, dumm. Ich war früher eine gute Schülerin, aber seit diesem Tag.. da hatte ich einfach keine Lust mehr. Ich hatte mich in der Schule nicht mehr angestrengt. Nur so viel, dass ich nicht durchfiel. Oft saß ich nur stundenlang in der Schule und habe nur gezeichnet. Zeichnen, Kampfsport und Sport generell liegen mir einfach. Das ist es, was ich gut kann.

Ich stieg also ins Auto und steckte mir die Kopfhörer meines iPods in meine Ohren und drehte die Musik laut auf. Ohne Musik wäre das Leben wahrscheinlich noch beschissener als es eh schon ist. Und eins könnt ihr mir glauben, mein Leben ist beschissen. Das einzige was gegen meine dumme Einstellung hilft, ist, wie nicht anders erwartet, Spongebob. Der kleine ist einfach der beste. "Freust du dich schon auf die Schule, Lilly? Die wird bestimmt toll und dann findest du bestimmt auch neue Freunde", hörte ich meinen Vater gedämpft durch die Musik.

Ja, wird bestimmt echt klasse.

"Ja ich freu mich, wenn du das sagst. Wo soll ich eigentlich schlafen? Und wie komm ich zur Schule?", fragte ich nicht wirklich ehrlich interessiert. Aber wenn’s ihm Spaß macht mit mir zu reden, bitte, ich werde sicher nicht fies zu ihm sein. Ich hab' ihn trotz allem lieb. "Du wirst im Gästezimmer schlafen, in deinem alten Zimmer ist leider kein Platz mehr", meinte er. 

Ich schnaubte. "Wieso? Hast du schon jemand besseres gefunden, der meinen Platz eingenommen hat? Wahrscheinlich hast du meine ganzen Sachen schon verbrannt", den letzteren Teil murmelte ich nur noch leise. "Nein, natürlich nicht, Lilly. Du weißt, dass ich dich liebe. Deine alten Sachen, die du damals dagelassen hast, hab' ich schon ins Gästezimmer geräumt. Dort stehen vier Betten. Du kannst dir eins aussuchen. Da steht sogar ein Doppelbett", meinte er aufmunternd. "Und was ist dann mit meinem alten Zimmer?", fragte ich, er hatte meine Neugierde ein klitzekleines bisschen geweckt. "Dort schläft Dave. Er mag seine Eltern nicht besonders und er hilft mir oft beim Malern und zu Hause geht er mir auch oft zur Hand. Er ist ein guter Junge, auch wenn er das nicht wirklich zeigt. Er ist.. fast so wie du. Nur etwas griesgrämig. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich es gut finden würde wenn ihr zwei.. du weißt schon, dieses Beziehungsteil habt. Du bist meine Tochter und ich weiß zufällig, dass er nur so ein Aufreißer ist, der es nicht ernst..-" 

"DAD! Ist okay, hab' verstanden. Bitte, bitte sag sowas nie wieder", versuchte ich das peinliche Gespräch zu stoppen. Ich hatte fast vergessen wie es war, so ein Gespräch zu führen, jetzt weiß ich es wieder. Es ist Kacke.

"Für mich ist das auch nicht gerade angenehm, Schätzchen", versuchte er mich zu beruhigen.

"Dann rede um Himmels Willen nie wieder darüber! Ich bin siebzehn, ich kann schon auf mich aufpassen!"

"Jaja, ok", murmelte er leise vor sich hin.

 

 

***

 

 

"Wir sind da!", riss mich mein Dad aus meinen Gedanken. 

"Als ob ich mein altes Haus nicht erkennen würde, Dad", grummelte ich.

"Ist ja schon gut, nur du warst so lange nicht da und.. ich wollte doch nur sagen..-" 

"Ist schon gut, ist ja nicht schlimm. Übrigens hast du mir immer noch nicht gesagt wie ich zur Schule kommen soll.", erinnerte ich ihn. "Ach so, ja klar, Dave bringt dich am Montag hin.", sagte er knapp.

Richtig, am Montag ist ja wieder Schule. Dann heißt es "neue Freunde" finden! Wohoo, ich bin ja echt gut darin. Außerdem hab ich ja sowas von keine Lust dazu. Das ist anstrengend und die stellen nur Fragen, die ich nicht bereit bin zu beantworten. Außerdem hab ich ja meinte zwei besten Freunde. Spongebob und Patrick. 

"F" steht für Freunde, die was unternehmen, 

"U" steht für uns, dich und mich,

"N" steht für endlich haben wir mal Spaß!

Ganz friedlich und freundschaftlich!

(Best Song ever!) Tja, Spongebob und Ponys sind einfach das Beste.

"Weißt du noch, wo das Gästezimmer ist? Ach, übrigens, Das Wohnzimmer wird gerade neu gestrichen und Dave und seine Freunde helfen mir dabei. Du solltest nicht reingehen wenn du nicht voller Farbe sein willst", erklärte er mir. "Ist Ok."

Ich schnappte meinen Koffer und schleppte ihn über die dunkelbraune Holztreppe nach oben. Ich ging den hellblauen Flur entlang. Scheiße. Auf beiden Seiten waren Bilder von uns. Bilder von meiner Mutter, meiner Schwester Emily, Amy, meinem Dad und mir. Alle Erinnerungen kamen hoch. Ich hatte es geschafft alle Bilder meiner alten Familie hier zu lassen, selbst Amy konnte ich überreden nur die Nötigsten mitzunehmen. Ich wollte einfach nicht daran erinnert werden, was ich getan habe. Welchen Schmerz ich Dad und Amy zugefügt habe. Wie ich unsere Familie zerstört habe. 

Aber jetzt diese ganzen Bilder zu sehen.. es ist als würde man mir mein Herz zerreißen. Neben mir ist ein Bild von uns allen, wie wir einen Schneemann bauen. Es wurde zwei Wochen vor ihrem Tod aufgenommen.

"Mummy, sieh mal, ich hab den Kopf für den Schneemann gemacht!", schrie Emily meiner Mutter zu. "Das hast du ganz toll gemacht, mein Schatz. Komm wir setzen ihn gleich rauf!", erwiderte meine Mutter fröhlich lächelnd.

Kacke. Ich spürte schon die ersten Tränen meine Wange runterlaufen. Ich weinte nicht oft. Ich weinte nie, wenn ich beleidigt, gedisst oder gemobbt wurde. Ich sah darüber hinweg, es waren immerhin nur Idioten die nicht Bescheid wissen. Über mein Aussehen könnten sie soviel reden und schimpfen wie sie wollen, auch über meinen Charakter, aber nie über meine Familie. Da ist dann bei mir Schluss. Da gibt's schon mal 'nen Tritt in den Schritt, ich habe ja nicht umsonst Kampfsport trainiert.

Aber ich bin nicht so stark, wie andere denken. Das bin ich nur in der Öffentlichkeit. Ich erlaube mir nicht oft zu weinen, aber manchmal geht es nicht anders. Ich spürte wie meine Beine unter mir nachgaben. Ich lehnte mich an die Wand und sank langsam hinab. In dem Moment riss der Damm, ich brach endgültig in Tränen aus. Nur weine ich leise, ohne einen Ton von mir zu geben. Ich sah bestimmt scheiße aus, am Boden sitzen wie ein Wrack. Wie ein Freak.

Da hörte ich Stimmen, die die Treppen hochkamen. Ich packte schnell meinen Koffer unter rannte damit ins Gästezimmer. Danach stürmte ich ins Badezimmer und schloss ab.

2.Kapitel

Erst am Abend hatte ich mich wieder so weit beruhigt, dass ich wieder aus dem Bad kommen konnte, ohne vollends scheiße auszusehen.

Ich war gerade auf der Suche nach Dad, um zu fragen wann es Abendessen gibt, als ich das Wohnzimmer betrat.

Und Wow. Die. Sehen. Echt. Scharf. Aus. Vier Typen. Ein Typ sieht ganz besonders scharf aus, dunkelbraune Haare, eisblaue Augen. Und muskulös und groß.. Schmacht. Aber die hatten alle Muskeln und waren groß. Das sind bestimmt solche Player. Außerdem sind die alle Oberkörperfrei und voller Farbe. Ich meine, ich weiß, dass es noch heiß draußen ist, aber hier drinnen? Aber okay, von mir aus dürften sie die ganze Zeit so herumrennen. MOMENT! Was dachte ich denn da!? Wird ja immer besser. Langsam, um es nicht offensichtlich zu machen, fuhr ich zu meinem Mund. Gut, kein Sabber. Das wär' ja noch besser gewesen wenn ich hier rumgesabbert hätte wie so 'ne paarungsbereite Giraffe. Jaja, ich weiß, ich mach nicht die besten Vergleiche.

"Was will denn dieser Freak hier?", kam es da von meiner rechten Seite.

"Halt die Fresse, du kleiner hässlicher Zwerg. Seid ihr alle wirklich so geil, dass ihr hier halbnackt rumlaufen und alles anspringen müsst, das nicht bei drei auf den Bäumen ist?", gab ich schnippisch zurück. Leider bin ich nicht wirklich gut darin, schlagfertige Antworten zu geben. Aber hey, dafür könnte ich sie alle mit nur einem kleinen Nervenkniff bewusstlos schlagen. Da muss man ja nicht große Töne spucken können, oder?

"Alter, was ist dir denn über die Leber gelaufen?", kam es da von einem Typen mit schwarzen Haaren.

"Alter, warum bist du so blöd männlich und weiblich nicht unterscheiden zu können? Wenn ich bitten darf, Alte, du hässliche Pferdefresse."

"Ist ja schon gut, das mit dem Freak nehme ich zurück", kam es von dem Blonden.

"Wie großzügig. Tja, ich hätt auch Schiss vor mir", meinte ich herablassend.

"Nana, jetzt gib mal nicht an, Tigermädchen", meinte der Typ, der am meisten Farbe abbekommen hat. Der Typ sah echt gut aus, dunkelbraune Haare, eisblaue Augen. Und muskulös und groß.. Raarrw.

"Wer gibt dir das Recht, mich so zu nennen, Regenbogenpony?", zischte ich, den Tränen nahe.

Meine Mutter hatte mich immer Tiger genannt, obwohl ich damals meine Haare noch nicht so gefärbt hatte. Mum meinte immer, ich hätte den Charakter einer Katze. Liebevoll und zutraulich, aber ich konnte auch meine Krallen ausfahren. Ich atmete ein paar mal tief durch, um mich zu beruhigen.

"Wehe du nennst mich nochmal so", am Ende brach meine Stimme. Ich stürmte aus der Wohnung, nach draußen. Die Sonne war schon fast untergegangen und es wurde deutlich kälter. Okay, nur nicht wieder heulen. Ich habe heute schon genug geweint. Ach, was rede ich da, ich hab für die nächsten sechs Monate genug geweint! Am besten ich mache einen Spaziergang und rege mich etwas ab, dachte ich mir. Ich ging den Straßenrand entlang, bis ich auf einen kleinen Feldweg traf. Etwas, was in New York nicht gerade üblich ist. Ich hieß ihn willkommen. Ich ging den schmalen Weg entlang und hockte mich dann in die Wiese, an den Rand. Dort beobachtete ich den Sonnenuntergang und ließ meinen Gedanken freien Lauf. 

Ich saß dort und unterdrückte meine Tränen, wie so oft, bis es fast dunkel war. Langsam wurde es mir dann doch zu kalt und ich machte mich au den Heimweg. Ich konnte nur hoffen, dass ich zurückfinden würde, denn mein Orientierungssinn war nicht der beste, außerdem war ich seit drei verdammten Jahren nicht mehr hier gewesen! Aber das war auch meine Entscheidung, und das war gut so. Meine alten Freunde hätten einfach zu viele Fragen gestellt. Zu viele Fragen über den Tod, an dem ich Schuld war, auch wenn meine Schwester Amy und Dad es abstreiten.

Ich weiß, dass es meine Schuld war. Ich wäre am liebsten auch tot. Ist ja nicht so, dass ich am Anfang nicht versucht hätte, mich umzubringen. Aber jedes Mal, wenn ich kurz davor war, musste ich daran denken, dass Amy und mein Dad dann nur noch trauriger wären - auch wenn ich nicht verstehe warum. Aber Amy hat mir oft genug gesagt, wie wichtig ich ihr bin, nur deshalb entschloss ich mich mein Leben weiterzuleben. 

 

 

 

***

 

 

Zu Hause angekommen, kam gleich Dad auf mich zugestürmt und fragte mich wo ich war. "Nachdenken", sagte ich nur kurz angebunden. "Ich hab die Bilder im Flur gesehen. Denkst du noch oft an sie? Ich meine.. du weißt schon.. ist es für dich auch so... schmerzvoll wie für mich, diese Bilder anzusehen?", fragte ich ihn leise. Er nickte nur.

"Warum hängst du die Bilder dann nicht ab? Für mich ist es leichter sie nicht ansehen zu müssen."

"Weil ich Deine Mutter und Emily nicht vergessen möchte. Ich weiß, ich könnte es nie, aber ich möchte mich an die schönen Momente mit ihnen erinnern. Auf den Fotos waren wir glücklich, wir waren noch eine glückliche Familie. Versteh mich nicht falsch, wir sind immer noch eine Familie, aber es ist eben nicht wie früher. Mir die Bilder jeden Tag anzusehen, ist meine Art damit umzugehen. So wie deine Art alles vergessen zu wollen", erklärte er mir sanft, doch ich hörte die Traurigkeit in seiner Stimme.

"Wieso liebst du mich eigentlich noch? Wieso bist du... nicht unendlich wütend auf mich? Ich meine, es war alles meine Schuld und streite das nicht ab, denn so war es! Ich würde am liebsten sterben, doch ihr.. habt versucht mich aufzumuntern und das, obwohl ihr selbst darüber hinwegkommen musstet. Im Ernst, Dad, liebst du mich überhaupt wirklich?"  Ich versuchte normal zu klingen, doch man hörte die Hoffnung in meiner Stimme. Hoffnung auf Zuneigung.

"Natürlich liebe ich dich, Lilly! Amy und ich, wir werden dich immer lieben, ganz gleich was passiert. Und jetzt gehen wir was essen, du musst doch hungrig sein, du hast ja den ganzen Tag nichts gegessen", tadelte er mich. Doch mir war der Appetit vergangen.

Aber um nett zu sein wollte ich trotzdem eine Kleinigkeit essen.

 

Am Tisch saßen dann wieder die vier Typen von vorher, nur dieses Mal hatten sie wenigstens ein T-Shirt an, oh und sie waren nicht mehr voll mit Farbe.

"Hallo Jungs, das ist meine Tochter Lilith. Sie wird mit euch am Montag in die Schule gehen. Dave, ich möchte dass du ihr den Weg zeigst und sie in der Schule herumführst, okay?" wies mein Dad einen der Jungs an. Keine Ahnung wer von denen Dave war.

Ich hoffe, dass diese Idioten mich nicht wirklich Lilith nennen. Wie ich diesen Namen hasse! Der ist fast noch schlimmer als mein zweiter Nam,. Hope, grummelte ich in Gedanken.

"Und wer von denen ist Dave?", fragte ich nicht gerade interessiert, lenkte mich somit von meinen Gedanken ab.

"Ich", brummte der Typ mit den dunkelbraunen Haaren. Aha! Das Regenbogenpony hat einen Namen.

 Ich liebe Ponys raarrw. Ponys sind fast so cool wie Spongebob. Ich würde gerne mal einen von seinen Krabbenburgen probieren. Wie die wohl schmecken? Hopsala, ich schweife ab.

"Aha", sagte ich desinteressiert.

"Wollt ihr euch nicht vorstellen, Jungs?", meinte mein Dad auffordernd.

"Ich bin Matt", stellte sich mir der blonde, braunäugige Typ freundlich vor. Nachdem sich die anderen nicht von selbst vorstellten fügte er noch hinzu: "Und das sind Phil und Luke." Nacheinander zeigte er auf den schwarzhaarigen mit grünen Augen. Der Typ, Phil, war eindeutig so ein Macho-Typ, wie man bei seinem anzüglichen Grinsen bemerkte. Der andere, Luke, hatte schwarze, etwas längere Haare und grün-braune Augen. Er war nichts Besonderes, fand ich. Und Dave wirkte einfach nur gelangweilt, während er sein Abendessen aß. Arschloch.

"Die bleiben aber nicht alle die ganze Zeit über hier, oder?", fragte ich monoton. Wenn ich ehrlich war, war es mir egal. Es würde nur einfacher wenn sie alle nicht hier waren. Das war alles, ehrlich. Ich fragte das sicherlich nicht, weil Matt nett wirkte, ganz so als ob er mein erster Kumpel seit Jahren werden könnte. Ne, im Ernst, es interessierte mich überhaupt nicht.

"Keine Sorge, du musst dich nur heute Nacht mit uns rumschlagen, wir bleiben nicht jede Nacht", erklärte mir Phil süffisant grinsend.

Ich verzog mein Gesicht bei den Gedanken, die er sich gerade machte. Aber als das Lachen der Jungs ertönte, als sie mein Gesicht sahen, ließ ich es wieder zu einer ausdruckslosen Maske werden. Naja, so gut es ging eben. Ich hasste es nämlich, wenn mich jemand auslacht, hatte mich aber fast immer unter Kontrolle. Der Kampfsport diente lediglich zur Verteidigung, nicht zum rumprügeln.

"Willst du was essen, Schatz?", fragte mein Vater aufmerksam, doch ich schüttelte nur den Kopf. Ich wollte nur noch schlafen. Die ganzen Erinnerungen, die beim Anblick der ganzen Zimmer wieder hochkamen waren einfach zu viel. Die dunklen Holzböden und die hellen, freundlichen Farben der Wände, die wir damals mit unserer Mutter gemeinsam angestrichen hatten, wirkten so nett. Dabei schmerzte es einfach nur. Den dunklen Holztisch, auf dem die anderen aßen, hatten wir früher immer für Familienabende genutzt. Als ich dreizehn war, hatten wir oft Mensch ärger dich nicht, UNO oder solche Spiele gespielt. Wobei sowieso fast immer meine Mutter gewann.

"Ich geh' ins Zimmer", sagte ich und stand auf, ohne auf die Erwiderung meines Dads zu warten.

Im Zimmer angekommen ließ ich mich erschöpft auf das lila bezogene Bett fallen. Das Doppelbett, wohlgemerkt. Ich brauche einfach meinen Platz beim Schlafen. Denn wenn ich mal wieder einen meiner Albträume hatte, konnte ich schon mal um mich treten und dabei selbst aus dem Bett fallen. Im Ernst, ist mir wirklich schon passiert. Ich hatte sogar 'nen blauen Fleck und einen verstauchten kleinen Finger davon.

Ich war gerade dabei meinen schwarzen Pyjama anzuziehen, meine schwarze, kurze Stoffhose hatte ich schon an. Als ich mir mein langärmeliges Oberteil anziehen wollte – ich sollte wohl erwähnen, dass ich nur in BH dastand - ging die Tür plötzlich auf. Schnell schnappte ich die Decke vom Bett und schlang diese um mich. Keine Sekunde zu früh, denn da kamen schon die vier Jungs rein.

"Kann man denn nirgends seine Ruhe haben!?", wollte ich genervt wissen. "Husch, weg da, ich will mich umziehen!"

"Ach komm schon, was ist dabei wenn du dich vor uns umziehst. Ist ja nicht so als hätten wir noch nie ein Mädchen in Unterwäsche gesehen. Los, mach schon", wies Phil mich an und wackelte dabei mit den Augenbrauen.

"Wie kann man mit so einem Deppen nur befreundet sein?", wollte ich angeekelt von den anderen drei Jungs wissen, die jedoch nur die Schultern zuckten.

"Wenigstens bin ich ein heißer Depp, anders als so eine schwarzgekleidete, hässliche Tussi."

"Heiß, von wegen. Nicht mal ein räudiger Köter würde dich anspringen."

"Wollen wir wetten, dass ich schon öfter was hatte als du, Weib?"

"Wehe du nennst mich nochmal Weib! Und ja, vermutlich hast du mit deiner Annahme Recht, aber wenigstens bin ich keine Hure. Kannst stolz auf dich sein, Pferdefresse", beendete ich unser kleines, freundschaftliches Gespräch und stolzierte mit hoch erhobenem Haupt, Oberteil und mit der Decke um mich geschlungen an ihnen vorbei ins Badezimmer. Dort zog ich mich um und kehrte zurück.

Als keiner der Jungs mehr da war, legte ich mich ins Bett und schlief fast augenblicklich ein und fiel in ein schwarzes Loch. Naja, nicht wirklich, aber ihr wisst was ich meine. Traumloser Schlaf halt.

 

 

 

 

3.Kapitel

Vorsichtig sah ich mich um. Es war überall weiß. Und mein Gesicht tat weh. Ich drehte mich einmal um mich selbst, bis ich es begriff. Ich stand mitten im Schneesturm, und kalter Wind fegte mir die kleinen, fast schon harten Kristalle ins Gesicht. Es war so unglaublich kalt. Ich ging einige Schritte, bis ich Blut im Schnee bemerkte. Anfangs dachte ich noch, dass es von mir sein könnte und sah auf meinen linken Oberarm. Tatsächlich kam es von da, aber nicht nur, dafür war es zu viel Blut. Ich blickte weiter um mich und sah plötzlich meiner kleine, süße Schwester Emily und meine Mutter vor mir stehen. Sie waren voller Blut. Emily's Gesicht war schmerzverzerrt und meine Mutter sah mich verachtend an.

"Wieso hast du uns getötet, du Biest!?", hallte mir ihre Stimme entgegen. Man könnte denken der Schneesturm würde sie verschlucken, doch sie hallte von allen Seiten um mich und mir schien der Schädel zu platzen. Ich schrie auf und fiel vor ihr auf die Knie. Eine dunkle Macht schien mich zu erdrücken und ich trat um mich, wollte es nicht spüren. Es tat weh, fast so sehr wie meine kleine niedliche Emily ansehen zu müssen, wie sie weinend da stand und blutete. Überall auf ihrer und auch auf der Haut meiner Mutter, die man nur noch schwer erkennen konnte, waren Verletzungen.

Meine Mutter hob ihre Hand und drückte damit auf meine blutende Schulter. Es tat weh, es tat so höllisch weh, dass ich wieder aufschrie.Sie drückte mir ihre langen Fingernägel hinein.

"Ich habe dich geliebt! Und das war dein Dank dafür!? Du bist heil davongekommen, während wir sterben mussten? Ich finde das ist nicht fair", sagte sie verachtend und schlug mir ins Gesicht.

 

 

Keuchend setzte ich mich auf. "Nur ein Albtraum, alles okay, nur immer wieder dieser Traum, es ist nicht wirklich passiert", beruhigte ich mich selbst, doch selbst für mich klang es hysterisch. Ich spürte kalten Wind in meinem Gesicht und sofort erstarrte ich. Wo kam der denn her? Ich sah mich um und erst jetzt bemerkte ich, dass es stockdunkel war. Ich sah nicht mal meine Hand vor Augen und konnte nur den kalten Wind in meinem Gesicht spüren. Die Angst packte mich. War mein Albtraum jetzt etwa wahr geworden? Ich begann zu zittern. Ich spürte Tränen in meine Augen steigen und rappelte mich aus dem Bett hoch. Die Jungs waren nicht hier, sie hätten mich sicherlich gehört. 

Ich machte ein paar Schritte und stolperte. Ich war sonst nicht wirklich ungeschickt, aber meine Knie und mein ganzer Körper zitterten so stark, dass ich kaum gehen konnte.

Ich torkelte weiter nach vorne, spürte eine Wand an meinen Händen, die sich an dieser entlangtasteten und ließ mich an ihr runterrutschen. Haufenweise Tränen rollten über meine Wangen, ohne dass ich es kontrollieren konnte. Ich zitterte und musste mich an diese Nacht erinnern. Ein Schluchzen entwich mir, als ich mich daran erinnerte, was vor dem Unfall passierte. Was der eigentliche Grund dafür war und auch der Grund für mein Kampfsporttraining.

Immer wieder sah ich diese beschissenen grünen Augen vor mir. Es war kein schönes Grün, es war wie ekelhafter Schleim, den irgendein hässliches Tier ausgekotzt hatte.

Nun entfuhr mir noch ein leises Schluchzen, etwas das mir seit zwei Jahren nicht mehr passiert ist. Ich konnte neben einer Person stehen und weinen und sie würde es nicht bemerken, wenn sie nicht in mein Gesicht sehen würde.

Ich zitterte noch immer und ich spürte den kalten Wind, der das ganze noch zusätzlich verschlimmerte, denn er erinnerte mich daran. 

Ich schlang meine Arme um die Knie und wiegte mich sanft hin und her, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde. Ein heller Schein kam durch die Tür, wegen dem Licht aus dem Flur. Ich bemerkte einen Mann dort in der Tür stehen und vergrub mein Gesicht unter den Haaren und machte mich so klein wie möglich. Keiner sollte mich weinen sehen, niemand sollte denken ich sei schwach, auch wenn ich es manchmal in seltenen Momenten war.

Ich hörte gedämpfte Schritte auf mich zukommen und sofort stieg mein Herzschlag in die Höhe. Ich hatte Panik.

"Schh, alles ist gut, ich bin es nur", drang leise die Stimme meines Vaters zu mir durch. Ich spürte wie er mich in den Arm zog und wurde gegen seine Brust gepresst. Liebevoll, wenn auch etwas unbeholfen strich er mir über den Rücken, als wüsste er nicht ob er mich berühren durfte. Doch ich ließ es zu.

Langsam beruhigte ich mich und hörte auf zu weinen. Ich wischte mir meine Tränen aus dem Gesicht und atmete tief durch.

"Alles wieder in Ordnung, du kannst mich loslassen", sagte ich und meine Stimme hörte sich überraschend klar und ruhig an.

"Ist wirklich alles wieder okay?"

"Ja, wirklich. Es war nur ein Albtraum ... der Selbe wie immer."

"Komm mit in die Küche, ich mache dir einen Tee."

"Nicht nötig, ich werde wieder schlafen gehen", meinte ich daraufhin.

"Du wirst einen Tee trinken, sofort. Ich will etwas für dich tun, Schatz." Er klang so bittend, dass ich, wenn auch nur widerwillig, mit ihm mitging.

 

Ich wusste, dass ich ziemlich kacke aussah, um es nett auszudrücken, doch die Reaktion der Jungs war dann doch etwas zu schockiert. Ich wollte mich gerade wieder umdrehen und das weite suchen, als Matts Stimme ertönte: "Jetzt gafft sie doch nicht alle so an, so schlimm ist es auch wieder nicht!" Aufmunternd lächelte er mir zu und mir ging es gleich ein bisschen besser.

Vielleicht würde ich ja mal wieder ein paar Freunde finden, Matt schien ja ganz nett zu sein. Auch wenn er fragen stellen könnte, so würde ich doch versuchen wenigstens nett zu ihm zu sein. Auch zu den anderen.

Ich setzte mich an den dunklen Holztisch und Dad schob mir eine heiße Tasse Tee zu, die ich dankend annahm.

"Hast du sowas öfters?", erklang neugierig die Stimme von Luke. Ich musste mich zusammenreißen ihn nicht anzuschnauzen, dass er doch bitte die Klappe halten solle, wenn er keine auf die Fresse will. Ich antwortete einfach nicht darauf, sondern trank weiter meinen Tee.

"Hallo, bist du taub!?", versuchte er erneut. Er führte sich ja irgendwie auf wie ein kleines Kind. Ich fragte mich, ob die wohl alle so hohl waren wie der.

Nicht mehr lange und die Tasse würde in sein Gesicht klatschen. Aus Versehen, natürlich.

"Warum sagst du..-"

"Lass sie in Ruhe, Luke. Siehst du nicht, dass sie es nicht gleich jedem Fremden erzählen will?", kam mir mein Dad zur Hilfe.

"Sorry", murmelte er nur noch.

"Könntet ihr uns bitte kurz alleine lassen?", die Jungs verließen das Zimmer und erst jetzt bemerkte ich, dass Dave nicht da war. Wahrscheinlich interessiere ich ihn genauso wenig wie er mich. Soll mir auch egal sein.

"Willst du mir davon erzählen, Lilly?"

"Nicht der Rede wert", wich ich aus. Ich wollte nicht reden.

"Na gut. Aber wenn du reden willst, ich bin immer für dich da. Übrigens, übermorgen fängt die Schule wieder an. Nicht, dass du es vergisst", er zwinkerte mir zu. "Naja, ich werde dann mal wieder schlafen gehen, ist immerhin erst zwei Uhr morgens. Gute Nacht, Schätzchen."

"Gute Nacht, Dad." Ich ging auf ihn zu und umarmte ihn. Das schien ihn zu überraschen, doch er erwiderte meine Umarmung. Zugegeben, ich hatte mich selbst überrascht, aber was soll man machen? Ich habe ihn lieb.

Ich ging zurück ins Gästezimmer, wo vier Typen auf den Betten saßen. Auch auf dem Doppelbett, obwohl das ja mal sowas von meines war. Ich wollte gerade wieder herumzicken dass sich der Typ ein eigenes Bett suchen sollte, als ich Matt da sitzen sah. Ich erinnerte mich daran, nett zu sein, immerhin wollte ich wenigstens einen Freund.

Also grummelte ich nur ein bisschen rum, von wegen nirgends auf der Welt könnte man in Ruhe allein in einem Doppelbett liegen und ließ mich auf das Bett fallen.

  Ich schloss meine Augen und kroch wieder unter die Decke. War mir doch egal ob da ein paar Jungs saßen, ich liebte meinen Schlaf und er liebte mich.. naja meistens jedenfalls. Ich war gerade dabei einzuschlafen und döste vor mich hin.

"Ich will ja nicht unhöflich sein und deinen erholsamen Schlaf stören, aber darf ich dir eine Frage stellen?", fragte Matt unhöflich und störte meinen erholsamen Schlaf.

"Hast du gerade, Schlaumeier", murmelte ich.

"Immerhin bist du jetzt wach und ich kann dich somit fragen wovon du geträumt hast, richtig?", wollte er wissen.

"Richtig."

Als ich nichts weiter sagte, ergänzte er: "Und wovon hast du nun geträumt?"

"Ich sagte du kannst es mich fragen, aber nicht, dass ich antworten werde. Und um es in dein kleines Erbsen  - Gehirn zu bekommen, das werde ich nicht", murrte ich.

"Auch nicht wenn ich ganz lieb Bitte, Bitte sage?", fragte er und zog eine Schnute, was einfach nur zum schießen aussah. Ich musste etwas schmunzeln.

"Hmm...versuch's mal", sagte ich liebenswürdig.

"Bitte, bitte?", sagte er ganz lieb.

"Nein." Ich drehte mich wieder um und schloss die Augen, als die anderen anfingen zu lachen. Naja, so witzig war das jetzt auch nicht. Aber wenn's ihnen Spaß macht, soll es mir recht sein.

"Könntet ihr bitte so nett sein und eure Fressluke geschlossen halten? Danke." Leute, es war zwei Uhr morgens, zwei! Ich will doch nur schlafen! motze ich in Gedanken.

"Nur wenn du uns sagst, was du geträumt hast, dass du so rumheulen musstest wie ein kleines Mädchen."

Autsch. Das hat wehgetan. Ich hab meine Tränen also nie um sonst versteckt, es kommt immer das Selbe raus, bei solchen Player-Machos.

Ich stand auf, schnappte mir Kissen und Decke und ging ins Wohnzimmer um auf der Couch zu pennen. Mit solchen Scheißkindern wollte ich sicherlich nicht weiter in einem Raum sein.

 

 

 

***

 

 

Am nächsten Samstagmorgen streckte ich mich erstmal und öffnete die Augen. Zuerst hatte ich überhaupt keine Ahnung wo ich war, denn ich blickte nicht wie sonst auf rot und schwarz gestrichenen Wände meines Zimmers. Erst langsam erinnerte sich mein dummes Hirn daran, was letzte Nacht oder besser gesagt heute Morgen passiert war. 

Ich ging ins Bad und bekam erst mal einen ordentlichen Schock. Ich sah schrecklich aus. Ich hatte dunkle Ringe unter den Augen, meine Haare sahen aus wie ein Vogelnest, und.. also, da kriegt man ja Albträume wenn man mich nur ansieht! Wenn ich gestern auch schon so ausgesehen habe, dann wundert es mich nicht, dass die Idioten so gegafft hatten.

Ich ging ins Gästezimmer und holte erst mal frische Klamotten und stellte mich dann unter die Dusche. Dort ließ ich das angenehm warme Wasser auf mich herabprasseln und benutzte mein leckeres Vanille-Duschgel.

Fertig geduscht und nicht mehr ganz so grässlich aussehend ging ich aus dem Bad und lief direkt in Dave hinein.

"Pass doch auf wo du hinrennst!", knurrte er wütend. O-kay? Hab ich irgendwas Schlimmes gemacht? Verwirrt schüttelte ich den Kopf und ging an ihm vorbei, aber nicht ohne ihm wegen dem frechen Spruch auf den Fuß zu treten. Fest, versteht sich.

Zischend zog er die Luft ein, drehte sich um und schnappte meinen Arm. Ich musste mir ein Kichern verkneifen, ich brauchte nur eine geschmeidige Bewegung um aus seinem Griff loszukommen. Babyleicht. Dann rannte ich leichtfüßig ins Zimmer zurück und lehnte mich kichernd gegen die Tür.

Überrascht hielt ich inne. Ich hatte schon lange nicht mehr gekichert. Es war noch lange kein Lachen, aber ein guter Anfang. Das heißt, falls ich wieder auftauen und fröhlich sein wollte, was ich bestimmt nicht wollte. Wieder mit ausdrucksloser Miene ging ich zurück auf das Doppelbett und wusste erstmal nichts mit mir anzufangen. Da mir langweilig war, ging ich zu Daves Zimmer und öffnete die Tür, ohne anzuklopfen. Die vier Jungs hockten da und soffen  ein Bier. Und das, obwohl es gerade mal zehn Uhr morgens war. Ich konnte nur den Kopf über sowas schütteln.

Daves Zimmer, das früher meines war, sah nun fast komplett anders aus. Andere Farben und wie ein Jungenzimmer eben. Unordentlich und so, auch wenn ich selbst nicht besser war.

Ich ließ mich aufs Bett plumpsen und lehnte mich an die Wand. Es stand immer noch an der selben Stelle wie früher. Fragend sahen mich die Jungs an, außer Dave. Dem schien ich nach wie vor egal zu sein, was klar war nachdem ich ihm auf den Fuß getreten war. Ich glaube ich wäre auch eingeschnappt wenn ein Mädchen stärker wäre als ich. Dennoch war das ein wirklich kindisches Verhalten, ist doch seine Schuld wenn er sich nicht wehren konnte und mich anzicken musste.

Ich kicherte. Passiert schon zum zweiten mal heute.. das sollte ich unbedingt wieder unter Kontrolle bringen. Ich räusperte mich und versuchte wieder normal zu gucken.

"Was ist?", fragte ich die Typen, die immer noch gafften als wäre ich das 8. Weltwunder. Naja nicht ganz so schlimm, aber ihr wisst was ich meine.

"Was machst du in meinem Zimmer?", knurrte Dave.

Ich schnaubte. "Du meinst wohl mein Zimmer, in dem du dich eingenistet hast, so lange ich weg war", gab ich spitz zurück. Die Tatsache, dass mein Vater einfach so mein Zimmer verschenkte, nur weil ich mal kurz drei Jahre weg war, war schon etwas.. verletzend? Keine Ahnung.

"Und was willst du jetzt hier?", fragte Phil und wackelte mit den Augenbrauen.

"Mir war halt langweilig, da dachte ich mir ich höre mir euer unnützes Gelaber an. Vielleicht ist ja was Interessantes dabei."

Jetzt legte ich mich auf das Bett und sah sie neugierig an. "Na los, macht schon was Jungs so machen, ich bin gar nicht da", zwinkerte ich.

Als sie weiter nichts taten als mich zu beäugen stand ich seufzend auf und ging aus dem Zimmer. Dann werde ich halt was kochen, dachte ich ging in die Küche.

Als ich fertig gekocht hatte, nämlich Lasagne, kamen die Typen angetanzt, als würde sie der Duft locken. War ja klar, dass ich nur zum Kochen gut war.

"Krieg ich bitte auch was?" Grinsend trat Matt neben mich und guckte über meine Schulter, wie ich gerade ein Stück Lasagne auf dem Teller platzierte.

"Wenn du sooo lieb fragst, gerne", schmunzelte ich und reichte ihm meinen Teller, der eigentlich für mich gedacht war. Als ich den zweiten Teller in der Hand hielt, kamen auch Phil und Luke zu mir.

"Ich darf auch was haben, stimmt's?", fragte Luke und streckte die Hand nach meinem Teller aus. 

"Nix da, das ist meins, hol dir doch selber was. Du hast zwei sehr gesund aussehende Arme", grummelte ich und brachte mich gemeinsam mit meinem Teller in Sicherheit.

"Haha, mich hat sie lieber", witzelte Matt und streckte den beiden die Zunge raus.

"Klappe, sonst klatscht es", erwiderte ich ernst und sah dabei Matt in die Augen, damit er den Schalk in meinen sehen konnte. Langsam mochte ich den Typen.

 

Zu Mittag wurde es dann wieder heißer, was mich wunderte, da es in der Nacht doch etwas kalt war. Phil lief natürlich ohne T-Shirt rum. Er war halt ganz der Player. Mich ließ das aber kalt. Vollkommen kalt. Ich bin kein hormongesteuertes Geschöpf dieser Welt, meistens jedenfalls nicht.

Aber als auch die anderen ihre T-Shirts verloren wurde es mir zu bunt und so grummelte ich: "Warum müsst ihr alle halbnackt rumlaufen?"

Daraufhin lachte Luke nur und erwiderte: "Kannst es ja auch mal versuchen, ich hätte nichts dagegen." 

Ich funkelte ihn nur böse an. Es war immerhin klar, dass ich das nicht tun würde, ich lief ja nicht mal kurzärmelig herum. Dann würden ja alle sehen, was ich am liebsten vergessen würde. Darum geh ich auch nicht schwimmen. Außerdem bin ich ein Mädchen und ich würde mich davor hüten sie nur in die Nähe meiner nackten Haut zu lassen.

"Willst du mit in den Pool? Ist ganz schön heiß geworden", fragte Phil unschuldig. Kacke.

"Ehh.. nein, ich Ehh.. hab keine Lust", stotterte ich. Mist, ich stottere doch sonst nie! Ist ja auch lange her, dass jemand mit mir abhängen wollte.

"Kannst du etwa nicht schwimmen?", verarschte mich Phil. Ich atmete tief durch. Wenn's nur das wäre.

"Ja, ich kann nicht schwimmen, deshalb bin ich auch gestern in der Badewanne ersoffen und rede hier als Geist mit dir. Natürlich kann ich schwimmen, du Idiot!",  entgegnete ich vielleicht etwas zu zickig.

"Ist ja gut", murmelte er und ging raus, Richtung Pool.

Doch bevor Phil am Pool war, begegnete ihm Matt, der mit ihm einen vielsagenden Blick austauschte, den ich nicht verstand, doch er konnte nix gutes bedeuten, denn die beiden kamen direkt auf mich zu.

Bevor ich es überhaupt geschnallt hatte, hatten mich die beiden schon an Armen und Beinen geschnappt und hielten auf den Pool zu. Ich hätte mich befreien können, doch ich wollte nicht um mich treten, da ich sonst ja die beiden verletzt hätte. Außerdem, wenn ich mit Klamotten in den Pool gehe, ist es mir auch gleich.

Am Rande des Pools hielten sie kurz inne, nur um mich kurz hin und her zu schaukeln. und dann bis drei zu zählen. Dann warfen sie mich ins Wasser.

Ich war schon lange nicht mehr in einem Pool geschwommen, da ich mich weder in einen Bikini noch in einen Badeanzug traute. Und sind wir mal ehrlich: wer geht schon mit einem Pullover schwimmen? Genau, niemand. Deshalb verbrachte ich meine Sommer entweder damit, Kampfsport mit meiner Trainerin und besten Freundin Rose zu trainieren oder ich saß den ganzen Tag in meinem Zimmer, habe dabei Musik gehört und dabei gezeichnet. Wobei ich letzteres natürlich öfters tat, da Rose nicht jeden Tag Zeit hatte.

Rose ist sowas wie meine einzige Freundin. Sie ist zwar etwas älter als ich, aber auch nicht recht viel. Nur in ihrer Gegenwart fühlte ich mich wohl. 

Aber zurück zum Thema: der Pool. Ich kann ziemlich lange die Luft anhalten, weswegen ich de Jungs mal erschrecken wollte, natürlich nur falls es klappt und es ihnen nicht egal wäre wenn ich "verrecke".

Also blieb ich erst mal am Boden und hielt mich dort an den Griffen fest, die wir damals extra für mich in den Pool eingebaut hatten.

Ich hatte vor dem Eintauchen Luft geholt, weswegen ich echt lange unter Wasser bleiben konnte. Naja, ich dachte jedenfalls es war lange, denn schon bald kamen die Jungs reingesprungen und zogen mich nach oben. Ich stellte mich erst mal tot.

"Lilly?"

"Alter, Lilly! Verarscht du uns etwa?"

"Komm schon Lilly, mach die Augen auf!"

Ich öffnete meine Augen und spuckte den beiden Wasser in ihr erschrockenes Gesicht. Das Wasser hatte ich extra in meinen Mund gegeben, damit ich das tun konnte. Der Blick von ihnen war einfach göttlich. Ich konnte mir ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen.

"Alles okay, Jungs?", fragte ich unschuldig.

"Ja, alles okay", sagte Matt und tauchte mich wieder unter Wasser. Zugegeben, das kam unerwartet, also war es nur logisch, dass ich Wasser verschluckt hatte. Hustend und nach Luft ringend kämpfte ich mich an die Oberfläche und funkelte Matt böse an. Er brach einfach nur in lautes Gelächter aus.

"Du siehst echt scheiße aus", gluckste er. Ich glaubte ihm. Meine ganze Schminke musste verlaufen sein und ich sah wahrscheinlich aus, als würde mir gerade mein Gesicht runterlaufen. Trotzdem war es nicht nett von ihm.

Ich schob die Unterlippe vor und guckte traurig. "Das hättest du aber auch netter sagen können", murmelte ich gespielt weinerlich, wie ein kleines trotziges Mädchen. Natürlich brachte das die beiden nur noch mehr zum Lachen, doch diesmal machte es mir nichts aus und auch ich grinste leicht.

Ich schob meine Hände ruckartig nach vorne, sodass die beiden einen fetten Schwall Wasser schlucken mussten. Daraufhin hob mich Matt hoch und schmiss mich zurück ins Wasser. Als ich wieder auftauchte musste ich mir ernsthaft ein Kichern verkneifen.

Um nicht doch noch zu lachen, stieg ich schnell aus dem Wasser und drückte mir meine sicherlich sehr zerzausten Haare aus. "Wie sollte ich eigentlich ins Haus gehen, ohne dass alles komplett nass wird?", dachte ich. Mist..

Naja, anders ginge es wohl nicht, außer dass ich mich ausziehen könnte, aber das würde ich in 100 Jahren nicht machen. Also musste ich wohl oder übel mit nassen Klamotten rein.

"Warte mal, Lilly", sagte Paul.

Ich drehte mich zu ihm um und hob abwartend eine Augenbraue.

"Willst du so etwa reingehen? Wenn du dich nicht ausziehen willst, kannst du dich doch einfach in der Sonne trocknen lassen, statt alles nass zu machen", meinte er.

Gute Idee. Ich legte mich auf einen der Liegestühle und genoss die heiße Sonne.

Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich eingeschlafen war, als ich sanft geweckt wurde. Jemand malte mit dem Finger Kreise auf meiner Wange. Ich fuhr erschrocken hoch und blickte in das Gesicht von Matt.

"Eh, Hi", sagte ich noch verschlafen, "Wie spät ist es?"

"Zeit fürs Abendessen, ich sollte dich wecken", meinte er.

"Danke."

Meine Sachen waren wieder trocken und so konnte ich wieder ins Haus hinein gehen. Es roch nach leckeren Käse Omeletts. Bei dem Gedanken daran, dass Dad früher für Mum und mich immer Omeletts gemacht hat, ließ mich schwer schlucken. Sofort schossen mir wieder diese Bilder von dem Unfall in den Kopf. Ich dachte an das ganze Blut und.. mir wurde schlecht.

Schnell rannte ich ins Badezimmer im Erdgeschoss und übergab mich in die Kloschüssel. Ich atmete tief durch, um mich zu beruhigen.

Eigentlich war ich nicht so der Typ, der bei dem Anblick von Blut kotzt.. Naja, doch war ich schon. Wie ich eben wieder einmal zu spüren bekam. Aber ich kotze auch nur wenn es viel Blut ist. So 'ne Pussy bin ich halt auch wieder nicht.

Ich spülte runter und erschrak als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte. Auf meiner linken Schulter.

"Alles okay?", fragte mich die Stimme einer Frau. Sie klang nett und... MOMENT! Eine Frau? Ich blickte über die Schulter und sah in ein hübsches, wenn auch etwas älteres Gesicht. Ich schätzte sie auf etwa vierzig. Sie hatte blonde Haare, wie meine Mutter. Ihre Augen waren grün und strahlten Freundlichkeit aus. Sie hatte eine gute Figur, für eine mittelalte Frau. Groß und schlank.

Hatte mein Dad etwa eine neue Freundin? Nein, das hätte er uns doch gesagt oder? Erst jetzt bemerkte ich, dass ich sie die ganze Zeit angegafft hatte und ihr nicht antwortete.

"Ja, alles okay", brachte ich heraus.

"Ich bin Josy, falls du dich das fragst." Sie lächelte mich warm an. "Und du bist dann wahrscheinlich Henrys Tochter Lilly. 

"Genau", sagte ich einfallsreich und stand auf. 

"Es gibt Abendessen, Henry hat Omeletts gemacht. Willst du auch welche?"

"Ja, warum nicht." Ob ich wirklich was essen sollte, da war ich mir nicht so sicher. Doch ich wollte nicht unhöflich sein, außerdem fand ich beim Essen vielleicht heraus, wer diese Frau war. Und ob sie vielleicht was mit meinem Vater hatte.

Ich spülte meinen Mund mit Wasser aus und dann gingen wir gemeinsam in die Küche, wo alle am Tisch saßen und reinhauten. Als wir uns zu ihnen setzten, blickten mich ein paar stirnrunzelnd an, zu meiner Verwunderung auch Dave. Wahrscheinlich fragt er sich, ob ich schwanger bin. 

"Alles okay, mein Schatz?", fragte mein Dad da auch schon besorgt.

"Jep. Mir war nur schlecht. Krieg ich auch ein Omelett?", wollte ich das Thema wechseln.

"Klar", sagte er nur verwirrt und reichte mir ein Teller.

"Bist du etwa schwanger?", wollte Phil auch schon wissen. War ja klar, nichts im Hirn, diese Deppen.

"Sieht wohl so aus", sagte ich deutlich sarkastisch. "Ich sollte mich wohl für "Teenager werden Mütter" bewerben.

Jetzt hielten sie alle die Klappe. Naja, mehr oder weniger. Zum Essen mussten sie ihn doch öffnen.

"Lilly, das ist meine Freundin Josy, ich bin mir sicher ihr werdet euch gut verstehen", sagte Dad aus heiterem Himmel und ich verschluckte mich fast. Also doch seine Freundin. Kennt er sie schon lange? Oder hat er mir und Amy nichts gesagt? 

"Ich werde kurz ins Zimmer gehen", sagte ich tonlos und erhob mich. Nicht weil ich sie nicht mochte, se schien ganz nett zu sein, sondern ganz einfach, weil sie nicht Mum war.

Im Zimmer holte ich dann mein Handy aus der Tasche und wählte Amys Nummer.

"Hallo, Lilly. Wie geht's dir denn?"

"Wusstest du, dass Dad eine Freundin hat?", platzte ich heraus.

"Natürlich, er geht schon seit vier Monaten mit ihr aus", sagte sie zögernd.

"Du wusstest das!?", fragte ich aufgebracht. Nicht nur, dass Dad es mir nicht sagte, nein, Amy auch nicht. Wird ja immer besser.

"Ja. Hör zu, Lilly. Wir dachten nur, dass du es nicht verstehen würdest, dass Dad eine neue Frau gefunden hat."

"Ich verstehe nur nicht, wie ihr mir das nicht sagen konntet!", fuhr ich sie an und legte auf, ohne dass sie noch etwas erwidern konnte.

Also echt! Die glauben, dass ich Josy nicht mag, nur weil sie nicht Mum ist. Ich kann nett sein, denen werde ich's zeigen! Na gut, das klang dann doch etwas dümmlich. Ich werde halt einfach versuchen sie nicht zu vergraulen, wenn sie nett ist.

Es klopfte an der Tür. "Darf ich reinkommen?" Das war Dad.

"Von mir aus."

Er kam rein und setzte sich auf eines der Betten.

"Hör zu, ich weiß du findest es nicht gut, dass ich eine neue Frau..-"

"Denkst du darum geht es mir!? Es ist mir egal, werde glücklich mit ihr, wenn du willst. Aber scheiße finde ich, dass weder du, noch Amy mir davon etwas gesagt habt! Hattet ihr etwa Angst, dass ich ausflippen würde!? Dass ich sie umbringen würde!?", schrie ich ihm entgegen. Welch' eine Ironie, das mit dem umbringen ist mir gerade spontan eingefallen, doch es passte perfekt..

Mein Vater wurde etwas unruhiger. "Natürlich nicht, Lilly. Und du warst nicht Schuld! Herrgott, wie oft denn noch!? Und ...  Es tut mir leid, wir hätten es dir sagen sollen. "

"Schon gut. Ich werde jetzt schlafen gehen, morgen ist Schule. Weckst du mich auf?", sagte ich widerwillig.

"Natürlich, Schatz. Gute Nacht."

"Nacht“, sagte ich trotzdem noch sauer.

4.Kapitel

"Guten morgen, Lilly! Aufstehen! Zeit für die Schule", weckte Dad mich auf.

Ich hatte gut geschlafen und zur Abwechslung mal einen schönen Traum gehabt. Es war ein Traum, wo wir als Familie bei dem Eisladen um die Ecke waren. Wie früher. Umso trauriger ist es, jetzt in die Realität zurückgeholt zu werden.

"Bin wach", grummelte ich.          

"Gut. Frühstück ist unten."

Als mein Dad wieder gegangen war, rappelte ich mich auf und ging noch kurz unter die Dusche, zog mir ein neongelbes, längeres Top an und darüber einen dünnen langärmeligen Pullover. Dazu trug ich schwarze, eingerissene Leggins. Von der Mitte des Oberschenkels bis fast ganz hinunter waren unordentliche Schlitze eingeschnitten. Meine Haare, die mir etwas über die Brust reichten, ließ ich heute offen. Dann zog ich mir noch einen Liedstrich, tuschte meine Wimpern und fertig war ich.

Barfuß tapste ich in die Küche wo ich ein Marmeladenbrot aß und Orangensaft trank. 

"Dave geht in zehn Minuten, dann musst du fertig sein", teilte Dad mir mit.

Ich nickte und ging in den Flur, zog mir Socken und dann meine schwarzen Schnürstiefel an. Dann schnappte ich meinen schwarzen Rucksack und wartete artig auf Dave.

Als er kam musterte er mich nur kurz abfällig und drehte sich dann zur Tür um.

"Wiedersehen, Dad!"

"Bis bald, Lilly!"

Ich folgte Dave durch die Tür und wir machten uns auf den Weg. Ich wusste zwar noch von früher, dass hier einige Schulen waren, aber nicht wo. Mein Orientierungssinn war schon immer ziemlich mies.

Früher, als ich noch in die 5. Klasse ging, habe ich es sogar geschafft, mich einmal auf dem Nachhauseweg zu verlaufen. Und das, obwohl ich da schon ein paar Monate zur Schule gegangen war! Ich weiß, peinlich, peinlich.

Ich versuchte mir zu merken, wo wir lang gingen und ich denke, dass ich es sogar ganz gut schaffte.

Auf dem Schulgelände erkannte ich dann die Jungs in einer Ecke lehnen und Dave ging in ihre Richtung. Ich war mir sicher, dass ich nur stören würde und wollte auch nicht hingehen und fragen wo das Sekretariat war. Da würde ich ja vollkommen bescheuert und hilflos rüberkommen.

Außerdem glaubte ich nicht, dass sie mich mochten.

Ich ging durch die Eingangstür und checkte erstmal überhaupt nicht, wo ich war. Das war so.. riesig. Schätze mal, dass ich gerade in der Aula stand. Hier und da ein paar Schüler und Schülerinnen, die, wenn sie mich denn bemerkten, mich nur blöd angafften, statt mir vielleicht ihre Hilfe anzubieten.

Ich ging ein paar Schritte weiter, bis ich von hinten geschubst wurde. Ich drehte mich gerade um und wollte denjenigen anschreien, er solle sich doch ein paar Augen besorgen, doch der Typ, der in mich hineingerannt war, den kannte ich. Und Mann, der ist ja heiß geworden!

Er war früher mal mein bester Freund. Er hieß Tobi und wir hatten früher echt viel Spaß zusammen. Doch nach dem Tod meiner Mutter und meiner Schwester lag ich fast nur zu Hause in meinem Bett und habe geheult. Und er stellte einfach zu viele Fragen. Bis er irgendwann nicht mehr kam, weil ich und auch keiner aus meiner Familie, ihm antworteten.

Damals hatte mich das verletzt, denn ich mochte ihn. Dass er mich so schnell aufgab, fand ich echt .. naja blöd eben.

Schnell drehte ich mich um, in der Hoffnung, dass er mich nicht erkannt hatte. Wahrscheinlich wusste er nicht mal mehr wie ich aussah, geschweige denn meinen Namen. Er hätte mich sowieso nicht erkannt, ich hatte mich zu stark verändert.

"Entschuldigung. Kann ich dir vielleicht helfen? Die bist doch neu oder?", fragte er.

"Wo ist das Sekretariat?", murmelte ich und hoffte, dass er meine Stimme nicht erkannte.

"Im 1. Stock. Die Treppe hoch und einfach gerade aus."

"Danke", flüsterte ich und ergriff die Flucht.

 

 Im Sekretariat bekam ich dann einen Stundenplan und die Frau erklärte mir, wo ich die Klassenräume finden konnte. In der ersten Stunde hatte ich Zeichnen. Find ich cool, ich hoffte nur dass der Lehrer halbwegs kompetent ist.

 Im Klassenzimmer  schmiss ich mein Zeug auf den nächstbesten Tisch und mich gleich dazu. Nur auf den Stuhl, nicht auf den Tisch, versteht sich.

Es waren schon fast alle Tische besetzt und so fand ich mich in mitten zweier Mädchen wieder. Die eine hatte blonde Haare und strahlendblaue Augen. Das bemerkte ich nur, weil sie mich angaffte, als wäre ich eine Zirkusattraktion. Sie war die typische Tussi. Pinke Klamotten und schlanke Figur. Einfach zum Kotzen. Wieso mussten sich immer alle Mädchen wie Barbiepuppen anziehen und sich verhalten wie Tussis? Manche von ihnen könnten dann vielleicht sogar nett sein, wenn sie nicht alle aus Plastik wären. Aber es ist ja ihr Problem, nicht meines.

Links von mir saß jemand, der Stil hatte. Das Mädchen hatte nachtschwarze Haare mit dunkelblauen und hellblauen Strähnen darin. Sie trug eine zerrissene Jeans und ein T-Shirt das etwas lockerer saß und in der Seite ein paar Schnitte hatte, die ein wenig Haut zeigten. Sie kaute auf einem Stift herum, der lauter Spongebobs draufhatte.                                                                                                                                                                                                              

Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf, als ich bemerkte, dass sie den Meerjungfrau Mann und Blaubarschbube Fan-Ring hat! Den selben trug ich nämlich immer.

Sie hatte wohl bemerkt, dass ich sie gemustert hatte, denn sie blickte zu mir auf. Ihre Augen waren grün und kamen mir irgendwie bekannt vor. 

"Hi, bist du die Neue?", fragte sie freundlich und lächelte mich an.

Freundlichkeit? Zugegeben, das hatte ich nicht erwartet. Unauffällig sah ich mich um, um sicher zu gehen dass sie wirklich mich meinte. Das tat sie, denn niemand sonst schien sich um uns zu kümmern.

"Ehm, ja bin ich", kam es etwas trocken von mir.

"Ich bin Penny, aber du musst mich Penelope nennen", sagte sie ernst, doch konnte sie sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

"Hallo Penelope, ich bin Lilly und wehe du nennst mich jemals Lillith, dann gibt's Ärger", sagte ich todernst.

Sie grinste breit. "Abgemacht."

"So meine Damen und Herren, heute dürfen wir eine neue Schülerin begrüßen! Miss Miller, stellen sie sich doch bitte vor", unterbrach ein relativ junger Mann unser wirklich äußerst tiefgründiges Gespräch.

"Ich bin Lilly, 17 Jahre alt und komme aus New York. Jetzt bin ich hier hergezogen. Ende der Geschichte." Ich wollte nicht interessant sein und wenn ich mich als langweilig darstellte, bekam ich das am besten hin.

"Na schön. Gibt es noch Fragen an Miss Miller?", fragte wieder der Lehrer/Professor oder was immer der Typ auch war.

Niemand sagte etwas (worüber ich froh war) und er fuhr mit dem Unterricht fort.

"Ich möchte von euch für den Anfang etwas Einfaches. Ihr zeichnet einfach etwas, das euch an den Herbst erinnert. Das machen wir später auch mich den anderen Jahreszeiten. Also fangt an, ganz gleich was ihr malt. Es können die unterschiedlichsten Dinge sein!"

 Schnarch. Ob ich wirklich so etwas zeichnen wollte.. eher nicht. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und dachte nach. Ich  erinnerte mich, dass wir einmal im Herbst als Familie zu einem kleinen Teich spaziert sind. Ich habe mit Emily Puppen gespielt, einfach weil sie so süß war und es sie glücklich machte. Wir hatten an diesem Abend dort gepicknickt. Ich wusste was ich zeichnen würde.

Ich begann mit herbstlichen Farben Bäume und Blätter und den Teich zu gestalten, doch in der Mitte ließ ich auf der Wiese einen Platz frei.

Ich lehnte mich zu Penelope rüber und fragte sie, wann die Stunde aus sei. "Wir haben danach noch eine Stunde", erklärte sie mir.

Gut, ich hatte genug Zeit, das Bild fertig zu zeichnen. Ich konnte schnell und gut zeichnen. Finde ich zumindest.

In der Mitte, wo der freie Platz auf der Wiese vor dem Teich war, fing ich an mit meinem Kohlestift zu zeichnen. Ich malte und verwischte auch einige Linien wieder, vergaß alles um mich herum. Mit jedem Strich den ich malte, versank ich mehr in meiner Welt. In der Welt, wo noch alles gut war. Bis ich fertig war, dann holte mich die Realität zurück. Ich war fertig.

Das Bild war mir gut gelungen. Es zeigte einen wunderschönen Herbsttag, farbenfroh und freundlich. Doch bis zu unserem Picknickplatz hin wurden die Farben immer grauer und trauriger. Ich hatte mich, Amy und Dad auf der Picknickdecke gezeichnet. Auf dem Platz, wo eigentlich Mum und Emily hätten sein müssen, waren nur ihre vergangenen Schatten geblieben.

Ich merkte, wie mir jemand über die Schulter guckte. Natürlich der Lehrer.

"Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was dieses Bild bedeutet", meinte er, "Könnten sie es mir vielleicht erklären?", fragte er neugierig.

"Sicherlich nicht", gab ich emotionslos zurück. Nur über meine Leiche würde irgendjemand die Bedeutung erfahren. Muss doch genug sein, dass sie es betrachten dürfen.

"Schade", gab er etwas verwirrt zurück. Tja, dass ihm nicht immer jeder den Arsch mit Kunst zu philosophiert, ist ihm wohl noch nie untergekommen. Aber ich brauche das auch nicht. Ich weiß, dass ich gut zeichnen kann und dass die meisten meiner Bilder auch ganz O.K. waren.

Da läutete es auch schon.

Ich räumte meine Sachen weg, schnappte meinen Rucksack und wollte grade gehen, als mich jemand an meiner linken Schulter berührte. Ich zuckte heftig zusammen.

"Was hast du jetzt für eine Stunde?", hörte ich die Stimme von Penelope hinter mir. Sie schien meine Reaktion auf ihre Berührung nicht bemerkt zu haben, worüber ich mich freute.

Ich schaute auf meinen Zettel. "Mathe."

"Ich auch. Komm, ich zeig dir wo das ist."

 

Später, zu Mittag, führte mich Penelope in die Cafeteria und wir setzten und an einen Tisch, alleine. Wir hatten herausgefunden, dass wir die meisten Stunden gemeinsam hatten. Außerdem fand ich heraus, dass sie ganz nett war. Und sie mochte Spongebob genauso wie ich.

"Hey Penny."

Phil?

"Nenn mich nicht so! Ich heiße Penelope!", empörte sie sich. Phil tat dies nur mit einem Schulterzucken ab und ließ sein Tablett neben meinem fallen.

"Für mich bist und bleibst du Penny.", provozierte Phil.

"Halt die Klappe, du Arsch", sie zog eine Schnute, die sie aussehen ließ wie ein trotziges Kind. Phil lachte nur. Jetzt kamen auch die anderen Deppen: Luke, Matt und .. Dave. Was haben die denn mit Penelope zu tun?

Fragend sah ich sie an.

"Ich bin Phils Schwester", sagte sie und nickte in seine Richtung. AHA! Jetzt weiß ich, woher ich die grünen Augen kannte, es waren dieselben strahlend Grünen wie Phils.

"Hast du noch weitere Freunde gefunden, außer diesen Freak da?", spottete Phil an mich gewandt.

"Hmm, .. ne sorry. Hab nur diesen einen Freak gefunden", gab ich mit eiserner Miene zurück. Ich blickte Phil tief in die Augen, und wenn Blicke töten könnten, wäre er jetzt schon 10 Meter unter der Erde. In eiserne Ketten gehüllt und gefesselt. Der Sarg wäre aus Blei und mit hundert Schlössern versehen, aus denen er nie rauskommen würde.

Tja, genauso stellte ich mir das vor. Warum? Tja, er hatte seine kleine Schwester noch. Ich nicht. Und er, der seine Schwester noch hatte, behandelte sie so. Würde Emily noch leben.. Ich würde sie auf Händen durch die Gegend tragen und ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen. Meine kleine Emily...

"Entschuldige dich bei ihr", sagte ich eiskalt, dass einem das Blut in den Adern gefrieren konnte. Als er es immer noch nicht tat, zog ich ihm fest am Ohr zu mir hinunter und schrie: "TU ES!" Ich wusste, dass ich überreagierte, doch ich konnte nicht anders.

Er guckte kurz verdutzt und murmelte dann ein leises "Sorry, Penelope" in ihre Richtung.

Ich hackte etwas in meinem Essen herum, das nicht gerade lecker aussah und versuchte mich zu beruhigen. Ich durfte nicht ausflippen. Nicht in der Schule, schon gar nicht vor all den anderen und sicherlich nicht in der Öffentlichkeit. Es würde Fragen aufwerfen und das hatte ich auch mit meiner kleinen Überreaktion schon genug getan.

Ich ignorierte stur die überrumpelten Blicke der anderen und tat so, als würde das Essen meine gesamte Aufmerksamkeit benötigen.

"Die ist ja verrückt", schnaubte Dave abfällig. Ich entgegnete nichts darauf, wieso auch? Er hatte ja Recht.

"Willst du ihm jetzt nicht auch den Hals umdrehen oder das Ohr abreißen, weil er dich beschimpft hat?", empörte sich Phil. Tja, das fand er wohl unfair. Sein Ohr tat jetzt sicher weh.

"Ne, ich bin schließlich verrückt. Ein Wunder, dass ich noch nicht in der Klapse hocke und eine dieser Ich-Hab-Mich-Lieb - Jacken anhabe", sagte ich ernst.

Penelope kicherte leicht nervös und auch die anderen schmunzelten vorsichtig. Aha, wie witzig. Ich erzähle ihnen meine Probleme und meine Lebensgeschichte und sie nehmen sie nicht ernst, lachen mich einfach aus. Unverschämtheit.

"Kommt ihr heute wieder zu mir?", fragte Dave in die Stille hinein.

Alle nickten. "Zu mir nach Hause?", fragte ich. Wieder ein Nicken von allen.

"Ihr wohnt zusammen?", fragte Penelope überrascht, ihre Augen waren ganz groß geworden. Voll süß.

"Besser gesagt, er wohnt bei meinem Dad", gab ich zurück, "Du kannst übrigens auch kommen, wenn du willst."

"Okay, ich komme gerne." Penelope strahlte.

"Hey Jungs", ertönte Tobis Stimme. Mist! War mein ehemaliger bester Freund etwa mit ihnen befreundet!? Das kann doch nicht wahr sein! Ich hab aber auch immer Glück, verhöhnte ich mich selbst in Gedanken.

"Hey Tobi. Kommst du heute auch zu mir?", fragte Dave.

"Klar, warum nicht."

Scheiße, scheiße, scheiße, scheiße, sch…-

Ich musste wohl laut gedacht haben, denn sie alle starrten mich komisch an.

 "Ich geh dann mal", flüsterte ich und stürzte davon. Na toll! Geht's denn bitte noch etwas auffälliger? Ich bin so dumm! Und das Schicksal auch. Kacke verdammte! Warum passiert das immer mir! Ausgerechnet Tobi war mit ihnen befreundet! Und wenn er mich erkennt, wovon ich mal ausgehe, bin ich echt am Popo. Er würde mich, wenn nicht an meinem Gesicht oder meiner Stimme, an meinem Namen erkennen. Oder an der Tatsache, dass ein Mädchen bei meinem Dad wohnt. Das konnte ja nur ich sein. Okay, ich brauche einen  Plan.. Schade nur, dass ich nicht intelligenter als eine Kartoffel war. Und selbst eine Kartoffel schafft es nicht, einen Plan zu erschaffen.

Dann wohl improvisieren. Genau! Ich gehe ihnen aus dem Weg. Okay, wir werden uns sicher öfters treffen, wenn er in meinem Haus zu Besuch ist, also wird da sowieso nichts draus.

Kacke verdammte! Okay, ich musste einfach hoffen, dass er mich nicht mehr mochte und mich ignorieren würde, wenn er mich erkennt. Was er früher oder später tun wird. Eher früher als später, leider.

Eine andere Wahl hatte ich sowieso nicht. Ich musste zu Dad zurück, denn Amy wollte eine Auszeit von mir. Kann ich nur zu gut verstehen, ich bin eine Plage.

Als es läutete, machte ich mich eilig auf den Weg zur Klasse.

 

Der restliche Tag verlief langweilig. Als wir dann aus hatten, wartete ich draußen auf Penelope. Als sie neben mir stehen blieb, war es erstmal peinlich. Warum? Naja, weil ich nicht wusste, wo mein Haus war. Ich hatte mir den Weg scheinbar doch noch nicht gemerkt.

"Ehem.. keine Ahnung wo ich hin muss", gab ich etwas beschämt zu.

"Kein Problem, ich weiß wo dein Haus ist. Ich war schon ein paar Mal da und wir wohnen ganz in der Nähe. Nur 5 Häuser weiter oder so."

Also ging sie voran, bis wir bei dem hellblauen Haus stehen blieben. Ich steckte den Schlüssel in die Haustüre und wir traten ein. Ich kickte meine Schuhe von den Füßen und bedeutete Penelope, es mir gleich zu tun.

Wir gingen nach oben in "mein Zimmer", welches eigentlich das Gästezimmer war und dort schmiss ich mich erstmal auf das Doppelbett. Ich stöhnte ins Kissen. Noch weitere vier Tage Schule standen mir bevor und ich hatte jetzt schon keinen Bock mehr!

"Sag mal.. was war das mit Tobi eigentlich?"

"Was war denn?"

"Du sagtest scheiße, scheiße, scheiße,..-"

"Schon verstanden! Das war nicht wegen.. wie heißt er.. Tobi? Ich hatte nur meinen Taschenrechner in der Klasse vergessen. Ich bin ihn holen gegangen."

"Okay." Sie klang nicht sehr überzeugt. "Und was war das wegen Phil?"

"Keine Ahnung. Darf ich dich nicht verteidigen?"

"Klar, aber mir schien es, als wäre es dir nicht wirklich um mich gegangen. Und der Blick, mit dem du ihn durchbohrt hast, war so eisig, ich bin mir sicher es war in deiner Nähe ein paar Grad kälter geworden", sagte sie überlegend.

"Ach Quatsch. Klar ist es um dich gegangen! Ich mag dich.. naja irgendwie halt."

"Och, wie süß." spottete Phil von Türrahmen aus.

Ich knirschte mit den Zähnen. Wer hat die scheiß Tür offen gelassen!? Ach ja, das war ich. Witzig.

"Wollt ihr nicht ein paar brave Hausmädchen sein und uns etwas zu Essen machen?", fragte er herablassend.

Wut keimte in mir auf. Nie im Leben würde ich das tun. Um meine Beherrschung nicht zu verlieren, biss ich nur meine Zähne zusammen und schüttelte meinen Kopf. Von der einen Seite zur anderen, ihn dabei fest mit meinem Blick durchgelöchert.

 "Das war ein Befehl, Weib! Du hast mich in der Cafeteria blamiert. Dein Glück, dass ich keine Mädchen schlage", spuckte er mir förmlich ins Gesicht.

Okay, das "Weib" war zu viel! Ich sprang vom Bett auf uns kam auf ihn zu. Er war gut 20 Zentimeter größer als ich und hatte auch mehr Muskeln. Aber Muskeln sind nicht alles.

"Du hast mir nichts zu sagen, Pferdefresse", meinte ich monoton, biss aber trotzdem weiter meine Zähne zusammen. Ich hatte einen Plan. Ich musste ihn nur provozieren, bis Dad heimkommt. Dann würde er mich schlagen und ich um Hilfe schreien. Muahahhaha!

"Wie hast du mich genannt?"

"Ich? Ich hab gesagt, dass deine Fresse aussieht, wie die eines Pferdes. Deshalb Pferdefresse. Ich hoffe dein mickriges Hirn, falls man es als das bezeichnen kann, hat das verstanden."

Ich sah wie er immer wütender wurde. Ich machte einen Schritt auf ihn zu, als ich unten die Haustür hörte. Dann hob ich meine Augenbraue.

"Schätze, du hast Angst vor mir. Warum sonst würdest du mich nicht schlagen? Entweder weil du nicht es kannst oder weil du Angst hast, dass du verlierst."

Er schnappte mich an beiden Schultern, schob mich ruckartig nach hinten und schlug meinen Kopf damit gegen den Türrahmen. Ich hätte mich wehren können, ich hätte verhindern können, dass mein Kopf aufschlägt. Ich hätte ihm, bevor er mich gepackt hatte, die Füße wegkicken können. Das tat ich aber nicht, ich wollte immerhin, dass er mir wehtut.

Offenbar hatte er erwarten, dass ich den Stoß abfing denn er ließ mich sofort los. Zugegeben, mein Schädel tat jetzt ziemlich weh. Wird vermutlich eine Beule.

"DAD!", kreischte ich und grinste dabei hämisch. "Komm bitte schnell hoch!" Ich versuchte meine Stimme hilflos klingen zu lassen und es funktionierte auch ziemlich gut.

Ich sah wie Phil zusammenzuckte. Ich denke er hat gemerkt, dass das nur ein Trick war. Ich hätte ihn genauso gut verprügeln können, aber dann hätte ICH Ärger bekommen, nicht ER.

 "Was ist denn los?", fragte mein Dad als er vor uns stehen bleibt.

"Zuerst hat Phil mich Weib genannt und gesagt ich soll ihm Essen kochen, dann hat er meinen Kopf gegen den Türrahmen geknallt. Ich glaub ich hab jetzt eine Beule", beschwerte ich mich in einem weinerlichen und liebenswürdigen Tonfall. Dass ich mich anhörte wie ein Kleinkind war mir dabei vollends bewusst.

"Aber sie hat mich provoziert!", verteidigte er sich.

"Hab ich gar nicht! Du hast mir ohne Grund wehgetan!"

"Du hast mich Pferdefresse genannt!"

"Aber du hast mir weh getan! Und du hast angefangen! Außerdem hast du wirklich eine Pferdefresse, kann ich doch nichts dafür!"

"Stopp jetzt! Phil, wehe du tust ihr noch einmal weh! Sie ist meine Tochter! DU wirst jetzt für uns alle Essen kochen, Phil. Und wehe es ist nicht köstlich!", brachte er uns zum Schweigen. "Und Lilly, bitte provozier ihn nicht, wenn du damit nicht umgehen kannst. Das war nicht in Ordnung von dir."

Und ob ich damit umgehen kann. Immerhin wird er jetzt mein Essen kochen. Muhahah! Ein Plan hat endlich mal funktioniert!

"Natürlich, Papi“, sagte ich vertrauenserweckend.

Zufrieden drehte Dad sich um und ging die Stufen wieder nach unten. Ich zeigte Phil die Zunge.

"Ich bin unbesiegbar! Leg dich nie mit mir an, denn du wirst immer verlieren! Muahahhahaha!!!"

"Klappe."

"Wehe mein Essen schmeckt nicht fantabulös!", wieder zeigte ich ihm die Zunge, was er diesmal aber kommen sah. Denn er schnappte sie und zog daran. Schnell zog ich sie ein und verzog mein Gesicht.

"Du schmeckst ekelhaft. Bevor du mein Essen kochst, wäscht du dir die Hände."

Dann drehte ich mich um und hüpfte zurück zu Penelope ins Zimmer.

"Ich hab gewonnen!", sagte ich gespielt begeistert. Ist nichts Neues für mich, ich gewinne immer.

"Das hab ich gesehen. Tut dein Kopf nicht weh?"

"Es gibt schlimmere Schmerzen“, meinte ich abfällig. Wieder muss ich an diesen Tag denken. Was wäre gewesen, wenn nicht dieser Gottverdammte Schneesturm gewesen wäre? Oder wenn der andere Autofahrer nicht gerade auf der selben Straße gefahren wäre? Was wäre, wenn ich nicht auf diese Party gegangen wäre? Oder wenn Tobi mir nicht geholfen hätte, wenn er mich einfach meinem Schicksal überlassen hätte?  Oder wenn ich nicht gewesen wäre? Ich weiß, was wäre wenn. Meine Mum und Emily würden noch leben. Ich wäre zwar unglücklich, aber glücklicher als jetzt.

"Lilly!! Huhu! Ist jemand zu Hause?", fragte sie und klopfte mir auf die Stirn.

"Nein, mein Gehirn ist sich gerade aufhängen gegangen."

"Witzig. Willst du am Samstag mit mir und den Jungs in einen Club gehen?"

"Nein."

"Wieso nicht? Ich werde dich so lange nerven, bis du freiwillig mitgehst."

"Wenn du es mit nerven machst, wäre es nicht freiwillig."

"Och bitte, komm doch einfach mit! Wenn du nicht tanzen kannst, du musst nicht tanzen. Wir können auch einfach was trinken."

"Ich kann tanzen. Ich kann sogar sehr gut tanzen. Aber ich habe weder Lust was zu trinken, einen Kerl abzuschleppen, noch hab ich Lust meine Zeit in Mengen von besoffenen und verschwitzen Leuten zu verbringen."

"Bitte, für mich. Wir können ja zusammen tanzen!" Ihre Augen glitzerten vor Vorfreude. Ich wollte ja nicht gemein sein.

"Okay, ich gehe mit."

"Yeiii!", sie fiel mir um den Hals.

Wir quatschten noch eine halbe Stunde, dann rief Phil uns alle zum Essen. Es gab Pizza, bestellt natürlich. Aber das war okay, besser als wenn er versucht hätte richtig zu kochen.

 "Wirklich gut gekocht, Pferdchen", lobte ich Phil und tätschelte ihm den Kopf.

"Klappe halten, Kätzchen."

Ich hielt die Klappe und aß in aller Ruhe meine Pizza und versuchte dabei nicht die ganze Zeit Tobi anzustarren. Wusste er wirklich nicht, wer ich bin? Erkannte er mich nicht oder mochte er mich nicht mehr? Verübeln konnte ich es ihm nicht, ich war einfach weggezogen und er konnte nicht wissen wo ich war. Meinem Dad hatte ich auch gesagt, er solle niemandem verraten, wo ich wohne. Aber angerufen hatte Tobi nie, was mich zugegeben etwas kränkte. Immerhin waren wir seit dem Kindergarten beste Freunde. Und es gab mir einen Stich in meinem zerbrochenem Herzen, wenn ich daran denke, dass er mich wahrscheinlich nicht mehr mag.

Ich wollte Augenkontakt mit Tobi vermeiden, denn bernsteinfarbene Augen, so wie ich, hatte auch nicht jeder. Vielleicht würde er mich an ihnen erkennen. Oder er will mich gar nicht sehen.

"Wieso starrst du mich so an?", fragt Tobi neugierig. Mist! Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich ihn ansah.

"Tu ich das?", meinte ich unschuldig und wandte meinen Blick hastig ab. Ich versuchte nur auf meinen Teller zu starren, damit er meine Augen nicht sehen konnte.

"Ja, tust du."

"Wollte ich nicht, sorry."

"Wie heißt du eigentlich?"

"Das weißt du nicht?", fragte ich verwundert.

"Nein."

"Gut." Ich stand schleunigst auf und ging, aber nicht ohne Penelope anzustoßen, damit sie mir folgte.

Im Zimmer angekommen durstöberte sie meinen Schrank, damit wir ein Outfit für Samstag zusammensuchen konnten.

"Wow, hast du coole Sachen! Kann ich das blaue anziehen?"

"Klar, passt gut zu deinen Haaren."

"Ja, finde ich auch.", meinte sie. "Sag mal, welche Stunden haben wir morgen?"

"Ehm ich hab..", ich guckte auf meinen Stundenplan, "Mathe, Englisch, Geschichte,  dann zwei Stunden Biologie."

"Wir hatten gerade erst Sommerferien und die machen schon wieder das ganze Programm! Das ist so unfair!", stöhnte Penelope.

"Find ich auch."

"Und es ist erst Montag!", empörte sie sich weiter.

"Ich weiß. Die fünf ersten Tage nach dem Wochenende sind immer die Schlimmsten."

Sie kicherte. Dann wechselte sie das Thema „Magst du Tobi?"

"Ich? Wieso?"

"Ich weiß nicht, du hast ihn so angesehen, und da dachte ich..-"

"Nein, ich mag keine Jungs." Als sie mich schockiert und überrascht anguckte fügte ich schnell hinzu: "Und auch keine Mädchen! Ich meinte nur damit, dass ich niemanden brauche und auch keinen suche. Denk jetzt bloß nichts Falsches", kicherte ich belustigt über ihren Gedankengang.

"Wäre nicht schlimm wenn du lesbisch wärst, nur wäre es ein großer Verlust für die Männerwelt." Sie lachte.

"Hä?", fragte ich äußerst geistreich.

"Na, du bist voll hübsch! Fast alle Jungs an unserer Schule gucken dir nach."

"Könnte daran liegen, dass ich so freakig angezogen bin. Oder an meinen Haaren.", gab ich zu bedenken. Ich bin nicht hübsch, das hat mir auch noch nie jemand gesagt, ich bin fest davon überzeugt.

"Nein, du hast eine hammer Figur und du bist wirklich, wirklich hübsch."

"Ich glaube dir nicht. Außerdem, woher willst du das mit der Figur wissen? Übrigens: du bist das einzige Mädchen an der Schule, das ich hübsch finde. Die anderen sind nur solche aufgeblasenen Tussis. Du dagegen hast Stil", sagte ich wahrheitsgemäß und mit vollem Ernst.

"Ehm, danke.", sagte sie etwas verlegen.

Es klopfte an die Tür.

"Wer ist da?", fragte sie fröhlich.

"Matt. wollt ihr zu uns ins Zimmer kommen?"

Ich wollte gerade ja sagen, als ich mich daran erinnerte, dass auch Tobi da war.

"Nein, sorry." Penelope guckte mich böse an.

"Liebend gern", sagte sie und ging zur Tür und bedeutete mir, ihr zu folgen. Darauf hatte ich echt keine Lust. Wenn man um halb zehn zu Jungs eingeladen wird, wenn man definitiv nichts von ihnen wollte, war das sicher nicht klug. Doch ich wollte Penelope nicht verärgern und so folgte ich ihr.

"Willkommen, Ladys!", flötete Luke, der gerade ein Bier in der Hand hielt. Wollten sich die hier betrinken? Morgen war immerhin Schule!

"Wir wollen einen Horrorfilm gucken, ihr auch?"

"Ja, einen mit viel Blut!", stimmte Penelope zu.

Blut? Gegen Blut generell hatte ich nichts, aber größere Mengen auf dem Boden? Ist nix für mich.

"Okay, einen mit viel Blut", sagte Dave und schob die DVD rein. 

Alle saßen auf der Couch und es war nur noch ein Platz neben Dave frei. Widerwillig ließ ich neben dem Player nieder und starrte auf den Fernseher.

Der Film war eigentlich ganz gut und 'realistisch', bis das Blut kam. Im Film war es gerade Winter und ein junges Mädchen ging alleine durch den Wald. Ich meine wie blöd kann man sein? Aber das tat nichts zur Sache. Der Mörder kam auf sie zu und tötete sie. Und das ganze Blut...

Ich wusste natürlich, dass es kein echtes war, aber ich hatte wieder diese Bilder vor mir. Ein Schluchzer kam aus meiner Kehle und alle wandten mir ihren Blick zu. Ich stürmte aus dem Zimmer ins Badezimmer. Die Galle schoss mir in den Mund, ein echt ekeliges Gefühl. Dann beugte ich mich über die Kloschüssel.

Wo ich mich erstmal kräftig übergab.

Ich kniete mich mit dem Kopf Richtung Wand auf dem Boden nieder. Diese Bilder waren da. Sie würden nie weg gehen.

"Ich will nicht nach Hause", lalle ich. "Ich will bei Tobi bleiben!"

"Du wirst gar nichts tun! Ich sagte du darfst nicht auf die Party und du gehst trotzdem! Was hast du dir dabei gedacht? Es hätte sonst was passieren können!", schreit meine Mutter mich verärgert an.

Ich bin stinkwütend auf sie.

"Ich mach' jez das Fenster auf, ich brauch'  frische Luft!", nuschele ich und kurble das Fenster runter. Sofort bekomme ich Schnee ins Gesicht geweht.

"Dreh das Fenster wieder hoch!", sagt meine Mutter jetzt richtig wütend.

"Ich will aber nicht!"

Emily auf dem Rücksitz weint.

Ich schlug meinen Kopf gegen die Wand. Ich wollte diese Bilder nicht sehen. "GEHT WEG!", kreische ich. Tränen rannen aus meinen geschlossenen Augen. Egal wie sehr ich meinen Kopf gegen die Wand schlug, die Bilder blieben da. "WEG! GEHT DOCH WEG!", murmelte ich verzweifelt. 

Ich zitterte und wurde von Schluchzern gepackt.

"Lilly! Lilly, was ist los?", ich würde von starken Armen gepackt und gegen eine muskulöse Brust gedrückt. Ich konnte nicht antworten, aber ich wollte auch nicht. Ich weinte nur weiter. Daves T-Shirt war schon ganz nass von meinen Tränen, doch ich konnte nicht aufhören. 

Immer wieder plagen mich diese Erinnerungen. Ich kann sie nie vergessen, egal was ich tue. Es hilft nicht, nicht darüber zu reden. Es hilft nicht, meine Narben zu verstecken. Es hilft nicht, Einzelgänger zu sein und niemanden an mich ranzulassen. Es hilft nicht, seine Wut an dem rauszulassen, den man verprügelt. Es hilft auch nicht, meine Tränen zu verbergen und so zu tun, als wäre ich stark. Alles, was ich je getan habe um zu vergessen, hat nicht geholfen.

Doch hier bei jemandem zu sein, der einen einfach nur im Arm hält, das hilft. Einfach nur jemanden zu haben, der einen nicht los lässt. Seine Schwäche zu zeigen, sich verwundbar zu machen und einfach seine Tränen zu zeigen, das hat mir mehr geholfen als alles, was ich bis jetzt getan habe.

Na ja, bis mir auffiel.. dass ich gerade hier sitze und Daves T-Shirt vollheulte.

Hastig versuchte ich mich von ihm zu lösen, als ich aufgehört hatte zu weinen. Doch er ließ mich nicht los.

"Was ist los, Lilly?"

Mein Leben ist scheiße, das ist los.

"Mir war schlecht." Meine Stimme klang stärker, als ich es vermutet hatte.

"Und warum hast du geweint?"

Weil ich es einfach nicht vergessen kann.

"Ich habe Heimweh."

"Und warum wolltest du deinen Kopf an der Wand zermatschen?"

Weil dann vielleicht die Bilder aus meinem Kopf verschwinden.

"Ich hatte Kopfweh."

"Lilly?"

Bitte hör auf.

"Was?"

"Kannst du bitte ehrlich sein?"

Nein.

"Nein."

Ich befreite mich aus seinen Armen und schritt langsam zur Tür. "Tut mir Leid wegen deinem T-Shirt."

"Schon okay."

 

Im Zimmer angekommen hätte ich mich dafür ohrfeigen können, einfach vor jemand anderem zu weinen. Ich bin so dumm! Er wird es den anderen sagen. Er wird ihnen sagen, dass ich geheult habe wie ein kleines Mädchen. Er wird mich auslachen. Ich musste ja auch ausgerechnet vor Dave heulen! Ich schämte mich jetzt in Grund und Boden.

Mir meiner Schuld bewusst, legte ich mich ins Bett. Kaum hatte ich das Kissen berührt, fiel ich auch schon in einen Traumlosen Schlaf.

5.Kapitel

Am nächsten Morgen weckte mich wieder mein Dad. Ich machte mich normal fertig und tat Dave gegenüber so, als wäre ich gestern nicht heulend in seinen Armen zusammengebrochen.

Als ich fertig mit dem Frühstück war, machte ich mich auf den Weg zur Schule. Schweigend ging ich neben Dave.

"Mach dir keine Sorgen, ich habe niemandem etwas gesagt. Und ich werde es auch nicht tun" eröffnete Dave ein Gespräch.

"Ehm, danke", gab ich etwas verwirrt zurück.

"Keine Ursache."

Schätze unser Gespräch war damit beendet. Recht viel scheint er ja nicht zu reden.

"Aber ich hätte da eine Frage..", sagte er zögernd. "Woher kennst du Tobi?"

Gut, das war nicht gerade die Frage, die ich erwartet hätte, aber okay. "Das tue ich nicht."

"Lüg doch bitte etwas besser, meine Intelligenz fühlt sich verarscht."

"Welche Intelligenz?", fragte ich unschuldig. Natürlich log ich! Ich wollte nicht, dass Tobi mich erkennt.

"Tobi sagte, du kommst ihm bekannt vor. Hattest du mal was mit meinem besten Freund?" Er ging gar nicht erst auf mein Kommentar ein.

Sein bester Freund? Das kränkte mich, obwohl ich kein Recht dazu hatte. Immerhin war ich es, die keinen Kontakt mehr zu meinen alten Freunden wollte.

Dave bemerkte offensichtlich meinen Stimmungsumschwung von 'schlecht gelaunt' zu  'noch schlechter gelaunt und gekränkt'. Dave interpretierte dies jedoch etwas falsch.

"Ich bin mir sicher, dass er dich mochte. Ihr hattet sicher viel Spaß zusammen. Warum sprichst du ihn nicht darauf an?", versuchte er mich aufzumuntern.

Toll, er - und offensichtlich auch Tobi - dachten ich wäre eine Bettgeschichte. Die noch dazu an Tobi hängt und schwach ist. Vermutlich denkt Dave ich hätte seinetwegen geheult. MOMENT! Das war doch eigentlich gut! Vielleicht erkannte Tobi mich ja wirklich nicht und denkt, ich wäre wirklich nur eine Hure. Wäre besser, als wenn er die Wahrheit kennen würde.

"Ich werde ihn nicht darauf ansprechen. Du hast richtig erkannt, wir hatten was gemeinsam, aber er kann ja selbst drauf kommen", sagte ich grinsend. Im Grunde genommen hatte ich auch nicht gelogen. Nur hatten wir keinen Sex, sondern die beste Freundschaft, die ich je hatte. Außerdem war ich noch Jungfrau.

"Wieso grinst du so? Du grinst doch sonst nie."

Sofort verschwand mein Lächeln wieder. "Du hast recht."

"Nein, lächle ruhig weiter, das sieht hübsch aus."

Verwirrt über sein Kompliment starrte ich ihn an. Mich hat noch nie ein Junge hübsch genannt, außer Tobi. Aber das war bevor ich mich verändert hatte. Seitdem ich mich anders anziehe und andere Haare habe, nannten mich alle nur freakig, aber nicht hübsch.

"Ich und hübsch? Erzähl keinen Quatsch, verarschen kann ich mich selbst." Ich war mir ziemlich sicher, dass er das nicht ernst meinte. Oder er meinte es ironisch. Oder...

"Das hab ich ernst gemeint", nuschelte er so leise, dass ich Probleme hatte ihn zu verstehen.

War es ihm etwa peinlich, dass er mir ein Kompliment gemacht hatte? Vermutlich. Jemand wie er würde jemanden wie mich nie als hübsch bezeichnen ohne sich innerlich den Arsch ab zulachen.

Bei der Schule angekommen, zerrte mich Penelope gleich zu den anderen, bevor ich die Flucht ergreifen konnte. Tobi stand nämlich auch bei ihnen und lächelte mich schüchtern an.

Meinte er das ernst? Dachte er wirklich, dass ich Sex mit im gehabt hatte? Wäre ich nicht viel zu hässlich dafür? Aber das wäre nicht das Schlimmste daran. Er war immerhin mein bester Freund! Dann hätte er mich doch früher auch schon hübsch finden müssen. Also, hübsch genug um mich zu ficken.

Völlig entgeistert starrte ich ihn an, bis mir wieder einfiel, dass ich ihm nicht in die Augen sehen durfte.

"Hi Leute", murrte ich in die Runde.

"Was war gestern los?", wollte Penelope wissen.

Oh Himmel, hilf! "Mir war schlecht."

"Und warum hast du geschrien 'Geh we..-"

"Penelope! Halt den Mund!", giftete Matt sie an.

Mist. Sie hatten mich gehört. Natürlich hatten sie das! Ich hab ja auch geschrien wie eine Geisteskranke. Nervös schaute ich in die Runde. Alle taten so, als wären sie mit irgendetwas beschäftigt, nur Penelope musterte mich neugierig.

Ich seufzte. "Ich geh dann mal in den Unterricht. Bye."

"Bye", kam es von den anderen. Penelope folgte mir, wir hatten den ganzen Tag gemeinsam.

 

Der Tag verging eigentlich relativ schnell, aber vermutlich nur, weil ich kein einziges Mal aufgepasst hatte. Aber in der Biologie Stunde hatte ich Pech. Warum? Weil der Lehrer meinte, wir sollten uns mit Blut beschäftigen. Ja, genau, mit Blut. Ironisch, ich weiß.

Als er dann mit einem Glas Schweineblut ankam, lagen meine Nerven eh schon blank. Aber NEIN, er setzte noch eins drauf in dem er stolperte und das Glas auf den Boden fiel! Im Ernst! Das ist wirklich passiert. Ich spürte schon mein Essen hochkommen und rannte schnell zur Toilette. Als ich fertig mit spucken war, ging ich in den Gang und erstarrte.

Denn vor mir stand Andrew. Mein erster und einziger Freund, den ich je hatte. Naja, eher Ex-Freund. Der, der mich auf der Party fast vergewaltigt hätte. Der Typ, wegen dem ich Kampfsport betrieb. Der Bastard, wegen dem ich keinen Alkohol trank. Das Arschloch, weswegen ich auf keine Partys ging. Diese elendige, verschissene, verschleimte, verhurte KRÖTE, die mein VERDAMMTES LEBEN ruiniert hat!

"Du elendiges Arschloch!", fluchte ich und er riss überrascht die Augen auf.

"Wie hast du mich genannt!?"

"Du beschissenes Arschkind, hast mein Leben ruiniert!", schrie ich ihm entgegen.

"Lilly?", seine Augen blitzten belustigt auf. "Ach, du bist es. Die kleine Hurentochter, die mich nicht rangelassen hatte."

In mir loderte der Zorn auf. Er nannte meine tote Mutter eine Hure! "Pass auf was du sagst, Bastard!", keifte ich.

Ich machte einen Schritt auf ihn zu, um ihm meine Faust in den Magen zu rammen, doch er fing sie ab. Er verdrehte meinen Arm und ich unterdrückte einen Schmerzeslaut. Er drückte mich an die Wand und küsste meinen Hals. Ich versuchte mich loszureißen, doch ich schaffte es nicht. Er war stärker geworden. Mit einer Hand hielt er meine Hände über dem Kopf fest und mit der anderen fuhr er unter mein T-Shirt.

"Du wirst dafür bezahlen, dass du so stur warst", raunte er in mein Ohr. Er war so widerlich. Er wollte mich doch nicht wirklich in der Schule vergewaltigen! Ich versuchte ihn zu treten, doch er stieg nur fest auf meinen Fuß, sodass ich aufschrie. Sofort hielt er mir den Mund zu. Mein Pech war natürlich, dass weit und breit niemand zu sehen war.

"Nana, wir wollen doch keine Aufmerksamkeit erregen", tadelte er mich und fuhr wieder unter mein T-Shirt.

"Lieber sterbe ich, als mich von dir berühren zu lassen. Ich werde dich anzeigen wenn du mich weiterhin berührst!"

"Bist du sicher? Ich könnte der ganzen Schule erzählen, was damals nach der Party passiert ist, alle würden mir glauben."

"Ich werde dich trotzdem anzeigen. Wegen sexueller Belästigung. Und wenn du mich noch eine weitere Sekunde berührst, werde ich auch sagen dass du mich vergewaltigt hast!", keifte ich panisch.

"Deine Entscheidung. Aber du wirst mich nicht anzeigen, ich habe was gegen dich in der Hand. Und beschwer dich nicht, nur weil du dich nicht gegen mich wehren kannst." Er ließ von mir ab und ich sank zu Boden. Mein Fuß tat höllisch weh.

Doch bevor Andrew ging, trat er mir mit dem Fuß in den Magen. Sehr fest. 

Ich krümmte mich vor Schmerzen und blieb am Boden sitzen, beide Arme um meinen Bauch geschlungen. Andrew war gegangen. Dann läutete es zur Pause.

Ich spürte wir mir schlecht wurde und wollte zum WC um wieder zu kotzen. Aber ich konnte nicht aufstehen, mein Fuß und mein Bauch taten höllisch weh.

Auf Knien und mit einer Hand robbte ich zur Mädchentoilette. Ich hoffte inständig, dass mich keiner so sehen würde. Aber natürlich wurde meine Hoffnung zunichte gemacht, denn Dave kam auf mich zu.

"Was ist denn passiert?", wollte er sofort wissen. Er klang irgendwie wütend. Hatte ich was falsch gemacht?

Ich konnte es ihm nicht sagen, weil ich erstens meine Kotze im Mund behalten wollte und zweitens würde Andrew die Wahrheit über mich sagen, wenn ich es ihm sagen würde.

Also robbte ich weiter auf die Tür zu, weiter auf Knien, versteht sich. Ich kroch ins WC hinein und übergab mich in die nächste Kloschüssel. Was mit meinem schmerzenden Bauch noch mehr weh tat.

"Lilly, sag mir was los ist!", herrschte Dave mich an.

Ich wollte aufstehen, doch mit dem beschissenen Fuß schaffte ich das nicht. Dave bemerkte meine missliche Lage und half mir auf. Sein Blick fiel auf meinen Hals. Dann auf meine Handgelenke.

"Wieso hast du da einen Knutschfleck?", knurrte er.

"Weil mich jemand geknutscht hat?", versuchte ich es vorsichtig.

"Und deine Handgelenke? Du wirst dort blaue Flecken kriegen. Wer war das!?"

"Großer Gott, niemand war das!" Kacke, mir fiel nicht ein, wie ich die blauen Flecken erklären konnte.

"Ist klar. Und bist einfach aus Spaß am Boden gekauert."

"Genau, aus Spaß. Du hast es erfasst. Und jetzt lass mich.", giftete ich ihn an. Ich machte mich von ihm los und humpelte davon. Genau, wegen Andrew humpelte ich. Dieser Idiot! Aber da wir jetzt aus hatten (guter Gott, das mit Andrew hatte länger gedauert als gedacht), konnte ich nach Hause humpeln. Vorher musste ich natürlich noch in die Klasse und meinen Rucksack holen. Dort wartete Penelope auch schon.

"Meine Güte, Lilly! Was ist passiert?", sagte sie von meinem Humpeln schockiert.

"Bin gestolpert. Ganz schön ungeschickt, was?", versuchte ich die Stimmung aufzulockern. Sie murmelte nur irgendwas, das ich nicht verstand.

"Na komm, humpeln wir nach Hause", scherzte ich. Diesmal lachte sie. "Darf ich heute auch zu dir kommen?"

"Klar."

 

Im Haus traf ich dann in der Küche auf Tobi und Dave. Ich schleppte mich zu Tobi hinüber. Ich hatte jetzt was ganz Dummes vor. Ich sah Tobi tief in die Augen und sagte:

"Diesmal konntest du mich nicht vor ihm beschützen ", flüsterte ich und stolzierte von der Treppe zum Zimmer. Ich war mir sicher, jetzt hatte er mich erkannt. Er konnte meine Augen sehen. Wenn Tobi mich jetzt nicht kannte, war er entweder über die Jahre verblödet oder er wollte mich wirklich nie mehr wieder sehen. Bzw. verdrängte, dass wir mal beste Freunde waren.

Ich packte gerade meine Hausaufgaben aus, als es an der Tür klopfte. Ich kam gar nicht dazu, dass ich etwas sagen konnte, da riss derjenige die Tür schon auf.

"Lilly!", gab Tobi von sich und fiel mir um den Hals. Erhob mich hoch und drehte mich im Kreis, das bekam meinem Magen zwar nicht so ganz, aber meiner Seele tat es gut.

Er mochte mich noch. Der liebste Mensch auf der Welt mochte mich noch, obwohl ich ihn verlassen hatte. Tränen stiegen mir in die Augen und ich vergrub mein Gesicht an seiner Schulter. Mein bester Freund mochte mich noch, er hasste mich nicht. 

Das verlangte nach einer lauten Wiederholung. "Du hasst mich nicht", sagte ich fröhlich und eine Träne rollte mir über die Wange.

"Natürlich hasse ich dich nicht. Du bist meine beste Freundin."

Jemand räusperte sich. Dave. Neben ihm stand Penelope und guckte mich seltsam an. Was war denn los?

"Sorry Dave. Sie ist der beste weibliche Freund, den ich habe", grinste Tobi. Ich bemerkte, dass ich ihn noch immer umarmte und löste mich von ihm. Ich hatte das fetteste Grinsen seit Jahren im Gesicht.

"Was hattest du eigentlich vorhin gemeint mit, 'diesmal konntest du mich nicht vor ihm beschützen'?", fragte Tobi und sah mich fragend an. Mist. Diesen Teil hätte ich weglassen sollen.

"Nichts.", log ich.

"Du kratzt dich immer mit dem rechten Daumen am kleinen Fingern, wenn du lügst. Also sag schon."

Tat ich das wirklich? Ich sollte besser aufpassen..

"Ich hab aber wirklich nichts gemeint!", empörte ich mich und tatsächlich kratze ich mich am kleinen Finger. LOL.

"Siehst du?", grinste Tobi.

"Ich bin froh, dich wieder zu haben", murmelte ich verlegen. Nicht weil ich es nicht ernst meinte, sondern weil ich immer noch von Penelope und Dave beobachtet wurde.

"Ich auch", gab er zu und klang wirklich ehrlich froh. Was mich auch freute.

"Leute, wollen wir was essen? Ich hab Hunger", versuchte ich sie abzulenken. Anscheinend funktionierte es, denn sie drehten sich alle um und gingen die Treppe runter. Ich humpelte hinterher. Vielleicht sollte ich meinen Fuß kühlen? Schaden würde es sicher nicht. Ich schnappte mir einen Eisbeutel aus dem Kühlschrank und setzte mich zu den anderen an den Tisch, wo schon ein Hühnchen mit Reis platziert war. Lecker!

Schnell noch einen Hocker unter den Tisch geschoben, meinen Fuß drauf und das Eis darüber. Mhh.. das tat gut.

Ich haute beim Essen richtig rein. Ich glaube, es war das erste Mal seit drei Jahren, dass ich wieder etwas glücklich war. Und das nur, weil ich Tobi wieder hatte. Er war wie ein Bruder für mich, immer für mich da. Selbst jetzt, obwohl ich ihn eigentlich verlassen hatte. Ich hatte ihn eigentlich nicht verdient. Doch ich wollte mein Glück nicht in Frage stellen und so genoss ich es einfach, wieder meinen besten Freund zu haben. 

Das ganze Essen über grinste ich wie eine Blöde.

Heute war es draußen sonnig und heiß. Dave sagte, dass die anderen nachher zum schwimmen kommen würden. Penelope fragte mich, ob sie sich einen Bikini von mir ausborgen darf und ich bejahte. Ich wollte sowieso nicht schwimmen, sie würden alle etwas sehen, von dem ich nicht wollte dass sie es sehen. 

Penelope ging schon mal vor in mein Zimmer und suchte einen Bikini. Als ich nach oben ins Badezimmer ging, kam Dave zu mir rein. Ich ließ es zu, ich wollte sowieso nur meine Haare kämmen, die in alle Richtungen abstanden.

"Willst du mir sagen wer es war?", fragte er sanft. Ich war verwundert über seine nette Stimme und fast kam ich in Versuchung es zu sagen. Aber nur fast.

"Nein."

"Bitte sag es mir! Der Typ gehört angezeigt. Wieso lässt du ihm das durchgehen? Kennst du ihn überhaupt? Und woher kennst du Tobi?", schoss ein Schwall Frage auf mich ein.

"Ich kenne den Typen nicht und es ist mir auch egal. Ich konnte mich nicht wehren, also war es auch meine Schuld. Und ich kenne Tobi von früher. Wir waren beste Freunde."

"Beste Freunde die Sex miteinander hatten?", fragte Dave verwirrt.

"Sex? In welcher Welt lebst du denn? ... Oh, ich schätze du meintest unser Gespräch. Nein, hör zu. Ich sagte nur ich hatte was mit ihm. Damit meinte ich Freundschaft", kicherte ich. Dave entspannte sich sichtlich. Wieso das denn? Wollte er nicht, dass sein bester Freund was mit so einer hässlichen Verrückten hatte wie mir? Sofort sank meine gute Laune und ich schmiss meine Haarbürste auf die Kommode. 

"Passt dir der Gedanke nicht oder was ist los!?", zickte ich ihn an und schob mich an ihm zur Tür vorbei. Dabei berührte meine Hand seine und es kribbelte, wo wir uns berührten. Komisches Gefühl.

Im Zimmer stand Penelope in meinem blauen Bikini, der ihr echt gut stand.

"Scharf", sagte ich und schmiss mich aufs Bett.

"Danke", sagte sie fröhlich und musterte mich vorsichtig. "Darf ich dich was fragen?"

"Frag."

"Du und Tobi.. ist das nur Freundschaft?"

"Stehst du etwa auf ihn?", fragte ich neugierig.

"Naja.. ein bisschen vielleicht? Er ist so ziemlich der einzige der nett zu mir ist, ohne nur das 'Eine' zu wollen", gab sie zu.

"Keine Sorge, es ist nur Freundschaft. Aber wenn du mit ihm zusammen kommst, kann ich dir nur raten nett zu ihm zu sein. Sonst kriegst du's mit mir zu tun. Soll ich ihn fragen ob er dich mag?"

"Wenn du möchtest? Aber bitte nicht zu auffällig", sagte sie verlegen.

"Kein Problem."

"Ziehst du dir nicht auch einen Bikini an?"

"Ich gehe nicht schwimmen, keine Lust"

"Okay."

 

Unten am Pool legte ich mich auf eine Liege. Sogleich kam Tobi aus dem Wasser und setzt sich zu mir.

"Willst du nicht schwimmen?" Er runzelte die Stirn.

"Nein. Aber darf ich dich was fragen?"

"Klar."

"Magst du Penelope? Ich finde ihr würdet gut zusammen passen."

Er wurde rot. Okay, er stand wenigstens ein bisschen auf sie.  Muahaha!

"Ein bisschen vielleicht. Wieso?" Wusste ich’s doch!

"Frag sie doch mal, ob sie mit dir ausgehen will" schlug ich vor und sah ihm dabei in seine dunkelblauen Augen. Ich tätschelte seine braunen Haare. "Am besten jetzt gleich. Hopp hopp!"

Er erhob sich ohne Widerworte. Hätte sowieso nichts gebracht, ich hätte ihn schon dazu bekommen und das wusste er. Er ging zu Penelope hinüber die sich sichtlich freute. Es sah so aus, als würden sie flirten. Ich grinste. Ich kann echt gut kuppeln.

Dave stellte sich vor mich, doch ich ignorierte ihn. Ich wollte Penny und Tobi zusehen. Doch Dave wollte anscheinend meine ungeteilte Aufmerksamkeit, denn er schüttelte seine Haare und das Wasser aus ihnen tropfte in mein Gesicht. "Hey, lass das!", zischte ich. Er stellte sich so hin, dass ich die beiden nicht sehen konnte. Ich legte meine Hand an seinen Arm und schob ihn beiseite. Naja, nicht ganz. Ich versuchte es, aber es war als versuchte man einen Berg zu bewegen. Einen muskulösen Berg. Mein Blick fiel auf sein Sixpack und auf seine Oberarme. Rarrw, so viele Muskeln.. Sabber.. Okay, ich glaube die Hormone sprechen da aus mir. Ich guckte in sein Gesicht hoch und sah, dass er mich belustigt ansah.

"Gefällt dir, was du siehst?", schmunzelte er.

"Nein, ich würde gerne die beiden hinter dir sehen. Geh mir aus den Augen." Wieder versuchte ich ihn zu bewegen, doch nichts rührte sich. Ich seufzte und stand auf. Als ich meinen verletzten Fuß aufsetzte, rutsche ich auf dem nassen Boden aus. Doch bevor ich mit meiner Fresse den wunderschönen Boden radierte, hielt mich ein starker Arm an der Taille. Ich befreite mich von dem Arm und ignorierte ihn weiter. Ich wollte wissen wie es zwischen Penny und Tobi lief!

Jemand packte meinen Arm. Mit einer einzigen Bewegung befreite ich mich aus dem Griff und humpelte  einfach weiter.

"Kann ich bitte mit dir reden?", fragte Dave genervt.

"Nope, sorry."

"Dann bleibt mir ja keine andere Wahl." Er schnappte mich an der Taille und ehe ich mich versah, hatte er mich schon über die Schulter geworfen.

"Du weißt, dass ich mich jeder Zeit befreien könnte oder?", schnaubte ich.

"Und warum tust du es nicht?", sagte er abfällig. Okay, er glaubte mir nicht.

"Ich will dir nicht wehtun Aber vielleicht überlege ich mir das anders, wenn du deine Hand nicht von meinem Hintern nimmst!", murrte ich. Eine Hand war an meinen Waden, die andere an meinem Oberschenkel und meinem Hintern, wie bereits erwähnt. Dort wo er mich berührte, kribbelte es und das gefiel mir ganz und gar nicht. Er ist ein Player. Hat sicher schon 100 Schlampen genagelt und ich.. keinen einzigen.

Langsam zog er seine Hand von meinem Hinterteil runter und in meinem Magen kribbelte es. Es war irgendwie seltsam.

"Und was willst du jetzt mit mir machen?", grummelte ich.

Er murmelte etwas dass sich anhörte wie: Ich würde vieles gerne machen. Konnte aber auch nur Einbildung sein. 

"Sag schon!", herrschte ich ihn an, während er mich in sein Zimmer trug. Das gefällt mir nicht. Das ist schlecht. Das ist ganz und gar nicht gut! Ich will nicht mit ihm allein sein. Er schmiss mich von seiner Schulter in das gemütliche Bett. Hastig setzte ich mich auf und sah ihn fragend an.

"Ich will wissen, woher du Tobi kennst."

"Er war früher mein bester Freund."

"Und wieso war er es dazwischen nicht mehr?"

"Weil ich weggezogen bin."

"Warum bist du weggezogen?"

"Jetzt stell ich dir mal ein paar Fragen. Dann sehen wir weiter. 1) Warum interessiert dich das? 2) Was geht es dich an? 3) Warum wohnst du in meinem Zimmer, nicht im Gästezimmer? 4) Was ist mit deinen Eltern? 5) Wieso bist du mit solchen Hohlbirnen wie Phil befreundet? 6) Und das ist das wichtigste, und eigentlich keine Frage, ich hoffe für dich du hattest keinen Sex in MEINEM Bett."

"Wenn ich dir alles beantworte, beantwortest du auch meine Fragen?"

"Wenn deine Antworten interessant sind."

"Okay. 1) Es interessiert mich, weil Tobi mein bester Freund ist und du echt.. seltsam. 2) Es geht mich nichts an, denke ich, aber es interessiert mich. 3) Weil ich das Zimmer cooler fand. 4) Meine Eltern sind okay, aber sie streiten sich immer und das will ich nicht mit ansehen müssen. Vor allem wenn mein Dad besoffen ist, schreit er uns immer an. Einmal hat er mich geschlagen, deshalb will ich ihn nichtmehr sehen.  5) Wenn du sie einmal kennst, kommen sie dir nicht mal mehr so hohl vor. 6) Geht dich das nichts an."

Nummer 6 interpretiere ich mal als ein 'Ich habe schon die halbe Schule hier gefickt' und das widerte mich an. Ich stand schnell vom Bett auf. Nachher musste ich wohl meine Klamotten verbrennen. Belustigt blickte Dave mich an. Genervt verdrehte ich meine Augen.

"Sagst du mir jetzt, warum du weggezogen warst?"

"Nö", sagte ich und ging auf die Tür zu. Diesmal packte er mich an den Schultern und drückte mich gegen die Wand. Seine Finger krallten sich in meine linke Schulter. Ich fühlte mich wie auf der Party vor drei Jahren. Wieder ein großer, dummer Typ vor mir. Wieder war ich gegen die Wand gedrückt und wieder krallte jemand seine Fingernägel in meine Schulter. Natürlich wieder in die linke. Ich sah auch nicht Dave, sondern Andrew vor mir. Wie er mich lüstern anblickte und sich über die Lippen leckte. Wie er mit der Hand über meine Brüste fuhr und ich mich nicht bewegt hatte. Wie ich einfach nur dagestanden hatte. Damals wusste ich mich nicht zu wehren, heute schon, doch ich konnte nicht. Ich war nicht fähig, mich zu bewegen. Ich spürte seinen ekelhaften Kuss auf meinen Lippen, als würde er es jetzt gerade wieder tun. Der Knutschfleck, den er mir verpasst hatte, brannte wie Feuer. Meine Sicht verschwamm. Ich glaube ich werde heulen.

 

"Komm schon, lass uns auf Emmas Party gehen! Das wird sicher richtig geil! ", raunte Andrew mir ins Ohr. Ich war mit Andrew zusammen, als ich 14 war. Ich war mir sicher, dass ich ihn liebte.

"Ich darf aber nicht hingehen. Hab Hausarrest bekommen", sagte ich betrübt. Er stupste mich spielerisch an. "Komm schon, dann schleichen wir uns eben hin. Wann haben wir jemals wieder die Möglichkeit auf die Party einer 10. Klässerin zu gehen?  Da gibt es sicher viel Alkohol. Komm bitte mit mir hin, wir werden Spaß haben", versicherte er mir und gab mir einen kleinen Kuss auf den Mund. Er wickelte eine Strähne meiner naturblonden Haare um seinen Finger.

Mein Widerstand bröckelte. Ich liebte ihn. "Na schön, aber wir werden nicht lange dort sein, okay? Und Tobi darf auch mit."

"Wenn's sein muss", sagte er.

Am nächsten Samstagabend schlich ich mich aus dem Haus. Andrew und Tobi warteten schon vor meiner Tür und Andy begrüßte mich mit einem Kuss. Er mochte Tobi nicht und war eifersüchtig auf ihn, weil wir so viel Zeit miteinander verbrachten. Andrew legte also reinen Besitzanspruch zu tage. Dann machten wir uns auf den Weg zur Party, Tobis Eltern fuhren uns dort hin.

Bei Emmas Haus angekommen, zerrte Andrew mich aus dem Auto und führte mich zu den Getränken. Er drückte mir ein Bier in die Hand, obwohl ich eigentlich nichts trinken wollte. "Trink was, bitte", er führte das Bier zu meinem Mund und wartete darauf, dass ich trank. Dies tat er so lange, bis ich ausgetrunken hatte. Ein bisschen hatte es mich schon gewundert, aber ich dachte nicht weiter darüber nach. Andrew selbst trank auch viel. Sehr viel mehr als ich. Er zwang mich noch ein, zwei Bier zu trinken. Dann gab er mir irgendein anderes Getränk, das echt gut schmeckte. Danach fühlte ich mich.. betrunken.

Er selbst sah noch nüchtern aus, obwohl er viel mehr getrunken hatte als ich. Er nahm meine Hand und zog mich hinter das Haus, wo kaum einer mehr war. Dann drückte er mich gegen die Wand und hielt meine Hände über meinem Kopf fest.Er drückte mir einen drängenden Kuss auf den Mund und schob mir seine Zunge in den Hals. Das hatte er noch nie gemacht. Ich wollte ihm meine Hände entreißen und meinen Kopf wegdrehen, doch er war zu stark. Ich konnte mich nicht wehren. Eine seiner Hände fuhr langsam meinen Hals hinunter und er grub seine Fingernägel in meine linke Schulter. Ich schrie auf. Er gab mir eine Ohrfeige und zischte: "Halt gefälligst deine Fresse. Das hast du davon, dass du mich nie rangelassen hast und warten wolltest!"

Seine Hand fuhr runter zu meinen Brüsten und strich darüber. Von da an weinte ich leise vor mich hin. Es war sowieso keiner da, der mich gehört hätte. 

Seine Hand fuhr unter mein Kleid und ich begann noch heftiger zu weinen als eh schon. "Bitte hör auf", flüsterte ich und hätte er mich nicht an meinen Händen gehalten, wäre ich zusammengesackt. Ich wollte nicht, dass er mich weiter anfasste. Seine Hände waren rau und begierig und das widerte mich an.

"Oh, ich werde es ganz schnell machen", sagte er hämisch. Ich versuchte in zu treten, doch er hielt meine Füße mit seinen fest.

Gerade als er weiter über meine Brüste streicheln und unter meinen BH gehen wollte, war er weg. Ich sank auf den Boden und heulte. Wenige Minuten später hielt mich Tobi in den Armen und versuchte mich zu beruhigen. Er hatte Andrew verprügelt, für mich. Und er hatte meine Mutter angerufen sie solle mich abholen. Doch ich wollte nicht weg. Ich wollte bei Tobi bleiben, Tobi. Mein bester Freund. Der Junge, der mich beschützt hat. Mein Bruder. Ich hatte ihn lieb. Wäre er nicht gewesen, dann wäre Andrew noch weiter gegangen. Und zwar draußen, an der Rückseite einer Hausmauer, gegen meinen Willen.

"Lilly, was ist los? Was hab ich getan? Hab ich dir wehgetan? Es tut mir Leid.", drang Daves Stimme zu mir durch. Mein Blick fokussierte sich wieder auf Dave. Mit meiner Hand fuhr ich mir ins Gesicht und fühlte Nässe. Mist, schon wieder hatte ich vor Dave geweint! Ich bin ja so geschickt! Drei Jahre schaffte ich es, meine Tränen keinen sehen zu lassen und dann sowas!

"Alles okay", krächzte ich, doch es war natürlich nichts okay. Mit wackeligen Beinen stand ich auf und ging zur Tür.

"Lilly, bitte warte. Es tut mir Leid. Ich weiß nicht was los ist, aber es war nicht meine Absicht." Er klang besorgt.

Ich schnaubte. "Spar dir dein Mitleid für jemanden, der es dir abkauft." Ich ging aus dem Zimmer und schmiss sie laut hinter mir zu.

"Lilly, alles okay?", fragte Tobi, der plötzlich vor mir stand.

"JA! Natürlich ist alles okay und hört auf mir alle diese beschissene Frage zu stellen! ICH WILL SIE NICHT MEHR HÖREN!", schrie ich ihm entgegen und im nächsten Moment tat es mir schon Leid. Er konnte ja nichts dafür, außerdem schien es ihn zu verletzen, wenn ich ihn anschrie. Nicht, dass ich das besonders oft tat.

"Willst du es mir erzählen?"

Immer dieselben Fragen. Alles okay? Willst du darüber reden? Warum bist du so scheiße? Langsam hängen mir die zum Hals raus.

"Nein."

"Wieso nicht?"

"Du kennst die Geschichte schon."

"Welche denn?" Er runzelte die Stirn.

Ich brauchte nur ein Wort, um seine Miene zu verfinstern. "Andrew."

Da machte es bei ihm Klick. Ich konnte es förmlich sehen. "Er hat dir wehgetan, oder? Ist es nicht so? Mann, Lilly! Wieso hast du ihn damals nicht schon angezeigt!?"

"Ich hatte andere Dinge zu tun", flüsterte ich. In Wahrheit hatte er mich erpresst. Denn das mit Andrew war nicht das einzige, das an diesem Tag passiert war. An diesem Tag starben meine Mum und Emily. Und Andrew wusste was passiert war, denn sein Dad war Polizist. Ein ziemlich Beschissener, denn sonst hätte er es seinem Sohn nicht erzählt.

 "Willst du ihn wenigstens jetzt anzeigen?", fragte Tobi sanft.

Ich schüttelte den Kopf.

Er stöhnte genervt. „Warum denn nicht? Dieser Arsch hätte es verdient!"

"Bitte hör einfach auf, darüber zu reden und lass es meine Entscheidung sein, was ich tun werde." Ich werde nichts tun. Was denn auch?

"Wenn du dann glücklich bist, meinetwegen“, kam es widerwillig von ihm, er biss die Zähne hart zusammen.

"Danke." Ich zog ihn zu mir runter, gab ihm einen Kuss auf die Wange und bemerkte, dass uns Dave beobachtete. War ja klar, dass er uns belauschen würde. Hätte ich aber auch getan, wenn so ein hässliches Mädchen in meinen Zimmer in Tränen ausbrechen würde. Ohne einen Grund zu haben, versteht sich. Tat ich ja öfters.

"Willst du jetzt mit uns schwimmen gehen?", fragte Tobi mich, während ich Dave in Gedanken versunken anstarrte.

"Nein, lass mal."

"Du warst doch immer eine Wasserratte. Wie so willst du nicht schwimmen? Ist doch so heiß draußen, man verreckt ja fast." Das war zwar etwas übertrieben, es war nicht mehr sooo heiß.

"Ich mag schwimmen nicht mehr. Da fühle ich mich als würde ich ertrinken", log ich. In Wahrheit fühlte ich mich im Wasser fantastisch, ich fühlte mich frei. Als würde das Wasser meine Vergangenheit und auch die Gegenwart wegwaschen.

"Komm mal mit", sagte Tobi bestimmt und zog mich am Handgelenk ins Badezimmer und schloss die Tür ab. Er wartete nicht mal auf eine Antwort meinerseits. Hatte er auch nicht nötig.

"Gehst du nicht schwimmen wegen dem Unfall?", wollte Tobi wissen. Stimmt ja, Tobi hatte mich nach dem Unfall mit meinem Verband gesehen. Er wusste, wie schlimm ich ausgesehen hatte.

Deshalb nickte ich vorsichtig. Daraufhin umarmte er mich stürmisch und ich tätschelte ihm verwirrt  den Rücken. Aber er ließ mich nicht los. Langsam ging mir die Luft aus und so nuschelte ich etwas an seine Brust. Er hatte mich nicht verstanden. "Ich ersticke, Tobi!", brachte ich nun doch etwas verständlicher raus. Sofort ließ er von mir ab. Wofür war denn diese Umarmung? Mitleid? Weil ich für immer und ewig abartig aussehen werde?

"Schämst du dich etwa dafür? Gehst du deshalb nicht schwimmen oder ziehst dir nur Kleidung an, in denen man an einem Hitzschlag qualvoll verrecken könnte?"

"Nein."

"Warum dann?"

"Weil die Leute dann danach fragen werden." Naja, das was Tobi sagte stimmte auch irgendwie.

"Dann sagst du einfach, dass du es nicht sagen willst."

"Sie werden nicht locker lassen."

"Sag deutlicher, dass es sie nichts angeht."

"Sie werden über mich reden."

"Ignorier es."

"DAS SAGST DU SO LEICHT! Ganze bescheuerte 3 Jahre lang haben die Leute über mich geredet! Ich hatte es ignoriert! Es war schwer, aber ich hatte es versucht! Weißt DU wie schwer das ist? Immer als verrückt und hässlich und seltsam und dumm und was weiß ich abgestempelt zu werden!? Weißt du was es für ein beschissenes Gefühl ist, nicht dazuzugehören und so tun zu müssen, als wäre es einem egal!? Weißt du, ob du es glaubst oder nicht, aber ICH habe auch GEFÜHLE! Es mag dich vielleicht wundern, aber ich bin auch nur ein Mensch! Ein Mädchen sogar! Ich hatte all die Jahre niemanden, der mir immer zugehört hat oder mit mir befreundet war. Teilweise war es sogar noch meine Entscheidung, weil ich nicht wollte, dass sie mir Fragen stellen. Aber glaubst du irgendeine Sau wollte mit mir befreundet sein? Mit MIR, der verrückten, geistesgestörten Idiotin?! Tja, falsch gedacht. Das wollte niemand", beendete ich meinen Redeschwall bitter. Die Stille, die darauf folgte, war unangenehm.

"Tu es trotzdem", flüsterte Tobi.

"Hast du mir nicht zugehört?", wollte ich immer noch angesäuert wissen.

"Doch, aber es ist lächerlich, dass du nicht einmal in deinem eigenen Haus schwimmen gehen kannst. Wenigstens hier solltest du das können."

"Ich will es aber selbst nicht sehen."

"Dann lass dein Oberteil an", schlug Tobi vor.

"Würde das nicht komisch aussehen?", wollte ich etwas verunsichert wissen.

"Nein, würde es nicht. Nicht komischer als du jetzt aussiehst", witzelte Tobi und wackelte mit den Augenbrauen.

"Du bist doof.“ sagte ich und boxte ihn freundschaftlich in seine Seite. "Also soll ich mir jetzt nur ein Bikini-Unterteil anziehen?"

"Jep. Ich meine, du könntest auch deine Hose anlassen, aber wozu?"

"Okay."

 

Im Zimmer zog ich mir ein orangenes Bikini - Unterteil an und schnappte mir ein Badetuch. Ich hatte obenrum ein schwarzes, etwas engeres langärmeliges Shirt an. Eng, damit es nicht verrutschte. Als ich meinen Fuß betrachtete, fiel mir ein blauer Fleck auf. Es tat weh, wenn ich draufdrückte und wenn ich auf den Fuß aufstieg. Aber es war aushaltbar.

Ich stieg langsam die Treppe runter, immer auf meinen Fuß bedacht, und erblickte Dave vor der Terrassentür.

"Hi."

"Hallo."

"Was hast du vorher mit Tobi im Badezimmer getrieben?"

"Geredet."

"Richtig. Ihr habt 'geredet'. Glaub ich dir aufs Wort. Tobi hatte vorher noch ein Date mit Penelope ausgemacht und ein paar Minuten später war er mit dir im Bad. Was habt ihr dort wirklich getrieben?"

Denkt der wirklich, dass ich zuerst meinen besten Freund, der übrigens wie ein Bruder für mich war, mit Penelope verkupple, um dann mit ihm kurze Zeit später im Badezimmer zu vögeln? Ist klar.

Ich schüttelte über so viel Dummheit nur den Kopf und ging an ihm vorbei hinaus zum Pool. Dabei spürte ich seinen Blick in meinem Rücken. Oder besser gesagt auf meinem Hintern, aber egal.

Ich warf mein Badetuch auf eine der Liegestühle und machte einen Köpfler ins angenehm kühle Wasser. Als ich auftauchte, blieb mir kaum Zeit zum Luft holen, da wurde ich wieder hinunter gedrückt. Ich hatte zwar nicht gesehen, wer das war, doch ich würde mich rächen!

Als ich erneut auftauchte, blickte ich um mich und sah Matt vor mir. Rache!

Ich schmiss mich auf ihn und wollte ihn untertauchen, doch er blieb stehen wie ein Felsen. "Das ist unfair!", motzte ich und schob meine Unterlippe vor.  Wie schwer konnte es denn bitteschön sein, einen Typen in meinem Pool zu ertränken?

Er nahm meine Hände von seinem Kopf, die immer noch versuchten ihn runter zu drücken. Vergebens, ist ja klar. Er schnappt mich an der Taille, hob mich hoch unter warf mich ins Wasser. Ich liebte das! Egal wie alt ich bin, das ist ja wohl das Beste am Schwimmen! Wenn einen jemand schnappt und wegwirft, da fühlte ich mich immer wie ein kleines Kind. Das mochte ich.

Als ich wieder auftauchte, hatte ich ein breites Grinsen auf den Lippen. Ich kam auf Matt zu. "Nochmal, bitte!", flehte ich wie ein kleines Kind. Inzwischen waren auch die anderen (Phil, Luke, Dave, Penelope und Tobi) im Pool.

Nicht Matt, sondern jemand anders hob mich hoch, ließ mich etwas ins Wasser sinken, hob mich wieder hoch und schmiss mich weit von sich weg. Natürlich so, dass ich nicht auf die anderen drauffiel. Ich tauchte wieder auf und grinste in die Runde.

"Wollen wir darum wetten, wer am längsten die Luft anhalten kann?", fragte ich unschuldig.

"Ich bin der Schiedsrichter", bot sich Tobi an, denn er wusste, dass er gegen mich verlieren würde.

"Und um was wetten wir?", wollte Penelope wissen.

"Diejenige, die am kürzesten die Luft anhalten kann, muss für uns strippen!", rief Luke begeistert aus. Ich zeigte ihm nur den Vogel. Ich glaube, bei dem läuft echt was falsch. Vielleicht ist er ja als Kind auf den Kopf gefallen?

"Nein, der, der gewinnt bekommt von jedem 10 Dollar", schlug Phil vor. "Alle einverstanden?"

"Schon, aber was macht der, der am kürzesten die Luft anhält?", wollte ich einwenden.

"Dieser jemand muss jedem eine Frage beantworten, die wir schon immer von ihm oder ihr wissen wollten", schlug Penelope vor. "Abgemacht?"

Wir alle nickten zustimmend.

"Okay, jeder von euch darf sich an den Halterungen festhalten. Und nicht schummeln, ich sehe alles!", warnte Tobi. "Okay, alle bereit? Auf die Plätze...Fertig....Los!"

Nachdem ich genug Luft geholt hatte, tauchte ich unter. Ich liebe Wasser. Ich griff nach der Halterung am Boden, die mir am nächste war und setzte mich daneben. Ich schloss für eine Weile die Augen. Doch ich wollte wissen, ob noch alle die Luft anhielten. Also öffnete ich sie ein wenig. Ja, ich konnte unter Wasser die Augen offen halten. Ich sah mich um und bemerkte, dass nur noch Penelope und ich unter Wasser waren. Yeah, Mädchenpower! Die Jungs hatten eindeutig verloren. Aber was soll man machen, wir Mädchen sind eben besser. Meistens jedenfalls. Theoretisch hatte ich immer noch genug Luft, aber als Penelope dann auch auftauchte, wurde es für mich langweilig. Es war sowieso klar gewesen, dass ich gewinnen würde. Muahaha!

Als ich auftauchte, schwamm gerade Penelope auf mich zu. 

"Gratulation! Du hast gewonnen! Und rate mal wer verloren hat?". sagte sie freudig. Offensichtlich war sie glücklich darüber, dass nicht sie die Fragen beantworten mussten.

"Keine Ahnung...Luke vielleicht?", riet ich.

"Nein, Dave!", kicherte sie. Das überraschte mich doch etwas. Ich dachte im Ernst Luke wäre es gewesen. Er ist immerhin sogar ohne Wasser zu dumm um zu atmen. Okay, ... das war etwas fies. Ich nehm's zurück.

 "Cool", erwiderte ich nur. Hmm.. was sollte ich ihm für eine Frage stellen? Vielleicht sowas wie: Was ist dein größtes Geheimnis? Oder vielleicht: Was ist das peinlichste, dass dir je passiert ist? Das muss ich mir erst überlegen. Ich hievte mich aus dem Wasser  und drückte meine Haare aus. Ich wollte gar nicht wissen, wie die jetzt schon wieder aussahen. Sicher furchtbar. Oder super-furchtbar. Oder super-mega-furchtbar. Oder ..-

"Gehen wir jetzt in Daves Zimmer?", fragte Penelope aufgeregt und unterbrach somit meine intelligenten Gedanken. Ich wette, dass sie schon wusste was sie ihn fragen wollte. Also im Gegensatz zu mir. Ich trocknete mich ab und erst jetzt fiel mir auf, dass mich keiner wegen meinem nicht vorhandenen Bikinioberteil angesprochen hatte. Ob Tobi ihnen gesagt hat, dass sie es nicht tun sollten? Weil ich dann vielleicht ausflippen und sie alle im Pool ertränken würde? Möglich war alles, da konnte selbst ich nichts dagegen sagen. Wer weiß, vielleicht würde ich sie alle ja eines Tages... War nur 'n Witz.

"Ja, wir können gleich rauf", meinte Tobi.

Ich schmiss mein Badetuch zurück auf die Liege und ging mit den anderen nach oben. Aber bevor ich in Daves Zimmer ging, zog ich mir im Bad noch schnell eine Giftgrüne Hot Pants an, dazu ein knallgelbes Langarmshirt, enganliegend, welches ein hellgrünes Schlangenmuster quer über die Brust hatte. Meine Haare band ich mir zu einem unordentlichen Knoten zusammen. Dann ging ich durch die Tür in Daves Zimmer. 

Alle hockten auf der großen, dunkelblauen Couch. Auf dem Tisch standen ein paar Getränke, wie Bier, Cola, Sprite und so ein Kram. Ich griff mir die Cola und setzte mich zu Matt.

"Wer fängt an?", fragte ich in die Runde und nippte an meinem Getränk. Ich lehnte mich im Schneidersitz sitzend zurück und lehnte mich an die Couchlehne.

"Ich will!", sagte Penelope freudig. Dave seufzte. Ich kicherte daraufhin. Tja, selbst Schuld. Wenn ich nur für so kurze Zeit die Luft anhalten könnte, hätte ich gar nicht erst mitgemacht. Da fällt mir ein, dass ich ja noch 40 Dollar bekomme! Hach, was bin ich doch nur für ein Glückspilz! Ironie.

"Okay.. wie formuliere ich meine Frage am besten...? Hmm.. Mit wie vielen Frauen hast du schon geschlafen, wer war die Beste und in welches Mädchen bist du verknallt, bzw. magst am meisten und wen würdest du gerne flachlegen? Genaugenommen sind es zwar mehrere Fragen aber sie gehören irgendwie zusammen. Und vergiss nicht, du musst ehrlich sein!", sprudelte es nur so aus Penelope heraus. Ich denke, sie hatte sich sehr wohl vorher die Frage durch den Kopf gehen lassen. Wenn ich die Fragen beantworten müsste, würde ich nur auf eine davon antworten. Falls ich schon mal mit jemandem geschlafen hätte, was ich nicht habe. Schon gar nicht mit einem Mädchen.

Dave grinste. Schien ihm wohl nicht gerade unangenehm zu sein, darüber zu reden. Was für ein Player.

"Ich habe schon mit 56 Frauen geschlafen, Claire Winslow war die beste von ihnen. Ihr wisst schon, Claire, die Cheerleaderin. Gerne flachlegen würde ich..hmm .. Maddy. Und am meisten mögen tue ich keine von denen", sagte Dave vollkommen offen. Mir fielen die Augen aus dem Kopf. 56 Schlampen hatte der schon genagelt? Da war es ja fast schon peinlich, wie wenig Erfahrung ich hatte. Aber eben nur fast. Wenigstens war ich keine Schlampe.

"Beantworte meine Frage: Wen magst du am meisten? Nicht von diesen Mädchen, sondern Mädchen generell. Du kannst auch freundschaftlich mögen meinen", fügte Penelope hinzu.

"Dann vermutlich dich, Penny", grinste Dave.

"Nenn mich nicht Penny!" Sie versuchte böse zu gucken, doch ihr lag ein fettes Grinsen auf den Lippen. Es gefiel ihr wohl, dass der gutaussehenste Typ sie mochte. Ob freundschaftlich oder nicht, hatte er allerdings nicht erwähnt. 

"Du bist anders als diese anderen Mädchen. Nicht so eine Hure, die sich an mich ranschmeißen will. Du bist ein guter Kumpel", sagte Dave.

Penelopes Lächeln erlosch, aber nur kurz. Ich war mir nicht sicher, ob die anderen das gesehen hatten, aber ich schon. Mochte sie Dave etwa oder war es nur die Tatsache, dass er  gerade ihre Gedanken darüber vernichtete, dass er sie mögen könnte. Vermutlich empfand sie es einfach als unangenehm, aber ist ja auch egal eigentlich. Sie hatte ja Tobi.

  "Wer ist als nächstes?", fragte Penelope fröhlich und lehnte sich an Tobi. 

"Ich schätze ich bin dran", sagte dieser. "Okay.. keine Ahnung was ich dich fragen soll. Vielleicht... Warst du derjenige, der mir damals die 20 Dollar geklaut hatte und mir danach auch noch bei einer Party mit Edding einen Pimmel auf die Stirn gemalt hat?"

"Jep", sagte Dave. "Und es war echt witzig." 

Luke lachte sich den Arsch ab. "Du hast echt bescheuert ausgesehen. Und das Video von dir, wie du richtig ausgetickt bist, als du es gesehen hast, war das beste!" Dave und Phil stimmten in sein Lachen mit ein. 

"Das gibt irgendwann Rache. Und die 20 Dollar krieg' ich wieder!", befahl Tobi.

"Klar. Nächster."

"Okay ich bin dran. Aber du musst mit Ja oder Nein antworten, okay?", sagte ich.

"Okay."

"Wissen deine Freunde, dass du schwul bist?", fragte ich unschuldig.

"Nein!  Ich meine… was zum.. Alter! Ich bin nicht schwul!"

Die anderen lachten. Ich hatte somit zwar meine äußerst wertvolle *hust...nicht* Frage verschwendet, aber ich wusste sowieso keine andere.

Die anderen beiden stellten auch noch ihre Fragen, die mich aber nicht sonderlich interessierten, weil ich sie sowieso nicht verstand. Später, als es schon dunkel wurde, viel das Thema wieder auf Penelopes Frage. Sie alle prahlten damit, wie oft und wen sie schon genagelt hatten. Ich hielt mich dezent zurück. Ich hatte sowieso auf Durchzug geschaltet, ich meine was interessierte mich das? Wenn sie Frauen wie Trophäen und materielle Dinge behandeln wollten, sollen sie es eben tun. Ich allerdings fand das scheiße von Jungs. Was bringt es einem? Irgendwann höchstens eine Geschlechtskrankheit, mehr auch nicht. Oder eine ungewollte Schwangerschaft, für die arme, ausgenutzte Schlampe, die sich hatte bumsen lassen. 

"Und mit wie vielen Jungs hast du schon geschlafen, Penny?", wollte Luke wissen. Ich zog meine Knie an, lehnte mich zurück und schloss meine Augen.

"Nicht so viele", sagte Penelope sichtlich verlegen und wurde rot.

"Rück schon raus mit der Sprache!"

"Nur 5."

Wenigstens war sie keine Hure. Ich sagte immer noch kein Wort zu dem ganzen und legte meinen Kopf auf meine Knie, meine Augen immer noch geschlossen, hoffte sie würden mich nicht bemerken.

"5 ist doch eine gute Zahl", bemerkte Tobi freundlich.

"Und du, Lilly?"

"Geht's euch was an?", murrte ich. Irgendwie war ich müde, obwohl es sicher erst zehn Uhr abends war.

"Ja. Komm schon, wir haben es auch alle gesagt!", klagte Penelope.

"Stimmt nicht, Tobi noch nicht", kam es von Phil, der Tobi neugierig ansah. Wenigstens war ihre Aufmerksamkeit jetzt von mir gelenkt. Was Tobi betrifft, das interessierte mich schon ein kleines bisschen. Auch wenn es mich streng genommen nichts anging.

Er seufzte. "44." Wie bitte!? Tobi ist auch ein Aufreißer? Das hat meinen Glauben an die Menschheit  ruiniert. Im Ernst jetzt! Tobi war zum Arschloch mutiert? Wann das denn?! Entgeistert sah ich ihn an. Er wirkte beschämt und verlegen. Es vor mir zu sagen war wahrscheinlich unangenehm für ihn. Kein Wunder, früher hatte ich ihm erzählt, dass ich solche Typen wie Dave und die anderen verabscheute. Und er wusste genau, dass es falsch war und hatte trotzdem so viele Mädchen ausgenutzt! Zwar waren es vermutlich willige Schlampen, aber trotzdem! Etwas verächtlich sah ich ihn an und er bemerkte es. 

Ich schloss meine Augen wieder und legte meinen Kopf zurück auf die Knie. Ich war irgendwie sauer auf ihn. Wir hatten früher oft darüber geredet und er war es auch, der mich davon abhielt mit Andrew ernster zu werden. Er hatte gesagt, dass Andrew nur auf Sex mit mir aus war und er solche Typen hasste. Dabei war er selbst so ein mieser Idiot. Ich wette, wenn ich nicht hier gewesen wäre, hätte er mit dieser Zahl angegeben. Nach Dave hatte er die meisten Weiber geknallt.

"Lilly, du bist dran. Du musst es jetzt sagen, haben wir auch alle getan!", sagte Penelope energisch.

"Mag sein, aber es hat mich mal interessiert", gab ich unbeeindruckt zurück.

"Komm schon, Lilly! Sag es doch einfach!"

"125.", sagte ich müde, mit geschlossenen Augen.

"Wirklich!?", fragte Luke entgeistert.

"Nö", gab ich nur entspannt zurück. Nur über meine Leiche würde ich ihnen sagen, dass ich noch Jungfrau war.

"Wie viele denn dann?", quengelte Penelope weiter.

"Wieso bist du so scharf darauf, das zu erfahren? Und wenn du es dann weißt, was bringt dir das Wissen darüber, mit wie vielen Kerlen ich geschlafen habe?", wollte ich ruhig wissen.

"Pff, keine Ahnung", musste sie zugeben.

"Na, dann wissen wir, ob du eine Schlampe bist und uns vielleicht ran lässt", half Phil seiner Schwester aus.

"Okay, mir reicht's. Es geht euch nichts an und damit ihr es wisst: Ich werde euch alle nicht ranlassen. Ich will nichts mit euch Playern zu tun haben. Gute Nacht, ich geh schlafen", richtete ich das Wort an alle, auch an Tobi. Dieser guckte nur verletzt, sagte aber nichts.

"Äh, gute Nacht?", gab Penny von sich.

Ich warf die Tür hinter mir zu und schlurfte ins Gästezimmer. Dort zog ich meinen Pyjama an und schlüpfte unter die Decke.

 

 

 

***

 

 

 

Die folgenden Schultage verliefen ereignislos. Ich sprach nicht viel mit den Jungs oder mit Tobi. Mir war klar, dass ich zu streng mit ihm war, aber das interessierte mich nicht. Ich reagierte auch sicher über und dürfte ihm nicht mal irgendwie böse sein, aber ich war es trotzdem.

Auch von Andrew hörte und sah ich die Woche über nichts. Zum Glück. Seine schleimigen grünen Augen hätte ich nicht ausgehalten.

Penny war die einzige, mit der ich überhaupt sprach, denn wie gesagt wollte ich nichts mit Playern zu tun haben. Immer wenn sie zu den anderen ging und mit ihnen redete, stand ich nur daneben und schaltete wie im Unterricht auf Durchzug. Was mich nicht interessierte, brauchte ich auch nicht zu hören. Tobi versuchte mehrmals mit mir ins Gespräch zu kommen, aber ich sah einfach durch ihn hindurch und ignorierte ihn. Besser gesagt ich ignorierte ihn sogar so sehr, dass ich mal in ihn hineingelaufen war, obwohl er direkt vor mir stand. Das war zwar irgendwie peinlich, aber wenn wir ehrlich sind, auch ziemlich lustig. Und bescheuert. Aber vor allem war es lustig. Nachdem ich mich ein paar Schritte entfernt hatte, hatte ich sogar etwas kichern müssen. 

Dave und die anderen bemühten sich gar nicht erst mit mir zu reden. Da sieht man mal, wie sehr ich ihnen innerhalb von ein paar Tagen ans Herz gewachsen war! .. Gar nicht nämlich. Aber ich konnte genauso gut auf sie verzichten, wirklich. 

Am Samstag war es laut Penelope, Zeit für die Party.

"Ich will da aber nicht hin!", jaulte ich und stemmte mich gegen Penelopes Hand, die mich auf meinen Kleiderschrank zu zog.

"Du wirst da gefälligst mitgehen! Ich hab mich echt schon darauf gefreut! Du kommst mit, ob du nun willst oder nicht!"

"Und was soll ich da dann machen?", versuchte ich weiterhin, sie dazu zu überreden, dass ich bleiben darf.

"Tanzen, saufen, knutschen, was immer du willst", sagte sie begeistert.

"Ich will hier bleiben!", jammerte ich weiter.Warum? Weil ich weder tanzen, saufen noch knutschen wollte. 

"Du gehst mit und dabei bleibt es!", herrschte sie mich an. Ich seufzte so wehmütig, es hätte einen Felsen zum Heulen gebracht.

"Du ziehst das gelbe Kleid an! Und dazu das schwarze zerrissene Teil darüber!", sagte sie freudig quietschend. "Das sieht mega heiß aus! Und natürlich werde ich dir ein passendes Make-Up machen müssen. Deine Haare lassen wir aber offen. Du solltest auch ein paar schwarze, lange Ketten dazu tragen, finde ich und du solltest unbedingt  High Heels..-"

"Kommt nicht in Frage. Ich ziehe meine Schnürstiefel an! Davon abgesehen, dass ich sowieso keine High Heels anziehen würde, besitze ich nicht mal welche", redete ich dazwischen. High Heels wären so ziemlich das letzte paar Schuhe, das ich anziehen würde. Da würde ich vorher noch Topflappen tragen.

"In Ordnung, aber den Rest bestimme ich!"

Ich überdrehte meine Augen.

"Nicht so frech, junge Dame!" Sie zwinkerte.

"Und was willst du anziehen?" Mich interessierte es nicht wirklich, aber ich schätze es freut sie, dass ich sie gefragt habe. Und jeder weiß, dass ich eine liebevolle und aufrichtig nette Person bin. *Hust*.

"Ich zieh das dunkelblaue Kleid von dir an. Dazu Kniestrümpfe und meine allerliebsten High Heels. Ich werde ganz viele blaue Armreifen dazu tragen, das wird sicher toll aussehen! Findest du nicht auch?", schwärmte sie.

Ich lächelte mein falsches Lächeln und nickte.

Nachdem sie alles zusammengesucht hatte, schickte sie mich ins Badezimmer, damit ich mich fertig machen konnte. Zugegeben, ich sah wirklich scharf aus, aber es würde sowieso  nichts bringen, denn ich wollte keinen Kerl damit anbaggern. Die sollten mir bloß gestohlen bleiben!

Ich hatte ein gelbes, seeeehr enges und langärmeliges Kleid an. Darüber war ein schwarzer, zerrissener Stoff, was echt Hammer aussah. Dazu trug ich ein paar Ketten, wie Penelope es mir vorhin schon geschildert hatte. Penelope musste mich nur noch schminken.

Als ich zurück ins Zimmer kam, stand sie schon fertig angezogen da, und ich musste sagen, sie sah wirklich fantastisch aus. Ob sie das für Tobi anstellte? Ich stieß einen anerkennenden Pfiff aus, der sie grinsen ließ.

"Du siehst mindestens genauso gut aus", sagte sie. "Aber lass mich noch dein Make-Up machen."

Sie zerrte mich auf einen Stuhl vor dem Spiegel, der daneben ein Tischen hatte. Auf dem war Penelopes ganzer Schminkkram ausgebreitet. Und, wow, sie hatte echt viel Zeugs!  Sie fing an mich zu schminken.

Nachdem sie fertig war, erkannte ich mich selbst kaum wieder. Sie hatte mir sehr dunkle Smokey-Eyes geschminkt und meine bernsteinfarbenen Augen kamen dadurch sehr stark zur Geltung. Es war nicht zu viel und nicht zu wenig. 

"Wow. Danke, Penelope."

"Bitte gern geschehen!", sagte sie fröhlich. "Aber jetzt ist es Zeit, dass wir runter gehen. Zieh dir deine Schuhe an."

"Ok."

 

Unten warteten schon Tobi, Dave und irgendein Mädchen, das ich nicht kannte. Anscheinend war das Daves Date für den heutigen Abend. Er selbst würdigte mich keines Blickes. Auch gut, dachte ich.

"Können wir jetzt fahren?", sagte ich genervt zu Tobi, der mir teils fasziniert, teils geschockt musterte. 

"Natürlich. Ich werde fahren", sagte dieser nur und bewegte sich Richtung Tür, aber nicht ohne noch seinen Blick anerkennend über Penelope gleiten zu lassen. Würg. Der Abend wird sicherlich super, aber ohne mich. Ich werde mich in irgendeine Ecke verkriechen, wo mich hoffentlich keiner bemerken wird. Falls es überhaupt irgendeine Ecke in dem Club geben wird, ich kenne ihn schließlich nicht.

Wir alle folgten Tobi und stiegen ins Auto. 

"Kommen Phil und Luke auch?", fragte das fremde Mädchen und klammerte sich an Dave. Kotz.

"Ja, die warten schon im Club. Oder sie haben schon was mit einem Mädchen am laufen", erklärte Dave grinsend. Natürlich, die Deppen mussten sich ja wieder ein Opfer suchen. Diese dummen Hühner taten mir jetzt schon Leid. Apropos dumme Hühner, wer ist eigentlich diese Schlampe neben Dave? Blonde, lockige Haare und blaue Augen. Tja, wer hätte das gedacht? Ich schon. Zum Glück saß Penelope neben ihr, nicht ich. Was allerdings bedeutete, dass ich vorne neben Tobi saß. Was ich zwar auch nicht unbedingt toll fand, aber besser als hinten war es alle mal.

Da es zehn Uhr war, war es schon ein biiisschen dunkel, was mir gar nicht behagte. Noch dazu fuhr Tobi etwas zu schnell. Nicht, dass ich seine Fahrweise bemäkelte, ich mochte Autos einfach nicht so wirklich. Schon gar nicht bei Nacht. Tobi wurde noch ein bisschen schneller. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Warum denn noch schneller?,  jammerte ich in Gedanken. Wir waren eindeutig etwas zu schnell unterwegs. Nicht weltbewegend schnell, einfach nur ein bisschen. Nicht daran denken, ermahnte ich mich innerlich und krallte meine Finger in den Sitz. Krampfhaft versuchte ich nicht an diese eine Nacht zu denken. Ruhig atmen, Lilly. Ein und aus. Ein und wieder aus, es geht gleich vorbei. Und dann hielten wir an.

"Sind da", murmelte Tobi. Das war mir auch aufgefallen. Wie auch nicht, bei diesem fetten, blauen Neon-Schild. 

Ich schnallte mich ab und öffnete die Autotür auf meiner Seite. Ich wartete noch, bis die anderen ausgestiegen waren, dann gingen wir gemeinsam rein. Dave führte uns durch die verschwitzten, tanzenden Leute. Ein Deo würde manchen hier auch nicht schaden, fand ich. Wir kämpften uns tapfer durch die Menge und blieben ganz weit hinten in einer Ecke stehen. Dort stand eine hellblaue, große Couch auf denen Luke und Phil schon ungeduldig und voller Vorfreude auf uns warteten. Naja, nicht wirklich. Sie knutschten beide gerade mit irgendwelchen, nur dürftig bekleideten Mädchen rum. Ich setzte mich so weit weg von den anderen, wie es mir möglich war. Der Platz, den ich mir ausgesucht hatte, war auf der Couch in der Ecke. Tobi saß für mich am wenigsten weit weg.

"Fährst du uns wieder nach Hause?", fragte ich ihn.

"Jep."

"Dann darfst du aber nichts trinken."

"Ein Bier trinke ich schon."

"Dann werde ich nicht mitfahren", gab ich unbeeindruckt zurück. Nie im Leben werde ich bei jemandem mitfahren, der etwas getrunken hatte. Selbst wenn es nur ein lächerliches Bier war.

"Wieso denn nicht?", fragte er jetzt wieder. Meine Güte, hatte der Typ vergessen, dass meine Mutter und meine Schwester bei einem Autounfall gestorben waren? Offensichtlich schon. Doch er kapierte anscheinend wirklich nichts. Vielsagend sah ich ihn an.

"Oh", kam es dann über seine Lippen. "Dann werde ich nichts trinken, okay?"

Ich nickte.

"Dafür werde ich mich bei euch zu Hause zusaufen."

"Wenn du meinst", murmelte ich.

 "Ja, meine ich."

"Hattest du eigentlich schon das Date mit Penelope?"

"Ja, hatte ich schon."

Weiter sagte er nichts. Ich räusperte mich. "..Und wie war es so?"

"Keine Ahnung, sie sagte es war schön und ich hab sie nach Hause gebracht. Das war's. Ich glaub sie steht auf wen anderen", sagte er unberührt.

"Ahja. Ist dir das denn egal?"

"So ziemlich." Er zuckte mit den Schultern. Schade, ich dachte die zwei könnten vielleicht gut zusammen passen. Da hatte ich mich wohl leider getäuscht. 

"Könntest du mir bitte eine Cola holen?", fragte ich zuckersüß. Nochmal durch diese zappelnden Leute hindurch würde ich nicht aushalten. Er nickte, stand auf und verschwand in der Menge. Tja, ich schätze das wird ein langer Abend. Und ein anstrengender. Denn alles was ich tun werde, ist, dass ich Cola trinken und auf dieser Couch sitzen werde. 

"Und wie ist es so, mit Dave zusammen zu wohnen? Er ist echt heiß, nicht wahr?", ertönte die nervige Stimme von dem Date von Dave.

"Wie heißt du?", ignorierte ich erst mal ihre Fragen. Es interessierte mich schon die ganze Zeit. Naja, nicht wirklich, aber interessant wäre es schon zu wissen.

"Maddy." Ach so, die Schlampe, die Dave gerne knallen und dann abschießen würde. "Also, wie ist es so mit Dave?"

"Er ist nichts Besonderes. Jemand wie du und ich, also komm mal runter."

Sie schnaubte verächtlich. "Er ist sicher nicht wie du, sieh dich doch an. Da kriegt man ja Augenkrebs."

"Wie lange hast du gebraucht, um dir den Spruch auszudenken? Der war wirklich ganz, ganz toll. Aber leider lege ich keinen Wert darauf, mit dir zu reden, also zieh ab." Demonstrativ drehte ich mich auf die andere Seite, um sie nicht ansehen zu müssen.

Ich konnte sehen, dass ihr der Mund offen stand, bis sie sich wieder fing, ein "Pff!" von sich gab und sich ebenfalls abwand. Genau in dem Moment kam Tobi mit zwei Colas zurück.

"Danke", sagte ich, als er mir eine in die Hand drückte und sich neben mir nieder ließ. Eigentlich wollte ich ja alleine sein, aber auch gut. Ich hatte nämlich beschlossen, nicht länger sauer auf ihn zu sein, dafür fehlte er mir zu sehr.  Ich meine, ich hatte ihn drei Jahre nicht gesehen, da wollte ich schon so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen. Auch wenn wir in der Zeit, die wir miteinander verbrachten nur dasaßen und schwiegen.

Ungefähr nachdem ich meine Cola ausgetrunken hatte, kam Penelope auf mich zu und hielt mir ihre Hand auffordernd hin. Fragend sah ich sie an.

"Komm, tanz mit mir!", schrie sie mir entgegen, da die Musik etwas lauter wurde. Ich schüttelte den Kopf und schob ihre Hand wieder weg. Im Gegensatz zu ihr war ich noch nüchtern und wollte weiterhin nur rumsitzen, wie geplant.

"Biiii-hiiittee!", jaulte sie und zerrte dabei an meiner Hand.

"Penny, zieh ab, ich will nicht!", knurrte ich und entriss ihr meine Hand. Doch natürlich ließ sie nicht locker und nervte mich weiter. Sicher zehn Minuten, dann wurde es mir zu bunt. Ich willigte ein, für ein paar Minuten zu tanzen und folgte ihr auf die Tanzfläche. Den ganzen Weg über hielt sie mein Handgelenk, damit ich nicht doch noch abhauen konnte. Was ich wirklich vorhatte.

Auf der Tanzfläche kam dann ein echt cooler Song, zu dem man sich gut bewegen konnte. Ich tanzte gemeinsam mit Penelope, man konnte fast denken wir wollten Männer damit verführen. Was natürlich absoluter Quatsch war, aber dass uns die Männer in unserer Nähe begierig anstarrten, gab mir ein gutes Gefühl. Allerdings war der Song recht schnell vorbei und so machte ich mich auf den Weg zurück zur Couch. Penelope wollte mich zwar noch zu einem weiteren Song dort behalten, doch ich blieb eisern. 

Als ich fast bei der Couch war, stand da plötzlich ein Typ vor mir.

"Hey Süße, Lust auf einen Drink?" Der Typ war sicher dreimal so alt wie ich und hatte schmierige braune Haare. Echt ekelhaft.

"Verpiss dich, du alter Sack." Ich wollte an ihm vorbei, doch er griff mir nur an den Po. Ich langte nach seiner Hand und drückte zu. Fest. Er zog zischend die Luft ein, doch ich ließ nicht von ihm ab.

"Lass aus, du Schlampe!", fauchte er, doch ich hielt ihn weiter fest. Ich drückte sogar noch etwas fester, weil er mich Schlampe genannt hatte. Er begann mit der anderen Hand meine zu kratzen, damit ich ihn ausließ. Das tat ich auch, aber bevor ich ging, gab ich ihm noch eine saftige Ohrfeige. Ja, die hatte echt wehgetan.

Grinsend kam ich zu Tobi zurück, der mich fragend ansah. Manchmal war es eben einfach zu einfach, solchen Typen ihr Spielchen zu vermasseln. Ich wette, wenn ich auf der Toilette gewesen und mich nicht hätte wehren können, hätte er versucht mich zu vergewaltigen. Ich meine, solche Typen sind einfach nur widerlich. Geschieht ihm Recht, dass ich ihm seine Hand verstaucht hatte, nochmal bei mir würde er es jedenfalls nicht probieren.

"Warum grinst du so?". fragte Tobi als ich mich nur neben ihn setzte und seinen forschenden Blick ignorierte.

"Weil mir danach war", gab ich nur zurück und lehnte mich in die Couch zurück. "Wie spät ist es eigentlich schon?" fragte ich nach einer langen  Weile, in der ich nur mit meinem Handy spielte.

"Kurz nach zwölf."

"Wirklich schon?", fragte ich verwundert. Schon zwei Stunden in diesem Schuppen.. "Und wie lange bleiben wir noch?"

"Keine Ahnung, vielleicht bis um zwei."

"Och, komm schon! Du und ich werden uns doch nicht im Ernst noch zwei Stunden langweilen müssen!", meckerte ich aufgebracht. Für meine Verhältnisse war ich schon verdammt lange hier. Ich meine, wenn ich überhaupt mal in einen Club ging, dann mit Rose. Sie war ja auch meine einzige Freundin, nur leider wohnte sie in New York. Sie war es, die mir Kampfsport beigebracht hatte. Ich hatte sie richtig lieb gewonnen, in den letzten drei Jahren.

Ich beschloss, ihr eine SMS zu schreiben, denn vielleicht würde sie ja zurück schreiben und ich könnte mir damit die Zeit vertreiben. Das tat ich dann auch.

 

Eineinhalb geschlagene Stunden später saß ich noch immer gemeinsam mit Tobi auf der Couch. Zwar war er zwischendurch mal tanzen oder etwas Alkoholfreies zu Trinken besorgen gegangen, aber er langweilte sich genauso wie ich. Denn vor einer halben Stunde hatte Rose entschieden, dass es Zeit zum Schlafen war. Und ich musste zugeben, ich war hundemüde, trotz der vielen Colas, die ich runtergekippt hatte.

Meine Augenlider waren schon richtig schwer und fielen mir fast schon zu, da fragte ich Tobi, ob wir nicht endlich fahren könnten. Dieser schüttelte nur kaum merklich den Kopf. 

"Erst wenn Dave und Maddy fahren wollen."

"Sollen sie sich doch ein Taxi besorgen", nuschelte ich verschlafen. Es fiel mir trotz der lauten Musik schwer, die Augen offen zu halten.

"Na gut, ich schreib ihm kurz eine SMS, dann können wir fahren."

Eine Minute später zog mich Tobi auf die Beine. Müde stampfte ich ihm hinterher, auf den Ausgang zu. 

"Ich fahr mit dem Auto her, dann musst du nicht so weit laufen, okay?" Eigentlich war es nicht wirklich weit, bis zum Auto, doch ich willigte ein. Während er auf den Wagen zuging, bemerkte ich, wie sich ein Schatten hinter mich schlich. Sofort drehte ich mich um, und blickte in die hässliche Fresse von dem schmierigen Typen von vorhin. Der hatte wohl immer noch nicht genug.

"Hau ab, du nervst", murrte ich.

"Püppchen, du solltest nicht so mit mir reden. Chris, komm her!", befahl er einem Typen hinter ihm, den ich nur schemenhaft war nehmen konnte. Der Typ, Chris, kam mir vor wie ein muskulöser, riesiger, wirklich riesiger, Fleischklops. Chris trat einen Schritt hervor und ich sah in ein unschönes, vernarbtes Gesicht. Der prügelte sich wohl gerne, denn die Nase sah aus, als sei sie schon oft gebrochen gewesen. Er knackte mit den Fingerknöcheln. 

"Wow, jetzt hab ich aber Angst", sagte ich kühl und blickte in Chris' Augen.

"Solltest du auch, Püppchen", ertönte seine raue Stimme. Ich verdrehte die Augen.

"Lasst mich in Ruhe und sucht euch ein anderes Opfer. Mich kriegt ihr sowieso nicht, ihr tut euch dabei nur weh", motzte ich zickig. Mich nervten diese Typen, die dachten ich wäre ein armes, hilfloses, schwaches Geschöpf. Die beiden lachten nur.

Die beiden konnten gar nicht so schnell aufhören zu lachen, da donnerte den beiden nacheinander meine Faust in die Fresse. Autsch. Ich schüttelte meine Hand, doch den beiden Typen vor mir ging es sicherlich schlechter als mir. Tja, wer nicht hören kann, muss eben fühlen. Und wie sie es fühlen mussten! Muahahahha!

Bevor sich die beiden von meinem wirklich sehr kräftigen Schlag erholen konnten, stieg ich schon in das Auto, das Tobi hergefahren hatte.

Als ich einstieg, sah Tobi abwechselnd mich und die Kerle an, die sich ihr schmerzendes Kinn und Nase hielten. Ich schätze, ich hatte Chris' Nase ein weiteres Mal gebrochen. Gott, war ich böse! *Hier bösen Lacher einfügen*

"Hab ich wirklich das gesehen, was ich glaube gesehen zu haben, oder haben die mir irgendein Zeug in meine Cola geschüttet?", fragte Tobi an mich gerichtet und fuhr los.

"Kommt darauf an, was du gesehen hast. Wenn du gesehen hast, wie ich zwei Kerlen die Fresse poliert habe, ist alles Okay. Wenn du allerdings ein fliegendes, pinkes Regenbogeneinhorn gesehen hast, das Glitzer scheißt, haben sie dir vermutlich wirklich was in die Cola getan", schlussfolgerte ich gespielt nachdenklich.

Tobi lachte, doch ich stimmte nicht mit ein.

"Weißt du, seit du hier bist hab ich dich kein einziges Mal lachen gehört", sagte er in die unangenehme Stille hinein.

"Stimmt."

"Warum nicht?"

"Schätze ihr seid eben alle nicht so witzig, wie ihr denkt", sagte ich müde. "Und fahr bitte etwas langsamer", murmelte ich. Dann schlief ich ein.

 

 

 

***

 

 

 

 

Schweißgebadet wachte ich auf. Um mich herum war es dunkel, doch ich konnte erkennen, dass ich nicht wie gewohnt im Gästezimmer, sondern in meinem alten Zimmer lag. Also in Daves Zimmer, meine ich. Doch soweit ich es im Dunkeln beurteilen konnte, sah es wie früher aus. Orangene, weiße und lilane Wände, an ihnen hingen viele Fotos, die ich allerding im Dunkeln nicht erkennen konnte. Ich tastete nach dem Lichtschalter, der sich direkt an der Wand neben meinem Bett befand, und knipste ihn an. Tatsächlich, Daves Zimmer war wieder so eingerichtet, wie es früher war. An den Wänden waren die Fotos von uns, von Mum, Emily, Amy, Dad und mir. Es sah alles so aus, wie vor drei Jahren. Wie vor dem Unfall. Ein ungutes Gefühl beschlich mich, wie immer wenn ich nachts aufwachte und allein war.

Ich beschloss, nach Dad zu sehen. Ich tapste barfuß zur Tür und öffnete sie. Ich ging  durch den Flur, auf Dads Tür zu. Es war eigentlich lächerlich, dass ich wie ein kleines Mädchen zu Dad ging. Doch irgendetwas stimmte nicht. Ich klopfte an die Tür. Kein 'Herein'. Ich klopfte etwas lauter, nachdrücklicher. Wieder nichts.

Schwungvoll öffnete ich die Tür und sie krachte gegen die Wand. Ich betätigte den Lichtschalter, aber es war niemand im Bett. Es war frisch gemacht. Ich sah mich im Zimmer meines Vaters um und erblickte am Boden.. etwas rotes, klebriges. Blut.  Die Spur führte zu dem angrenzenden Badezimmer.

Vorsichtig machte ich Schritt um Schritt und sah mich dabei immer wieder nach allen Seiten um. Denn wenn ich ehrlich war, hatte ich eine scheiß Angst. Ich hatte meine Hand schon auf dem Türgriff zum Bad, als ich unten Stimmen hörte. Der Fernseher. Als ich mich umdrehte, um doch runter zu gehen, war das Blut verschwunden. Verwundert sah ich mich um. Ich war mir sicher, dass da Blut war! Ich wurde doch nicht etwa verrückt!? 

Die Stimmen vom Wohnzimmer wurden lauter. Wahrscheinlich war Dad nur beim Fernsehen eingeschlafen und ich machte mir nur umsonst Sorgen. Ich ging aus dem Zimmer meines Papas und schritt die Treppe hinunter.

Je näher ich dem Wohnzimmer kam, desto deutlicher wurden die Stimmen.Langsam erkannte ich sie auch. Es waren die von Mum, Dad, Amy und Emily! Ich rannte auf das Wohnzimmer zu, der Weg erschien mir plötzlich viel zu lang. Erst nach einer Ewigkeit, wie mir vorkam, betrat ich das Wohnzimmer.

Doch kaum hatte ich einen Schritt hinein gesetzt, verstummten die Stimmen. Suchend sah ich mich in dem Raum um. Da bemerkte ich eine Frau auf der Couch sitzen, konnte jedoch nur ihren Hinterkopf begutachten.

Langsam schritt ich um das Sofa herum und blickte dann in das freundliche Gesicht von Josy, Dads neuer Freundin. Das verwirrte mich, ich hatte mir eingebildet ich hätte diese Stimmen gehört?

"Ah, Lilly", ertönte ihre nette Stimme. "Wie ich sehe, hast du mich gehört."

"Dich? Nein, ich habe meine Familie gehört", gab ich verwirrt zurück.

"DEINE FAMILIE IST TOT!", schrie sie mich an, ihr Gesicht war voller Hass. Für einen kurzen Moment sah ich in ihr meine Mutter, doch es war so schnell wieder weg, dass es nur Einbildung gewesen sein konnte.

"Nein, ich habe doch... Moment, was ist mit Dad? Wo ist er?" Meine Stimme zitterte.

"Oh, er ist weg, Liebes. Einfach weg, er hat dich allein gelassen", sagte sie hämisch.

"Nein, das würde er nicht tun.. Er.. er hat gesagt, dass er mich liebt!", gab ich verletzt zurück. Er konnte doch nicht wirklich weg sein, oder? Er würde mich niemals verlassen, nicht wahr?

"Er hat gelogen. Er ist geflohen, vor dir. Bevor du ihn auch noch umbringen konntest", gab sie kühl zurück, doch sie hatte ein bösartiges Lächeln im Gesicht.

"Aber ich würde ihn doch niemals töten! Ich hab ihn doch lieb!"

"Hattest du deine Mutter und Emily nicht auch lieb?", entgegnete sie.

"HÖR AUF! REDE NICHT! ICH WILL ES NICHT HÖREN! DAD IST NICHT WEG, ER IST DA! ER HAT GESAGT, DASS ER MICH LIEBT, ER WÜRDE MICH NIE VERLASSEN, DU LÜGST!“, schrie ich sie an und hielt mir dabei fest meine Ohren zu. Stumm liefen mir Tränen die Wangen hinab.

"Oh, er hat dich schon verlassen, nur auf eine andere Art als du denkst", hallte ihre Stimme in meinem Kopf. Da machte es bei mir Klick. Ich stürmte aus dem Wohnzimmer, weg von Josy, die Treppe hoch. Ich riss die Zimmertür von Dad auf, auch die des Badezimmers. Ich machte ein paar Schritte ins Badezimmer hinein, doch da war nichts. Nur Blut, kein Dad. Der weiße Fliesenboden, das Waschbecken und die Badewanne waren mit frischem Blut besudelt.Mir stellten sich die Nackenhaare auf und mir wurde eiskalt. Hilflos sah ich mich im Raum um, bis ich einen kalten Atem im Nacken spürte. Ruckartig drehte ich mich um und blickte in das Blutverschmierte Gesicht meines Vaters. Ich schrie laut. Er war entstellt, seine Klamotten zerrissen, aus allen erdenklichen Stellen kam Blut, doch ihm ins Gesicht zu schauen, war am schlimmsten. 

Vier Worte hörte ich noch, dann war es vorbei. Nur vier kleine Worte, doch diese machten alles nur noch schlimmer. Ich hörte Josy's Stimme. "Es war deine Schuld!"

 

 

 

 

***

 

 

 Ich wachte auf. Nur diesmal wieder im Gästezimmer, was mich etwas beruhigte, trotzdem hasste ich es mitten in der Nacht allein zu sein. Also tapste ich zur Tür und ging in den dunklen Flur. Ich schaltete das Licht an, ging zu Dads Zimmer und klopfte an. Nichts. Ich klopfte wieder an. Wieder nichts.

Mit mulmigem Gefühl ging ich in das Zimmer hinein und sah, dass das Bett leer war. Die Decke war feinsäuberlich zusammen gelegt, von meinem Vater keine Spur. Was mich natürlich nach so einem Traum beunruhigte, also ging ich zum angrenzenden Badezimmer und spähte vorsichtig durch die Tür. Aber auch das war leer. Verwirrt trat ich zurück ins Zimmer und erblickte die Uhr neben der Tür. Sie zeigte vier Uhr morgens, was bedeutete, dass ich nicht wirklich lange geschlafen hatte. 

Ich hoffte, dass Dad heute bei Josy war, oder irgendetwas in der Art, und dass es ihm gut ging. Außerdem konnte ich wirklich hoffen, dass ich nicht alleine im Haus war, sonst würde ich womöglich noch durchdrehen. Es gab schon das ein oder andere Mal einen kleinen Hysterie-Anfall, wenn ich in New York in der kleinen Wohnung aufwachte und Amy nicht da war. 

Es kostete mich enorme Willensstärke, schließlich bei Dave anzuklopfen, aber auch hier antwortete keiner. Auch sein Bett war leer. Das löste schon leichte Panik in mir aus, ich fühlte mich immer unwohler. Doch ich zwang mich dazu, ruhig und gleichmäßig zu atmen, überall wo ich hin ging drehte ich das Licht auf. Dann ging ich die Stufen runter und hörte den Fernseher aus dem Wohnzimmer. Wer guckt denn um vier Uhr morgens fern? Naja, ich hatte es eigentlich vor, aber trotzdem. War Tobi vielleicht noch da? War Dave etwa weg, weil er mit Maddy gevögelt hatte und jetzt hatte er sich nach Hause geschlichen? 

Ich betrat das Wohnzimmer und sah zwei Typen auf der Couch sitzen und fernsehen. Dabei tranken sie anscheinend ein Bier oder sowas.

Offensichtlich hatte ich ein Geräusch gemacht, denn die beiden drehten sich um. Es waren Dave und Tobi, was hieß, dass ich nicht alleine zu Hause war. Ich entspannte mich etwas und wurde ruhiger, atmete wieder normal. Ich hatte nicht mal bemerkt, dass ich die Luft angehaltenhatte.

"Wo ist Dad?", fragte ich mit etwas besorgter Stimme, ich wusste schließlich noch immer nicht wo er war.

„Weg“, kam es von Tobi. Mein Magen fiel in diesem Moment auf den Boden. Weg? Mein Puls beschleunigte sich und ich bekam natürlich Panik. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und versuchte mich zu beruhigen. „Weg?“

"Der ist heute bei Josy. Warum bist du wach?", fragte Dave etwas gelangweilt.

Ich verknotete meine Hände und Finger ineinander. Auf einmal kam es mir lächerlich vor, dass ich mir solche Sorgen machte und Angst hatte allein zu sein. "Bin eben aufgewacht. Kann ich mich zu euch setzten?", fragte ich schüchtern.  Beide sahen mich nur komisch an, Dave wirkte dabei jedoch etwas spöttisch. Ich kam mir ziemlich dumm vor, ich meine, ich und schüchtern.

"Ist schon gut, ich geh wieder hoch", meinte ich etwas kleinlaut und drehte mich um, damit ich das Wohnzimmer wieder verlassen konnte.

"Nene, is okay, du kanns ruhig bleibnn", lallte Tobi. Anscheinend hat er sich hier wirklich angesoffen. Cool. Dankbar lächelte ich Tobi zu, der freundlich zurückgrinste. Ich setzte mich zwischen die beiden auf die Couch.

"Auch 'n Bier?", fragte Tobi und hielt mir eine Flasche hin.

"Ich trinke nicht", sagte ich fest und schob seine Hand sachte, aber nachdrücklich beiseite.

"Gar nicht?", fragte er. Ich nickte.

"Niemals?", fragte er verwundert. Wieder ein Nicken meinerseits.

"Verrückt", murmelte Dave abfällig neben mir. Ich ignorierte es. Vermutlich hatte er ja Recht, ich war verrückt. Die meiste Zeit, zumindest.

Ich konzentrierte mich auf den Fernseher, wo irgendein Horror-Thriller-Dingsbums lief, was mich nicht sonderlich interessierte. Da ich sowieso recht wenig Schlaf bekommen hatte, vor allem wegen meinem Albtraum, schlief ich sehr bald auch wieder ein, kippte dabei zur Seite.

 

Als ich aufwachte, fühlte ich mich ausgeruht und entspannt, wollte jedoch noch den Moment auskosten und ließ meine Augen daher geschlossen. Ich spürte, dass irgendetwas unter mir lag, kümmerte mich jedoch nicht weiter darum, sondern kuschelte mich fester daran. Es fühlte sich warm und muskulös an. Und es atmete.

Verwirrt rieb ich mir mit der Hand über meine Augen und mein Arm (der sich dabei natürlich mit auf-und ab bewegte) streifte eine intime Stelle. Ich hörte einen männlichen Lacher und sogleich schoss ich in die Höhe, bis ich senkrecht und wieder hellwach auf der Couch saß.

Hinter mir lag Dave auf der Couch und lachte sich einen ab. Ich dagegen kratzte mit den Fingernägeln mein letztes Bisschen Würde zusammen und benutzte diese als ausdruckslose Maske. Wenn ich jetzt rot gewesen wäre, wäre das schlecht gewesen. Ziemlich schlecht. Aber zum Glück wurde ich nie rot. "Guten morgen", sagte ich daher entspannt, als wüsste ich nicht, was ich gerade Peinliches getan hätte. In Wirklichkeit wusste ich es natürlich schon, ich hatte mich an Dave geknuddelt! Ich hatte ihn knuddelvergewaltigt! Und er hatte es einfach zugelassen, dass ich meine Arme um ihn geschlungen hatte. Und wenn ich ehrlich bin, hatte es sich verdammt gut angefühlt, und es fiel mir wirklich äußerst schwer, das einzugestehen. Wenn ich er gewesen wäre, hätte ich mich wahrscheinlich von mir runter geschubst und nochmal draufgespuckt. Und ich durfte mich jetzt wieder einmal in Grund und Boden schämen.

"Guten morgen, gut geschlafen?", grinste Dave, ganz scheinheilig. Oh-oh, ich hoffe, dass ich im Schlaf nicht irgendeinen Schwachsinn geschwafelt hatte, denn das wäre nicht gut. Ganz und gar nicht gut. 

Meine ausdruckslose Maske bröckelte langsam und ich wurde unsicherer. "Ehm, ja, habe ich. Und du? Hast du auch geschlafen? Seit wann bist du wach?", fragte ich nun ziemlich verunsichert. Vermutlich sah ich wieder wie ein kleines verängstigtes Mädchen aus, das Angst hatte von seiner Mama bestraft zu werden, weil es ein paar Kekse aus der Keksdose geklaut hatte.

"Ja, ich hab eigentlich gut geschlafen, die Sache ist nur, dass ich seit einer halben Stunde aufs Klo muss. Du bist außerdem viel schwerer als du aussiehst. Vor allem wenn du auf einem drauf liegst. Apropos Klo, das ist das Stichwort!", sagte er und stand vom Sofa auf. 

"Wenn du einem Mädchen sagst, dass sie schwer ist, bringst du sie damit in die Magersucht!", rief ich ihm noch hinterher, als er durch die Tür verschwand. Nicht, dass es mich interessierte, dass er mich für schwer hielt, ich wusste ja, dass es nicht stimmte. Außerdem war es ganz sicher nur ein kleiner Spaß von ihm. Aber wenn er aufs Klo musste, warum hatte er mich dann nicht aufgeweckt? Hatte ich etwa was im Schlaf gesprochen, das mich verraten hatte? Ich hoffe doch nicht! Doch wenn es so war, musste ich das erfahren. Also Ignorierte ich meinen ursprünglichen Plan, in mein Zimmer zu gehen und mich zu Grund und Boden zu schämen, und wartete stattdessen auf der Couch auf Daves Rückkehr.

Als er zurück ins Zimmer kam, blickte er mich fragend an.

"Warum hast du mich nicht einfach aufgeweckt?", fragte ich ihn direkt.

"Warum? Na, weil du müde ausgesehen hast, deshalb wollte ich dich nicht wecken. Außerdem war ich auch noch müde."

"Du hättest mich einfach runter schieben können."

Er zuckte mit den Schultern. "Darauf bin ich nicht gekommen. Ich hab dich einfach schlafen lassen. Okay?"

"Wirklich?", fragte ich unsicher.

"Wirklich."

"Ganz ehrlich?"

"Ganz ehrlich."

"Schwörst du's?"

"Ja, verdammt, ich schwör es! Hörst du jetzt damit auf? Du hast sie doch nicht alle", sagte er. Offensichtlich hatte ich ihm seine Geduld geraubt, und das schon um neun Uhr morgens. Eine Meisterleistung, Lilly! Gratulation!

"Stimmt, in meinem Kopf läuft irgendwas falsch, aber glaub mir, das ist nicht vollständig meine Schuld", versicherte ich ihm kühl und ging an ihm vorbei in den Flur, dann ins Gästezimmer. Hinter mir hörte ich ihn genervt stöhnen und er murmelte irgendwas, das sich verdächtig anhörte wie "Völlig gaga im Kopf".

Ich fühlte mich geschmeichelt.

Schnell sprang ich unter die Dusche und machte mich fertig für das Treffen mit Rose. Gestern hatte sie mir gesagt, dass sie ganz in der Nähe in einem Fitnessstudio einen Job angenommen hatte. Daraufhin hatten wir uns geeinigt, heute eine Kampfsport-Stunde zu machen.

Ich zog mir meine kurzen, roten Shorts an, ein schwarzes Tang-Top, darüber ein langärmeliges blaues Oberteil. Wenn ich bei Rose war, konnte ich den Pulli sowieso ausziehen, mir würde sonst auch ziemlich heiß werden. Dann zog ich mir zur Abwechslung nicht meine schwarzen Stiefel, sondern schwarze Turnschuhe an. Meine Haare band ich mir zu einem hohen Zopf, dann schnappte ich mir meine Tasche und eine Flasche Wasser. 

Genau in dem Augenblick, in dem ich vor die Haustür trat, fuhr ein schwarzer Audi vor, Roses Wagen. Rose stieg aus dem Auto aus und kam auf mich zu. Dann zog sie mich in eine sehr feste, lange Umarmung. Normalerweise mochte ich Umarmungen nicht, aber bei Rose ließ ich sie zu, einfach weil sie meine Beste Freundin ist. Ich tätschelte ihren Rücken, der von ihren roten, lockigen Haaren bedeckt war, denn sie trug ihre Haare fast immer offen. Sie ließ mich immer noch nicht aus.

"Du kannst jetzt langsam loslassen!", brachte ich erstickt hervor. Ich stand nicht so auf Umarmungen.

"Ich will aber nicht!", sagte sie trotzig.

"Wer ist das?", hörte ich Dave von der Haustür aus sagen. Na, der hat mir ja noch gefehlt. Ich wette, Rose wird ihn flachlegen, so wie sie das mit jedem macht, und zugegeben, Rose ist wirklich bildhübsch. Und ich schätze sie hat eine gute Figur. Also wird sich Dave mit Vergnügen flachlegen lassen. Innerlich seufzte ich.

"Ja, wer ist das?", fragte sie nun an mich gerichtet und ließ mich endlich (Guter Gott, DANKE!)  los.

"Der Typ, der mit mir bei Dad wohnt. Erinnerst du dich?", sagte ich genervt.

"Du hast aber nicht gesagt, dass er so heiß ist", sagte sie so laut, dass Dave dieses Kompliment hören konnte. Der grinste nur verschmitzt. "Willst du mich nicht vorstellen?", fragte sie mich dann gespielt empört, als ich weiter nur neben den beiden stand.

"Ne, eigentlich nicht. Ich will endlich losfahren!", quengelte ich und wollte aufs Auto zugehen. Doch Rose packte meine Hand so, dass ich mich nicht befreien konnte. Blöd, dass sie meine Kampfsportlehrerin war, denn das hieß, dass sie besser war als ich. Noch!

"Stell mich vor!", herrschte sie mich gebieterisch an. Eigentlich wollte ich ja vermeiden, dass sich die beiden treffen, denn ich dachte mir schon, dass sie es dann auf Teufel komm raus miteinander treiben würden. Ich seufzte dramatisch und sagte schweren Herzens: "Dave, Rose. Rose, Dave. Könne wir jetzt fahren?“  Ich wollte endlich auf einen blöden Boxsack einprügeln, bevor jemand anders herhalten musste. Vorzugsweise ja Andrew, aber ich bezweifelte, dass er sich das gefallen ließe

"Himmel, du führst dich auf wie ein kleines Kind. Gut, dann fahren wir eben!", sagte sie und zog mich am Arm mit sich. Vor dem Auto blieb sie noch kurz stehen, drehte sich zu Dave um und deute mit ihrer Hand ein "Ruf mich an" an. Ich verdrehte die Augen.

"Nicht frech werden, junge Dame!", sagte sie gespielt autoritär, grinste jedoch dabei. 

"Steig einfach endlich in den Wagen und fahr los", sagte ich. Das tat sie auch.

"Sag mal, hat dieser Dave eigentlich eine Freundin?", fragte sie schon kurze Zeit später. Da es mich nicht interessierte, drehte ich einfach die Musik noch lauter. Sie drehte wieder leiser. Ich wieder lauter. Sie wieder leiser. Ich setzte erneut an, um lauter zu drehen, doch sie schlug meine Hand weg. "Also?", fragte sie.

"Was weiß ich, geht mich nichts an und interessiert mich auch nicht."

"Okay, ich werde meine Finger von ihm lassen."

"Wieso denn jetzt auf einmal?", fragte ich verwirrt. Ich wusste, sie führt irgendetwas im Schilde. Sie antwortete mir nicht. "Haaaalloooo? Sag schon!", motzte ich sie an.

"Na, du stehst auf ihn, deshalb nehme ich ihn dir nicht weg", sagte sie gelassen.

"Ich steh nicht auf diesen Player", sagte ich abfällig.

"Und ob. Normalerweise hättest du auf die Freundinnen-Frage mit "Frag ihn selber", "Leck mich" oder "Das würde dich sowieso nicht von dem abhalten, was du vorhast" beantwortet. Und da du gesagt hast, dass es dich nicht interessiert, interessiert es dich! Leugne es nicht, du fährst auf ihn ab! Endlich hast du mal sexuelle Gefühle für jemanden entwick..-"

"HAB ICH NICHT! Hör auf, ich will so einen Schwachsinn nicht hören! Lalallalalalalalalallalalalalala...", sagte ich und hielt mir meine Ohren zu. Kindisch, ich weiß, aber das hat was von einem Mutter-Tochter-Gespräch, dass ich eindeutig nicht, ich wiederhole: NICHT (!) führen will!

"Ach, hab dich nicht so, Lilly. Sex ist was voll schönes! Nimmst du eigentlich die Pille?", fragte sie beiläufig.

Ich stoppte meinen kläglichen Versuch, sie zu ignorieren und nahm meine Hände von den Ohren. Ich hatte sie nämlich trotzdem gehört und sie würde mich so lange mit Fragen durchlöchern, bis sie zufrieden war. Oder bis ich vor Peinlichkeit verreckt war.

"Du weißt schon, dass du nicht meine Mum, sondern meine beste Freundin bist oder?", fragte ich hoffnungsvoll.

"Aber ich übernehme ihre Rolle. Also, Pille ja oder nein?"

"Ja", murmelte ich. Denn obwohl ich nie Sex hatte, wusste man ja nie, ob man nicht mal ohne Kondom vergewaltigt werden würde. In dieser Hinsicht war ich vielleicht ein klein wenig paranoid. Aber es könnte jederzeit Andrew kommen und mich.. Nein, lieber nicht daran denken.

"Gut. Bist du eigentlich immer noch Jungfrau?", fragte sie sanft. Ich versteckte mein Gesicht in meinen Händen. Ich hätte ihr das damals definitiv NICHT erzählen sollen! "Lilly, antworte mir!"

"Lass mich doch bitte in meiner Scham alleine", bat ich genervt unter meinen Händen.

"Okay, nur noch eine Frage. Bist du lesbisch oder warum bist du nicht schon längst über Dave hergefallen? Ich hätte das nicht aushalten können, ich meine sieh ihn dir an, er sieht aus wie..-"

"Rose, ich bitte dich, noch ein Wort und ich schlag dir in deine Fresse."

"Beantworte meine Frage."

Ich schnaubte verächtlich, doch meine Verachtung richtete sich gegen mich selbst. "Wer könnte mich schon lieben, so wie ich bin? Nicht, dass ich es will, aber es geht ums Prinzip. Wenn ich mich einem Jungen öffne, und ich meine damit nicht Dave, mache ich mich verletzlich. Und wenn ich ehrlich bin, bleibe ich lieber ewige Jungfrau als nochmal Schmerz zu erfahren. Hab ich doch schon genug", das letzte flüsterte ich nur leise vor mich hin. Daraufhin schenkte Rose mir einen besorgten, jedoch liebevollen Seitenblick.

"Wir sind da", sagte sie dann. Wir stiegen aus und gingen in den Raum, heute war das Fitnesscenter eigentlich geschlossen, aber wir durften trotzdem rein. Mitarbeiterbonus. Ich mochte es nämlich nicht, wenn ich dabei beobachtet wurde, schon gar nicht wenn ich kurzärmelig war, was ich nur war, wenn ich mit Rose alleine war. Klingt einleuchtend, nicht wahr?    Doch, tut es!

Wir gingen in den Trainingsraum und wärmten uns ein bisschen auf. Dann prügelte ich heftigst auf den Boxsack ein und stellte mir dabei vor es wäre Andrew. In meiner Vorstellung kroch der Boxsack (Andrew) auf Knien vor mir und bat mich darum, endlich aufzuhören. Doch ich schlug weiter zu und kickte, was das Zeug hält. Bis mich Rose aus meinen mordlüsternen Gedanken rausholte.

"Wie ich sehe hat sich bei dir etwas Wut angestaut", sagte sie sarkastisch, mit der Betonung auf "etwas". 

"Komm, du versuchst jetzt erst mal, mich von der Matte zu fegen", sagte sie dann. Ich zog noch mein Langarmshirt aus und gab somit meine Narben frei, doch ich versuchte nicht hinzusehen. Doch Rose machte es nichts aus, sie kannte sie ja schon. Und wenn ich den Pulli nicht ausgezogen hätte, wäre ich vor Hitze umgekippt.

"Los Lilly, zeig mir was du drauf hast!", spornte sie mich an und stand unschuldig vor mir. Sie sah wehrlos aus, doch das konnte mich nicht täuschen. Viel zu oft hatte sie mich schon auf den Boden geworfen, als dass sie schwach hätte wirken können.

Ich ging auf sie zu, umrundete sie. Sie blieb einfach stehen. Ich drückte meine beiden Hände auf ihre Schultern, versuchte sie nieder zu drücken, was sie erstmal verwirrte. Doch sie hielt mir stand, wollte meine Hände von ihren Schultern nehmen, doch das war ihr Fehler. Ich kickte ihre Füße weg, doch sie hatte damit gerechnet. Verdammter Mist! Sie schnappte meinen Arm, Verhakte ihr Bein mit den meinen und brachte mich so zum Stolpern. Das nutzte sie, um meinen Arm auf den Rücken zu drehen und zwang mich so auf die Knie. 

"Gut, nochmal von vorne", sagte sie und ließ mich los. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und kickte ihre Füße beim Umdrehen weg. Ich griff mit meiner Hand in ihr Genick und drückte ihr Gesicht Richtung Boden, mit meinem Bein brachte ich sie zum Knien.

Diesmal hatte ich gewonnen, was mich zum Grinsen brachte.

"Gut gemacht, du bist besser geworden. Ich muss kurz eine SMS schreiben, okay?", fragte sie und setzte sich schon in Bewegung. Ich nutzte die Pause, um etwas zu trinken. Nach kurzer Zeit kam sie auf mich zurück und wir trainierten noch ein bisschen. Leider hatte ich kein Glück mehr und sie schlug mich jedes verdammte Mal. Nach zehn versuchen setzte ich mich frustriert auf den Boden.

"Lilly, glaub mir, du bist besser geworden. Nicht gut genug um mich zu schlagen, aber besser. Du musst einfach mehr trainieren."

"Besser ist nicht gut genug!", fuhr ich sie aufgebracht an. 

"Besser ist gut!", versuchte sie mich aufzumuntern. "Es ist schon ein Fortschritt, dass du besser..-"

"ES IST NICHT GUT GENUG! ES IST BESCHISSEN. NOCHMAL. NICHT. GENUG!", schrie ich sie frustriert an und ließ mein Gesicht in meinen angezogenen Knien versinken. Dabei bemerkte ich nicht, dass uns jemand beobachtete.

"Was ist los, Lilly?", fragte sie, hockte sich neben mich und berührte mich sachte an der Schulter. Das war zu viel. 

"Nicht anfassen", brachte ich erstickt hervor. Sie ließ augenblicklich von mir ab.

"Was ist los?", fragte sie wieder, ein besorgter Unterton hatte von ihrer Stimme besitz ergriffen.

"Er ist da, Rose. Er ist da und er wird es wieder tun! Er hat mich schon gesehen und ich dumme Kuh habe mich verraten! Jetzt weiß er, wer ich bin! Er kann mich erpressen, und ich kann nichts dagegen tun. Er wird allen sagen, was damals passiert ist. Bei allen anderen ist es mir ja egal, aber nicht bei Tobi, er soll nicht wissen dass ich eine beschissene Mörderin bin!", sagte ich hysterisch und am Ende brach meine Stimme.

"Du bist keine Mörderin. Es war nicht deine Schuld. Und sieh doch, ich weiß was passiert ist und ich mag dich trotzdem."

"Stimmt. Warum tust du das eigentlich? Das ist ziemlich dumm von dir", sagte ich und bemühte mich, meine Tränen zurück zu halten.

"Ist es nicht. Ich hab dich lieb, Lilly. Du bist wie meine Familie", sagte sie liebevoll und strich mir übers Haar. Daraufhin fiel ich ihr um den Hals und umarmte sie ziemlich fest. Doch sie bemäkelte das nicht, da eine Umarmung dieses Ausmaßes nur sehr selten vorkam und etwas Besonderes war. Und das wusste sie. Nun stahl sich doch eine einzige, kleine Träne aus meinem Augenwinkel. Dann gab ich sie wieder frei.

"Weißt du, wegen ihm solltest du dir keine Gedanken machen. Vielleicht sagst du Tobi ja einfach, was damals..-"

"STOPP! Hör auf zu reden!", sagte ich panisch und versteckte mich dann hinter ihr. "Was ist los?", fragte sie verwirrt.

"Dave ist da", flüsterte ich.

"Na und?", fragte sie, heute wohl ganz besonders blond.

"Na und? Hör mal.. ich hab nur ein T-Shirt an...", half ich ihr auf die Sprünge. Da machte es bei ihr "klick".

"Dave, bitte geh kurz raus und lass uns allein", sagte sie freundlich, ihre blauen Augen funkelten verschwörerisch. Er ging ohne Widerworte, er war wohl ziemlich verwirrt von der Situation. Moment mal, warum war der eigentlich hier?

Als er weg war, ging sie zu meinen Sachen und schmiss mir mein Langarmshirt zu.

"Meinst du er hat es gesehen?", fragte ich unsicher.

"Nein, er hat deine falsche Schulter gesehen. Die andere hab' ich sowieso verdeckt", beruhigte sie mich.

"Wieso ist er überhaupt hier?"

"Ich hab ihn gebeten, dich abzuholen, ich muss noch zu einem Kunden." Sie blickte mich entschuldigend an. Teils dafür, dass sie heute so "wenig" Zeit für mich hatte, teils weil es ihre Schuld war, dass Dave mich so gesehen hatte. Ich nickte nur und zog mir mein Shirt an. Dann ging ich zu ihr und drückte sie ganz kurz, machte mich gleich darauf auf den Weg zur Tür.

"Bis bald!", meinte sie.

"Bis bald", bestätigte ich und ging aus dem Trainingsraum raus, traf daraufhin auf Dave. Dieser ging mir hinterher, zu seinem Auto. Ich kannte mich mit Autos sowas von überhaupt nicht aus, also konnte ich nur sagen, dass es schwarz war. Und es sah teuer aus.

Als wir eingestiegen waren, brach Dave das Schweigen. "Was war da drinnen los?"

"Das Übliche. Die Verrückte ist eben ausgetickt", gab ich gelassen zurück und schaltete die Musik ein.

"Komm mir nicht immer damit, dass du verrückt bist", sagte er leicht genervt.

"Dann bin ich halt nicht ganz dicht in der Birne, nenn es wie du willst. Jetzt sei leise und lass mich in Ruhe." Natürlich war er nicht leise und ließ mich auch nicht in Ruhe. "Wieso trägst du nie kurze T-Shirts?"

"Wieso geht dich das was an?" Ich bemühte mich um einen gleichgültigen Tonfall, der mir auch gelang.

"Wieso sagst du es nicht einfach?"

"Wieso hältst du nicht deine Klappe?", schnauzte ich ihn an.

"Sag es doch einfach, dann lass ich dich in Ruhe, versprochen", versicherte er mir.

"Versprochen? Wenn du dein Versprechen brichst und mich noch einmal was Persönliches fragst, gehst du in Unterwäsche zur Schule und gibst mir 500 Dollar", setzte ich Bedingungen.

In seinem Kopf ratterte es. Dann schüttelte er den Kopf. "Das ist es nicht wert", sagte er. Gott sei Dank, es ist nicht interessant genug. Wenn ich ehrlich bin, wäre mir das auch zu teuer gewesen. Jetzt habe ich wenigstens meine Ruhe.

Ich trank einen Schluck von meiner Wasserflasche. 

"Was meintest du damit, dass du eine Mörderin bist?", fragte Dave da aus heiterem Himmel. Ich verschluckte mich an dem Wasser, spuckte die Hälfte davon aus und verschüttete dabei noch etwa drei Viertel der Flasche in Daves Auto. Der wollte wohl, dass ich hier vor ihm verrecke! Ich hustete, um das Wasser aus meiner Luftröhre zu bekommen, dabei schossen mir Tränen in die Augen. 

"Alles okay?", fragte Dave und schenkte mir nur einen kurzen Seitenblick. Wow, zuerst bringt er mich fast um und dann ist es ihm auch noch egal.

Nachdem ich mich wieder gefangen hatte, schwieg ich weiter.

"Ich finde du bist mir eine Antwort schuldig, nachdem du mein Auto vollgespuckt hast", sagte Dave und hielt vor unserem Haus.

"Ich finde du solltest lernen, wann es besser ist die Fresse zu halten", sagte ich zickig und schüttete den Rest meiner Wasserflasche auf seinen Dickschädel, dann stieg ich aus dem Auto. Ich stampfte mit der Grazie eines Nilpferdes zurück zum Haus, ging hoch ins Gästezimmer und stellte mich dann unter die Dusche. Aber nur kurz, dann fand ich, dass es mal wieder Zeit für ein Schaumbad war. 

Genüsslich verweilte ich in der großen Badewanne, voll bedeckt mit Schaum, und summte ein paar Lieder. Ich meine, ich konnte nicht wirklich gut singen, aber fürs Summen reichte es doch. Ich schloss meine Augen und ließ mich tiefer in das angenehm heiße Wasser sinken. Nach einer weile wurde es dann schon kühler und ich schnappt mir ein großes Badetuch und wickelte mich darin ein. Dann nahm ich meinen Bademantel, zog ihn an und stellte mich vor den Spiegel. Ich kämmte meine Haare, bis ich die Tür bemerkte. Sie war die ganze verdammte Zeit einen Spalt offen gewesen! Und ratet, wer am Türrahmen lehnte? Genau, Dave. Ich hörte augenblicklich mit dem Summen auf und trat einen Schritt von dem Waschbecken weg. Dann ließ ich meinen Kopf gegen die Wand knallen. Sollte ich doch eine Gehirnerschütterung bekommen, falls Dave mich gesehen hatte, wäre das zehntausend Mal schlimmer. Und peinlich, wenn er mich nackt gesehen hätte. Und wenn er meine Narbe gesehen hat.. dann.. dann.. Könnte ich mich gleich erhängen gehen. Doch vielleicht stand er erst seit wenigen Minuten da? Vielleicht. Ich versuchte ruhig zu bleiben und nicht gleich wieder loszuheulen. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. Tief durchatmen.

"Seit wann stehst du da schon?", fragte ich weinerlich.

"Nicht lange." Er öffnete die Tür.

"WIE LANGE?", rief ich panisch, mein Kopf lehnte immer noch an der kühlen Fliesenwand.

"Seit ein paar Minuten. Ich hab nur dein Summen gehört und hab dabei zugesehen wie du dich gekämmt hast", versicherte er mir.

"Wieso?"

"Wieso was?", fragte er jetzt verwirrt.

"Wieso du gespannt hast."

"Ich bin kein Spanner!", sagte er empört.

"Ist klar, und ich bin nicht verrückt. Zisch ab, Dave."

"Erst wenn du mir sagst, was ich hätte sehen können, was so schlimm gewesen wäre", verlangte er.

"Du hättest mich nackt sehen können. Und jetzt verpiss dich!", zischte ich.

"Wäre das so schlimm gewesen?", säuselte er und machte ein paar große Schritte auf mich zu, bis er dicht vor mir stand. Inzwischen hatte ich mich schon zu ihm umgedreht. Der Typ wollte mich wohl verführen! Dass es in meinem Bauch kribbelte, wenn ich seinen Atem in meinem Gesicht spürte, ignorierte ich mal einfach dezent.

"Ja!", sagte ich daher energisch und versuchte ihn von mir wegzuschieben. Aber nix da, er blieb stehen wie ein Fels. Ich versuchte ihn mit den Händen auf seiner Brust von mir zu drücken, aber ich bekam dadurch nur seine starken Muskeln zu spüren, die meine Knie weich werden ließen. Er stützte seine starken Arme links und rechts neben meinem Kopf an der Wand ab. Erstmals bekam ich seinen leckeren Geruch von Äpfeln mit. Das und noch etwas anderes, von dem ich nicht wusste was es war.

Sein Gesicht kam den meinem immer näher und in meinem Kopf schrillten die Alarmglocken. Doch mein Körper schien diese zu ignorieren und schrie dabei "YOLO!". Mein Körper schrie das, nicht ich, nur damit ihr das nicht falsch versteht. 

Seine Lippen waren nur noch ganz knapp von meinen und ich blickte ihn mit großen Augen an. Seit drei Jahren war mir kein Junge mehr so nahe gewesen. Und als ich ihm so in die Augen sah, bemerkte ich, dass seine Augen gar nicht nur blau waren. Außen waren sie zwar eisblau, zur Mitte hin wurden sie aber grün. Und ich muss gestehen: so geile Augen habe ich noch nie gesehen. Ein "Wow" konnte ich mir daher nicht verkneifen.

"Was denn?", meinte er verwirrt und hielt inne. Das nutzte ich, um einen klaren Gedanken zu fassen und schlüpfte unter seinen Armen durch. So weit würde es noch kommen, dass ich mich von einem Player küssen ließ!  Der wollte mich wahrscheinlich eh nur verarschen. Oder mich entjungfern und dann abschießen. Oder er würde mich küssen und dann auslachen, weil er niemals im Leben was mit jemand so hässlichem wie mir anfangen würde. Dann würde er Phil und Luke erzählen, dass naiv und dumm war und dann würden sie der ganzen Schule erzählen, wie scharf ich auf Dave war, und ich würde für den Rest meines erbärmlich Lebens die kleine hässliche Verrückte sein, die keinen abbekommt. Und ich würde mich erhängen, diesmal ohne einen Gedanken an Amy und Dad. Einfach sterben, das wär doch was. Klingt sexy.

Ich flüchtete ins Gästezimmer und sperrte ab, dann zog ich meinen Pyjama an. Später ging ich runter in die Küche und schnappte mir einen Eisbecher und einen Löffel, kehrte zurück ins Zimmer und schloss wieder ab. Dann hockte ich mich aufs Bett, hörte laut Musik und heulte, während ich Eis aß. Recht oft tat ich das zwar nicht, aber es fühlte sich gut an. Ich heulte auch nicht wegen Dave, wirklich nicht.

Ich heulte, weil  ich Angst vor Andrew habe. Weil ich Angst davor habe, Tobi die Wahrheit zu sagen. Weil ich Angst davor habe, einzuschlafen und wieder und wieder Albträume zu durchleben, die in der Realität schon schlimm genug waren. In Wahrheit habe ich auch einfach Angst davor, verletzt zu werden. Momente, wie diese waren ganz besonders schlimm, weil ich immer allein war, ich fühlte mich immer schrecklich allein, obwohl Dad und Amy und Rose und Tobi für mich da waren. Aber ich fühlte mich immer allein und zerbrochen. Momente, wie diese, waren auch schlimm, weil ich einfach nicht aufhören konnte zu weinen. Da kam es sogar schon mal soweit, dass ich keine Tränen mehr hatte und laut schluchzen musste, was ich wirklich selten tat. Ich meine, wirklich selten. 

Jetzt war es so weit. Meine Tränen hörten auf und ich wurde von Schluchzern gepackt. Ich drückte mein Gesicht in die Kissen, damit man mich nicht hören konnte. Was eigentlich Schwachsinn war, weil ich verdammt laut Musik hörte. Ich tat es aber trotzdem, fühlte mich dadurch nicht ganz so scheiße. Inzwischen war es schon Mitternacht. Ich bemerkte, wie jemand an der Tür hämmerte.

"Lilly! Mach den Krach aus!", rief mein Dad wütend durch die Tür. Das war wohl eine dieser typischen Teenager Situationen.

Ich versuchte mich zu beruhigen und aufzuhören mit dem Schluchzen, damit ich ihm antworten konnte.

"Okay", quietschte ich. Ups, das kam wohl nicht so gut.

"Lilly, alles in Ordnung?"

"Alles bestens", log ich. Doch meine Stimme verriet mich.

"Mach bitte die Tür auf."

"Nein, alles okay. Ich gehe jetzt schlafen." Das würde ich nicht tun. Nach solchen Heul-Attacken wie diesen, kamen immer die schlimmsten Albträume, jedes mal schlimmer. Da würde ich lieber gar nicht schlafen. Ich drehte die Musik ab.

"Bitte lass mich rein", bat mein Dad sanft.

"Nein, geh schlafen. Du bist sicher müde. Gut Nacht, Dad." Dann schwieg ich und gab ihm keine Antwort mehr, bis er gegangen war. Gleich darauf warf ich mich zurück auf das Doppelbett und starrte an die Decke.

6.Kapitel

Am nächsten Morgen lag ich immer noch wach im Bett, hing dabei meinen Gedanken nach. Noch bevor mein Dad mich wecken konnte, ging ich mich duschen und anziehen. Im Spiegel sah ich leider sehr dunkle Augenringe unter meinen bernsteinfarbenen Augen, die sich auch nicht von Make-Up verdecken ließen. Das verwunderte mich aber nicht, hatte ich ja schon ein paar Mal gehabt. In New York, bei Amy zu Hause.

Unten machte ich noch Frühstück für alle, da ich noch viel Zeit hatte. Zur Abwechslung erledigte ich auch mal meine Hausaufgaben. Zu meinem Glück, oder auch Pech - je nachdem wie man es sah - scherten sich unsere Lehrer nicht um unsere Noten. Sie finden, dass wir selbst für unsere Zukunft verantwortlich sind. Das finde ich gut, weil ich meine Zukunft schon lange ruiniert hatte, schlimmer konnte es eh nicht werden. Ich konnte später nur Obdachlose sein, aber das würde mir auch nicht viel ausmachen. Die Leere, die in mir herrscht, kann sowieso nichts füllen. Kein teures Haus, schickes Auto oder guter Job könnte das ändern. 

Als ich mit den Hausaufgaben fertig war (die waren sowieso nur zu einem Drittel richtig), kamen Dad und Dave in die Küche und sahen mich verwundert an.

"Frühstück ist fertig", nuschelte ich und vermied es, Dave anzusehen. 

"Hast du überhaupt mal geschlafen?", fragte Dad und begutachtete meine Augenringe.

"Ja." Aber halt nicht in dieser Nacht.

"In dieser Nacht, meine ich", fügte er hinzu. Kacke.

"Ja", log ich.

"Lüg mich nicht an!", herrschte Dad mich an. Er hatte es immer schon gehasst wenn man nicht die Wahrheit sagte. Oder überhaupt nichts sagte.

"Ich hab in dieser Nacht kein Auge zugetan", sagte ich ehrlich und völlig ohne Gefühl.

"Warum nicht?", fragte er jetzt. Ich frage mich so oft, warum sie mich nie in Ruhe lassen. Beantwortet man eine Frage, wollen sie schon die Nächste beantwortet haben, egal ob ich das will oder nicht. Aus diesem Grund (und weil mich sowieso keiner mochte), hatte ich keine Freunde in New York. Naja, außer Rose.

"Weil es eben so ist, Dad."

"Sag es mir, bitte."

"Ich war nicht müde." Das stimmte nicht. Ich war hundemüde, aber Tatsache war, dass ich Angst hatte einzuschlafen und wieder Albträume zu bekommen. Immerhin würde ich wohl eine Nacht ohne Schlaf auskommen! Heute Nacht würde ich sowieso wieder schlafen, und dabei hoffen, dass ich nicht schlecht träumte. Am besten war es, wenn ich gar nichts träumte. 

Dad seufzte. Er wusste, dass ich nicht weiter darüber reden würde. Er nahm sich eines der Omeletts, die ich gemacht hatte und frühstückte in aller Ruhe. Ich saß nur auf meinem Platz und starrte in die Leere.

Würde Dave mich wegen gestern auslachen? Hatte er gelogen und er hatte mich tatsächlich nackt gesehen? Oder schlimmer, hatte er meine Narbe bemerkt? Dachte er, ich würde auf ihn stehen und hatte es Phil und Luke erzählt, die es schon in der Schule verbreitet hatten? Wenn es so wäre, würde mir nichts anderes übrig bleiben, als zurück nach New York zu gehen, auch wenn ich Dad dann hier alleine lassen müsste. Er hatte immerhin noch Josy. Und er würde mich vermutlich nicht einmal vermissen. Was dachte ich denn da? Er würde mich ganz sicher nicht vermissen! Niemand würde das! Ich war nur die naive, verrückte, gestörte Tussi mit den psychischen Problemen, die sich von Playern bespannen und fast küssen ließ!

Jemand tippte mir an die Schulter und ich zuckte zusammen. Es war Dave.

"Wir sollten langsam losgehen."

"Geh ruhig, ich bleib noch kurz hier."

"Wie du willst", sagte er und zuckte mit den Schultern. Er verließ die Küche und kurz darauf hörte ich die Haustür zugehen.

Ich wartete ein paar Minuten. "Ich geh dann mal", sagte ich nun auch zu Dad und holte meinen Rucksack. Dann marschierte ich durch die Tür hinaus.

Und wer wartete draußen vor der Tür? Klar, Dave. In Gedanken stöhnte ich genervt.

"Was war gestern mit dir los?", fragte er auch, sobald ich an ihm vorbei ging.

"Was soll denn gewesen sein?", fragte ich gespielt unwissend.

"Naja, zuerst bist du ausgetickt, weil ich dir beim Haare kämmen zugesehen habe. Dann bist du weggerannt als ich dich küs..." Er räusperte sich. War ihm wohl peinlich. Ich verdrehte die Augen und schnaubte abfällig, wurde dabei schneller. Auch er beschleunigte seine Schritte. "Jedenfalls bist du dann um halb zwölf in die Küche gestürmt, hast dir Eis geschnappt und bist wieder hoch gerannt, hast mich dabei nicht mal bemerkt. Dann hast du die Musik laut aufgedreht. Dann kam dein Dad und ich hab zufällig euer Gespräch mitbekommen. Und dann war es leise, bis auf ein paar gedämpfte Schluchzer. Sag mal, hast du geheult?"

Scheiße verdammte! War der Typ ein Stalker oder was!? Das verlangte geradezu danach laut ausgesprochen zu werden. "Bist du ein verdammter Stalker oder was!?", fuhr ich ihn genervt an.

"Ich habe durchaus die Neigung zum Stalken. Aber nennen wir es einfach Neugierde."

"Ich nenn es "Lass-mich-in-Ruhe-oder-ich-werf-dich-hochkant-aus-meinem-Haus"!", fauchte ich ihn an.

"Und wie willst du das hinbekommen?", wollte er verächtlich wissen. Ich schmunzelte, sagte aber nichts.

"Sag, wie willst du das anstellen. Dein Vater und ich sind gute Freunde geworden, er würde mich nie rausschmeißen."

"Das denkst auch nur du", sagte ich hämisch.

"Erklär mir deinen Plan, ich will wissen wie du das anstellst", forderte er mich auf.

"Soweit kommt's noch. Hast du schon mal von einem Bösewicht gehört, der dem Superhelden seinen Plan, die Welt zu erobern, erzählt hat und es dann auch tatsächlich geschafft hat? Nein? Dann gebe ich dir einen Tipp: Hör auf mich zu nerven, dann wirst du auch nie erfahren, wie der Plan war. Würde ich dir echt raten, ansonsten kannst du schön zurück zu deinen Eltern gehen, oder sonst wem. Es interessiert mich nicht."

"Du würdest mich zurück zu meinen Eltern schicken? Zu meinem Vater, der mich schlägt? Zu meiner Mutter, die ständig heult  und sich mit ihm streitet?", fragte er in mitleiderregendem Tonfall.

"Ich bitte dich, es gibt Schlimmeres. Außerdem hast du gesagt, dass er dich nur ein Mal geschlagen hat, du Pussy. Komm mir nicht auf der Mitleidsschiene. Und jetzt zisch ab, bevor ich meinen Plan verwirkliche und ich dich wirklich nach Hause schicke", meckerte ich.

Verblüfft sah er mich an. War wohl das erste Mal, dass er bei einem Mädchen nicht Mitleid erweckte. Pff, ich bin halt kein Mädchen. Ich meine, ich bin halt kein normales Mädchen! Nicht, dass wir uns falsch verstehen.

Dave ließ sich wirklich etwas zurückfallen und dann waren wir auch schon bei der Schule angekommen. Penelope kam sogleich auf mich zugestürmt und zerrte mich an der Hand weg von den anderen. Im Schatten der Bäume verriet sie mir dann etwas. "Ich habe jetzt einen Freund!", sagte sie begeistert.

Einen Freund? Am Samstag war sie doch noch mit uns im Club. Puh, bei ihr ging das wohl ganz schnell.

"Toll!", sagte ich wenig begeistert und musterte meine Fingernägel.

"Willst du denn gar nicht wissen, wer es ist?", fragte sie etwas gekränkt. Eigentlich nicht. Rose war in meiner Nähe, sie arbeitete in einem Fitnesscenter, das leicht für mich zu erreichen war. Ich brauchte keine anderen Freunde, und wenn ich ehrlich war, nervte mich Penelope langsam. Könnte aber auch einfach daran liegen, dass ich keine einzige Sekunde in dieser Nacht geschlafen hatte.

"Sag's doch einfach", erwiderte ich müde.

"Hast du überhaupt geschlafen?", fragte sie plötzlich und stocherte mit dem Finger unter meinen Auen  rum.

"Lass das!", sagte ich genervt und stieß ihre Hand weg.

"Also.. Ich bin mit Luke zusammen!", quietschte sie fröhlich und klatschte dabei erfreut in die Hände.

Luke? Da gibt's aber bessere. Tobi, zum Beispiel. Oder jeder andere Mann auf der Welt.

"Cool. Freut mich für dich." Nicht. Es ist mir sowas von schnurzpiepegal. Was interessieren mich schon Liebesbeziehungen von anderen? Das tun sie nicht mal bei Rose, und das obwohl sie meine beste Freundin ist.

"Ich geh jetzt in den Unterricht", sagte ich gelassen und ging an der verwirrten Penelope vorbei in die Schule rein. Vermutlich hatte sie erwartet, dass ich mit ihr einen Freudentanz aufführte, oder sowas. Nix da, nur über meine Leiche.

 

Nach der Schule ging ich allein nach Hause. Ich hatte heute keinen Bock auf irgendetwas oder irgendjemanden. Ich wollte nur Rose anrufen und mit ihr reden. Mit ihr zu reden, das half fast immer. Nur in seltenen Fällen nicht. 

Auf halbem Weg fiel dann Dave über mich her. Naja, nicht wirklich, aber er hatte mich ganz schön erschrocken.

"Sorry", murmelte er nur während ich versuchte meinen Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen.

"Zieh ab", sagte ich nur.

"Ich will aber mit dir reden. Es geht um gestern, ich wollte dich im Bad eigentlich um etwas bitten", sagte er verlegen. Dave und verlegen?

"Diese Bitte werde ich dir nicht erfüllen."

"Ich stelle sie dir trotzdem. Nämlich wollte ich dich fragen, ob du mir die Nummer von dieser.. ehm.. Rosy geben kannst", sagte er.

"Du hast dir ja noch nicht mal ihren Namen gemerkt", schnaubte ich. "Außerdem, wenn du wirklich nur das gestern wolltest, wieso musstest du mir dazu in die Fresse atmen?", sagte ich skeptisch.

"Sie hieß nicht Rosy?", ist alles was er bemerkte.

"Fahr zur Hölle", sagte ich und rannte los. Je schneller ich von dem Depp weg war, desto schneller war ich auch zu Hause und konnte mit Rose einen netten Abend haben.

Meine Beine trugen mich so schnell ich konnte, doch Dave rannte mir sowieso nicht hinterher. Ich sah auch vermutlich lächerlich aus, wie ich da wie vom Blitz getroffen rannte, aber es fühlte sich gut an. In Sport machten wir immer nur Gymnastik und Cheerleader-Scheiße, die mich nicht interessierte. Zu laufen war mal eine gute Abwechslung, und ich war in null Komma nichts zu Hause. Dabei war ich noch nicht mal außer Atem.

Ich ging rauf ins Zimmer und sagte Rose Bescheid, sie solle kommen. 

Eine Stunde später war sie schon mit ganz doll vielen Süßigkeiten und Fressalien da, und wir machten es uns auf dem Bett gemütlich.

"Also, wie lautet der Notfall?", fragte sie, nachdem sie eine Packung Chips geöffnet hatte. Ich verlangte nur Rose mit Süßem, wenn ich eine Heulattacke hatte, und das wusste sie. Sie fragte das nur, weil sie es immer tat.

"Hab gestern Nacht geheult. Diesmal aber verdammt lang, sogar mit Schluchzern", nuschelte ich mit dem Mund voller Chips.

"Ach Süße. Du brauchst mal etwas Spaß!"

"Hab ich gerade", murmelte ich.

"Ich meine anderen Spaß. Du weißt schon.." Sie wackelte mit den Augenbrauen.

"Nei-hen! Du vielleicht, aber ich nicht! Lass mich da um Himmels Willen raus."

"Och komm schon, du weißt gar nicht was du verpasst!", schmollte sie.

"Du bist fünf Jahre älter. Müsstest du nicht die vernünftige, reife Erwachsene sein und ich der rebellische Teenager? Und nicht umgekehrt?", fragte ich verzweifelt.

"Genauso sollte es sein.  Also los, rebellier!", spornte sie mich an.

"Gut. Ich werde sicherlich keinen Sex haben, schon gar nicht wenn du das von mir verlangst!", rebellierte ich.

Sie seufzte. "Gehen wir kurz runter in die Küche? Ich hab Durst", motzte sie. Ich stand vom Bett auf und hielt ihr meine Hand hin, die sie ergriff. Ich zog sie hoch und wir gingen runter in die Küche. dort saßen Tobi und Dave gerade am Küchentisch und aßen Pizza.

"Uh, lecker Pizza. Krieg ich auch was?", fragte Rose liebenswürdig und klimperte mit ihren langen Wimpern. Sie ging auf Tobi zu und schnappte sich ein Stück Pizza von ihm, er starrte ihr nur in ihre blauen Augen.

"Danke", säuselte sie und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Ich verdrehte nur die Augen, das macht sie doch immer.

Ich ging zum Kühlschrank und holte zwei Mineralwasserflaschen heraus. Eine für mich, die andere warf ich Rose an den Kopf.

Naja, hätte ich gerne, aber sie hat sie gefangen.

"Komm jetzt, wir gehen wieder hoch", sagte ich zu ihr.

"Warte noch. Ich will zuerst wissen, wer das ist." Sie zeigte auf Tobi.

"Das ist... Tobi."

"Das ist..." Ihre Augen wurden groß. Als ich Rose kennengelernt hatte, hatte ich Tobi schrecklich vermisst. Ich hatte ihr viel von ihm erzählt, auch, dass er es war, der mich vor Andrew beschützt hatte. Das hatte bei ihr mächtig Eindruck hinterlassen.

"Ist das schlimm?", fragte Tobi.

"Ob das schlimm ist? Ganz und gar nicht! Lilly hat mir echt viel über dich erzählt!", rief sie begeistert.

Tobi sah mich verwundert an. Ich wurde rot. MOMENT! Ich wurde tatsächlich rot! Hopsala, irgendwas läuft grade mit mir schief, ich bin schon lange nicht mehr rot geworden!

"Lilly hat von mir erzählt?", fragte Tobi an Rose gerichtet.

"Und ob! Sie hat nahezu von dir geschwärmt! Sie hat mir alles über dich erzählt, wenn sie überhaupt mal geredet hat. Und ich denke, dass sie dich tierisch vermisst hatte", erzählte Rose und ich wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken.

"Ist das wahr, Lilly?", fragte Tobi belustigt. Er fand das lustig? Aua, ich glaub mein kaputtes Herz hat eine Stelle gefunden, die noch nicht zerbrochen war. Die Betonung liegt auf war. Nicht, dass ihr denkt, dass ich ihn Tobi verliebt war - ganz und gar nicht, es würde sein, als wäre ich in meinen Bruder verliebt-, aber ich hatte mir schon eine andere Reaktion erwartet, als ausgelacht zu werden. Geehrt sein, vielleicht. Oder Zuneigung. Aber nicht Belustigung.

"Können wir jetzt gehen?", fragte ich Rose und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich verletzt war. Was natürlich NICHT klappte! Tut ja heute auch gar nichts!

"Ehm, klar", sagte sie und tätschelte unbeholfen meinen Kopf. Ich ging zur Treppe und sie tat es mir gleich, aber nicht ohne Tobi vorher noch einen bösen Blick zuzuwerfen. Dessen Grinsen verschwand daraufhin aus seinem Gesicht und er sah mich an. Hastig wandte ich meinen Kopf ab und schritt die Treppe rauf.

 

Im Zimmer warf ich mich aufs Bett. "Warum musstest du das auch sagen!", jammerte ich und gab erstmal Rose die Schuld dafür.

"Tut mir Leid", sagte sie und schloss die Tür ab. „War nicht meine Absicht."

"Schon gut. War ja nicht wirklich deine Schuld. Ich hätte mir einfach eine andere Reaktion erwartet", sagte ich betrübt.

"Ich auch, wenn ich ehrlich bin. Ich meine, du redest über niemanden sonst mit einem solchen Respekt und Hingabe und Gefühl und ja, auch Liebe. Dir liegt halt etwas an ihm. Er sollte sich wirklich geehrt fühlen", sagte sie.

"Tu nicht so, als wäre ich etwas Besonderes, sondern knuddel mich!", forderte ich und öffnete meine Arme. Sofort zog sie mich in eine Umarmung.

"Krass. Du bist ja ganz schön liebesbedürftig in letzter Zeit", sagte sie lachend.

"Hey, das ist erst das zweite Mal!", rechtfertigte ich mich.

"Zwei Mal mehr als normalerweise", gab sie kichernd zurück.

"Halt die Klappe und knuddel mich einfach", sagte ich und gab ihr einen Klaps auf den Hinterkopf. Kurz darauf war ich eingeschlafen.

 

 

Als ich aufwachte, war es dunkel. Ich hatte diesmal verdammt gut geschlafen, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass ich nicht gerne alleine im Dunkeln war. 

Ich wollte mich aufsetzten, wurde aber von zwei Armen zurückgehalten. Zuerst dachte ich, es wäre Rose, aber dann hörte ich eine männliche Stimme, die ich nicht richtig erkannte, weil ich noch etwas verschlafen war.

"Schlaf weiter, Lilly."

Ich bekam Panik. Was, wenn da irgendein Typ in meinem Bett lag? Oder - wenn ich mal ganz paranoid war - der Typ mich entführt hatte, mir K.O. Tropfen gegeben hatte, mich dann zu sich in einen dunklen Keller gesperrt hatte und mich schon vergewaltigt hatte? Das wäre schlimm. Schlimm, aber unwahrscheinlich.

"Ehem.. wer bist du?", fragte ich.

"Was, erkennst du mich nicht?", lachte er. Es war Tobi! Puh, mir fiel ein Stein von Herzen.

"Doch, klar. Wie spät ist es?", fragte ich verschlafen.

"Keine Ahnung, zwei Uhr morgens? Du kannst ruhig noch schlafen, für mich wäre das auch keine schlechte Idee. Und es tut mir Leid, dass ich gelacht habe, als mir Rose das erzählt hatte. Ich dachte nur, dass sie einen Witz gemacht hatte, es freut mich natürlich, dass du mich vermisst hast. Ich dich nämlich auch. Weißt du, ich wollte dich eigentlich besuchen kommen, aber dein Dad hat mir die Adresse nicht gegeben und dann waren wir auch noch weggezogen und..-"

"Ist schon O.K. Schlaf jetzt", beruhigte ich ihn und kuschelte mich an ihn. So schliefen wir wieder ein, und eins hatte ich dazu gelernt: Wenn ich beim einschlafen mit jemandem kuschle, dann hab ich keine Albträume und schlafe deutlich besser!

 

 

 

 

***

 

 

 

 "Guten Morgen, aufstehen!", flüsterte mir eine Stimme ins Ohr.

"Keine Lust. Geh verrecken!", nuschelte ich verschlafen und drehte mich auf die andere Seite, weg von der Stimme.

"Es ist aber Schuleeeee", raunte die Stimme fröhlich zurück.

"Ich will nicht in die Schuleeeee", grummelte ich zurück.

"Ich schätze, dann habe ich keine andere Wahl!", rief er aus und fing an mich zu kitzeln. Schade nur, dass ich nicht kitzelig war. "Ha-ha", spottete ich und kniff Tobi in die Seite.

"Schätze...dann muss ich dich fressen!", sagte er und stürzte sich auf mich. Dann knabberte er doch tatsächlich an meinem Hals! Und mal ehrlich: Das kitzelte wirklich! Ich kicherte.

"Schon gut, schon gut. Ich steh ja schon auf", sagte ich immer noch kichernd und erhob mich.

"Endlich!", rief Tobi aus und erhob sich ebenfalls.

Ich ging zum Schrank und suchte mir ein paar Klamotten raus. Dann drehte ich mich zu Tobi um, der mich anstarrte. "Was?", fragte ich verwirrt und sah an mir herab. SCHEIßE! Ich hatte am Vorabend einen Pyjama angezogen, der mir nur bis zu den Ellenbogen gegangen ist. Tja, der ist hochgerutscht und gab somit freien Blick auf meinen linken, vernarbten Oberarm. Schnell zog ich den Ärmel wieder runter, aber es war eh schon zu spät. Er hatte es schon gesehen. Ich räusperte mich. "Bitte geh jetzt."

"Wieso?", erwiderte er tonlos.

"GEH EINFACH!", sagte ich, kurz davor auszuticken. Gleich würde ich auch noch losheulen, ich wollte nicht, dass er es jemals sieht. Und er hatte es gesehen, jetzt fand er mich hässlich. und das wollte ich nicht, er war die einzige Person, bei der es mir nicht egal war, was er über mich dachte.  Er ging langsam zur Tür, betrachtete mich aber vorher noch einmal mit einem seltsamen Blick, den ich nicht deuten konnte. Vermutlich findet er mich jetzt abscheulich, eklig, hässlich, unausstehlich, widerwärtig, grauenhaft, scheußlich, elendighaft-Furchtbar! "Okay, alles gut. Nur nicht heulen, dann denkt er es wäre dir egal. Es ist dir ja auch egal, Lilly. Vollkommen egal, was interessiert es dich, was er über dich denkt? Genau, gar nichts. Es ist alles okay, alles beim alten", flüsterte ich mir beruhigend zu. Vielleicht klang das verrückt, aber es half. Ich riss mich zusammen und zog mich an.

 

Unten angekommen war ich alleine. Niemand da, kein Dad, kein Dave, kein Tobi.

Ich sah zur Uhr und bemerkte den Grund: Ich war verdammt spät dran! Ich sprintete zur Tür, nahm im vorbeirennen noch meinen Rucksack und beeilte mich, zur Schule zu kommen. Ich weiß, ich weiß. Ich bin seltsam. Es interessierte mich nicht, dass ich gute Noten habe oder aufpasse, aber es interessiert mich halt, dass ich rechtzeitig zur Schule komme. Aber auch nur, weil ich ja mal was Cooles (Na klar, *zwinker*) verpassen könnte, man weiß ja nie. Und meinem Dad zu liebe wollte ich mich wenigstens ein bisschen bemühen.

Also lief ich mit vollem Tempo zur Schule und schaffte es sogar noch, vor dem Klingeln in der Klasse zu sein. Nur halt völlig außer Atem. 

Ich warf mich auf meinen Stuhl und musste erstmal verschnaufen. Dann kam schon der Lehrer und wir hatten den langweiligsten Unterricht seit ich an der Schule war. Im Ernst, sterbenslangweilig!

 

Als wir Unterrichtsende hatten, ging ich schnellen Schrittes nach Hause. Ich wollte jetzt erstmal alleine sein, vor allem aber wollte ich Tobi nicht sehen. Oder Phil. Oder Luke. Oder Dave. Oder Matt. Da fiel mir auf, dass ich den Typen eine Weile nicht gesehen hatte. Wo der wohl steckt? Aber egal, das ist nicht mein Problem. Ich zog mein Handy aus meinem Rucksack und wählte Roses Nummer.

"Hallo, Lilly! Einen wunderschönen guten Tag, wie geht es dir denn?", begrüßte sie mich fröhlich. Ich tippte darauf, dass sie gerade was mit einem Typen hatte, danach war sie nämlich immer so gut drauf.

"Es geht mir super", gab ich ebenso fröhlich zurück. Sie wusste eben immer wenn was mit mir los war.

"Was ist passiert?", fragte sie ernst.

Ich ging durch die Haustür. "Tobi. Er hat es gesehen."

"Du meinst deinen Arm?", fragte sie schockiert.

"JA! Rose, was soll ich jetzt machen? Er hätte es nicht sehen sollen, ich meine nicht mal Dad und Amy haben es gesehen."

"Weißt du.. Vielleicht findet er es gar nicht so schlimm", versuchte sie mich zu beruhigen. Vergebens.

"Ist klar, und ich bin Angelina Jolie. Er findet mich jetzt hässlich, und ekelhaft. Gott, Rose! Wenn ich mich selbst sogar abstoßend finde, was denken dann andere von mir?"

"Sie denken, dass du wundervoll und stark bist."

"Rose, ich meine es ernst!"

"Ich auch."

"Du nervst", sagte ich gerührt. Ich hatte Rose einfach lieb, und sie wusste dass das ein Kompliment war.

"Ich dich auch, Süße."

"Danke. Ich leg jetzt auf und geh verrecken." Ich legte auf, ohne auf ihre Widerworte zu hören.

Ich ging in die Küche und schnappte mir einen Apfel. 

Wird Tobi mich jetzt hassen? Mich verachten? Mich nie wieder eines Blickes würdigen? Oder wird er es allen erzählen? Ja, er wird es vermutlich allen sagen und sie werden mich alle noch seltsamer behandeln als eh schon. Oder sie wollen alle nichts mehr mit mir zu tun haben. Tobi vor allem nicht, weil er weiß dass die Narbe vom Unfall ist.

"Darf ich sie sehen?", ertönte Daves Stimme hinter mir.

"Sehe ich etwa aus, wie eine Zirkusattraktion?", fragte ich ihn genervt. Tobi hatte geplaudert, was klar war. Dabei dachte ich, dass Tobi mich irgendwo  vielleicht mochte. Falsch gedacht.

"Ein bisschen."

"Verpiss dich", sagte ich wütend und ging an ihm vorbei die Treppe hoch. Also, eigentlich hatte jetzt ich mich verpisst, nicht er. Aber egal.

"Ist es wirklich so schlimm?", fragte er neugierig hinter mir.

"Ja, stell dir vor, es blutet immer noch. Bist du so dumm oder tust du nur so?", meinte ich sarkastisch.

"Ich tu nur so."

"Wenn du nicht endlich mal aufhörst mich zu nerven, werde ich dich wohl oder übel aus meinem Haus schmeißen müssen."

"Und wie willst du das jetzt wieder anstellen?"

"Ich sagte schon beim letzten Mal, lass es nicht darauf ankommen. Und hör jetzt endlich auf, mich zu nerven", gab ich in einem eindeutig aggressiven Tonfall zurück.

"Warte." Er hielt mich sanft am Arm fest. Am Linken. PFF! Jetzt denkt er auch noch, ich wäre zerbrechlich!

"Lass mich verdammt nochmal in Ruhe, habe ich gesagt!" Ich riss mich von ihm los und stürzte ins Gästezimmer. Darin schloss ich mich dann ein und zog mir meinen Pyjama an.

Tobi hatte es also Dave erzählt. Wem denn noch? Wieso eigentlich? Fand er mich wirklich hässlich? Fand er mich wirklich abstoßend? Ich war doch seine beste Freundin, war es wieder! 

  Aber egal, ich brauche keinen besten Freund. Ich brauche überhaupt niemanden, nur Rose, mehr Freunde brauche ich nicht. 

Es klopfte an der Tür.

"Ich bin's"

Tobi. "Was willst du denn?"

"Mach bitte die Tür auf."

"Ich denk' ja nicht dran!"

"Biiiiiitte!"

Grrr! Wenn er sooo lieb fragt, was soll ich denn machen? Ich machte ihm auf und er zog mich sofort in eine feste Umarmung. Ziemlich überrascht und unbeholfen tätschelte ich seinen Rücken. Eigentlich hatte ich eher einen verachtenden Blick oder so was in der Art erwartet.

"Wieso warst du heute nicht in der Cafeteria? Ich hatte auf dich gewartet um mit dir zu reden, aber du warst nicht da oder?"

"Nein war ich nicht", sagte ich und löste mich aus seiner Umarmung, sperrte dann die Tür wieder ab.

"Jedenfalls wollte ich dir sagen, dass du nicht denken sollst, dass ich dich nicht mehr mag. Weißt du, ich werde dich immer mögen, Narbe hin oder her. Sie ist nicht so schlimm wie du denkst."

Er beugte sich zu mir runter und gab mir einen brüderlichen Kuss auf die Stirn, wie früher wenn er mich beruhigen wollte.

Ich lächelte ein aufrichtiges, fröhliches Lächeln, eines das ich schon lange nicht mehr im Gesicht trug.

"Ich mag dieses Lächeln. Solltest du öfter mal tun."

"Warum weiß Dave davon Bescheid?"

"Weil er gehört hatte wie du mich rausgeschmissen hast, und er ist nun mal sehr neugierig. Und nervig, wenn er etwas wissen will. Also musste ich es ihm sagen, aber er hat versprochen dass er es keinem erzählen wird." Entschuldigend sah er mich an. 

"Ich verzeihe dir. Aber nur dieses eine Mal!"

"Danke."

 

 

 

 

***

 

 

 

 

 

Die Wochen und Monate vergingen, der Winter nahte. Meine absolute Hass-Jahreszeit. Der Schnee ist so widerlich weiß, unschuldig und kalt. 

In der Schule schrieb ich meist durchschnittliche Noten, gerade so viel um zu bestehen. Die Jungs und Penelope sah ich fast jeden Tag, aber wirklich gute befreundet war ich nicht mit ihnen. Nur Rose war, ist und bleibt meine beste Freundin. Manchmal denke ich mir auch, dass Rose etwas für Tobi empfindet, doch sie streitet alles ab. 

Oh, übrigens sind Penelope und Luke immer noch ein Paar, verrückt oder? Aber ich blieb alleine, auch wenn Matt mich ab und zu zu einem Date einlud. Ich sagte eigentlich immer ab. Ich brauchte aber auch keinen Freund.

Andrew sah ich auch nicht wieder, zu meinem Vergnügen, denn auf ein Treffen mit ihm konnte ich gut und gerne verzichten.

Doch es kam der Tag, den ich am liebsten aus meinem Gedächtnis löschen wollte. Es hatte ein paar Tage zuvor angefangen zu schneien und der Schnee lag bereits in dicken Schichten am Boden. Andere fanden es vielleicht schön, mich erinnerte Schnee einfach nur an den Tod.

Dass es schneite, war irgendwie einfach nur Pech, aber mich brachte es zum heulen. Mein Dad machte sich zwar Sorgen um mich, doch ich versicherte ihm, dass es mir gut ging. Und Dave hielt sich sowieso eher fern von mir, damit er mich nicht nervte, er wollte schließlich in unserem Haus wohnen dürfen. Und er glaubte daran, dass ich einen Plan hatte der ihn vertreiben könnte, was ja auch stimmte.

Jedenfalls kam bald der Tag der Tage: der Todestag meiner Mutter und meiner Schwester. Ich heulte am Vortag Rotz und Wasser, die Erinnerungen schmerzten einfach zu sehr. Auch mein Dad wurde immer trauriger, je näher der Tag rückte.

Als dann am Montag der Todestag war, holte ich mein Kleid heraus. Ich zog es seit drei Jahren an diesem einen Tag im Jahr an. Es war vielleicht etwas kitschig und seltsam und ironisch oder so, aber ich machte es trotzdem. Das Kleid war nämlich schneeweiß und langärmelig, es war das Kleid, das ich am Tag des Unfalls trug.

 Naja, es war nicht dasselbe Kleid, ich hatte mir das Gleiche nochmal gekauft, da das andere kaputt geworden war. Und das neue Kleid hatte ich am unteren Rand mit roter Farbe bekleckert, damit es aussah wie Blut. Denn wenn ich schon ein weißes, langweiliges, hässliches Kleid trug, dann sollte es wenigstens irgendwie unnormal sein. Auch wenn schon allein die Tatsache, dass ich etwas Weißes trug, unnormal war.

Ich schlüpfte hinein und guckte in den Spiegel. Meine verheulten Augen glitten verachtend über das hässliche, weiße Kleid. Ich sah furchtbar aus und auch meine Haare waren wie das einer Vogelscheuche, doch ich ließ sie so. Heute musste ich nicht hübsch sein, das verdiente ich gar nicht. Außerdem sah ich eh immer scheiße aus, nur heute eben noch ein bisschen beschissener.

Ich griff mir meinen schwarzen Rucksack vom Bett und öffnete die Zimmertür. Langsam sollte ich Dad mal fragen, ob ich mein altes Zimmer zurückbekomme. Aber heute werde ich kein Wort sprechen, es ist mein persönlicher Tag des Schweigens. Ich sehe es dann als Geschenk an die Menschheit: An einem Tag im Jahr muss niemand mein Geschwafel aushalten.

Ich schritt die Treppe hinab und bemerkte, dass Dad und Dave mich anstarrten. Ich ging nicht auf ihre verwirrten und schockierten Blicke ein und ging einfach zur Tür.

"Willst du denn nichts frühstücken, Liebes?", fragte mich mein Dad, als ich sie schon geöffnet hatte.

Ich zögerte nur eine Sekunde, als Zeichen, dass ich ihn gehört hatte. Da er in der Tür stand, sah er wie ich fast kaum merklich den Kopf schüttelte.

"Aber du wirst etwas in der Cafeteria essen, nicht wahr?", fragte er fürsorglich. Ich wollte ehrlich sein, also schüttelte ich wieder meinen Kopf.

"Aber zu Hause dann."

Wieder ein Kopfschütteln von mir.

"Gott, Lilly! Du musst doch etwas essen!" 

Ohne ein weiteres Wort ging ich, ich drehte mich nicht ein einziges Mal zu ihm um. Wenn ich heute auch nur einen Bissen essen würde, dann würde ich es gleich wieder auskotzen. Diese tolle, schmackhafte Erfahrung habe ich in den letzten Jahren gemacht.

 (Damit meine ich: Es war Amys Idee!)

Ich hatte mir keine Jacke mit nach draußen genommen, da ich sowieso gleich in der Schule sein würde. Aber ich denke es war kalt, es interessierte mich nur hald nicht. 

Aber der Schnee, der interessierte mich. Es gab mir einen Stich im Herzen, die reine, weiße Landschaft zu betrachten. 

Würde ich nicht existieren, würden Mum und Emily noch leben. Sie wären glücklich. Und dann wären auch Dad und Amy glücklich. In Folge dessen wäre auch ich glücklich, selbst wenn ich dann nur als ungeborene Seele herumschwirren würde. Ich wäre glücklicher als jetzt. 

Wie schön es wohl wäre, wieder glücklich sein zu können? Würde ich überhaupt jemals wieder Glück empfinden? Darf ich das überhaupt, nachdem ich Unglück gebracht hatte? Nein, vermutlich nicht. Ich schätze es wäre für alle, damit meine ich Dad und Amy, besser, wenn ich tot wäre. Ich würde unter der Erde liegen und in die Hölle kommen, falls es sowas überhaupt gibt. Vielleicht dürfte ich kurz bevor ich dort hin gehe, nochmal mit Mummy und Emily sprechen. Ich würde mich entschuldigen, auf Knien betteln, dass sie mir bitte vergeben sollen. Sie würden es tun, mich umarmen und küssen. Ich würde Emily wieder sehen, würde wieder mit ihr Puppen spielen und Spongebob angucken. Und ich würde Mummy umarmen und ihr sagen, wie sehr sie doch mit Andrew recht hatte und dass ich für immer auf sie hören würde. Ich würde ihnen sagen, wie sehr ich sie liebe.

Doch dazu müsste ich tot sein. Und ich hätte es an diesem Tag fast, wirklich leider nur fast, geschafft.

In meinen Gedanken versunken, der Blick starr gerade aus - in meine Traumwelt gerichtet - ging ich auf die Straße. Ich hörte noch das Auto, das versuchte zu bremsen, wich jedoch nicht davor zurück. Mein letzter Gedanke galt diesmal nicht, wie traurig Dad und Amy sein werde, er galt einzig und allein...- Dave.

Nein, er galt natürlich nicht ihm, doch er war es, der mich zurückzog. Eine Sekunde später wäre ich schon unter dem Auto gelegen, tot, vermute ich. Ich würde also nicht auf diese Weise sterben.

Nicht heute, nochmal würde ich mich vermutlich nicht vor ein Auto werfen.

"Bist du vollkommen bescheuert geworden?!", schrie Dave mich an, als wäre ich nicht ganz bei Sinnen.

Ich sah ihn mit meinen traurigen, verletzten Augen an und wünschte mir, ich wäre unter das Auto gekommen. Warum musste immer in letzter Sekunde jemand kommen, der mich rettete und davor bewahrte, zu sterben? Sei es nun in Gedanken oder ein Mensch, eins wusste ich jetzt. Nächstes Mal würde ich schneller sein.

Er sah wohl die Todessehnsucht in meinen verdammten Augen, denn seine wurden etwas sanfter.

"Willst du dich etwa umbringen?", sagte er nur im halben Spaß. Ich denke, er dachte das wirklich und es sah ja auch so aus. Aber ich sagte nichts, ich hatte nur einen enttäuschten Ausdruck in den Augen, weil ich immer noch nicht tot war.

Ich drehte mich nur wieder um und ging weiter in Richtung der Schule, als wäre nichts gewesen.

"Okay, sagen wir mal, dass du dich nicht gerade vor ein Auto geworfen hast. Was soll der Fummel den du da anhast? Und warum sagst du nichts?"

Wie er so schön sagte, sagte ich nichts darauf.

"Rede bitte mit mir, Lilly."

Ich ging weiter, achtete nicht auf ihn.

Ich hätte jetzt tot sein können.

Wer weiß, vielleicht wäre ich dann bei Mummy gewesen.

Und bei Emily.

Wenn ich tot wäre.

Wenn ich nicht länger weiter leben würde.

Ich würde nicht in den Himmel kommen, aber vielleicht würde ich einen letzten Wunsch haben dürfen.

Ich würde mir wünschen, nur ein letztes Mal Mummy und Emily sehen zu dürfen.

Ein letztes Mal.

Sie um Vergebung bitten.

Sie umarmen.

Sie küssen.

Ihnen sagen, dass ich sie verdammte Scheiße nochmal liebe, dass ich es nicht wollte, dass wenn ich könnte anstatt ihrer sterben würde! Dass ich mich jeden verdammten Tag verfluche und in Selbsthass bade! Dass ich nur eine leere, geschundene, verwundete Seele bin, die auf den Tod wartet. Ich würde ihnen sagen, dass ich leide und dass ich am liebsten nie geboren worden wäre. Ich hätte ihnen gesagt, dass ich alles für sie tun würde. Aber das werde ich nie können. Denn gäbe es den Himmel, dann würden Mummy und Emily jetzt zu Hause bei Dad und Amy sitzen und lachen. Sie würden fröhlich sein.

"Ehh.. Lilly? Du gehst gerade in die falsche Klasse", erklärte mir Matt freundlich. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich schon in der Schule war, geschweige denn, dass Matt neben mir herging.

Nickend drehte ich mich um und ging diesmal in die richtige Klasse.

"Schickes Kleid", meinte er freundlich, als ich mich gesetzt hatte und nur die Wand anstarrte. Ich machte mir nicht einmal die Mühe auf dieses unehrliche Kompliment einzugehen. Ich wusste ja, dass es scheiße aussah.

"Nein, ehrlich, weiß steht dir."

Ich verengte meine Augen und sah ihn wütend an. Weiß steht mir? Die hässlichste aller 'Farben' passt zu mir? Das war ja klar. Aber es stimmte nicht. Weiß ist unschuldig, rein, liebenswürdig, ich bin blutbeschmiert, dreckig, verabscheuenswert und blutrot.

"Ich, ehh, nehm‘s zurück?", fragte er kleinlaut und sah mich entschuldigend an. Ich drehte mich wieder in Richtung der wundervollen, lieblichen Wand (Haha, ja klar) und starrte in die Luft.

Ich malte mir ungefähr zehntausend verschiedene Arten aus, wie ich mich umbringen könnte, verwarf diese aber wieder.

Ich war aus meinem Selbstmitleids-Rausch gekommen und kam zu dem Entschluss, dass Mummy es nicht gut finden würde, wenn ich mich vor einen Zug werfen würde. Mein Schweigen brach ich trotzdem nicht. Auch nicht, als der Lehrer mir eine Frage über irgendein biologisches-Geschwafel stellte, wobei ich nicht einmal die Frage verstand.

Abwartend sah mich der alte Lehrer an und ich sah im in die Augen. Antworten würde ich jedenfalls nicht, Augenkontakt muss heute reichen. Sonst bin ich auch nicht so der Typ, der im Unterricht aufpasst.

Er seufzte und stellte die Frage einem anderen Mädchen, das daraufhin - ganz Streber like- richtig antwortete.

Als es klingelte, nahm Matt mich am Arm und zog mich in die Cafeteria. Vermutlich hatte ihm Dave von meinem spontanen Selbstmordversuch erzählt und wollte mich jetzt nicht aus den Augen lassen. Sollte mir egal sein. Aber ich würde nichts essen, sonst würde ich gleich die große Kotzerei kriegen, nett ausgedrückt.

"Ah, da ist ja das autoliebende Wesen", scherzte Dave nicht gerade gut. An seinem Humor sollte man feilen. Und an dem Rest am besten gleich mit.

"Immer noch so gesprächig wie vorhin?", wollte Dave sarkastisch wissen. Oh man, war der heute wieder witzig drauf. Ich lach mich tot. Totlachen, das wär wohl eine coole Art zu  sterben. Nicht so schrecklich wie die anderen Arten. Aber vermutlich würde man an einem Bauchkrampf sterben, den den man immer hat wenn man sich schlapp lacht. 

Hmm.. ich hatte schon lange keinen Lachkrampf mehr. Naja, ich hatte überhaupt nicht mehr gelacht, seit.. naja ihr wisst ja schon seit wann.

"Iss etwas", sagte da Tobi und schob mir eine Tüte Pommes zu. Ich schob sie wieder zu ihm zurück, ohne wirklich auf ihn zu achten. Meine Gedanken waren mir heute definitiv wichtiger.

"Bitte ist etwas", versuchte er es wieder. Ich schüttelte meinen Kopf.

"Für mich.. Biiiiitte", sagte er liebenswürdig. Kopfschütteln.

"Bitte bitte mit Sahne oben drauf. Du hast doch sicher Hunger.“

Hatte ich nicht. Ich entschied mich dafür, ihn zu ignorieren.  Hätte ich mal besser nicht tun sollen, denn sonst hätte ich gesehen, dass er mir gerade ein Pommes in den Mund  stecken wollte. Und es sogar schaffte.

Ich kaute es, obwohl mir allein bei dem Gedanken daran schlecht wurde. Heute war mein Magen äußerst instabil, das sollte man nicht herausfordern. Als Tobi von mir abließ, spuckte ich die Pampe auf den Tisch. Es sah ekelig aus, aber besser als wenn da Kotze wäre.

„Man, Lilly! Das ist ja ekelhaft!“,  schnauzte Phil mich an. Ich versuchte währenddessen, meinen Brechreiz unter Kontrolle zu halten. Mir heute essen in den Mund zu stecken, und sei es noch so lecker, ist, als würde man mir ein Stück Hundekacke in den Mund stopfen und von mir verlangen es zu schlucken. Ich weiß, ein ziemlich widerlicher Gedanke und Vergleich, aber so ist es eben. Ich weiß auch nicht wieso. Naja, so halb schon.

„Lilly, bitte iss etwas, dein Dad hat gesagt ich soll dich dazu bringen etwas zu essen. Bitte, nur ein Stückchen.“ , bettelte Dave mich an.

Ich warf ihm einen Blick zu, der besagte „Nur-über-meine-Leiche“.

Daraufhin warf Dave Tobi einen Blick zu, und er nickte daraufhin nur. Was für eine Schwachsinnigkeit hatten die beiden jetzt schon wieder vor? Skeptisch sah ich Tobi an, was mich natürlich ablenkte.  Matt neben mir nutze dies, um mir ein Pommes in den Mund zu stecken und mir den Mund zuzuhalten.

Fuck, dachte ich mir.

„Erst kauen, dann schlucken, dann hast du es geschafft“, sagte Dave in einem besserwisserischem Tonfall.

Ich wollte, dass Matt seine Griffel von meinem Mund nahm, deshalb  tat ich, wie mir befohlen. Dann stand ich würdevoll auf, meine Galle zurückhaltend, und schritt langsam, aber stolz, zu einer der Mülltonnen. Sogleich übergab ich mich in einer. Auch wenn das meiste nur Galle war. Und das vom Vortag, aber näher will ich es wirklich nicht beschreiben.

„Lilly? Was soll das?“, fragte mich Dave besorgt. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er neben mich getreten war.

Ich zuckte mit den Schultern und ging in die Mädchentoilette, um mir den Mund auszuspülen. Dave folgte mir. IN DIE MÄDCHENTOIELTTE! Also echt, wirklich unverschämt.

„Wolltest du deshalb nichts essen? Weil dir dann schlecht wird?“, wollte er wissen.

Ich nickte.

„Warum bist du dann denn nicht zu Hause geblieben?“, tadelte er.

Ich zuckte die Schultern. Was sollte ich darauf schon antworten? Also, abgesehen davon, dass ich heute nichts sagen würde.

„Dann bringe ich dich jetzt nach Hause“, meinte er fest entschlossen. Ich schüttelte den Kopf.

„Und ob. Alleine lasse ich dich auf jeden Fall nicht gehen, hierbleiben solltest du aber auch nicht.“

Ich seufzte und folgte ihm nach draußen, wo ein paar Tussis standen und uns geschockt anstarrten. Vermutlich, weil wir gerade GEMEINSAM aus der Toilette gegangen waren.

„Ward ihr beide gerade auf dem Klo? Zusammen!?“, fragte eine der blonden Tussis, mit blauen strahlenden Augen und gestikulierte dabei wild mit ihren pinken, manikürten Fingernägeln. Wie sollte es auch anders sein?

„Ja, waren wir“, erwiderte Dave gelassen und wollte an ihnen vorbei. Doch sie ließen ihn nicht.

„Mit der hässlichen Schlampe da? Die Verrückte? Hat die nicht gerade in den Mülleimer gekotzt?“, fragte sie lachend. „Hast du etwa mit dem hässlichen Ding was am Laufen?“

Was interessierte mich schon, was diese Tussi von mir hält? Na gut, ich fand es nicht nett und es stärkte sicherlich nicht mein Selbstbewusstsein, aber ich ließ mir hoffentlich nichts anmerken. Ohne ein Wort ging ich an ihnen vorbei zur Tür nach draußen.

„Was soll das denn, Sophie? Du bist voll völlig bescheuert im Kopf, ich hab doch nichts mit der! Ich bring sie nur nach Hause.“

Hmpf. Er fand mich also genauso abstoßend wie alle anderen Jungs zuvor. Immer dasselbe. Es ist schon verletzend, ich bin ja nicht aus Stein. Und irgendwie wollte ich schon, dass Dave mich mochte, weil… Ja, warum denn eigentlich? Vermutlich wegen meinem Ego, das wird es sein. Aber es ist sowieso egal, denn er mochte mich nicht. Niemals, vermutlich. Und er hatte es sogar ganz offen zu anderen gesagt. Und ich hatte es gehört. Und warum musste ich jetzt heulen?

Oh, Kacke! Ich heule gerade! Wegen Dave!? Oh mein Gott, ich heulte doch wohl gerade nicht etwa wegen ihm, oder? Oder doch?

Nein, dachte ich entschieden. Das sind nur meine Hormone, die da mit mir durchgehen. Einfach immer alles auf die Hormone schieben.

 „Ist alles okay, Lilly?“, fragte Dave, als er zu mir aufgeholt hatte. Natürlich bemerkte er, dass ich weinte. Ich hatte natürlich nicht das Glück, dass er doch einfach abgehauen war, oder so. Nein, er wollte die hässliche, verrückte, dumme Lilly trotzdem nach Hause bringen.

„Lilly?“, fragte er wieder. „Was ist los? Ist dir schlecht?“

Ich sagte nichts und ging einfach stur den Weg zu meinem Haus. Wie gerne hätte ich ihm jetzt gedroht, mich nicht zu nerven, weil ich ihn sonst aus dem Haus vergrault hätte. Aber ich brach mein eisernes Schweigen nicht.

„Jetzt antworte mir endlich!“, schrie er mich an. Unter seiner Stimme zuckte ich zusammen.

„Entschuldige, aber könntest du nicht endlich etwas sagen?“, fragte er halb entschuldigend, halb genervt.

Wortlos griff ich nachmeinem Handy, und schrieb Rose eine SMS.

„Erklär dem Deppen, warum ich heute einen Scheißdreck reden werde. Und dann sagst du ihm von mir, dass er sich für den restlichen Tag verpissen soll. Ich will alleine sein.“, schrieb ich in die SMS an Rose.

Sie schrieb ein einfaches  „Okay“  und rief mich am Handy an. Ich reichte es Dave, der es verwundert entgegen nahm. Dann ging ich durch die Haustür und ging ins Gästezimmer, um zu trauern. Ich wollte um meine Mutter weinen.

Meine Mummy hatte meine Tränen verdient, mehr konnte ich ihr nicht geben. Außer meiner ewigen Liebe zu ihr, und dem Schuldgefühl, das ich rund um die Uhr, Tag für Tag für Tag, für den Rest meines Lebens haben werde. Es wird nie weg gehen. Es hat sich in mein Herz, mein Hirn und meine Seele gebrannt. Ich weiß, dass ich Schuld an dem Unfall war, egal was Amy und Dad sagen. Ich werde immer Schuld daran sein, wer denn sonst? Wenn nicht ich, wer dann? Na gut, der Schnee höchstens, aber das wäre verrückt, dem Schnee die Schuld zu geben. Und dieser andere Autofahrer, der war auch nicht Schuld.

Nein, es war ganz alleine meine Schuld. Und Andrews. Ja, es war auch Andrew! Dieses miese Arschkind! Hätte er mich damals nicht zu der Party gebracht, gegen meinen Willen abgefüllt, dann angetatscht, wäre alles nicht passiert. Oder wenn Tobi nicht dagewesen wäre, und ich einfach meinem Schicksal ergeben gewesen wäre, dann würden sie noch leben. Und wäre ich mit Andrew nicht zusammen gekommen, wäre es auch nicht passiert.

So oder so, es läuft eh immer auf mich hinaus. Daran wird man auch nichts ändern können.

Ich ließ meinen Tränen freien Lauf und nach kurzer Zeit musste ich schon schluchzen. Was nicht gerade häufig vorkam, aber seit ich hier war öfter als sonst. Vermutlich, weil ich mit diesem Haus meine Erinnerungen verband. Immerhin geschah nicht einmal zwei Kilometer von hier der Unfall, damals. Vor drei Jahren. Der Unfall, der mein Leben veränderte. Also, seelisch, meine ich.

Die Tür ging auf. Ich bin so eine Idiotin! Immer vergesse ich, diese scheiß Tür abzuschließen!

Dave kam herein und legte mein Handy auf das Nachttischchen, dann setzte er sich unschlüssig neben mich ins Bett.

„Das mit deiner Mutter und deiner Schwester.. Tut mir Leid, ich wusste nicht dass es heute vor drei Jahren war. Ich hätte nicht so aufdringlich sein sollen.“

Ja, das hätte er nicht sein sollen. Und er sollte jetzt schleunigst aus dem Zimmer verschwinden, bevor ich dafür sorgen werde! Deshalb gestikulierte ich ihm, dass er das Weite suchen soll. Was er nicht tat.

„Kann ich was für dich tun?“, fragte er freundlich. Wieso war er denn jetzt wieder freundlich? Den Typen werde ich nie verstehen. Obwohl, vermutlich wollte er nur verhindern, dass ich ihn aus dem Haus schmeißen werde.

Ich nickte auf seine Frage.

„Was denn?“, fragte er mich wieder genauso nett.

Ich zeigte wieder auf die Tür und auf ihn, was ihm zeigen sollte, dass er sich verpissen soll.

„Nein, ich werde hier bleiben. Außerdem wollte ich wissen, was bei dem Unfall passiert ist. Ich bin so neugierig!“, sagte er gespielt erwartend.

Ich war wütend. Ich wollte nicht reden. Ich wollte nicht, dass er oder sonst jemand es jemals weiß. Ich wollte doch nur einen Tag lang meine Ruhe haben. Einen dummen Tag lang. Ist das zu viel verlangt? Verdiente ich das denn nicht, einfach mal um meine Mummy und um Emily zu trauern?!

„VERPISS DICH ENDLICH!“, schrie ich ihn an. Damit brach ich mein Schweigen, was mich eigentlich noch wütender machte.

„Nein, ich werde bei dir bleiben“, sagte er vollkommen ruhig. Wieso ließ er sich nicht von mir aus der Ruhe bringen? Warum hatte ich nicht ruhig bleiben können? Wieso nicht?

Ich bin eine dumme Kuh.

 Ich schaffe nichts.

Ich schaffe es nicht einmal, meine Ruhe zu bewahren.

 Ich schaffe es nicht, mich gegen Andrew zu wehren.

 Ich schaffe es nicht, gegen Rose im Training zu gewinnen.

Ich schaffe es nicht, meine Narbe versteckt zu halten.

Ich schaffe es nicht, meine Fassung zu bewahren.

Ich schaffe gar nichts.

Ich bin ein Nichtsnutz, den niemand braucht, den alle für dumm und verrückt halten, der dumm und verrückt ist, der nicht geliebt wird, und es sich so sehr wünscht…

Erst jetzt merkte ich, dass ich es wirklich wollte. Ich wollte geliebt werden. Ich vermisste es, Körperkontakt mit jemandem zu haben. Denkt jetzt nicht, dass ich notgeil war und auf Sex Lust hatte. Nein, ich wollte nur, dass mich jemand umarmte. Und dass jemand vielleicht sogar dabei meinen Rücken tätschelte.

In einem Moment, in dem Mein Hirn aussetzte, fiel ich Dave um den Hals und umarmte ihn. Im Bett. Und dabei heulte ich. Und ich schluchzte dabei.

Aber es machte ihm nichts aus. Er drückte mich an sich und streichelte mir beruhigend den Rücken. Er hatte mich nicht weggestoßen, er lachte mich nicht aus, nein, er streichelte mir über den Rücken. Er lag nur da und tat nichts weiter als mich zu umarmen. Aber es fühlte sich so gut an. Ich beruhigte mich allmählich und wurde müde. Ich wollte das eigentlich vermeiden, weil ich an diesem Tag immer die schlimmsten Albträume hatte, aber ich schlief letzten Endes doch ein, während Dave mich immer noch umarmte.

7.Kapitel

Ausgeruht wachte ich auf, und merkte, dass ich auf Dave drauf lag.

„Sorry“, nuschelte ich verschlafen und rollte mich von ihm runter, fiel dabei leider aus dem Bett. Mit einem lauten ‚Rumms‘ landete ich auf dem Boden. Tja, das tat weh.

Dave lachte. „Alles okay? Du musst ja nicht gleich reiß aus vor mir nehmen.“

„Jaja, lach du nur, während ich mit zehn gebrochenen Knochen am Boden liege“, ächzte ich und hievte mich vom Boden hoch. Dabei übertrieb ich natürlich, ich hatte mir nur meinen Kopf gestoßen, aber es war nichts Weltbewegendes. Es war aushaltbar. „Wieso liegst du eigentlich immer noch hier?“, fragte ich möglichst neutral.

„Weil du wieder einmal auf mir drauflagst und ich dich hätte wecken müssen um selbst aufzustehen. Außerdem habe ich auch geschlafen“, sagte er und rieb sich übers Gesicht.

„Aha.“ Ich streckte mich einmal hielt dann aber inne. „Dave?“, fragte ich schüchtern.

„Ja, Kätzchen?“

Kätzchen? Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Dann wurde meine Aufmerksamkeit wieder auf Dave gelenkt, der mich fragend ansah. „Also, ehm … Danke“, sagte ich verlegen, aber aufrichtig. Ohne ihn hätte ich sicher nicht geschlafen in der letzten Nacht, und ich hätte auch nicht so verdammt gut geschlafen.

„Nichts zu danken. Es war dir aber sicher eine Ehre, mit mir im Bett zu landen. Dafür darfst du dich schon bedanken, denn das darf nicht jede“, sagte er überheblich.

Schade, ich dachte er wäre nicht durch und durch verblödet. Meine gute Laune (die nur mäßig vorhanden war), verflog und ich ging zu meinem Kleiderschrank, suchte mir ein paar Klamotten raus und stieg dann unter die Dusche, denn leider war heute trotzdem noch Schule. Auf Dave achtete ich nicht weiter. Er ist eben ein Player.

„Guten Morgen“, trällerte Rose, die gerade Frühstück machte.

„Warum bist du denn hier?“, verlangte ich zu wissen.

„Ich hab dich auch lieb“, sagte sie sarkastisch auf meine nette Begrüßung.

„Jaja, guten Morgen, ich liebe dich und so weiter und so fort. Was tust du hier?“

„Frühstück machen.“

„Ich meine hier im Haus! Gott Rose, treib es nicht zu weit“, murrte ich aufgebracht.

„Ach so. Naja, ich dachte mir, dass du heute wieder wundervolle, fantabulöse Laune hast und da dachte ich mir, dass ich alle hier im Haus vor dir beschützen muss. Und ich hatte natürlich Recht.“

„Sehr witzig, du Nervensäge“, grummelte ich. Ich lauf hier doch nicht mit einer Kettensäge herum und schneide allen die Eier ab, oder sehe ich etwa so aus?

Naja, vielleicht tat ich das wirklich? „Rose, sehe ich so aus, als würde ich mit einer Kettensäge herumlaufen und allen die Eier abschneiden?“

„Natürlich nicht! Du siehst wie immer aus, wie eine wunderschöne Einhorn-Prinzessin. Aber du weißt ja, nach dem gestrigen Tag weiß man nie  und… Sag mal, hast du etwa geschlafen!?“, rief sie schockiert aus und umgriff mein Gesicht mit ihrer Hand. Dabei quetschte sie ziemlich fest.

„Ja, hab ich, jetzt lass mich los!“, brachte ich mühsam hervor, da sie mein Kiefer förmlich zerdrückte.

„Sorry. Aber wie um Gottes Willen hast du das gemacht? Und warum, du hast dich doch immer geweigert? Außerdem scheinst du ja nicht mal schlecht geträumt zu haben“, stellte sie fest.

„Ja, ehm.. Da ist so eine Sache..“ , sagte ich unsicher. Ich war mir eben nicht ganz sicher, ob ich ihr das mit Dave sagen sollte, sie würde das bestimmt falsch auffassen.

„Ich bin also ‚so eine Sache‘?“, erklang es amüsiert hinter mir. „Freut mich zu hören, dass du unser Beisammen sein im Bett so nennst.“ Er wackelte anzüglich mit seinen Augenbrauen.

„Ihr habt..“ Rose riss die Augen auf. „Lilly, der erste..-“

Sofort klatschte meine Hand gegen ihren Mund, damit sie ihre Klappe hielt. Dave sollte nicht wissen, dass ich noch Jungfrau war! Das sollte niemand, naja, außer Rose. Die weiß es schon seit circa drei Jahren.

„Rose, ich habe nicht mit dem Typen geschlafen.“

Verwirrt zog sie ihre Augenbrauen zusammen. Dann leckte sie mit ihrer Zunge meine Handinnenfläche ab.

„Mann, Rose! Das ist echt ekelhaft!“, sagte ich empört und wischte mich an ihrem Pulli ab.

„Aber es hat doch geholfen! Du hast mich losgelassen. Und nun erklärt mir bitte endlich, was los ist. Du hast doch noch nie an diesem Tag geschlafen, oder gegessen, oder geredet oder.. Erklär‘ es mir einfach, dann muss ich nicht so viel herumbrabbeln.“

Ich seufzte resigniert. „Wir haben gekuschelt“, nuschelte ich verlegen und wandte mein Gesicht von ihr ab, damit sie meine aufsteigende Röte nicht bemerken konnte. Ich wurde eigentlich fast nie rot, aber da jetzt sowieso nicht mehr alles normal bei mir läuft, ist das auch egal. Ich meine, ich habe noch nie so viel geheult, gekichert, gegrinst und so weiter, innerhalb von nur so wenigen Monaten.

 „Sag mal, du wirst doch nicht etwa gerade rot!?“, sagte sie schockiert und belustigt zugleich.

„Tu ich gar nicht! Und jetzt hör auf zu reden, ich muss in die Schule“, meinte ich ausweichend und langte nach meinem Rucksack. „Und wenn ich Zuhause bin, will ich was Leckeres auf dem Tisch stehen haben!“, befahl ich gespielt streng.

„Ja,  oh große und mächtige Herrscherin meiner Seele“, erwiderte sie genervt. „Es wird Fischstäbchen geben. Nicht mehr und nicht weniger.“

Ich rümpfte meine Nase. „Kannst du nicht was Essbares machen?“

„Was denn zum Beispiel?“

„Hmm, vielleicht Nudelauflauf?“

„Wenn du ganz lieb bitte, bitte sagst, vielleicht.“

„Bitte, bitte?“, sagte ich so zuckersüß, wie man es nur selten von mir hörte.

„Nein. Es gibt Fischstäbchen, find dich damit ab.“, sagte sie todernst.

Ich grummelte irgendwas vor mich hin, was ich selbst nicht mal richtig verstand, und ging dann nach draußen. Es war schweinekalt, was nicht sonderlich verwundernd war, weil es Winter war.

Ich hatte meine schwarzen Schnürstiefel an, die, die ich eh immer trug, und dazu einen fetten aber hübschen schwarzen Wintermantel. Er war schön warm und flauschig und ich kuschelte mich gleich tiefer rein, als mir der Wind ins Gesicht wehte. Ich kann nur immer wieder erwähnen, wie sehr ich den Winter verabscheue. Kalt, nass, dunkel, kalt, voller Schnee, kalt und das Schlimmste: weiß. Wie ich diese Farbe hasse. Oh, und der Winter war kalt, auch nicht gerade ein Pluspunkt, finde ich.

„Hey“, hauchte mir jemand plötzlich ins Ohr und ich zuckte zusammen.

„Alter, noch einmal und mein Fuß landet zwischen deinen Beinen!“, keifte ich Dave an, der mich belustigt musterte. Dieser Typ war so arrogant, dass er sogar mich übertraf! War das zu fassen?!

Mein Herzschlag beruhigte sich langsam wieder und ich war mir sicher, dass wenn er das öfters tat, ich bald einen Herzinfarkt bekommen würde.

„Warum denn so schreckhaft? Sogar schon im Bett bist du rausgefallen, als du mich gesehen hast“, sagte er amüsiert.

„War ja klar, dass du das lustig fandst.  Und ich bin nicht schreckhaft, aber wenn du mir so nah mit deiner Fresse kommst, da muss man sich ja erschrecken!“

„Das hat mich zu tiefst verletzt und war total unangebracht“, sagte er gespielt gekränkt.

„Es tut mir aufrichtig Leid und es wird nie wieder vorkommen.“ Meine Stimme triefte geradezu vor Sarkasmus.

„Dann bin ich ja froh. Und ich hätte da eine Frage..-“

„-..die ich dir sowieso nicht beantworten werde.“

„-..darüber, was Rose sagte. Ich meine den Satz mit: Lilly, der erste…“, fuhr Dave unbeirrt fort. Und was das Dumme daran war? Das ganze Gespräch war an ihm vorbeigelaufen und er hatte sich natürlich nur diesen dummen, unbeendeten Satz von Rose gemerkt, den sie leider unaufmerksam ausgesprochen hatte. Und war ja klar, dass ich den jetzt ausbaden durfte.

„Sie meinte: Lilly, der erste hässliche Typ den du abgeschleppt hast, musste wirklich Dave sein? Und so weiter und so fort“, sagte ich gelangweilt. Natürlich hoffte ich, dass er darauf reinfiel, aber es muss ja auch glaubhaft rüber kommen.

„Warum glaube ich dir jetzt nicht?“, fragte Dave skeptisch.

„Weil du ein dummer, ungläubiger Junge bist?“, fragte ich gespielt höflich. Dabei bedachte ich ihn mit einem Blick, der aufmunternd wirken sollte.  Aber es war ganz klar, dass das Sarkasmus war.

„Naja, das glaube ich zwar nicht..-“ Weiter kam er nicht, denn ich war ausgerutscht, hatte ihm dabei aus Reflex an den Ärmel gegriffen und somit mit runter gezogen. Bei dieser eleganten Bewegen (Haha, witzig), landete ich ziemlich unsanft auf meinem Hintern, Dave erging es wohl nicht ganz so schlimm wie mir, denn er rappelte sich schneller wieder auf.

„Warum bist du denn jetzt wieder hingefallen?“, fragte er genervt.

„Weiß nicht. Schwerkraft?“, fragte ich zuckersüß.

„Witzig. Aber musstest du mich auch mitziehen?“, fragte er angepisst, während er sich den Schnee von seiner Jacke klopfte. Ich tat ihm gleich, nur klopfte ich meinen schmerzenden Hintern auch ab, was mir ein Grinsen von Dave einbrachte.

„Was?“

„Nichts.“

„Gut“, sagte ich und wollte weiter gehen, als er mich am Arm packte und ich gezwungener Maßen stehen bleiben musste. „Was denn?“, fragte ich augenverdrehend.

„Du hast da noch Schnee“, sagte er süffisant grinsend und klopfte mir den Hintern gründlich ab. Ich ließ es seltsamer Weise über mich ergehen. Das verwunderte ihn wohl.

„Dave?“, fragte ich lieb.

„Ja?“, fragte er erwartend.

Ich kam mit meinem Gesicht seinem näher. Ich spürte, dass er mich küssen wollte. „Du hast da noch Schnee“, schnurrte  ich unter klatschte ihm meine Hand ins Gesicht. Dann ging ich normal weiter und kicherte vor mich hin.

 

 

 

***

 

 

 

Nach der Schule betrat ich die Küche und sofort begrüßte mich der leckere Duft von einem Nudelauflauf. Ich schlüpfte aus meinen Schuhen und meinem Mantel, und betrat die Küche, in der Rose schon mit einem gedeckten Tisch wartete.

„Ich hab Nudelauflauf gemacht“, lächelte sie fröhlich.

„Aber ich wollte doch Fischstäbchen!“, sagte ich trotzig und stampfte mit dem Fuß auf, wie ein kleines Kind.

„Nein, du sagtest doch..-“

„Das war ein Scherz, Kleines. Ich muss dir wohl noch viel beibringen. Danke für das Essen“, sagte ich nett und setzte mich an den Tisch.

„Warum bist du denn so gut drauf?“, fragte mich Rose dann während wir aßen.

„Och, vielleicht weil ich Dave heute eine geklatscht habe“, grinste ich.

„Herzlichen Glückwunsch, gratuliere. Ich würde auch gerne wieder mal jemandem eine klatschen. Das fühlt sich so befreiend an.“, kicherte sie.

„Ich gebe dir die Erlaubnis, ihm eine mitzugeben, wenn er da ist“, sagte ich mit vollem Mund.

„Lilly, wusstest du, dass du dich verändert hast?“

„Ja“, sagte ich nun schlecht gelaunt. Als ob ich das nicht gemerkt hätte.

„Nein, ich meine damit, dass du seit du hier bist, etwas menschlicher bist.“

„Und vorher war ich ein pinker Alien, oder was?“

„Nein, aber du bist viel fröhlicher und freundlicher geworden“, sagte sie und nickte dabei, als wolle sie ihre Worte noch bekräftigen.

„Sag das mal meiner Wange“, murrte Dave und setzte sich zu uns an den Tisch.

Innerlich musste ich immer noch kichern, auch wenn ich nicht ganz wusste, wieso. Vielleicht weil es lustig war? Ja, das klingt ziemlich einleuchtend. Das war es, nicht weil er süß ausgesehen hatte, wie er so verdutzt dastand. MOMENT! Dave ist nicht süß, er ist arrogant, egoistisch und ein mieser Player. Und er kümmerte sich einen Scheißdreck um  mich. Nicht, dass es mich interessierte.

„Warum starrst du mich so an?“, fragte er und blickte mir in die Augen.

„Tu ich das?“, fragte ich ruhig und wandte mich wieder meinem Essen zu.

„Ja, tust du.“

„Rose, wärst du so freundlich?“, ich deutete auf Dave, ohne von meinem Essen aufzusehen. Sie verstand sofort und langte über den Tisch hinweg nach Dave, um ihm eine schallende Ohrfeige zu verpassen. Dave saß nur verwirrt auf seinem Stuhl und hielt sich die Wange. Der peilte auch gar nichts.

„Was sollte das?“, fragte er wenige Sekunden später.

„Lilly mag es nicht, beim Essen gestört zu werden, und ich liebe es, jemandem eine zu klatschen“, sagte sie ohne Umschweife.

„Ihr seid doch verrückt“, murrte er.

„Nee, nur ich“, gab ich beschwichtigend zurück.

„Na da bin ich aber froh!“, meinte er daraufhin sarkastisch und verdrehte die Augen.

„Rose, ich gehe jetzt in mein geliebtes Gästezimmer. Danke für dein gutes Essen, und vorläufig gute Nacht.“ Ich erhob mich.

„Ach, Lilly?“, fragte sie schnell.

„Ja?“

„Nimmst du dein Kuscheltier nicht mit?“, grinste sie und machte ein Kopfnicken in Daves Richtung.

„Bedaure, heute kein Bedarf“, sagte ich kühl und ging die Treppe hoch. Also echt! Da kuschelt man einmal mit einem Typen und Rose hält es mir die ganze vor! Als hätte sie nicht schon viel Schlimmeres mit Männern angestellt. Und mit bedeutend mehr Männern. Vielleicht sogar mit mehreren gleichzeitig… NEIN! Diesen Gedanken wollte ich jetzt sicher nicht zu Ende führen. Ich schüttelte hastig meinen Kopf, um die ziemlich verstörenden Bilder aus meinem  Kopf zu bekommen.

Ich zog mir meinen Pyjama an und schlüpfte dann unter die Decke, wo ich dann auch nach kurzer Zeit einschlief.

 

Die nächsten paar Schultage vergingen eigentlich ziemlich schnell, ich saß wie immer gelangweilt im Unterricht und hab so gut wie nichts von dem verstanden, was die Lehrer versuchten zu erklären. Aber was soll’s!? Die Lehrer gaben sich nicht einmal mehr die Mühe, mir irgendetwas zu erklären. Ich denke, dass mich sogar einer von ihnen einen „Hoffnungslosen Fall“ geschimpft hat. Ich rege mich aber nicht darüber auf, weil sie ja Recht haben. Tobi und Penelope sah ich auch ab und zu, manchmal besuchten sie Dave, aber ich blieb ziemlich oft einfach nur in meinem Zimmer, habe Musik gehört und vielleicht etwas gezeichnet. Ziemlich oft zeichne ich einen Wald, oder Kriegerinnen, einfach weil ich das gut kann. Oh, und ich zeichne meine Mummy, jetzt wo ich sogar damit klarkomme, Bilder von ihr und Emily anzusehen, ohne gleich wieder einen Heulkrampf zu bekommen.

Am Freitag hatte ich gerade einen leeren Zettel in der Hand, da begann ich auch schon meine Mum zu zeichnen. Es würde ein schönes Bild werden, weil ich aus meiner Erinnerung heraus zeichne. Es war nämlich ein Sommertag, und Mum war an diesem Tag ganz besonders glücklich.

Meine Mum war nämlich Autorin. Sie hatte Jahre nur in einem kleinen Büro gearbeitet, was ihr aber gutes Geld einbrachte. Aber an diesem Sommertag hatte sie uns allen, Dad, mir (und sogar Amy war da) erzählt, dass sie ab sofort ihre eigenen Bücher schreiben könnte. Denn meine Mum liebte es schon immer, sich in ihrer eigenen Welt der Bücher zu verlieren.  Sie war so glücklich, und ich werde nie ihr Gesicht von diesem Tag vergessen. Sie sah entspannt, fröhlich, freudig, und so herzensfroh aus –wie ein kleines Kind hatte sie sich gefreut. Und ich würde für immer dieses Gesicht in Erinnerung behalten.  Sie war zwar nämlich immer nett und ausgeglichen, aber an dem Sommertag war es hundert Mal stärker gewesen.

Wie von selbst fuhr der Stift über das Blatt und hinterließ die feinen Gesichtszüge meiner Mum. Langsam aber sicher nahm das ganze Gestalt an, und in ihren Augen spiegelte sich die Liebe, die sie für uns empfand. Meine Mummy war einfach die beste und schönste Mum der Welt! Und sie ist es für mich noch immer.

Als ich fast fertig war, klopfte es an der Tür. Nachdem ich gedankenversunken ein „Herein“, oder so gemurmelt hatte, steckte Tobi seinen Kopf durch die Tür

„Es ist Freitagabend und du hockst einfach in deinem Zimmer rum?“, tadelte Tobi mild.

„Ich ‚hocke‘ nicht in meinem Zimmer rum, ich zeichne. Dass ich dabei sitze, ist reiner Zufall“, sagte ich trocken, während ich weiter zeichne.

„Zeichnest du Herzchen und Strichmännchen?“, ertönte Daves Stimme spöttisch durch die Tür.

„Woher wusstest du das?“, fragte ich sarkastisch, aber es klang nicht ganz so bösartig, weil ich in Gedanken immer noch bei meiner Mutter war.

„Dave, halt den Rand.“ Er wandte sich wieder mir zu „Wir wollten dich fragen, ob du zu uns ins Zimmer kommen willst? Penelope ist auch da, und Rose kommt auch bald.“

Rose kommt auch? „Wieso kommt Rose und woher weißt du das?“, meinte ich leicht verwundert.

„Ehm, ich habe sie angerufen?“, fragte er schüchtern und seine Wangen wurden leicht rot.

Tobi wurde rot? Ich ehm.. weiß wirklich nicht was ich davon halten sollte. Hatten die zwei was miteinander? Mochte Rose ihn? „Naja, dann komm ich halt mit. Aber ich werde drüben weiter zeichnen, wenn mir zu langweilig wird.“

„Okay.“

Ich stand langsam auf und nahm mir meine fast fertige Zeichnung mit. Draußen warteten Tobi und Dave und gingen neben mir her.

„Was zeichnest du wirklich?“, fragte Dave dann neugierig im Zimmer. Dort waren schon Penelope, Phil und Luke.

„Herzen und Strichmännchen“, gab ich in ernstem Tonfall zurück.

„Nein, jetzt ohne Scheiß“, gab er gelassen zurück.

„Geht dich nichts an“, gab ich leicht gereizt zurück. Ich hatte meine Periode bekommen und war ziemlich gereizt. (Noch gereizter als sonst!)

„Ich bin daaa-haaa!“, trällerte Rose fröhlich und kam tänzelnd ins Zimmer, setzte sich dann zu uns auf die Couch. „Werden wir jetzt ‚Flaschen Drehen‘ spielen?“, fragte sie munter wie immer.

„Klar. Du fängst an“, sagte Dave und reichte Rose die Flasche.

Sie nahm ordentlich Schwung und die Flasche zeigte auf... mich. Was ja irgendwie sowas von klar war. Innerlich seufzte ich. „Wahrheit oder Pflicht?“, fragte Rose süß.

„Pflicht“, murrte ich.

„Okay. Küss Dave.“

„Nein.“

„Doch.“

„Nö.“

„Es ist aber deine Pflicht, Lilly!“

„Mach ich aber nicht.“

„Lilith Hope Miller! Und ob du das machst! Oder willst du, dass ich böse werde?“

„Wenn du mich nicht vergraulen willst, lässt du dir was anderes einfallen“, gab ich ruhig zurück und stand auf, setzte mich dann in eine Ecke des Zimmers und fing an zu zeichnen.

„Manchmal bist du einfach viel zu stur!“, sagte Rose eingeschnappt. „Aber dann zeigst du uns eben deine Zeichnung als Pflicht.“

„Die ist aber noch nicht fertig, und auch nicht interessant“, murrte ich. Eigentlich wollte ich ja nicht, dass die Jungs das sehen. Dann halten sie mich für eine Mama-Abhängige Heulsuse.

„Zeig sie trotzdem her.“

Also rang ich mich auf die Beine, ging zurück zur Couch und hielt die Zeichnung meiner Mum in die Mitte. Es fehlten nur noch wenige Details, sonst war die Zeichnung schon komplett. Ich fand sie gut gelungen. Also, theoretisch.

„Wow“, meinte Luke dann.

„Ist das deine Mum?“, fragte Phil leicht fasziniert.

„Hm“, sagte ich zustimmend und etwas verlegen. Dann nahm ich es wieder und legte es weg, sodass es sicher vor ihrem Blicken war. Gleich würden sie mich auslachen, da war ich mir sicher. Oder sie fanden, dass ich schlecht zeichnete, was noch schlimmer war. Ich zog schon meinen Kopf ein, zur Sicherheit.

„Das ist… echt gut gezeichnet!“, gestand Penelope freudig und strahlte mich an. „Wo hast du gelernt, so gut zu malen undso?“

„Ehm.. habe ich mir selbst beigebracht? Und naja, Großteils auch Amy“, gestand ich dann.

„Also, ich finde du kannst das echt toll. Besser als ich allemal!“, grinste dann auch Tobi. Die anderen grinsten daraufhin.

„Ist ja auch nicht sonderlich schwer, besser als Tobi zu zeichnen. Wenn er versucht eine Person zu zeichnen, sieht das meistens aus wie ein Baum“, lachte Dave.

„Wie ein Baum?“, kicherte ich. „Bist du echt so schlecht?“, sagte ich an Tobi gewandt. Keine Ahnung was ich daran jetzt wieder so lustig fand, Tatsache ist aber, dass es so war.

„Naja… nein? Na gut, doch schon.“

„Okay, dann darf ich jetzt die Flasche drehen. Yeah“, sagte ich sarkastisch. Ich mochte dieses ‚Wahrheit oder Pflicht mit Flasche‘ noch nie. Ich gab der Flasche Schwung und sie fiel auf Tobi.

„Wahrheit oder Pflicht?“, fragte ich ruhig.

„Ehm… Pflicht.“

„Ich will, dass du Rose küsst. Mit Zunge. Aber bei mir gibt es keine Widerrede“, sagte ich ernst. Ich hatte nämlich bemerkt, wie oft er zu Rose rüber schielte, was sie auch immer tat. Ich tat den beiden also nur einen Gefallen.

Rose zuckte die Schultern und drehte sich erwartungsvoll zu Tobi um, der sich ihr schüchtern näherte. Das sah fast schon zu süß aus, wie er ihr die Hände an die Wangen legte und sie sanft zu sich zog. Dann küsste er sie, aber als sie die Zunge einsetzten, musste ich echt nicht weiter hinsehen. Aber eins kann ich schon noch sagen: Ich bin echt eine gute Freundin! Für beide! Das kann ich sagen, ohne überheblich zu wirken, weil es den beiden anscheinend gefällt.

Grinsend lehnte ich mich etwas zurück.

„Du hast wohl ein ganz tolles Händchen für sowas“, flüsterte Dave mir von der Seite amüsiert zu.

„Manchmal“, flüsterte ich zurück. „Passiert aber nicht oft“, fügte ich noch hinzu.

Dann hörten die zwei auf, sich gegenseitig ihre Gesichter voll zu schlabbern.  Tobi nahm die Flasche und drehte sie wieder. Und auf wen fiel sie? Natürlich auf mich. Innerlich stöhnte ich genervt.

„Wahrheit“, sagte ich, ohne dass er mich fragen musste.

„Okay. Alsooo… da ich sowas wie dein Bruder bin, muss ich mit vollem Ernst fragen, wie viele Jungs du schon hattest“, sagte er mit vollem Ernst. Und das mit dem Bruder stimmt. Er ist immerhin mein aller bester Freund seit dem Kindergarten.

„Komm schon! Hast du nichts Besseres im Kopf, als das? Außerdem geht es dich einen Dreck an“, sagte ich ausweichend.

„Nein, du kannst dich außerdem nicht jedes Mal davor drücken, deine Pflichten und Wahrheiten zu erledigen.“

„Bei dreißig habe ich aufgehört mitzuzählen“, log ich.

„Lilly!“, sagte Rose mahnend. Sie wusste schon die Wahrheit.

„Ich weiß nicht. 32-34?“, versuchte ich es weiter und sah Rose flehend an. Diese schüttelte nur den Kopf.

Das war also der Dank dafür, dass ich ihr einen wundervollen Kuss mit Tobi gebracht habe! Wenigstens weiß ich jetzt, dass ich sowas nie wieder tun werde.

„Kannst du dir das nicht denken, Tobi?“, fragte ich ihn verzweifelt. Irgendwie war es mir ja schon peinlich, und ganz sicher wollte ich nicht, dass die anderen wissen, dass ich noch Jungfrau war.

„Wenn ich ehrlich bin, nein.“

„Du kannst es dir nicht denken? Nicht mal wenn ich dir auf die Sprünge helfe? Also gut: Andrew…?“, sagte ich das Stichwort und sah ihn hoffnungsvoll an.

„Das heißt also…“

„Genau“, sagte ich, damit er den Satz nicht vollenden konnte. Auch wenn es die anderen vermutlich kapiert hatten.

„Naja, das verstehe ich“, sagte er und lächelte mir aufmunternd zu.

„Was ist denn mit Andrew? Wer ist das? Dein Freund?“, fragte Penelope.

„Nein, ein riesengroßer Arsch, den ich gerne tot in einem unbenutzten, verfallenem Lagerhaus liegen sehen würde. Am liebsten qualvoll langsam verreckend, während die Ratten an ihm rumknabbern“, sagte ich dunkel. Ich klang wohl wie ein Psychopath, denn sie alle sahen mich erschrocken an, nur Rose und Tobi nicht, weil sie Bescheid wussten.

„Wieso denn?“, fragte Dave dann neugierig.

"Halt gefälligst deine Fresse. Das hast du davon, dass du mich nie rangelassen hast und warten wolltest!"

Seine Hand fuhr runter zu meinen Brüsten und strich darüber. Von da an weinte ich leise vor mich hin. Es war sowieso keiner da, der mich gehört hätte. 

Seine Hand fuhr unter mein T-Shirt und ich begann noch heftiger zu weinen als eh schon. "Bitte hör auf", flüsterte ich und hätte er mich nicht an meinen Händen gehalten, wäre ich zusammengesackt.

„Ich will nicht darüber reden“, flüsterte ich leise. Niemand sagte etwas also stand ich auf und räusperte mich. „Ich werde jetzt meine Zeichnung fertig machen. Tschüss.“

Dann ging ich in mein Zimmer und sperrte mich ein.

 

8.Kapitel

Ich stand an einem Fluss. Und obwohl es Winter war, das Gras und die Bäume um den Fluss herum mit Schnee bedeckt waren, war der Fluss nicht zugefroren. Das war schon etwas seltsam, da der Bach nicht irgendwie ziemlich schnell floss oder so. Aber ich kümmerte mich nicht darum und setzte mich in den Schnee. Ich beobachtete den strahlend blauen Himmel und entspannte mich etwas. Doch das hielt nicht lange an.

Die Wolken verdunkelten sich blitzartig. Sie wurden grau und dunkel und bedeckten den ganzen Himmel. Der Wald um den Bach herum erschien mir nun nicht mehr friedlich, sondern gefährlich und dunkel. Dann flüsterte eine Stimme in mein Ohr. „Jetzt kann ich zu Ende führen, was ich damals leider nicht geschafft habe.“

Ich zuckte vor seiner Stimme erschrocken zurück. Es war Andrew. Ich drehte mich zu ihm und blickte in sein hämisch grinsendes Gesicht. Ruckartig stand ich auf und wich einige Schritte vor ihm zurück, stolperte dabei aber über einen Stein. Mit den Händen versuchte ich den Sturz abzufedern und platschte dabei in den Bach hinein. Meine Hände und mein Hintern taten mir weh, aber ich konnte Andrew die ganze Zeit beobachten, auch wie er mich auslachte.

Ich wollte aus dem Wasser aufstehen, aber das Wasser war zu rutschig. Da bemerkte ich, dass meine Hände bluteten. In dem Moment kam noch eine Person aus dem Wald, es war eindeutig eine Frau. Und dann erkannt ich, dass es meine Mutter war! Ich wollte wieder aufstehen, sie umarmen, aber ich konnte nicht. Es war, als würde mich das Wasser fesseln. Wasser, obwohl ich mich sonst darin befreit fühlte. Es war nun meine Falle.

„Wag es nicht, aus dem Wasser zu kommen. Du sollst in deinem dreckigen Blut verrecken!“, rief sie wütend aus und ging mit Andrew zurück in den Wald.

Verwirrt über ihre Aussage sah ich zu meinen Händen hinab. Sie lagen in dem kalten Wasser, von dem ich seltsamerweise nicht fror. Aber das Blut wusch sich langsam aus meinen Handflächen. Doch statt dass das Wasser es fort trug und es verdünnte, blieb es da, und das Wasser färbte sich langsam rot. Und das, obwohl es ein ziemlich langes Flüsschen war. Er färbte sich nach und nach blutrot und ich musste darin sitzen, ich konnte nicht aufstehen.

Das Wasser stieg und ich drohte zu ertrinken. Meine Hände taten weh, und ich konnte nichts gegen das steigende Blut machen.

 

Ich schreckte aus meinem Albtraum hoch und blickte mich in dem Zimmer um. Gott sei Dank war es schon hell. Ich stand aus dem Bett auf und merkte, dass meine Kehle wie ausgetrocknet war.

Ich tapste die Treppe runter, glücklicherweise war es Samstag und ich musste jetzt nicht auch noch in die Schule. Einen Albtraum hatte ich in letzter Zeit nämlich nicht mehr, also jedenfalls nicht so schlimm. Schon gar nicht von Andrew.

Ich nahm mir ein Glas und füllte es mit kaltem Wasser. Gierig trank ich es in großen Schlucken aus und wollte noch etwas nachfüllen. Dabei stieß ich mir aber den Ellenbogen und ließ aus Versehen das Glas fallen. Es klirrte laut und zerbrach natürlich, kaum hatte es den Boden berührt.

Leise fluchend kniete ich mich nieder und sammelte die größten Scherben mit den Händen auf. Ich hatte gerade vor, mir eine große Scherbe zu nehmen, als mich eine murrende Stimme fragte: „Was war das?“

Ich erschrak und schnitt mir aus Versehen in die Handfläche. Ich unterdrückte ein leises Aufschreien und beobachtete, wie das Blut langsam aus meiner Hand auf den Boden tropfte.

Wie in meinem Traum, schoss es mir in den Kopf. Ich saß nur regungslos da und beobachtete meine Hand, und das Blut.

„Hey, alles in Ordnung?“, fragte Dave dann und sein Blick fiel auf meine Hand. „Scheiße! Lilly, komm wir verbinden das“, meinte er aufgebracht und zog mich sanft auf die Beine.

 Ich ließ ihn mich mit sich ziehen, es war mir sowieso egal. Ich beobachtete  das Blut, wie es in meiner Hand einen kleinen Fluss bildete. (Natürlich nicht viel, einfach nur da, wo der Schnitt war) Aber es machte mir Angst, meine Hand zu sehen. Das mag ziemlich dumm klingen, aber wenn man gerade von Andrews hässlicher Visage geträumt hat, im Zusammenhang mit einer blutigen Hand, dann kann das schon mal passieren.

Aber auf seltsame Weise fand ich das Blut nicht nur beängstigend, sondern auch schön. Der Schmerz war mir nicht egal, er war willkommen. Ich hätte viel mehr Schmerz verdient als das, damals schon, beim Autounfall. Ich hätte jämmerlich verbluten sollen, sterben sollen, nicht meine kleine Schwester. Auch nicht meine Mummy. Sie hatten es nicht verdient, ich dagegen schon. Warum gerade ich überlebt hatte, wusste ich sowieso nicht. Ich verstand es nicht, tue es immer noch nicht, ich wollte es auch nicht und will es immer noch nicht. Aber ich kämpfe mich durch meine Schuldgefühle, Tag für Tag, einfach weil ich sie verdient habe. Ich muss immerzu an Dad und Amy denken, daran dass sie nicht glücklich darüber wären, wenn ich tot bin, selbst wenn ich es nicht verstehe. Und ich verstehe es wirklich nicht. Ich war Schuld, und die zwei lieben mich trotzdem noch, denke ich zumindest. Das sagen sie mir manchmal, und doch fühlt es sich an wie eine Lüge. Es mag ja sein, dass ich trotzdem noch Amys Schwester und Dads Tochter bin, aber sie lieben mich nicht so sehr wie früher.

Ich verstehe sie, und doch wünschte ich mir es wäre anders. Sie sollten mich hassen. Aber ich wünschte sie würden mich lieben, so sehr wie ich es tue. Ich wünschte, ich würde geliebt werden, gemocht werden, glücklich sein. Ja, ich wollte endlich wieder glücklich sein, und lachen können. Und mein Herz nicht nur auf schmerzende Weise spüren.

Und ich wünschte, ich könnte vergessen.

„Komm, gib mir deine Hand“, sagte Dave und holte mich so aus meinen Gedanken. Zögerlich streckte ich ihm meine Hand entgegen und er hielt sie sanft in seiner. Es fühlte sich gut an, und es kribbelte dort, wo er mich berührte.

Er nahm das Verbandszeug aus dem Badezimmerkasten und  säuberte sanft meine Wunde. Ich hätte nie gedacht, dass er das tun konnte, ohne mir weh zu tun.  Während er meine Wunde abtupfte, sah er konzentriert aus, darauf bedacht mir keine Schmerzen zu bereiten. Also, nicht noch mehr als ich schon hatte. Ich musterte sein Gesicht, seine Augen. Manchmal blickte er kurz auf, und ich konnte mir diese wunderhübsche Farbe ansehen. Außen waren sie eisblau und nach innen wurden sie grün. Seine Augen waren die Welt. Im Ernst, sie sahen aus wie die Erde. Zwar nicht ganz, aber man konnte sich in ihnen verlieren. Aber er sah mich immer nur ganz kurz an, und ich saß einfach nur regungslos am Wannenrand und starrte ihn ausdruckslos an.

Dann nahm so ein Druckverband-Dingens, keine Ahnung wie man das nennt, und drückte es mir etwas zu fest auf die Hand. Ich unterdrückte wieder einmal ein kleines Aufschreien, was er natürlich bemerkt. Auch, weil meine Hand zurückzuckte, was noch mehr wehtat, weil er mit dem Verband abgerutscht war und es über meine Wunde strich.

„Entschuldige, war keine Absicht“, sagte er … nett. Er griff nach meiner verletzten Hand und machte es diesmal noch sanfter als eh schon. Ich denke, dass ich einfach nur verdammt zimperlich war, und das obwohl ich schon Schlimmeres erlebt hatte. Sehr viel Schlimmeres.

Als er aufhörte mich zu verbinden, sah er mir tief in die Augen. Ich versank in seinen Augen, die so tief waren, als könnte man in ihrer Welt versinken.

Ich bemerkte gar nicht, wie sein Gesicht meinem immer näher kam, und so konnte ich mich auch echt nicht wehren, als seine Lippen sanft meine berührten. Wirklich, ich konnte nichts machen, obwohl ich es versuchte, echt.

Ich genoss den kleinen Kuss, spürte seine Lippen auf meinen, bis er sie sanft bewegte. In meinem Magen tanzte irgendjemand Tango und es kribbelte. Mich durchströmte ein wundervolles Gefühl, das ich so lange nicht mehr hatte.

Und als seine Zunge sanft meine Unterlippe berührte, gewährte ich ihm Einlass. Er stupste meine Zunge spielerisch an, und ich machte einfach mit, vergaß einfach für den Moment alles um uns herum. Genoss dieses Gefühl lebendig zu sein.

Es fühlte sich toll an, wenn ich ehrlich bin. Ich hätte lachen und weinen können, zur selben Zeit.

Aber dann klingelte es an der Tür und konnte wieder einen klaren Gedanken fassen. Grob schon ich Dave von mir weg, leider auch mit meiner verbundenen Hand. Es tat weh, aber das war gut so, denn dann konnte ich mich auf etwas anderes als auf ihn konzentrieren. Ich blickte Dave noch einmal mit einem wütenden Blick an. Auch wenn ich diesen nur spielte, denn in Wahrheit fand ich es toll. Ich meinte damit nicht, dass ich Dave toll fand oder so, aber den Kuss. Vielleicht sollte ich öfter mal so etwas machen, mit anderen Typen, versteht sich.

Ich ging nach unten und öffnete Rose die Tür. Sofort stürmte sie herein und wollte zur Treppe hoch. Sie schnappte meine Hand fest, und ich musste diesmal wirklich zusammenzucken. Es kam zwar kein Ton von mir, aber sie spürte natürlich den Verband.

„Entschuldigung. Aber was ist mit deiner Hand passiert? Du hast dich doch nicht etwa selbst geschnitten!? Denn wenn das so ist, dann..-“

„Ja, ich habe mich geschnitten, aber nicht mit Absicht. Mir ist ein Glas runtergefallen. Da fällt mir ein, dass ich es noch wegräumen sollte.“

„Das hast du noch nicht? Und wer hat dir eigentlich den Verband gemacht?“, fragte sie nun skeptisch.

„Nein habe ich noch nicht.“ Auf ihre zweite Frage ging ich gar nicht erst ein. „Warum bist du eigentlich hier? Wolltest du mir etwas Bestimmtes sagen oder so?“

„Lenk nicht vom Thema ab. Es war Dave, stimmt’s?“

„Kann sein.“

„Ha! Wusste ich’s doch! Du magst ihn, gib’s zu!“, sagte sie besserwisserisch.

„Nein. Und jetzt sag mir endlich, warum du hier bist.“ Ich fing an die Scherben zusammenzukehren, diesmal mit einem Besen, während Rose mich mit einem Blick bedachte, den ich nicht deuten konnte. Und das kam wirklich selten vor. „Was ist?“

„Du siehst seltsam aus“, sagte sie schlicht.

„Ich hab dich auch lieb“, entgegnete ich gespielt freundlich. „Und jetzt sag endlich, warum du hier bist.“

„Also…“, sie räusperte sich noch einmal, um etwas Zeit zu schinden. „Ich… habe mit Tobi gestern die Nacht verbracht.“

„Cool.“

„Es stört dich nicht?“, sagte sie nun doch verwundert.

„Solange du ihm nicht wehtust und er dir nicht, ist alles in bester Ordnung. Aber ich hoffe für euch beide, dass eure Beziehung miteinander fantabulös wird. Aber bitte quäl mich nicht mit Details.“

„Ob wir eine Beziehung führen werden, kann ich wirklich nicht sagen. Immerhin hatten wir nur eine gemeinsame Nacht. Wenn auch keinen Sex, es war trotzdem schön. Weißt du, seine Lippen sind so..-“

„Ich sagte, du sollst mich nicht mit Details quälen. Es ist, als würdest du über meinen Bruder reden, obwohl du selbst wie meine Schwester bist. Und während ich das sage, stelle ich fest, dass das ziemlich abartig rüberkommt“, meinte ich scherzend.

 „Ich will echt nicht wissen, wie es in deinem Kopf aussieht.“

„Du würdest dich da oben sowieso nicht auskennen, und qualvoll verrecken. Ich kenn mich ja selbst nicht wirklich aus.“

„Das klingt geisteskrank.“

„Du weißt ganz genau, dass ich gestört bin“, sagte ich ernst und sie lachte daraufhin.

„Klar weiß ich das.“

„Hey!“, sagte ich gespielt empört. „Ich hätte erwartet, dass du mich vom Gegenteil überzeugen willst!“

„Hättest du wirklich?“, sagte sie lachend.

„Nö. Ich bin ja wirklich ziemlich krank im Oberstübchen, nicht wahr?“

Sie nickte lächelnd. Ich musste zugeben, dass sie ziemlich glücklich aussah. Sogar noch mehr als sonst, denn ich muss sagen dass sie wirklich ein Sonnenschein ist. Sie ist auch eine kleine Grinsekatze, immer fröhlich, außer wenn es um mich geht. Oder um ihre Familie, da versteht sie keinen Spaß. Was eigentlich ja voll süß von ihr war, denn irgendwie hieß das, dass ich auch irgendwie zu ihrer Familie gehörte. Und sie auch zu meiner.

Wir gingen rauf ins Gästezimmer, das schon ziemlich umgestaltet und unordentlich geworden war, seit ich wieder hier wohnte. Und ich musste sagen, vorher war es eindeutig schöner, aber es war mir eh egal. Wir redeten noch den ganzen Tag, aßen irgendwas zu Mittag und am Abend ging sie dann wieder raus. Und ich erzählte ihr nichts von dem Kuss. Ich wollte ihn ja selbst vergessen, aber dass ich Rose davon nichts erzählte war schon irgendwie seltsam. Aber es war mir egal, Rose musste ja nicht alles wissen. Außerdem waren es sicher nur meine Hormone, die damit mir durchgingen. Es sind immer die Hormone.

Am späten Abend, nach einer heißen Dusche, ließ ich mich dann auf mein Bett fallen und schlief auch nach kurzer Zeit ein.

 

Ich wurde durch lautes Gestöhne aufgeweckt. Zuerst kannte ich mich überhaupt nicht aus und warf erstmal einen Blick auf meine Uhr. Vier Uhr morgens. In meinem Kopf war noch alles ziemlich benebelt, aber ich schaffte es, das Licht anzuschalten. Dann bemerkte ich wieder dies Stöhnen einer Frau. Zuerst dachte ich ja, es wäre Dads Freundin, diese Josy. Aber dann hörte ich sie einen Namen rufen. „Dave“, stöhnte sie laut.

Ach du liebe Kacke, die war verdammt laut. Vielleicht waren unsere Wände so dünn, oder dieses Weib hatte ein verdammt lautes Organ.

Irgendetwas in mir war irgendwie sauer und verletzt. Fragt mich nicht warum, sowas hatte ich schon lange nicht mehr. Und ich konnte es mir auch nicht ganz erklären. Aber ich war ziemlich genervt. Lag vielleicht daran, dass ich jetzt wach war. Ich drehte das Licht wieder ab und schmiss mich zurück in mein kuscheliges Bett, aber nix da von wegen Schlaf. Die waren echt laut und ich fragte mich die ganze Zeit, ob mein Dad Zuhause war. Der würde das doch sicher hören und genauso bepisst sein wie ich. Also war er vermutlich wieder einmal bei Josy. Was ja nicht weiter schlimm war, er besuchte sie fast jedes Wochenende, und es war auch sein gutes Recht. Aber trotzdem.

Irgendwann hörte es dann auch auf und ich konnte für ein-zwei Stunden noch schlafen. Dann weckte mich mein geliebter Wecker (*würg*) , dass es Zeit war für Schule. Ich fühlte mich wirklich erschlagen, weil ich ziemlich wenig Schlaf hatte, aber ich musste ja trotzdem aufstehen.

 

 

 

***

 

Es war ja nicht das erste mal, dass ich solche Geräusche von seinem Zimmer aus gehört hatte, aber bei den anderen Malen hatte es mich nicht so sehr gestört, wie jetzt. Ich weiß auch nicht warum, es lag vielleicht daran, dass er mich wenige Stunden vorher noch geküsst hatte. Mit Zunge. Und ich dumme Kuh hatte es zugelassen! Dabei war Dave ein ziemlicher Idiot. Ein Player. Ein Macho. Und blöd wie ein Heuhaufen, wobei ich jetzt wirklich nicht die Heuhaufen dieser Welt beleidigen will. Also entschuldige ich mich hiermit aufrichtig bei allen Heuhaufen dieser Erde!

Aber dass ich ihm nichts bedeute beweist doch nur diese Schlampe, mit der er zuvor im Bett war. Mich interessierte das sowieso nicht, wirklich. Es ließ mich kalt und diesen Stich in meinem blöden Herz habe ich mir nur eingebildet. Ich meine, ich sollte mich vielleicht langsam mal damit abfinden, dass mich keiner mag, liebt und schön findet.

Nachdem ich mich angezogen hatte ging ich nach unten in die Küche, wo mich mein Dad begrüßte. Ich murrte nur irgendetwas als Antwort und verschwand dann auch schon durch die Tür. Ich hatte heute sowas von schlechte Laune und dass ich in die Schule musste, machte es nicht wirklich besser.

 

In der ersten Stunde hatte ich mit Penelope gemeinsam Geschichte, bei einer Lehrerin der alle in den Hintern kriechen. Bei einer ihrer Fragen zeigte die ganze Klasse auf, nur ich nicht. Sogar Penelope hielt ihre Hand in die Höhe.

„Miss Miller, wollen sie meine Frage nicht beantworten?“

„Was war denn die Frage?“, sagte ich lustlos.

„Na, ich habe gefragt, wer beim Dekorieren des Schultheaters mitmachen will, um seine Note bei mir aufzubessern. Und da ihr alle ziemlich schlechte habt, auch Sie Miss Miller, wollen hier alle mitmachen. Gerade Sie, bzw. Ihre Note hätten das besonders nötig.“

Alte Schachtel.

„Tut mir Leid, aber wenn Gott gewollt hätte, dass ich ein Arschkriecher werde, dann hätte er mich in ein Zäpfchen verwandelt. Ich werde nicht helfen“, sagte ich besonders freundlich. Klappte aber nicht, weil meine Laune im Arsch war.

Die anderen mussten sich ein Lachen verkneifen, auch wenn ich es nicht lustig fand. Ich sagte ja nur die Wahrheit.

„Und ob Sie helfen werden. Immerhin tun Sie im Unterricht rein gar nichts. Wenn Sie es nicht freiwillig tun, werde ich Sie dazu zwingen!“, sagte sie leicht aufgebracht.

„Darfst du das in deiner niedrigen Lehrerposition überhaupt?“, fragte ich sie provozierend und wippte dabei mit meinem Stuhl. Lehrer mögen es sowas von überhaupt nicht, wenn man sie nicht Siezt.

„Ob ich…? Was fällt Ihnen eigentlich ein! Gehen Sie sofort zum Direktor! Auf der Stelle!“, schrie sie mich nun an, und ich bekam etwas von ihrer Spucke ins Gesicht.

„Na endlich, danke. Aber pass auf, du spuckst beim Reden. Solltest vielleicht mal daran arbeiten“, sagte ich in einem gemütlichen Plauderton und tätschelte ich beim Vorbeigehen freundschaftlich die Schulter, während die anderen leise lachten. Also, deren Nerven würde ich gerne haben. Die schreit mich da zusammen, und wenn die nicht aufpassen werden sie selbst gleich drankommen. Dann wird ihnen das Lachen schon noch vergehen, aber mir macht das ja nichts aus.

Gemütlich spazierte ich zum Sekretariat, und zu der Sekretärin die mich dann ins Büro des Direktors schickte. Drinnen empfing mich der Herr dann mit einem kräftigen Händedruck, der mir aber nichts ausmachte, weil meine linke Hand die Verletzte war.

„Also Miss Miller. Mir ist ja schon zu Ohren gekommen, dass Sie sich im Unterricht nicht recht beteiligen und auch nur das Nötigste machen. Aber es hat Sie bisher noch Niemand zu mir geschickt. Warum jetzt?“

„Ich schätze, weil ich Miss Mople gereizt habe.“ Und ehrlich gesagt, deren Name war schon zum Schießen. Klingt wirklich doof. Aber will jetzt niemanden beleidigen, oder so. Aber für diese Lehrerin war der Name schon passend. Dumme Pute.

„Ach, die ist wirklich leicht zu reizen. Aber, ich meine… Dafür werden Sie einfach beim Schultheater helfen, nicht wahr? Das tun Sie doch sicherlich gerne“, sagte er freundlich.

„Das war ja auch der Grund, warum ich Miss Mople gereizt habe. Ich wollte halt als Einzige nicht helfen.“

 „Dann tun sie das doch einfach als Entschädigung und sehen sie es positiv. Miss Mople beruhigt sich wieder und ihre Note wird auch verbessert“, erklärte er mir beschwichtigend.

„Das würde ich wirklich sehr gerne tun, aber Tatsache ist, dass das gerade eben gelogen war. Ich hab‘ da eindeutig Besseres zu tun, als den ganzen Tag in der Schule zu hocken. Nichts gegen Sie.“ Ich meine, ist ja klar dass ich nicht mitmachen werde, wenn ich deswegen gerade eine Lehrerin provoziert habe. Und jetzt gerade auch noch den Direktor. Echt intelligent, Lilly, wirklich. Also, manchmal könnte ich mich für meine Dummheit selbst in den Arsch beißen, wenn dass physikalisch irgendwie möglich wäre.

„Sehen Sie es als freundliches Angebot an, Miss Miller. Ihre Eltern wären sicher nicht erfreut zu hören, dass Sie sich nicht bemühen. Und so kommen Sie wenigstens weg von der Vier in Geschichte. Sie werden sich so noch ihre ganze Zukunft verbauen. Aber ich schweife ab. Ich möchte, dass Sie beim Schultheater die Bühnenbilder gestalten, ich habe gehört, dass Sie im Künstlerischen sehr begabt sind“, meinte der Direktor freundlich.

„Meinem Vater ist das sicherlich egal. Er hat mich eh schon aufgegeben.  Meine Zukunft ist mir egal, und bei Bühnenbildern muss man weder künstlerisch oder kreativ sein. Besorgen Sie sich einen Affen aus dem Zoo, der wird das bestimmt besser machen als ich.“ Ich versuchte ruhig und gelassen zu klingen, versuchte ihn dabei zu provozieren, aber nicht zu auffällig.

„Oh, Sie sind mir Affe genug, Miss Miller“, sagte er fröhlich. Dabei hatte er mich eigentlich gerade beleidigt!

„Vielen Dank. Aber ich werde nicht mitmachen.“

„Und ob Sie das werden. Sonst gibt es für sehr viele Monate Strafarbeiten und außerdem werden Sie ihre versäumten Hausaufgaben nachholen müssen. Niemand macht je die blöden Bühnenbilder. Ich bitte sie höflich darum“, meinte er liebenswürdig. Dieser Depp! Innerlich grummelte ich gerade eine Reihe von Schimpfwörtern herunter aber äußerlich sah ich ihm einfach nur tief in die Augen.

„Schön. Aber meine Hausaufgaben werde ich jetzt trotzdem nicht machen, dafür helfe ich aber. Aber Sie sollten ja nichts die besten Bilder erwarten, versprechen werde ich nichts.“ Ich erhob mich, winkte dem Direktor wunderbar falsch freundlich lächelnd zu und schritt durch die Tür.

Dann durfte ich glücklicher Weise zurück in den Geschichtsunterricht! (Was für ein Glück, ha ha)

„Und, hat der werte Herr Direktor Sie doch überreden können?“, entgegnete mir da auch schon Miss Mople gehässig. Also, diese Lehrerin mochte ich schon mal eindeutig nicht.

„Stell dir vor, Gertrud! Ich darf die Malen-nach-Zahlen-Bühnenbilder anmalen! Bin ich nicht der totale Glückspilz? Komm, Gertrud, das verlangt geradezu nach einer Umarmung!“, sprach ich Miss Mople mit ihrem Vornamen an, was sie sichtlich wütend machte. Ich hob schwungvoll meine Hände, um eine Umarmung anzudeuten, woraufhin die Klasse hinter mir kicherte. Aber die werte Frau Lehrer wollte mich nicht in die Arme schließen. Dumme Pute.

Ich ließ meine Arme sinken und setzte mich auf meinen Platz zurück. Der Unterricht ging normal weiter.

 

In der Mittagspause berichtete ich Tobi und Penelope stolz davon, dass ich beim Schultheater helfe (Ha, ha, witzig). Die beiden lachten mich aus und ich hab ihnen dafür in den Hintern getreten. Im Ernst, hab ich wirklich, nur nicht zu fest. Oh, und ich habe erfahren, dass das mit dem Theater immer montags war. Am nächsten Montag fängt es an. Yippie!

 

 

***

Als ich dann am nächsten Montag die Aula betrat, um zu helfen, hätte ich am liebsten sofort wieder die Flucht ergriffen. Warum? WEIL ANDREW DA VOR MIR STAND UND BÜHNENBILDER MALTE! Das war der Höhepunkt meines scheiß Lebens. Ich durfte mit meinem Erpresser und fast-Vergewaltiger gemeinsam Bildchen malen.

„Oh, hallo Lilly“, meinte Andrew lieb. Und sosehr ich mich auch angestrengt hatte, ich konnte keinen Hohn oder Gehässigkeit daraus hören.  Aber es waren ja auch nur drei Wörter gewesen.

„Geh verrecken, Widerling“, zischte ich unhöflich zurück.

„Sorry. Leider muss ich hier helfen, mit dir gemeinsam. Und ich wollte nachher mit dir reden.“

„Vergiss es. Woher der Sinneswandel? Wieso die Zeit mit Reden verschwenden, wenn du mich doch zusammenschlagen könntest? Ergibt doch keinen Sinn. Und hör auf einen auf ‚Freundlich‘ zu machen!“

„Es tut mir Leid.“

Hä? Der lügt. Andrew lügt, ich bin mir sicher. Er muss lügen. Warum sollte es ihm leidtun? Tut es nicht, er will mich nur verwirren.  Dann wartet er ab, bis ich ihm verziehen habe und wird mir wieder kaputt schlagen. Andrew lügt, es ist sicher nicht sein Ernst. Aber warum hörte es sich dann an, als würde er die Wahrheit sagen? Wieso sehe ich in seine schleimig-grünen Augen nicht das schleimige Grün, sondern einfach nur Grün? Ganz normales, ehrliches Grasgrün, mehr nicht. Kein Hass, keine Überlegenheit und Arroganz. Sondern ich sehe einfach nur Wahrheit. Und ich sehe, dass es ihm aufrichtig leidtut. Aber ich verstehe es nicht.

„Fahr. Zur. Hölle.“ Ich betonte jedes einzelne Wort, sprach dabei ruhig und in einem normalen Tonfall. Ich unterdrückte die Tränen, die versuchten sich aus meinen Augen zu stehlen. Ich wandte mich ab, suchte mir eine dumme Leinwand und bekam Anweisungen, was ich machen sollte. Ich wusste nicht, was das Thema des Theaterstücks war und es interessierte mich auch nicht. Ich würde hier nur ein bisschen rumkritzeln und dann wenn es vorbei ist werde ich normal weitermachen. Aber bis dahin werde ich wohl mit der Anwesenheit von Andrew leben müssen. Und ehrlich, das ist nicht leicht.

 

Am Ende des Tages – wir durften endlich weg von der Schule – hatte Andrew mich nach draußen begleitet. Am liebsten hätte ich ihn ja grün und blau geschlagen, aber er hätte mich sowieso besiegt. Wozu sich die Mühe machen? Würde ich bei ihm einen Schlag landen, hätte er es mir zehn Mal zurückgegeben.

„Hör mir zu, Lilly“, versuchte er meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich hatte nur einen verachtenden Blick für ihn übrig, dann beschleunigte ich meine Schritte.

„Bitte! Ich will es dir erklären..-“

„Es gibt nichts zu erklären! DU BIST EIN ARSCHLOCH! Verpiss dich um Himmels Willen endlich aus meinem Leben, mach es mir bitte nicht noch schwerer. Du willst dich wirklich entschuldigen? Eine nette Entschuldigung wäre, wenn du dich nie wieder bei mir blicken lässt!“, ereiferte ich mich aufgebracht und musste an die Party denken. Eine klitzekleine Träne stahl sich aus meinem Auge, doch Andrew bemerkte sie trotzdem. Verfluchter Mist!

„Lilly, es tut mir unendlich Leid. Was ich getan habe… Es gibt wirklich keine Entschuldigung dafür. Und es tut mir Leid, dass ich dir in der Schule meinen Fuß in den Bauch gerammt habe. Wirklich, es tut mir Leid.“

Ich beachtete ihn nicht, blieb nicht stehen oder sonst was. Ich sah ihn nicht an. Plötzlich hielt er mich an meinen Oberarmen fest, drehte mich zu sich um und sah mir tief in die Augen. „Es tut mir Leid, Lilly.“ Dann hauchte er mir einen Kuss auf die Stirn.

Das brachte mein Innerstes zum brodeln. Was erlaubte sich dieser Mistarsch eigentlich!? Ich gab ihm eine schallende Ohrfeige, befreite mich aus seinem Griff und rannte los. Einfach rennen. Weg, weit weg. Vielleicht in die falsche Richtung, aber er ist wenigstens nicht dort. Versuchen nicht auszurutschen, einfach weiterrennen. Schneller werden, um die Kurve biegen. Hauptsache weg. Ruhig atmen, den eiskalten Wind genießen. Den Schnee betrachten, weiterrennen. Weiter, nur weg. Die wenigen Menschen, die dich seltsam anglotzen nicht beachten, einfach nur laufen. Nicht nachdenken, nur vergessen. Nicht die Kälte spüren, nur weg von hier. Woanders hin, nicht hierher. Rennen, alles um mich herum vergessen.

Stehen bleiben.

Keuchend lehnte ich mich gegen einen Baumstamm. Ich atmete ein paar Mal tief durch und versuchte nicht daran zu denken, dass mich Andrew gerade um Verzeihung gebeten hat.

Naja, und dann fiel mir auch, dass… ich Mitten in einem Wald stand. Aber nein, es musste ja nicht ein einfacher Wald sein, nein,  es war der Wald. Mit zitternden Knien und viel zu schnellem Herzschlag ging ich ein paar Schritte nach links. Meine Stiefel versanken im Schnee und meine Zehen wurden taub, doch ich ignorierte es.

Vorsichtig blickte ich um mich, so als könnte jeden Moment jemand auf mich zuspringen und mich ermorden wollen. Ich tat jeden Schritt mit Bedacht, meine vor Angst geweiteten Augen sahen hektisch um sich. Warum musste ich auch wegrennen!? Hätte ich ihm nicht einfach in die Eier treten können und würdevoll von Dannen ziehen? Nein! Ich musste ja unbedingt einen auf Gepard machen.

Und jetzt werde ich hier im Wald sterben, weil mein Orientierungssinn so blöd wie Sau ist. Und meine Fußspuren kann ich auch nicht sehen, weil der Schnee hier nur an manchen weinigen Stellen liegt. Außerdem sind da auch noch ein paar Spuren von Tieren. Sieht so aus, als hätten die Viecher eine geile Party gemacht, so wie die Spuren aussehen. Aber egal jetzt. Ich musste versuchen hier raus zu finden. Es gab nämlich schönere Weisen zu sterben, als wie vom Blitz davon zu rennen und sich dann im Wald zu verirren und qualvoll zu verrecken. Im selben Wald, in dem schon meine halbe Familie draufgegangen ist. Nur halt bei einem Autounfall.

Ich ging weiter und versuchte geradeaus zu gehen.

Und dann sah ich sie.

Und ich spürte den Schmerz.

Spürte den Hass auf mich selbst.

Spürte die Traurigkeit in mir.

Spürte die Erinnerungen in mir hochkommen.

Spürte nichts.

Alles war taub.

Alles war weg.

Ich fühlte meinen Körper nicht, es war als würde meine Seele daneben schweben. Ich sah mich selbst auf die Knie sinken. Sah mich selbst weinen. Sah mich, wie ich meine Finger tief im Boden vergrub. Wie ich mich verkrampfte.

Vor mir war die Stelle des Autounfalls. Warum ich das wusste? Weil daneben eine kleine Jägerhütte stand. Und viele Baumstämme weg waren, nur die Stummel zu sehen. Die hatte unser Auto nämlich beschädigt. Wobei eher die Bäume unser Auto beschädigt hatten, aber egal.

Mein Herz in meiner Brust schlug viel zu heftig. Und es drohte mir zu zerspringen, wenn ich mir den Unfallort so ansah. Stumme Tränen rannen meine Wangen hinab, ließen Kälte zurück. Meine Finger waren schon ganz kalt und taten weh, weil ich sie im Schnee vergraben hatte. Aber es war mir egal. Ich dachte an diesen Abend. Diese Nacht. Und dann auch an Andrew.

Und da wusste ich, dass ich ihm nicht verzeihen würde, auch nicht wenn er es ernst meinen würde.

Langsam erhob ich mich, versuchte mich zu beruhigen. Es klappte sogar ganz gut. Ich ließ meinen Blick schweifen, wusste dann wo ich die Straße finden würde. Mit immer noch zittrigen Knien ging ich aus dem Wald raus, an den Straßenrand. Dort holte ich mit tauben und schmerzenden Fingern mein Handy aus der Hosentasche. Ich tippte auf Dads Nummer und wartete. Eine Frau ging ran.

„Hallo? Hier ist Josy.“

„Hi Josy, ich bin’s, Lilly. Kann ich bitte mit Dad reden?“

„Sicher.“ Es raschelte kurz. „Ja, Lilly?“

„Kannst du mich abholen?“

Er hörte meine immer noch weinerliche Stimme. „Ist was passiert?“

„Nein. Also kannst du mich abholen? Ich bin im… Wald … zwei Kilometer vom Haus weg… an der Kurve.“

„In Ordnung, bin gleich da“, sagte er etwas verwirrt und besorgt. Dann legte ich auf.

Ich wartete sicher zehn Minuten, fror mir dabei meinen Arsch, meine Nase, meine Finger und Zehen ab, aber er war immer noch nicht da. Konnte das wirklich so lange dauern? Ich wollte ihn gleich nochmal anrufen, als ein schwarzes Auto vor mir stehen blieb. Und wen sah ich da im Auto drin? Nein, nicht Dad. Sondern Dave, was klar war.

Grummelnd öffnete ich die Beifahrertür und wärmte mich an der Sitzheizung. Meine Finger taten weh wie sonst was und ich versuchte sie etwas aufzuwärmen.

„Sag mal, warum warst du hier im Wald? Und wie bist du her gekommen?“

„Ich denke kaum, dass dich das etwas angeht“, gab ich trocken zurück. Ich hatte nicht die nötige Kraft jetzt herum zu meckern und großartig Sprüche zu klopfen. Ich war müde und traurig und wütend und mir war verdammt kalt. Und doch fühlte ich mich auch schwach und zerbrechlich. Ich schloss meine Augen und lehnte träge meinen Kopf gegen die Scheibe.

„Immerhin durfte ich dich abholen, also geht es mich schon was an.“

„Bitte lass mich einfach nur dieses eine Mal in Ruhe“, flüsterte ich und versteckte mein Gesicht hinter meinen Haaren. Dave hatte jetzt schon viel zu viel mitbekommen. Er darf nicht noch mehr von mir wissen, ich werde sonst verletzlich für ihn sein. Naja, das bin ich eigentlich schon. Und das nur, weil ich eine blöde Heulsuse bin.

„Nur dieses eine Mal, in Ordnung.“

Verblüfft sah ich zu ihm rüber, bemerkte wie er leicht grinste. Schnell wandte ich mich wieder ab und genoss die Wärme des Autos. Es war nur kurz bis nach Hause, und bevor wir ausstiegen, fragte ich mich, ob er mit Absicht so lange gewartet hatte mich abzuholen. Ich meine, es war ja wirklich nicht weit weg. So ein Idiot.

9.Kapitel

"Rose, ich meine es ernst. Er hat das wirklich gesagt! Und nein, ich habe mir das sicherlich NICHT eingebildet!", motze ich meine beste Freundin an, mit der ich schon seit einer Stunde diskutierte. Wegen Andrew natürlich.

"Er hat sich wirklich entschuldigt", fuhr ich fort. "Und ich weiß verdammt nochmal nicht, was er damit erreichen will! Hat er mir denn nicht schon genug angetan, Rose? Hat er mich denn noch nicht genug zerbrochen, verletzt und verarscht!?" Super, jetzt musste ich auch noch weinen. Echt ganz, ganz toll. Wie ein kleines Mädchen, das nichts alleine auf die Reihe bkommt sitze ich hier in meinem Bett und heule Rose voll. Die ärmste.

"Hey, es ist alles okay. Das wird schon wieder. Du solltest ihm nur aus dem Weg gehen. Und egal was der Typ sagt, vertrau ihm nicht. Wer weiß schon, was in seinem kranken Schäden abgeht." Sie setzte sich zu mir auf mein Doppelbett und strich mir über meine Haare. "Es wird alles wieder gut. Glaub ihm nur kein Wort, denn du kannst niemanden trauen. Naja, außer mir, aber das ist ja mal sowas von klar!", scherzte sie, aber der Witz zog nicht. Auch nicht, wenn man das Fenster aufmacht.

„Du denkst also, dass er mich nur verwirren wollte?“, meinte ich mit erstickter Stimme.

„Naja, es hat ja auch funktioniert, oder?“, erwiderte sie ernst.

Jep, da hatte sie Recht. Obwohl, sie hat ja auch fast immer Recht. Aber ich wollte es irgendwie nicht wahr haben. „Rose, er hat aber so nett ausgesehen, Und er h-hat sich entsch-huhldigt! I-ich glaube, er h-hat es ernst gem-eint. W-wirklich!“, stotterte ich unter Tränen.

„Ach Süße, du hast was Besseres als ihn verdient. Nimm doch einfach Dave!“, kicherte sie.

„Halt die Klappe, Rose“, murrte ich nun wieder. Tja, meine Stimmung konnte vom einen auf den anderen Moment schlagartig wechseln. „Wie geht es dir mit Tobi?“, fragte ich um nett zu sein und – wenn ich ehrlich bin – das Thema weg von mir zu lenken.

„Er ist sooo unglaublich toll! Und wahnsinnig sexy. Wirklich sexy. Wieso stehst du nicht auf ihn? Er ist einfach liebenswürdig und romantisch. Weißt du, erst gestern hat er..-“

Von da anhörte ich ihr nicht mehr zu, sondern murmelte nur hier und da mal ein zustimmendes ‚Hmm‘ oder gab ein Nicken von mir. Eigentlich kreisten meine Gedanken um Andrew. Ich meine, hatte er es ernst gemeint? Oder war es nur Wunschdenken von mir, dass er es wirklich so meinte? Ich wollte immerhin eine Entschuldigung von ihm, so lange hatte ich es mir gewünscht. Und am liebsten hätte ich ihn früher danach zusammengeschlagen. Aber jetzt… ja, was war denn eigentlich jetzt? Ich hatte so ein komisches Gefühl in der Magengegend, eines, das ich schon lange nicht mehr gefühlt hatte. Nur wusste ich nicht wirklich, was es war. Wenn ich früher an Andrew dachte, dann kam Ekel in mir hoch, ja, sogar Angst. Aber jetzt, wenn ich jetzt an ihn dachte, dann sah ich mich. Mich, wie ich früher war, wie ich mit Andy zusammen war. Andrew und ich hatten uns gut verstanden. Und wenn ich ehrlich bin, ich glaube ich hatte ihn sogar geliebt. Etwas Vergleichbares hatte ich nämlich nie zuvor davor gespürt.

Andrew war früher für mich da gewesen, hat mich umarmt. Geküsst. Hat mich zum Lachen gebracht, wenn ich zuvor geweint habe, weil mich andere in der Schule gedisst haben. Er war für mich da, selbst wenn Tobi weg war. Ich war in ihn verliebt.

Und ich wusste nicht, was ich jetzt für ihn empfand. Konnte eine einfache Entschuldigung seinerseits mein ganzes Denken manipulieren? Wollte er das damit erreichen? Oder hatte er mich auch geliebt? Tat er es vielleicht immer noch? Ich wusste es nicht. Aber bei einer Sache war ich mir sicher, und leider konnte ich es nicht ändern. Ich wollte es nicht zugeben, aber es war so: Ich hatte Andrew schon vergeben.

Warum? Vielleicht, weil ich noch das Selbe für ihn empfand wie früher. Vielleicht, weil ich hoffte, dass er mich liebte. Vielleicht, weil ich hoffte, dass überhaupt jemand mich liebte. Vielleicht, weil eine Entschuldigung genau das war, auf das ich drei lange Jahre gewartet habe. Oder aber, weil ich dumm und naiv bin.

So oder so, gegen meine Gefühle konnte ich nichts machen. Andrew blieb über die Jahre in meinen Gedanken – wenn auch in hasserfüllten Gedanken – so konnte ich ihn doch nicht aus meinem Gedächtnis löschen. Ich wusste ehrlich, dass ich dumm war, dass ich dumm bin. Ändern konnte ich das leider aber auch nicht. Ich denke, tief in mir waren immer Gefühle für Andrew da. Selbst, wenn ich sie verleugnet habe.

„Lilly, hörst du mir überhaupt zu!? Wozu rede ich hier eigentlich eine Stunde über meine tiefsten und wertvollsten Gefühle, wenn du noch nicht einmal deine wenige Konzentration für mich zusammenkratzt? Also, manchmal denke ich mir echt...-“

„Sei einfach mal still!“, unterbrach ich sie wirsch. Mein unlieblicher Tonfall ließ sie innehalten. „Deine Scheiße kann ich hier gerade echt nicht gebrauchen! Hau ab.“

Verletzt blickte sie mir in die Augen, doch sie schritt ohne Widerworte zur Tür. „Ich hoffe du bist alleine glücklicher.“

Als die Tür hinter ihr laut ins Schloss fiel, brach ich erneut in Tränen aus. Teils weil ich meine einzige Freundin vergrault hatte, teils weil ich auf mich selbst wütend war. Ich hatte Gefühle für Andrew, obwohl er mich fast vergewaltigt hatte, obwohl er mich sogar geschlagen hatte.

Ich schlug meine Hände vor meine Augen, wollte die Welt um michherum ausblenden. Ich spürte plötzlich unendlichen Schmerz in meiner Brust, die mich aufheulen ließ. Ich nahm meine Hände nicht von meinem Gesicht, konnte so die unendlich vielen Tränen an meinen Wangen hinunterlaufen spüren. Ich rollte mich in meinem Bett hin und her, wollte nichts fühlen. Doch der Schmerz hörte nicht auf. Warum war ich denn auch immer so blöd! Ich brauchte Rose! Und eins war mir gerade klar: Ich wollte zu meiner Mummy und zu meinem Daddy. Ich wollte sie drücken und knuddeln, sie küssen, ihnen sagen wie sehr ich die beiden liebhabe. Mummy konnte ich es nicht mehr sagen, sie war weg. In meinem Herzen brannte ein Feuer bei diesen Gedanken, die ich hatte. Wie eine irre schluchzte ich, kugelte in dem Bett herum. So schlimm hatte ich noch nie geweint. Stolz darauf war ich auch nicht wirklich.

Vielleicht klang es, als wäre ich ein kleines Mädchen mit Mama-weh, aber ich wollte zu ihr. Mehr denn je. Als ich mich dann auf die Seite rollte, schlug ich aus Versehen ein Bild auf den Boden. Laut klirrend zerbrach es auf dem Boden. Es war ein Bild von meiner Mum. Mit tränenverschleierter Sicht betrachtete ich es, und gab dabei ein herzzerreißendes Geräusch von mir. In meiner Brust loderten Flammen, die mich zu verschlingen drohten. Meine Tränen wollten einfach nicht aufhören und ich zitterte am ganzen Körper. Ich wollte verdammt nochmal zu ihr!

Entschlossen, aber immer noch heulend, stand ich auf und schnappte mir meine Jacke. Ich lief nach unten in die Küche, wo zum Glück immer noch Rose war, wie ich vermutet hatte. Ich ging auf sie zu, während sie mich wirklich schockiert musterte. Auch sie hatte mich so noch nie gesehen.

„Lilly…-“

„Bitte… f-fahr m-mich ... zum … F-friedhof“, brachte ich so deutlich raus, wie es mir möglich war.

Sie nickte und schnappte sich augenblicklich ihre Schlüssel. Dann lief sie zum Auto und ich hechtete ihr hinterher.

 

 

***

 

 

 

Beim Friedhof angekommen zitterte ich noch mehr als zuvor und mir war schlecht. Doch das war nur die Aufregung, ich war nämlich noch nie bei ihrem Grab gewesen, außer bei der Beerdigung.

Ich bat Rose, wieder wegzufahren, und versprach ihr, sie anzurufen wenn ich geholt werden möchte. Sie willigte ein und fuhr davon, aber nicht ohne mich noch einmal zu umarmen.

Suchend blickte ich auf die vielen Gräber, die hier lagen. Bis mein Blick an ihrem hängen blieb. Ich ging darauf zu, zog dabei meine Jacke enger an mich um nicht zu erfrieren. Vor dem Grab meiner Mum kniete ich nieder.

„Hallo Mummy. Es tut mir Leid, dass ich erst jetzt zu dir komme. Aber ich konnte nicht früher, ich hab es einfach nicht geschafft. Es tut mir Leid, wirklich. Ich wollte dir nur sagen, dass ich dich vermisse, so unglaublich doll. Ich hätte damals draufgehen sollen. Du bist nämlich der bessere Mensch von uns beiden. Und  Emily hat es erst Recht nicht verdient. Auch bei dir möchte ich mich entschuldige, Kleine. Mummy, ich weiß, dass ich es nie gutmachen kann. Aber ich muss mit dir reden. Weißt du, Andrew ist da. Und er hat sich bei mir entschuldigt, krass oder? Aber ich weiß nicht, ob ich ihm glauben kann. Und dann ist da wieder Tobi, stell dir vor, er mag mich immer noch.“ Ich lächelte kurz. „Er ist jetzt irgendwie mit Rose zusammen. Rose ist meine beste Freundin. Sie ist das Beste, das mir nach eurem Tod passiert ist. Und weißt du, Dad hat sich verändert. Er liebt dich immer noch, aber er hat jetzt eine Freundin. Ich denke, sie ist ganz nett. Aber das alles tut nichts zur Sache, ich wollte nur bei dir sein. Weißt du, ich vermisse dich. I-ich vermisse dich ganz doll. Ich wünschte, dass du h-hier wärst. Ich will z-zu dir. Ich brau-che dich, M-mummy. Ich l-liebe dich!“, schluchzte ich und heulte daraufhin wie ein Baby. Am Anfang hatte ich vielleicht noch die Fassung wahren können, aber damit war’s jetzt wohl vorbei. Ich weinte nämlich. Laut. Ich meine, so richtig laut. Mit Schluchzern und schniefen und allem Drum und Dran. Und das Ganze nur, weil ich mit einem Stein geredet habe.

Nein, es war nicht nur ein Stein. Ich hatte das Gefühl, dass mir meine Mum zugehört hatte, so blöd es auch klingen mag. Wer weiß, vielleicht war sie wirklich da. Vielleicht hat sie mir vergeben. Vielleicht liebt sie mich auch. Wer weiß, vielleicht habe ich nun nicht mehr dieses schlechte Gewissen. Natürlich wird es jetzt nicht von dem einen Tag auf den anderen weg sein, aber vielleicht ist es jetzt nicht mehr so schlimm  … Vielleicht, aber wirklich nur vielleicht, kann ich wieder glücklich werden. Mein Leben wieder leben. Dumme Dinge tun, verrückte Sachen anstellen, Fehler machen, sagte ich in Gedanken. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich Recht hatte.

„Danke Mum. Du bist verdammt klug, für einen Stein“, grinste ich und wischte mir meine Tränen aus dem Gesicht. Zaghaft stand ich auf und blickte in die Dunkelheit, doch diesmal machte es mir nichts aus. Nicht, weil ich von vorher auf jetzt mutig und furchtlos geworden war, sondern weil ich bei Mum war. Ich holte mein Handy aus meiner Jackentasche und wählte ihre Nummer, sagte ihr, dass sie mich nun abholen könne.

Ein paar Minuten später wartete sie auch schon auf mich vor dem Tor. Ich ging zu ihr hin, öffnete die Tür und setzte mich schwungvoll hinein, mit einem fetten Grinsen auf dem Gesicht. Glücklich strahlte ich sie an, und hüpfte ihr dann schwungvoll – über den Sitz hinweg – in den Arm.

„Ich habe dich lieb. Und ich möchte dir danken. Für alles, deine Freundschaft, dass du dich um mich sorgst und dass du mich drei Jahre ausgehalten hast! Du bist die beste Freundin und Familie, die man sich wünschen kann!“, lachte ich fröhlich und gab ich einen Kuss auf die Wange.

Verwirrt guckte Rose mich an, als wäre ich eine geistesgestörte Kopie von Lilly. Ich lächelte nur und hielt sie weiter in meinen Armen fest.

„Ich … ehm … hab dich auch lieb, Süße. Und gern geschehen.   Sag mal, hat dir irgendjemand Drogen gegeben?“, meinte sie skeptisch und blickte mir tief in die Augen.

„Nein, es ist alles okay.“ Zufrieden blickte sie mir ins Gesicht und grinste ebenfalls.

„Ich hatte nur ein nettes Gespräch mit meiner Mum“, fügte ich noch hinzu.

„Also doch Drogen“, meinte sie daraufhin und starrte mich belustigt an.

„Nein. Nur eine kleine Erkenntnis, dass das Leben doch nicht so scheiße ist, wie ich gedacht habe. Ich hätte schon früher diesen Stein anheulen sollen“, erwiderte ich fröhlich.

„Darauf sag ich jetzt mal nichts. Aber ich freue mich für dich. Übrigens gefällst du mir mit dieser Einstellung gleich viel besser.“ Sie drückte mich nochmal kurz und schob mich dann von sich weg. „Dann fahren wir jetzt mal wieder heim, okay?“

Ich nickte und sie fuhr los. Entspannt lehnte ich mich im Sitz zurück und dachte an meine Worte, an meine Gedanken, und lächelte dabei.

 

 

 

***

 

 

 

 

Zuhause saßen dann alle in der Küche. Und mit alle, meine ich auch alle. Dave, Luke, Penelope, Phil, Tobi, Matt, Dad und Josy. Dann kamen noch ich und Rose dazu.  Es war keiner der Stühle mehr frei und so mussten Rose und ich uns neben Dave auf die Eckbank quetschen. Dave neben mir,  machte noch etwas Platz und schob sein Teller etwas weiter weg, sodass Dad mir und Rose eines hinstellen konnte.

„Hi Leute“, meinte ich fröhlich wie noch nie. Ja, selbst zwei Worte konnten voll mit Glück sein.

„Wie ich sehe hast du gute Laune?“, grinste mein Dad.

„Jep. Ich komme gerade vom Friedhof“, sagte ich munter.

Dave und Josy verschluckten sich, Josy hatte sich aber im Gegensatz zu Dave gleich wieder gefangen.

„Das ist … toll, nehme ich an?“, fragte sie eher, als sie es sagte und lächelte mir freundlich zu. Ich lächelte zurück und nickte dabei kurz.

„Hast du was genommen, Lilly?“, fragte nun auch Tobi. Ich seufzte.

„Ja. Ecstasy, Marihuana und Heroin. Willst du auch was?“, meinte ich sarkastisch.

„Schon wieder die Alte. Sollten wir uns Sorgen machen?“, fragte ich freundlich.

„Da bin ich einmal glücklich und du versaust es“, schmollte ich und schob dabei meine Unterlippe vor. Er grinste. Unter dem Tisch hindurch gab ich ihm einen Fußtritt gegen sein Schienbein, einfach weil er mir gerade gegenüber saß.

Daraufhin knurrte er bedrohlich, aber er meinte es nicht ernst. Ich kicherte. Über den Tisch hinweg klaute ich ihm sein Stück Fleisch und lachte ihn aus, als er mit seiner Gabel innehielt, die er gerade in das Fleisch stechen wollte. Tobi verengte seine Augen und ich zeigte ihm daraufhin meine Zunge.

„Gib es mir wieder! Das war das letzte Stück!“, maulte er und versuchte es mir zu entreißen.

„Tja, Pech!“, lachte ich und leckte mit meiner Zunge einmal quer über das Fleisch. „Hier, ich will es nicht mehr“, kicherte ich und legte es zurück auf seinen Teller. Tobi verzog nur angewidert sein Gesicht und schob sein Teller von sich weg. Die anderen waren uns interessiert gefolgt und sahen Tobi nun abwartend an, wollten wissen was er jetzt tun würde.

„Seht mich nicht so an, was sollte ich Lilly denn jetzt bitte antun? Ich hab keine Chance gegen sie“, meinte er heuchlerisch und stand vom Tisch auf. Aber er hat natürlich gelogen, blöd war ich ja nun auch nicht.

„Lilly, hilfst du mir bitte beim Abwasch?“, meinte Tobi liebenswürdig.

„Ja, Lilly. Das wäre wirklich nett von dir. Hilf Tobi“, stimmte auch mein Dad zu, der nicht kapierte, dass Tobi nun seine Rache ausüben wollte.

Ich grummelte nur irgendetwas vor mir hin, erhob mich aber trotzdem von der Bank. Rose ließ mich durch und setzte sich dann wieder neben mich. Ganz klar: sie wollte mir eindeutig nicht helfen. Verständlich, ich hatte ja gerade ihren Freund geärgert. Kotz.

„Bitte tu mir nichts“, winselte ich zu Tobi wie ein reumütiger Köter.

„Ich verzeihe dir. Du scheinst heute gut drauf zu sein und das will ich dir nicht versauen“, zwinkerte er mir zu.

„Danke.“

 

Ich der Küche machten wir dann den Abwasch, und waren fast fertig, als Dave zu uns kam. Ich hielt mit dem Abtrocken inne und drehte mich zu ihm um.

„Hi“, sagte er kurz angebunden.

„Sei gegrüßt“, gab ich mit einer Verbeugung zurück. Jap, heute hatte ich einen Dachschaden. Aber dieser Dachschaden ließ wieder Sonne an mein Hirn.

Dave zog eine Augenbraue hoch und musterte mich von oben bis unten. „Ist was?“, fragte ich nach ein paar Sekunden.

„Nein. Aber solltest dich vielleicht mal wieder duschen. Dir klebt Dreck an der Jeans.“

Ich guckte an mir runter und suchte nach Flecken, fand aber keine. „Da ist doch gar nich…-“

Weiter kam ich nicht, weil mir Tobi einen Schwall Wasser drüber kippte. Ich war von Kopf bis Fuß patsch nass, Sogar in meinem Mund war Wasser. Das war also seine Rache und Dave hatte ihm dabei geholfen.

„Viel besser“, lachte Dave.

„Danke, ihr zwei. Ihr seid so liebenswürdig, ich könnte euch knuddeln. Das könnte ich wirklich“, sagte ich mit einem hämischen Grinsen im Gesicht.

Bedrohlich schritt ich auf Dave zu, der es wirklich nicht peilte. Als ich noch weiter auf ihn zu schritt, machte es bei ihm klick und er machte sich auf den Rückzug. Aber er war nicht schnell genug.

„Warte, Liebster! Sag bloß, du willst nicht, dass ich mit dir kuschle! Aber mein Körper zehrt sich doch so sehr nach dir!“, rief ich theatralisch aus und legte mir dramatisch die Hand an die Stirn. Dann rannte ich ihm hinterher.

Ich rannte ihm hinterher, die Treppe hoch. Im Flur nahm ich dann Anlauf und warf mich auf ihn. Ich dachte er könnte mir standhalten, doch dem war nicht so. Wir kippten beide wie ein Kartoffelsack um, ich landete aber auf ihm, sodass er meinen Sturz abfederte.

Mein Gesicht war knapp über seinem und ich blickte in seine wunderschönen Augen, die die Welt bedeuteten. Sie zogen mich in einen Bann, dem ich nicht standhalten konnte, selbst wenn ich es gewollt hätte. Und auch er sah mir in meine bernsteinfarbenen Augen, und er hob leicht seinen Kopf. Ich hätte ihn locker küssen können. Mein Blick huschte zu seinen Lippen, die so unglaublich weich aussahen – und es auch waren. Als ich an unseren Kuss dachte, fing es an in meinem Bauch zu kribbeln.  Instinktiv kam ich mit meinen Lippen seinen näher, stoppte aber kurz bevor sich unsere Lippen berührten. Denn ich traute mich nicht und zugegeben – das war feige. Aber Dave nahm mir die Entscheidung ab und legte seine Lippen auf meine.  In dem Moment explodierte ein Feuerwerk in meinem Inneren, ließ mich alles um uns herum vergessen. Seine Zunge bat um Einlass und ich konnte mir einen leisen, glücklichen Seufzer nicht verkneifen. Dies nutzte er aus, um meine Zunge mit seiner zu streicheln. Wir knutschten wild herum, bis mir wieder einfiel, was ich da gerade tat. Ich küsste Dave! Den Player, der schon über 50 Weiber gevögelt hat! Und er war ganz sicher nur auf das Eine aus. Ich meine, falls er das mit jemanden wie mir überhaupt tun wollte.

Ich löste mich von ihm – wenn auch nur widerwillig – und räusperte mich.

„Sorry“, nuschelte ich verlegen und hievte mich von dem immer noch am Boden liegenden Dave hoch.  „Aber wenigstens bist du jetzt auch nass“, scherzte ich nicht besonders gut und ging in mein Zimmer. Wegen Tobi durfte ich mich jetzt nämlich duschen. Danke. Und das Schlimmste war, dass ich Dave geküsst hatte! Zum zweiten Mal! Oberpeinlich. Vermutlich denkt er, dass ich ihn anhimmle. Und wahrscheinlich hat er mich nur aus Mitleid geküsst. Einen anderen Grund gäbe es auch nicht. Und ich wollte au8ch nicht von ihm geküsst werden, ehrlich nicht. Es war mir komplett egal. Ich stellte mich unter die Dusche und kurz darauf ging ich schlafen.

 

 

***

 

 

 

 

Es war unglaublich. Meine ganze Weltanschauung hatte sich in dieser Nacht auf den Kopf gestellt. Ohne Scheiß! Ich hätte das nie für möglich gehalten. Jetzt fragt man sich bestimmt, was denn passiert war.

Ich hatte einen Traum. Keinen verrückten, scheußlichen, schmerzenden Traum. Nein, ich hatte einen schönen Traum. Und ich meinte damit nicht, dass ich von meiner Familie geträumt hatte, denn das wäre nicht schön gewesen, weil ich dann wieder Sehnsucht nach ihnen gehabt hätte. Nein, diesmal hatte ich einen tollen Traum.

Ich war einfach nur ich. Aber ich war nicht ich. Ich war glücklich, fröhlich und nett. Ich hatte gelacht, mit Tobi und Rose zusammen hatte ich Spaß! Es war Sommer und ich war mit ihnen im Pool. Im Bikini. Ja, wirklich. Im Bikini. Und es hatte ihnen nichts ausgemacht. Und mir auch nicht. Mein Herz hatte so schnell geschlagen und vor Glück wäre es fast zerrissen. Das musste Glück sein. Ich wollte es auch in der Wirklichkeit fühlen.

 

Nach einer weiteren anstrengenden Woche Schule saß ich gemeinsam mit Rose im Bett, neben ihr saß Penelope.

„Was wollen wir jetzt machen?“, fragte Penny auch schon.

„Wollen wir shoppen gehen?“, schlug ich vor und lächelte die beiden an.

Rose blieb der Mund offen stehen. „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Du willst mich verarschen. Lilly, sag mir, bist du ein Alien? Du kannst ruhig ehrlich sein!“

„Beruhige dich doch. Nein, ich will mal ein paar neue Sachen haben. Mehr nicht“, grummelte ich.

„Dann lasst uns gleich gehen!“, meinte Penelope energisch und zerrte uns aus dem Bett.

 

„Okay, hier sind wir. Das ist mein Lieblings- Klamottenladen und er ist auch der beliebteste. Hier gehen fast alle Jungs und Mädchen einkaufen“, sie zwinkerte uns fröhlich zu. Erst jetzt fiel mir auf, dass Rose und sie sich eigentlich total ähnlich waren.

Wir gingen in den Laden, wo uns Luke, Tobi und Dave gleich in den Blick fielen. Rose und Penny fielen ihren Freunden überschwänglich in die Arme und küssten einander leidenschaftlich. Kotz. Meine Einstellung von öffentlichem Knutschen hatte sich definitiv nicht geändert. Während die anderen – bis auf Dave – sich noch genüsslich ab schlabberten, ging ich gemütlich zu den Klamotten. Ich zog einen schwarz-rot gepunkteten Rock hervor, der mir bis zu Mitte der Oberschenkel ging. Der gefiel mir eigentlich ganz gut. Dazu suchte ich mir ein enges rotes Top aus und schnappte mir passend dazu noch eine schwarze Weste, die auf der Brust eine rote Rose gestickt hatte. Sie war irgendwie auffällig, aber wirklich sehr hübsch. Ich griff mir die Sachen in der richtigen Größe und verschwand damit in der Umkleidekabine.

Fertig angezogen betrachtete ich mich im Spiegel, doch es fehlte irgendetwas. Schmuck. Den hatte ich komplett vergessen! Ich zog den Vorhang auf und lief – wie üblich – direkt in Dave hinein, der gerade mit dem Rücken zu mir stand.

Wütend funkelte er mich an. „Pass doch endlich mal besser auf, du Bitch!“, knurrte er bösartig. Ehrlich gesagt schüchterte er mich schon ein du ich fragte mich, warum er so wütend war.

„Entschuldigung“, murmelte ich mit leicht piepsiger Stimme, die ihm nicht entging und mir auch nicht, was mich echt nervte. Er hatte mich gerade beschimpft, und ich tat nichts anderes, als mich zu entschuldigen! Ich gehörte echt mal in die Klapse. „Und jetzt verpiss dich“, grummelte ich und schubste ihn zur Seite, was mir nur gelang weil ich ihn überrascht hatte.  Der Typ war echt nichts für meine Nerven. Ich ging ein paar Schritte Richtung Rose und zeigte ihr mein Outfit. Mit ihrem Zeigefinge bedeutete sie mir, mich im Kreis zu drehen. Ich tat wie mir befohlen und zufrieden nickte sie.

„Ich besorg dir noch ein bisschen Schmuck“, zwinkerte sie mir zu und ging zu den Accessoires. Zurück kam sie mit ein paar zierlichen Silberketten und auch ein paar größere und längere waren dabei. Es passte irgendwie perfekt zusammen und wirkte doch irgendwie seltsam. Passte also perfekt zu mir.

„Heiß“, meinte Penelope und Tobi nickte zustimmend. Auch Luke hob den Daumen anerkennend nach oben. Das schmeichelte mir etwas, auch wenn ich wusste, dass sie logen. Wirklich gut sah ich nun echt nicht aus. Sie wollten mich nur aufmuntern.

„Was hältst du davon, Dave?“, fragte Rose an ihn gewandt.

Dieser zuckte nur mit den Schultern. „Sie sieht aus wie eine kleine Schlampe.“

Fassungslos starrte ich den Mistkerl an, auch die anderen wirkten leicht verstört. „Wie hast du Arschloch mich gerade genannt!?“, sagte ich leise und bedrohlich.

„Eine Schlampe. Hurentochter, wenn du so willst“, erwiderte er gelassen. Jap. Jetzt sah ich eindeutig rot. Niemand, niemand auf dieser Welt, beleidigt meine Mutter. Ich wiederhole gerne: Niemand!

Ich ging auf ihn zu und verpasste dem Typen einen Kinnhacken und dann gleich darauf einen Tritt in seine Eier. Dave, der das nicht kommen sah, gab Schmerzenslaute von sich und krümmte sich, hielt sich seine schmerzende Fresse. Ich hätte gerne weiter auf dieses Arschkind eingeprügelt, aber Rose hielt mich zurück.

„Süße, treib es nicht zu weit! Komm, du ziehst dich jetzt um und wir gehen in aller Ruhe nach Hause, in Ordnung?“, meinte sie in ruhigem, freundlichen Ton. Ich biss meine Zähne zusammen und nickte Widerwillen. Ich wusste, dass ich das nicht hätte tun sollen, aber Dave wusste, wie viel mir meine Mum bedeutete, und auch wenn er es als Beleidigung gegen mich ansah, beschimpfte er damit meine Mummy. Und das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen, zu Mal sie und ich keineswegs Schlampen waren. Oder sind. Keine Ahnung.

Ich atmete ein paar Mal tief durch und schüttelte kurz meine schmerzende Hand, denn die hatte bei meinem Schlag in Daves Gesicht auch ein bisschen was abbekommen. Aber bei weitem nicht so viel wie er selbst. Ha-ha. Hatte er davon, wenn er so einen Schwachsinn laberte. Ich meine, vor ein paar Tagen küsste er mich noch – mit Zunge – und heute war ich eine dahergelaufene Hure. Der hatte sie doch nicht mehr alle. Idiot.

 

Zuhause verstaute ich meine wenigen gekauften Sachen im Kleiderschrank.

„Du solltest dich bei ihm entschuldigen“, seufzte Rose nach einer Weile.

„Vielleicht“, meinte ich, „aber er sich auch.“

Sie nickte. „Sag mal, warum wolltest du eigentlich einkaufen?“

„Ich… ehm … nur so?“, fragte ich eher, als ich ihre Frage beantwortete. Unauffällig drehte ich mich von ihr weg.

„Lilly!?“, sagte sie drohend.

„Ich ehm.. gehe weg.“

„Wohin?“

„Kino.“

„Mit wem?“

„Einem Typen?“, piepste ich.

„Wer? Ein Date!? Wer???“, ich hörte die vielen Fragezeichen aus ihrer Stimme.

„Kennst du nicht“, log ich.

„Du lügst.“

Mag sein, aber ich wollte es ihr nicht sagen, denn sie würde mich dafür verurteilen. Meine Fresse, ich verurteile mich ja selbst deswegen! Ich weiß, dass es ein Fehler war, mit diesem Jungen dorthin zu gehen, alleine und in einem dunklen Raum, aber ich konnte nicht anders. Ich wusste nicht wieso, aber ich schätze ich hatte Gefühle für ihn. Und ich hatte Angst, dass er mich verraten würde, wenn ich nicht mit ihm ins Kino gehen würde. Aber ein Teil von mir wollte ihm auch noch eine Chance geben. Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, wieso. Liebe macht blind?

„Wann gehst du denn dort hin?“, gab Rose auf, weil ich weiterhin schwieg.

„Morgen Abend. Um neun Uhr“, meinte ich leicht nervös.

„Aha. Und wie heißt der Gute?“, verlangte sie zu wissen.

„Wenn das Date gut gelaufen ist, dann sage ich dir seinen Namen. Okay?“, schlug ich einen Kompromiss vor. Sie bejahte grummelnd.

 

Rose blieb noch eine Weile bei mir, ging aber dann um neun Uhr. Sie sagte, sie müsse nach Hause. Was natürlich völliger Schwachsinn war, denn sie ist 23 Jahre alt. Vermutlich wollte sie sich nur mit Tobi treffen, aber das hätte sie mir ja genauso gut ins Gesicht sagen können. Ich bin ja nicht aus Zucker und breche in Tränen aus, weil sie was Besseres zu tun hat, als mit mir abzuhängen. Ich wusste selbst, dass es bessere Zeitvertreibungen gibt, als in meiner Nähe zu sein. Ich mochte ja nicht einmal selbst meine Nähe. Allerdings schon etwas mehr, seit dem Gespräch mit meiner Mum. Na gut, es war eher eine Art Selbstgespräch, aber es hatte geholfen mir wenigstens vorzustellen, dass sie mir zugehört hat. Ich hatte ihr zum ersten Mal gesagt, dass ich sie vermisste und liebte und dass es mir leidtat. Ich hatte mir vorgenommen jetzt mindestens einmal im Monat ihr Grab zu besuchen, um ihr alles zu erzählen was mir passiert ist. Ich brauchte nämlich jemanden zum Reden, der mich a) nicht unterbrach und b) mich nicht verurteilen konnte. Seufzend zog ich mir meinen Pyjama an und legte mich dann ins Bett, auch wenn es erst neun Uhr war. Ich konnte allerdings nicht einschlafen. Wer hätte das gedacht?

Nach geschlagenen dreißig Minuten klopfte es an meiner Tür und ich murmelte ein ‚Herein‘. Jemand steckte seinen Kopf durch die Tür. Es war Dave.

„Was willst du“, meinte ich barsch und setzte mich im Bett auf.

„Mich entschuldigen.“

Verdutzt starrte ich ihn einen Moment lang an. „Wer hat gesagt, dass du das machen sollst?“, sagte ich dann nach einer Weile.

„Niemand. Es tut mir leid, was ich gesagt habe. Das hätte ich nicht tun sollen, denn es stimmt auch nicht. Ich war einfach wütend. Also Sorry. Und übrigens hast du ein paar echt harte Schläge drauf“, meinte Dave und verzerrte kurz sein Gesicht zu einer wehleidigen Grimasse. Er machte sich daran wieder zu gehen, doch ich hielt in auf.

„Mir tut es auch leid. Aber mach das nicht wieder. Ich will auch gar nicht wissen, was dir da ins Hirn geschissen hat, aber es ist schon okay. Ich hab dir ja dafür ein paar Schläge erteilt“, sagte ich und grinste dabei. „Naja, eigentlich will ich schon wissen, was dir ins Hirn gekackt hat. Muss ziemlich schlimm gewesen sein, wenn du schon ein unschuldiges Mädchen beleidigst, das keiner Fliege was zuleide kann.“

„Ich lach mich tot. Du und unschuldiges Mädchen.“ Er schnaubte verachtend.

 „Ich bin unschuldig! Besser als du Player allemal!“, motze ich.

„Ach ja? Du bist sicher nicht unschuldig. So wie du aussiehst, hattest du schon was mit hundert Typen!“, knurrte er aufgebracht.

„Ich bin noch-“ Fast hätte ich es gesagt, konnte mich aber gerade noch fangen. Ich hätte wirklich fast herausgeschrien, dass ich noch Jungfrau war! Gott war ich dämlich! „Ich bin noch immer sauer auf dich. Und jetzt verpiss dich aus meinem Zimmer. Eine schöne Entschuldigung war das, Dave! Bist du in allem so gut!?“, giftete ich ihn an. Tja, ich glaube wir waren einfach nicht als Freunde bestimmt. Oder dazu, ein vernünftiges Gespräch zu führen. Als er die Tür laut hinter sich zuknallte zuckte ich leicht zusammen. Dieser Blödmann! Kommt einfach hereinspaziert, entschuldigt sich und beschimpft mich dann gleich nochmal. Der hatte sie doch nicht mehr alle. Gibt es eigentlich eine Krankheit, bei der man seine Intelligenz verlieren kann? Wenn ja, dann glaube ich, dass Dave krank ist. Und das meinte ich vollkommen nett, gar nicht bösartig oder so. Nein, ich doch nicht!

Nach einer gefühlten Ewigkeit fiel ich dann endlich in den Schlaf. Leider in keinen so tollen wie letzte Nacht.

 

Ich hatte wieder schlecht geträumt und wachte laut schreiend auf. Ich war schweißgebadet und atmete unregelmäßig. Na toll, und ich hatte mich darüber gefreut, endlich mal ohne Albträume schlafen zu können. Meine Tür ging auf und ein heller Lichtschein kam hindurch.

„Alles okay?“, fragte mich Dave.

Ich schluckte schwer. Nein, es war nichts in Ordnung. Der Traum beunruhigte mich und machte mir Angst. „Ja, alles bestens. Was interessiert es dich überhaupt?“, fragte ich ihn mit zittriger Stimme, was mich natürlich sofort verriet. Blöde Stimme.

„Wenn du mich damit aufweckst, dann interessiert mich das. Was ist passiert? Schlecht geträumt?“, fragte er mich und ich konnte keinen Spott in seiner Stimme erkennen. Er machte sich nicht darüber lustig, dass ich wie ein kleines Mädchen Angst hatte.

Ich fuhr mir mit meinem Ärmel über mein Gesicht und beruhigte mich allmählich. Ich schloss für einen kurzen Moment meine Augen. „Alles okay. Du kannst ruhig wieder schlafen gehen.“

„Bist du dir sicher? Willst du mir vielleicht von deinem Traum erzählen?“, fragte Dave in einem freundlichen Tonfall. Ich schüttelte nur den Kopf.

„Nein, schon okay. Geh wieder in dein Zimmer.“ Er warf mir noch einen misstrauischen Blick zu, zuckte dann aber mit den Schultern und ging zurück in sein Bett. Als er weg war, atmete ich tief durch und versuchte meine Panik zu unterdrücken. Und es gelang mir eigentlich ganz gut.

 

 

 

 

***

 

 

 

Am Abend machte ich mich fertig für mein Date, doch ich war mir sowas von überhaupt nicht sicher, ob ich überhaupt noch hingehen sollte. Denn ich hatte ehrlich gesagt Schiss. Jap, Lilly hat Schiss. Krass, oder? Aber ich wollte nicht kneifen, auch wenn ich ein verdammt schlechtes Gefühl in der Magengegend hatte. Und nein, das war keine Nervosität, es war … Angst. Ich hatte Angst. Wer weiß, was er tun würde? Hatte er seine Entschuldigungen ernst gemeint? Aber egal, ich werde sicher nicht den Schwanz einziehen und nicht hingehen. Egal, wie sehr das Verlangen dazu war.

Rose fuhr mich zum Kino, wo ich mich mit ihm traf. Er wartete schon. Sobald ich ihn erblickte, nahm meine Übelkeit zu und wirklich – ich hatte unendliche Angst vor diesem Typen. Diese schleimigen Augen blickten mich von oben bis unten an, und ich fragte mich wirklich, warum ich nicht einfach eine Jogginghose und einen Schlabberpullover angezogen hatte. Seine schleimig-grünen Augen betrachteten mich begierig, was mir gleich noch mehr Angst machte. Mein Puls beschleunigte und in meinem Kopf rief mir eine Stimme zu, ich solle weglaufen solange ich noch eine Chance dazu hätte. Aber es war zu spät. Andrew stand schon vor mir. In den letzten Tagen hatte er mich immer mehr mit seinem Charme eingelullt und mir beteuert, wie sehr es ihm doch leidtat, doch mein Albtraum in dieser Nacht hatte mir wieder die Augen geöffnet. Welche Gefühle ich auch noch für Andrew gehegt hatte – sie waren weg. Verschwunden. Mit einem Mal, als hätte sie mir jemand rausgeschnitten. Ich empfand nur noch Ekel und Abscheu für Andrew. Oh, und Angst. Ich empfand es auf einmal als ziemlich dämlich, doch hergekommen zu sein, nur weil ich zu stolz war zuzugeben, dass ich Schiss hatte. Jetzt hatte ich den Salat.

„Schön, dass du hier bist, Kleines“, gurrte Andrew. Innerlich schüttelte ich mir seine ekeligen, schmachtenden und schleimigen Blicke vom Körper. Äußerlich versuchte ich krampfhaft zu lächeln, aber es endete in einer Grimasse. Andrew wollte aber nichts davon merken. „Komm, wir gehen besser rein. Der Film fängt gleich an.“

Ich nickte. „Ich muss aber noch kurz aufs Klo, okay?“, fragte ich dann zaghaft. Ich würde da rein gehen und den ganzen Abend nicht mehr rauskommen.

„Klar. Ich komme auch noch schnell mit.“ Verdammt!

Gemeinsam gingen wir in den Gang, in dem die Toiletten waren. Nichts ahnend griff ich nach dem rettenden Türgriff, als mich Andrew grob zurückzog.

„Denkst du, ich habe nicht geschnallt, dass du weglaufen willst? Komm schon, du müsstest wissen, dass ich nicht so blöd bin. Und du, kleine Lilly, bist einfach nur verdammt naiv. Ein naives, schwaches Geschöpf, voller Angst. Niemand wird dir jetzt helfen, alle Filme haben bereits angefangen, keiner wird etwas merken. Und du, Kleine, wirst es auch Niemandem sagen. Hast du verstanden? Tobi wäre sicher ganz scharf darauf zu wissen, was damals passiert ist, nicht wahr? Und auch deine ganzen Freunde, habe ich nicht Recht?“ Ich zuckte zusammen.

„Warum zur Hölle kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen? Was habe ich dir getan? Nichts! Ich habe dich nie verraten oder angezeigt, auch nicht deinen Vater, obwohl er dir eigentlich ein Polizei-Geheimnis erzählt hat. Reicht es dir nicht, dass du mir schon meine Mutter und meine kleine Schwester genommen hast? Musst du mir auch noch mein letztes bisschen Würde und Hoffnung nehmen?“, sagte ich in einem weinerlichen und schwachem Tonfall, und erst jetzt merkte ich, dass ich heulte. Na toll, ich zeigte mich hier als verletzliches Schaf vor dem großem bösen Wolf. Ein gefundenes Fressen.

„Es war nicht meine Schuld, dass deine Mutter gestorben ist“, sagte er trocken.

„Wer war denn m-mit mir auf der P-party? Hm? W-wer hat mich d-denn betrunken g-gemacht? W-wer wollte m-mir denn an die Wäsche?“, schluchzte und stotterte ich nun. Es schien Andrew zu verwundern, dass ich so heulen konnte. „Weißt du, ich h-hatte gehofft, dass du d-dich gebessert hättest. Aber du bist das selbe M-monster wie damals. K-kalt, herzlos und scheiße“, brachte ich meine Rede schniefend zu Ende.

Doch statt dass Andrew mich geschlagen oder beschimpft hätte blickte er mir nur tief in die Augen und ich sah Tränen in ihnen. Spinne ich jetzt!? Und dann kam wirklich etwas Unerwartetes: Er umarmte mich! Mit einer leergefegten Birne stand ich da und tätschelte ihm seinen Rücken. Ich hatte wirklich keine Ahnung, was da gerade passiert war. „Andrew? Muss ich das verstehen?“, flüsterte ich.

„Entschuldigung.“ Er löste sich von mir und wischte sich Tränen aus den Augen. Ohne Scheiß. Fragend und verwirrt sah ich ihn an. „Es tut mir Leid, Lilly. Ich bin ein schlechter Mensch. Du musst mir nicht verzeihen, oder vertrauen. Das erwarte ich gar nicht von dir. Aber lass mich dir eines erklären. Damals, als wir zusammen waren, da … also, ich habe dich geliebt, Lilly. Du warst so fröhlich. Und so nett. Durch dich konnte ich den Tod meiner Mutter verkraften. Lilly, es tut mir Leid, dass ich so scheiße zu dir war – und bin – aber ich schätze bei mir ist irgendetwas falsch gelaufen. Weißt du, ich wollte immer, dass du mich liebst. Das hast du aber nicht getan. Du hast meinen Stolz verletzt. Und als wir uns drei Jahre später wieder gesehen haben, da … sind irgendwelche Sicherungen bei mir durchgebrannt. Ich war wütend auf dich, auch wenn ich nicht das Recht dazu hatte. Und ich bin dir dankbar, dass du mich und meinen Vater nie angezeigt hast, selbst wenn ich dich erpresst habe. Es tut mir alles so schrecklich Leid, wegen deiner Familie, wegen dem was ich dir angetan habe, aber manchmal gehen meine Gefühle mit mir durch. Es tut mir Leid. Ich lasse dich ab sofort in Ruhe, du kannst mich anzeigen, ich werde niemandem etwas über den Unfall erzählen. Ich erwarte nicht, dass du mir vertraust, aber ich wollte, dass du weißt, dass ich dich liebe. Ich weiß, es klingt krank, aber es ist so.“

Ich war … schockiert, um ehrlich zu sein. Irgendwie konnte mein Gehirn sein Gesagtes nicht ganz verarbeiten, obwohl die Rädchen in meiner Birne sich wie verrückt drehten. „Wenn du versprichst, mich nie wieder vergewaltigen zu wollen, zu bedrängen oder zu schlagen, dann verzeihe ich dir.“ WAS!? Das hatte ich gerade gesagt, ohne es sagen zu wollen. Es ist mir einfach so rausgerutscht. Ich verstand Andrew nicht, und vermutlich werde ich das nie. Ich werde ihm auch nie wirklich vertrauen können, aber ich wollte ihm eine Chance geben, obwohl ich selbst nicht so genau wusste, warum. Vielleicht, weil ich wusste wie es war, seine Mutter verloren zu haben. Oder weil ich wusste, wie es war einsam zu sein.

„Versprochen. Es wird nie wieder vorkommen.“ Er hielt mir seine Hand hin, damit ich einschlagen konnte. Zögerlich kam ich dieser Geste nach, war mir nicht sicher, ob er mich nicht doch verarschen wollte. Aber er schien es ernst zu meinen.

„Hmm. Und jetzt?“, meinte ich nach einer Weile in der wir uns nur gegenüber standen.

„Ich könnte dich nach Hause fahren, wenn du willst. Oder wir könnten uns den Film ansehen…“

Wir sahen uns natürlich den Film an, wir hatten ja schon bezahlt. Es fühlte sich komisch an, gemeinsam dort zu sitzen und den Film anzusehen. Nennt mich dämlich, dass ich ihm einen Funken glaubte, aber ich konnte nicht anders. Ich würde Andrew zwar nie ganz verzeihen, vertrauen, geschweige denn lieben, aber ich wollte wenigstens nett zu ihm sein. Gerade eben, weil er es auch versuchte.

Der Tag mit Andrew war zwar irgendwie seltsam, aber auch ganz nett. Und als er mich nach Hause brachte, haben wir sogar über den Film kichern müssen. Und wer weiß? Vielleicht war Andrew doch nicht mehr so scheiße wie früher.

 

 

 

***

 

„Sagst du mir jetzt seinen Namen? Kenne ich ihn?“, platze es aus Rose heraus, kaum hatte ich die Küche betreten. Sofort waren alle Augenpaare auf mich gerichtete, denn Tobi, Dave, Luke Phil, Matt und Penelope waren auch anwesend. Also alle meine persönlichen Idioten waren hier. Toll. Musste ich ihnen jetzt wirklich sagen, was das mit Andrew war? Naja, besser nicht.

„Er heißt Alexander.“ Ein besserer Name war mir auf die Schnelle nicht eingefallen.

„Alexander, soso. Wieso hast du dich gerade mit dem Daumen am kleinen Finger gekratzt, Süße? Ich hoffe für dich, dass du und nicht angelogen hast, sonst wird das Ganze böse enden“, sagte sie warnend.

„Ich lüge nie, das weißt du doch“, sagte ich anklagen und versteckte meine Hände hinter meinem Rücken.

„Klar. Und jetzt sag seinen richtigen Namen. Was ist schon so schlimm daran?“

Wenn du wüsstest. Ich ließ die Luft aus meinen Backen. „Aber du versprichst mir, nicht auszurasten? Mich nicht zu verurteilen? Oder sonst irgendeine Reaktion, mit der ich nicht einverstanden bin?“

„Versprochen“, grummelte sie nun.

„Andrew?“, piepste ich schuldbewusst.

„WAS!?“, riefen Rose und Tobi gleichzeitig aus, weswegen ich zusammenzuckte.

„Es ist aber nicht so, wie ihr denkt…“, versuchte ich sie zu beruhigen, doch Rose stand schon mit erhoben Finger und wütendem Gesicht vor mir, sodass ich inne hielt. Sie setzte gerade zu einer Predigt an, als Penelope sie unterbrach. „Wer ist Andrew, und warum ist das so schlimm?“

„Ja, genau, Lilly? Warum ist das so schlimm?“, sagte Rose hämisch und verschränkte ihre Arme abwartend vor ihrer Brust. War jetzt etwa meine Strafe, dass ich es ihnen erzählen musste? Ihnen ALLEN!?

„Ist es nicht“, sagte ich zuckersüß und schenkte allen ein Lächeln.

„Lilly, warum erzählst du es ihnen nicht? Sie sind doch sowas wie deine Freunde.“

„Meine zwei besten Freunde wissen es aber schon, das muss genügen. Und Rose, du weißt selbst am meisten von allen, also reg dich nicht auf“, sagte ich beschwichtigend.

„Bitte erzähle es uns!“, bettelte Penelope begeistert. Wenn sie es erst einmal weiß, dann würde sie es sicher nicht mehr so gerne wissen. Ich setzte mich zu ihnen an den Tisch.

„Wenn ihr versprecht, nicht weiter nachzufragen, oder es irgendjemandem zu erzählen? Ansonsten gibt’s Prügel von mir und Rose, und das meine ich ernst“, ich blickte auffordernd zu meiner besten Freundin, die zustimmend nickte. Auch alle anderen nickten brav.

„Okay, dann sag ich’s euch. Andrew ist ein Arschloch. Vor drei Jahren hat er mich fast vergewaltig. Aber Tobi hat mich gerettet. Und drei Jahre später, da bin ich ihm wieder begegnet. Und er wollte mich wieder vergewaltigen. Sein Pech war, dass er mich in der Schule getroffen hat. Deshalb hat er mir nur in den Magen getreten – verdammt fest – und ist auf meinen Fuß gestiegen, dann ist er abgehauen. Und heute war ich mit ihm im Kino.“ Ich sagte alles vollkommen kühl, ohne Emotionen, hielt meine Rede lächerlich kurz. Aber ich wollte nicht ausführlicher werden. Mit Mühe unterdrückte ich meine Erinnerungen. Es war vorbei – Andrew hatte mich um Vergebung gebeten. Er wollte nett sein, vielleicht sogar mit mir befreundet sein. Es gab keinen Grund mehr, Angst vor ihm zu haben, Vergangenheit war Vergangenheit.

Mühsam riss ich meinen Blick von meinen verknoteten Händen und blickte hoch in die schockierten Gesichter von meinen ‚Freunden‘.

„Oh. Mein. Fuck.“, kam es langsam von Penelope. Langsam erhob sie sich und schritt rund um den Tisch herum. Ich folgte ihr mit meinen Augen und dann fiel sie mir plötzlich in die Arme. „Sorry, ich hätte nicht fragen sollen.“

„Ist schon okay. Es gibt Schlimmeres.“

„Was könnte schlimmer als das sein?“

Plötzlich fingen meine Augen an feucht zu werden. Ich versuchte sie wegzublinzeln, doch es klappte nicht ganz. „Ich sagte keine Fragen“, kam es mit erstickter Stimme von mir und ich riss mich von Penelope los. Ich stürzte die Treppe hoch und schloss mich im Bad ein. Dort hockte ich mich auf den Badewannenrand und atmete tief durch, um nicht in Tränen auszubrechen. Ich war keine Heulsuse, die immerzu weinte. Ich war stark, klug und ich war einfach ich. Ich würde hier nicht wie ein Wasserfall weinen, nur weil ich mich an den Autounfall erinnerte. Sonst hatte ich mich doch auch unter Kontrolle, da würde ich es auch dieses Mal schaffen. Selbst wenn ich gerade meinen persönlichen Idioten (Damit meine ich die Deppen unten in der Küche) etwas aus meiner Vergangenheit erzählt hatte.

„Lilly, alles okay?“ Jemand klopfte an der Tür. Ich seufzte.

„Alles in bester Ordnung. Darf ich nicht mal in Ruhe pinkeln? Ihr seid echt krank!“, grummelte ich durch die Tür.

Daraufhin musste Tobi lachen. „Schon gut. Ich dachte nur, es wäre … naja egal. Wir sehen uns nachher bei Dave einen Film an. Willst du mitgucken?“

„Ehh… klar, warum nicht.“ Dave ging wieder und ich blickte in den Spiegel. Aus meinem Dutt hatten sich einige schwarze und orange-rote Strähnen gelöst und umrahmten mein Gesicht. Ich hatte den Schwarz und rot gepunkteten Rock an, dazu das rote Top und die Weste, natürlich war der Schmuck auch dabei. Ich atmete noch einmal tief durch und machte mich dann auf den Weg in Daves Zimmer.

Dort guckten wir uns irgendeinen Action-film an, bei dem ich die Hälfte schon wieder vergessen hatte. Und zu allem Überfluss wollten sie dann noch Wahrheit oder Pflicht spielen. Obwohl ich schon hundemüde war, machte ich mit.

„Dave, Wahrheit oder Pflicht?“, grinste Phil. Oh-oh, er hatte schon einen Plan. Ich mag seine Pläne nicht.

„Ehm, Pflicht“, sagte Dave.

„Gut. Leck Salz von Lillys Schulter.“

„Holt jemand Salz?“, fragte Dave gelassen in die Runde. Luke holte es freiwillig. Ich warf Tobi und Rose nervöse Blicke zu und leckte mir ängstlich über die Lippen. Auch meine beiden besten Freunde wirkten verunsichert. Vor allem, weil Dave links von mir saß. Tja, ehh … schöne Scheiße.

„Muss unbedingt ich das Opfer sein?“, fragte ich nervös.

Phil lachte nur und nickte dabei. „Und versuch gar nicht erst, dich rauszureden oder zu wehren. Wenn’s sein muss, dann halte ich dich sogar fest.“

Luke kam zurück und reichte Dave das Salz. Mein Herzschlag beschleunigte sich und ich bekam langsam aber sicher Panik. Sie sollten nicht alle meine Narben sehen!

Gerade wollte Dave sich daran machen, mir die Weste von meiner linken Schulter zuschieben, als ich vor ihm zurückzuckte. „Nein, nimm die andere Schulter.“

„Wieso?“, fragte er daraufhin verwirrt.

Ich räusperte mich. Dafür hatte ich leider keine Ausrede. „Ist besser so. Glaub mir einfach.“

Er zuckte nur mit den Schultern und setzte sich auf meine andere Seite. Dort schob er mir die Weste hinunter und leckte einmal über meine Schulter. Eine Gänsehaut überkam mich und mir lief es kalt den Rücken hinunter. Dann schüttete er ein bisschen Salz darauf und leckte wieder darüber. Seine heiße Zunge traf wieder auf meine kühle Haut und es fing an in meinem Bauch zu kribbeln.

„Taddaaa!“, sagte Dave wenig begeistert und reichte Phil das Salz.

Ich schob wieder meine Weste hoch und wischte mir Daves Spucke von der Schulter. Wenn ich ehrlich war… es hatte sich irgendwie … gut (?) angefühlt. Jap, jetzt war ich  eindeutig ein Fall für die Klapse.

Auf jeden Fall haben wir dann noch ein wenig weiter gemacht, aber richtig interessant wurde es nicht mehr. Gegen zwei Uhr morgens ging ich dann schlafen.

 

10.Kapitel

Am Montag war dann wieder Schule. (Nein, wirklich? Wer hätte das gedacht?) Auf jeden Fall bin ich ganz normal in die Schule gegangen. Aber dann… ist was Seltsames passiert. Ich habe in der Schule aufgepasst! Ne, ohne Scheiß jetzt. Und naja, da ist mir aufgefallen… dass ich intelligent bin. Wirklich, das ist keine Verarsche! Ich war richtig gut. Ich wusste zwar nicht, was das jetzt bedeuten sollte, aber vielleicht würde ich ja bessere Noten bekommen, und auf ein gutes College kommen? Ich wusste zwar nicht, woher auf einmal der Sinneswandel kam, doch ich würde mich bessern. Meine Mum hätte das so gewollt, ganz bestimmt.

Als es läutete ging ich noch kurz auf die Mädchentoilette, danach würde ich mich in der Cafeteria mit Tobi und den anderen treffen. Als ich mir gerade die Hände wusch, kamen eine wasserstoffblonde Tussi und ihre Gefolgschaft rein. Sie alle musterten mich von oben bis unten, hatten dabei die ganze Zeit wie blöde die Brust rausgestreckt, obwohl nicht einmal ein Typ in der Nähe war. Denke ich zumindest, außer einer von denen  wäre in Wirklichkeit ein Mann und hätte sich die Körbchen Größe Doppel D nur operieren lassen. Wobei, letzteres hatten sie wahrscheinlich alle gemacht, ob Frau oder Mann. Diese Tatsache ließ mich innerlich die Augen verdrehen.  Ich ging zur Tür, aber der Haufen verblödeter Hühnchen wollte nicht zur Seite weichen.

„Könntet ihr bitte Platz machen?“, fragte ich so nett wie ich konnte.

Eine Brünette vor mir kaute laut schmatzend ihren Kaugummi. „Nee.“

„Verpisst euch, ihr minderbemittelten Zicken“, sagte ich barsch und schubste die blöde Schnepfe zur Seite. Leider standen da noch weitere sechs Puten. Ich seufzte.

„Muss ich euch erst wie Moses das Meer in der Mitte teilen, damit ihr euch veruriniert, oder reicht’s euch in die Fresse zu spucken?“, grummelte ich.

„Was denkst du eigentlich wer du bist!?“, keifte die wasserstoffblonde Anführerin.

„Moses. Ich dachte, ihr hättet das kapiert“, murrte ich. Die Tussen gaben ein empörtes Schnauben von sich. Mir war es Leid um die verschwendete Zeit und so drängelte ich mich einfach durch die Bitches durch, schubste sie natürlich damit zur Seite. (Völlig unabsichtlich, natürlich. He-he)

Dann machte ich mich gemütlich auf den Weg zu meinen persönlichen Idioten. Ich schnappte mir ein Tablett, und holte mir mein Essen, bestehend aus … keine Ahnung was das war. Kartoffelbrei mir Erbsen und Karotten vielleicht? So oder so ähnlich sah es hald aus.

Ich ließ mich neben Matt nieder und seufzte theatralisch, es schien aber niemanden zu interessieren. Ich seufzte noch lauter und legte meinen Handrücken an meine Stirn, damit das alles dramatischer wirkte. JETZT hatte ich ihre volle Aufmerksamkeit. Na gut, nur Matt sah mich stirnrunzelnd an. Aber das genügte mir.

„Heute ist was ganz Schlimmes passiert“, sagte ich in einem mitleidserregenden Tonfall.

„Was denn?“, mischte sich nun auch Tobi ein und irgendwer grunzte was Unverständliches über den Tisch. Jungs eben. Nur Penelope lächelte mir aufmunternd zu, doch auch sie blickte mich fragend an.

„Ich habe heute herausgefunden, dass … *dramatische Pause* ich intelligent bin. Krass, oder?“, sagte ich bestürzt. Dave lachte sich den Arsch ab.

„Ist klar, sonst noch Wünsche?“, fragte Dave mich immer noch lachend. Ich zog eine Schnute.

„Tobi, sag ihm, dass ich intelligent bin!“, forderte ich in schmollend auf. Dieser musste sich ein Grinsen verkneifen und schüttelte den Kopf. „Das kann ich leider nicht“, gab er zu.

 „Hey! Ihr macht mich ja richtig depressiv!“ Ich schob meine Unterlippe vor und blickte traurig drein.

„Das Wort nach dem du suchst ist ‚aggressiv‘, Kätzchen“,  kicherte Tobi und zwickte mich in meine Seite. Ich zwickte ihn zurück. „Schnauze.“

„Siehst du? Aggressiv“, meinte er daraufhin besserwisserisch.

„Warum stellt ihr alle meine Intelligenz in Frage? Voll gemein. Ihr seid doof.“ Mit einem Hundeblick sah ich Penelope in die Augen, wartete ob sie mich verteidigen würde. Aber nix da, sie kicherte nur bösartig. Ich seufzte ergeben. „Tolle Freunde seid ihr. Abe hey, das Selbe würde ich auch über euch sagen, also darf ich euch wohl nicht böse sein.“ Jetzt grinste auch ich und konnte nicht anders, als leise zu kichern. Vor allem weil Penelope mich mit einem empörten Gesichtsausdruck anstarrte.  Ich streckte ihr meine Zunge entgegen und schob mir dann einen Löffel von der Kartoffelpampe in den Mund.

Und spuckte sie gleich wieder aus.

„Was ist das denn für ein Scheiß? Da kriegt man ja Brechreiz!“ Ich nahm mir ein Taschentuch und wischte mir die ekelhaften Reste von meiner Zunge.

„Jep. Das Zeug schmeckt wie Hundefutter“, stimmte Luke mir zu.

„Du weißt also, wie Hundefutter schmeckt?“, grinste ich Luke an. Dieser schnaubte nur. „Moment mal! Wenn ihr wisst, wie scheiße das Zeug schmeckt, wieso habt ihr es mir dann nicht gesagt?“, meinte ich empört.

„Okay, ich muss zugeben, du bist vielleicht doch ein bisschen klug. Weil du’s rausgefunden hast.“

„Halt die Klappe, Tobi.“

„Zu Befehl, Kätzchen.“

„Miau.“ Jetzt musste ich doch wieder grinsen. Miau habe ich früher ständig gesagt. Ist sozusagen ein Universal-Wort. Kann man immer und überall sagen, und es hört sich noch nicht mal so dämlich an.

 

Nach der Schule musste ich natürlich noch für das Schultheater helfen. Aber heute war zum Glück endlich das letzte Mal! Dann habe ich wieder Freizeit! Yeaah!

 

Nach der Schule ging ich gemütlich in die Küche, und wer wartete dort schon? Jap, die ganzen Idioten. Aber es waren meine Idioten. Und Rose war auch da. Nicht, dass ihr jetzt denkt sie wäre keine Idioten – denn das ist sie schon – aber man sollte sie einfach extra erwähnen. Sonst kann sie verdammt wütend werden. Und man will Rose echt nicht wütend erleben. Ich setzte mich also zu den Deppen an den Tisch, gegenüber von Dave und lehnte mich entspannt zurück. Es war heute ein wenig anstrengen gewesen, weil wir das ganze Zeug herumtragen mussten – und ich musste helfen. Ich! Obwohl ich ein schwaches Mädchen war! Echt fies. Aber egal, passiert ist passiert. Nur leider taten mir jetzt meine Füße vom ständigen hin-und her hechten weh.

„Anstrengender Tag?“, fragte Rose neben mir, während die anderen wild durcheinander redeten. Manchmal fragte ich mich echt, ob die überhaupt ein eigenes Zuhause haben. Ich nickte als Antwort auf Rose‘ Frage. „Wie lief es mit Andrew?“, fragte sie weiter.

„Ganz gut. Er ist ganz nett. Ich will ja jetzt nicht zu viel mit ihm zu tun haben, ich vertraue ihm noch nicht ganz. Aber er ist ganz okay“, sagte ich leise. Musste ja nicht gleich jeder mitbekommen. Rose nickte. Ich atmete tief durch und lehnte meinen Kopf gegen Rose‘ Schulter. „Ich bin müde.“ Sie tätschelte mir den Kopf. Ich krabbelte mit meinen Füßen irgendwelche Beine hoch und legte sie auf Knien ab. Gleich viel besser. Aber dann fing dieser Jemand an, mich zu kitzeln.

Ich lachte laut auf und versuchte die Hände wegzutreten. Daves Hände, aber er blieb hartnäckig. Ich gab auf und zog meine Füße zurück zu mir. Dann aß ich mein Abendessen.

Nach einer Weile fielen mir aber schon fast meine Augen zu, also verabschiedete ich mich von allen und hüpfte noch schnell unter die Dusche. Als ich aus dem Badezimmer trat, stand direkt vor mir Dave. Ich versuchte an ihm vorbeizugehen, aber r hielt mich am Arm fest. Fragend blickte ich zu ihm hoch, in seine Augen. Seine Augen, die aussahen wie die Welt. Augenblicklich zogen sie mich in einen Bann, obwohl sie das nicht sollten. Aber ich konnte und wollte mich nicht losreißen.

Dave und ich sagten beide nichts, starrten uns nur schweigend an. Aber dann kam sein Gesicht meinem langsam näher. Und ich konnte mich nicht wehren. Ich ließ ihn auf mich zukommen. Er schob mir sanft eine meiner Haarsträhnen hinter die Ohren und legte seine Hand an meine Wangen. Ich streckte mein Gesicht seinem entgegen und dann legte er seine Lippen sanft auf meine. Schlagartig tauchte ein Kribbeln in meinem Bauch auf ich legte meine Hände reflexartig in Daves Nacken und zog ihn näher zu mir. Auch seine Lippen wurden drängender. Seine heißen auf meinen kühlen Lippen. Es war ein wunderschönes Gefühl. Seine Zunge strich sanft an meiner Unterlippe entlang und ich öffnete bereitwillig meinen Mund. Ich hatte das Gefühl zu fliegen, Mein ganzer Körper kribbelte und es war, als wäre ich schwerelos. Ich vergaß den Rest der Welt um uns herum. Seine Zunge spielte mit meiner, und er war echt gut darin. Er konnte fantastisch küssen und er hatte so unglaublich weiche Lippen… Seine Arme schlangen sich um mich, hielten mich fest. Dann lösten wir uns gleichzeitig von einander, um Luft zu holen. Mein Atem ging schwer, mein Herzschlag war beschleunigt. Ganz klar: ich konnte keinen richtigen Gedanken führen. Alles war wie benebelt, wenn ich in seine Augen sah, seine Augen so groß wie die Welt. Sie gingen ins unendliche, so wunderschön…

Einen unglaublich langen Moment sahen wir uns nur in die Augen und sogen die Luft in unsere Lungen. Bis er sich dann räusperte, mich los ließ und sich verlegen durch die dunklen Haare fuhr, sie jedoch dadurch nur noch mehr verwuschelte. Das sah echt verdammt niedlich aus. Ich meine, es sah scheiße aus. Genau. Scheiße, wirklich. Ich mochte Dave nicht. Kein bisschen. Er ist ein Player und deshalb mag ich ihn nicht. Genau, tu ich nicht. Ich habe keine Gefühle, für niemanden. Auch nicht für ihn.

Fragend zog ich meine Augenbraue nach oben.

„Ehmm… du weißt vielleicht, dass ich ziemlich neugierig bin und… da wollte ich hald fragen, also, ich wollte wissen wie deine Narbe aussieht. Du weißt, dass ich das schon lange wissen wollte. Und dann wollte ich noch wissen, was das im Wald war, als ich dich abholen musste. Und woher hast du die Narbe? Und was war das mit Andrew genau? Und…-“

„Das sind ganz schön viele Fragen“, wich ich nervös aus. Ich hatte ehrlich gesagt nicht vor, auch nur eine davon zu beantworten. Das ging ihn einen Dreck an. Ich wollte in mein Zimmer stürmen, aber wieder hielt mich Dave davon ab. „Kannst du mich nicht mal in Ruhe lassen!?“, keifte ich ihn an und versuchte mich aus seinem Griff zu winden.

„Habe ich doch für ein paar Tage. Jetzt will ich mal ein paar Antworten.“

„Die wirst du aber nicht bekommen. Nicht mal, wenn ich abgelenkt bin!“, sagte ich trotzig.

„Ach ja? Ich bin mir sicher, wenn ich dasselbe wie gerade mache, wirst du so abgelenkt sein, dass du es mir sagst.“

Das war wie ein Schlag in die Magengrube. „VERPISS DICH!“ Heftig trat ich auf seinen Fuß und rauschte an ihm vorbei ins Gästezimmer, wo ich mich einsperrte. Im Bett brach ich sogleich in Tränen aus. Ja, das war schwach und vollkommen dämlich von mir, aber ich konnte nicht anders. Ich hatte Dave als ersten Jungen seit drei Jahren so nahe an mich rangelassen, und er tat das nur, um mich auszuquetschen. Um mich hirnlos zu machen, wie die Barbiepuppen in der Schule. Damit das Geheimnis um die mysteriöse, dämliche, weinerliche, leicht zu manipulierende Lilly gelöst ist. Toll, Lilly. Ganz, ganz toll. Du bist wirklich klug! Entwickelst tatsächlich Gefühle für so ein Arschloch. Manchmal könnte man echt denken, du hättest den IQ eines Toasts. Oder du wärst im Minus-Bereich. So oder so, du bist dumm. Ich bin wirklich dumm. Scheiße, ich bin saudämlich. Verärgert von mir selbst hämmerte ich mir ein paar Mal mit der flachen Hand auf die Stirn. Dabei strömten die Tränen wie ein Wasserfall meine Wangen hinab. Aber wenigstens konnte ich diesmal ohne einen Laut zu machen weinen. In letzter Zeit ist mir das ja nicht gerade gelungen.

Ich legte mich auf dem Bauch in mein Bett, drückte mein Gesicht ganz fest ins Kissen und schrie laut. Es klang durch das Kissen nur gedämpft durch, aber ich brauchte das jetzt einfach. Ich glaube, ich wurde gerade wieder depressiv.

Mein Mum ist tot. Meine Schwester ist tot. Mein Gehirn ist tot. Was denn noch alles!?

Und ich hatte gedacht, dass ich jetzt intelligent wäre. Tja, falsch gedacht. Anscheinend war das nur Wunschdenken. Ich bin manchmal aber auch so unendlich dämlich! Grrr..!! Ich dumme Kuh lasse mich einfach so von Dave küsse. Gut, machen wir uns nichts vor, ich hab ihn auch irgendwie zurückgeküsst. Ich glaube, an schlechten Tagen schaltet sich einfach manchmal aus Spaß mein Hirn aus… Ich hab Lust auf Erdbeeren.

Da, schon wieder! Echt, nach der Zeit kann das voll nerven. Ist hald eine schlechte Angewohnheit von mir. Ich glaube, ich bin als Kind mal auf den Kopf gefallen und das Männchen in meinem Kopf, das mein Hirn steuert, hat eine Gehirnerschütterung davon bekommen. Seitdem ist der Typ nicht mehr ganz dicht, und vergisst manchmal, den richtigen Schalter zu betätigen. Aber hey, das ist nur meine Theorie. Es könnte auch eine Frau sein.

 

Nachdem ich mich in den Schlaf geweint hatte, ja hatte ich wirklich, ging es mir besser. Naja, ein bisschen zumindest. Die Tatsache, dass wieder einmal Schule war, half mir nicht wirklich. Vor allem weil ich dann höchst wahrscheinlich Dave in Geografie sehen werde. Naja, außer er schwänzt die Schule. Aber warum sollte er? Wenn ich er wäre, würde ich vermutlich gern in die Schule gehen (mal abgesehen vom Lernen). Ich meine, er sieht gut aus, ist beliebt, ist Footballer und wird von allen Mädchen angehimmelt. Und im Gegensatz zu mir wird der Typ sicher nicht beleidigt. Aber ist mir auch gleich. Was interessiert es mich schon? Gar nichts. Echt nicht. Sollen andere ruhig über mich reden, ich habe meine persönlichen Idioten, das sind genug Freunde. Das sind mehr Freunde, als ich in meinem Leben je hatte, also ist das okay. Und sie sind meistens sogar nett.

 

 

In der Schule war anfangs noch alles okay. Naja… bis zur Geografie Stunde. Dort setzte sich Dave nämlich genau neben mich. Ich denke der wollte mich nur nerven. Nein, er wollte mir mein Leben zur Hölle machen!

„Lilly?“, flüsterte er. Ich reagierte nicht. Auch nach weiteren zehn Lilly-Rufen zeigte ich keine Regung und versuchte mich auf Miss Mople zu konzentrieren. Ja, genau. Miss Mople, ich hatte sie in Geschichte und in Geografie.  Jetzt könnte  man sich zum Beispiel denken, warum ich diese beiden Fächer hasste.

Egal, nach einer halben Minute hörte Dave auf mich zu nerven und ich atmete erleichtert aus. Doch ich hatte mich zu früh gefreut. Im fünf Sekunden Takt stach er mir mit einem Bleistift in meine Seite. Und das kitzelte wie verrückt! Ach ja, und es war Nerv tötend. Ich hielt mir auch den Arm davor, damit er es nicht weiter tun konnte, aber nix da! Er stocherte einfach auf meinem Arm weiter rum. Sogar die anderen hatten Dave schon bemerkt und kicherten leise.

„Hör auf!“, zischte ich ihm leise zu.

„Lilly, ich muss mit dir reden“, flüsterte er zurück.

„Halt doch endlich die Klappe!“, grummelte ich leise. Ich war sowas von wütend auf den Penner. Alles was der von mir wollte waren meine Geheimnisse. Und diese würde ich ihm nur über meine Leiche erzählen.

„Li-hii-lly!“, wisperte er neben meinem Ohr und ich verdrehte meine Augen. Als ich keine weiteren Reaktionen zeigte stocherte er weiter auf mir rum. Ein paar Jungs hinter uns lachten sich schon leise den Arsch ab, was mich innerlich kochen ließ. Ich hasste es, wenn man mich auslachte.  Lange würde ich mich nicht mehr unter Kontrolle haben. „Ich muss nachher mit dir reden, okay?“, sagte er wieder leise. Kaum merklich schüttelte ich meinen Kopf.

 „Bitte?“ Wieder fing er an, mich zu pieken. Der Junge konnte einen mit seiner nervigen Art wirklich in den Wahnsinn treiben, im Ernst. Mich wunderte es nur, dass Miss Mople nichts merkte. Aber die war mit sich selbst viel zu sehr beschäftigt, in dem sie irgendwelches Zeugs an die Tafel kritzelte. Ich wünschte sie würde Dave bemerken und in dazu verdonnern, nachzusitzen, dann würde er wenigstens endlich aufhören. Denke ich zumindest. Aber das Schlimmste war ja: wir hatten noch eine halbe Stunde Unterricht. Und wenn das so weiter ginge, würde ich noch jemanden (Dave) umbringen. Und mir würde es sicher nicht leidtun. Und mein Arm tat langsam von seinem Rumgestochere schon weh, auch wenn er nicht fest stach.

 Nach weiteren fünf Minuten wurde es mir dann zu bunt, und ich hatte eine geniale Idee. Als er das nächste Mal mit seinem Stift in meine Nähe kam, schnappte ich ihn dem einfach aus der Hand. Haha! Das hatte er nicht erwartet! Ich zeigte ihm meine Zunge.

Warum war mir das eigentlich nicht schon früher eingefallen?

Aber ich hatte mich zu früh gefreut. Weil, so klug wie der Depp war.. was hat er wohl getan? Na? Er hat einfach einen anderen Stift genommen. Ohne Scheiß! Und ich war natürlich kurz vorm Auszucken. Hätte nicht mehr viel gefehlt. Dave brachte mich wirklich auf die Palme. Zuerst küsst mich der Idiot, damit ich weiche werde und ihm meine Geheimnisse erzähle, und dann nervt er mich ohne Ende. Würde mich nicht wundern, wenn ich wegen ihm krepieren würde.

„Lilly?“, begann er wieder. Und jetzt riss der Faden meiner Geduld.

„MEINE FRESSE, HÖR DOCH ENDLICH AUF!“, schrie ich ihn wütend an, und nun bekam auch Miss Mople was mit. Hat ja lange gedauert.

„Miss Miller, gibt es ein Problem?“, fragte sie zähneknirschend. Die dachte wohl, ich hätte sie gemeint.

„Jep. Dave nervt mich die ganze Zeit. Er piekst mich mit einem Bleistift in den Arm.“ Ich warf Dave einen bitterbösen Blick zu. Ein paar Leute um uns herum kicherten, weil ich mich wie ein kleines Kind anhörte, das jemanden verpetzt. Was ja irgendwie auch so war.

Miss Mople seufzte und sie wirkte ernsthaft erschöpft. Ehrlich, sie wirkte nicht streng und autoritär, sondern müde und ein bisschen schwach. „Dave, du wirst heute nachsitzen.“

„Aber Miss Mople! Lilly hat mich ebenfalls gestört. Ja, ehrlich. Sie hat mich die ganze Zeit mit ihrem Fuß getreten. Außerdem hat sie mit ihrem Wutausbruch den Unterricht gestört, finden sie nicht? Also, ich denke sie sollte auch nachsitzen.“ Er sagte das alles vollkommen gelangweilt und gelassen, lehnte sich lässig auf seinem Stuhl zurück. Seine Augen ruhten die ganze Zeit auf mir, während er das sagte. Im Ernst, der Scheißtyp ist ein echter Mistkerl.

„Stimmt gar nicht“, warf ich dann noch ein, aber Miss Mople reagierte nicht darauf.

„Von mir aus. Beide nachsitzen“, brummte sie und wandte sich wieder der Tafel zu.  Ich drehte mich zu Dave um und verpasste ihm einen schmerzhaften Fußtritt, so wie er es sich gewünscht hat. Naja, nicht direkt, aber wenn ich schon nachsitzen sollte, dann auch für etwas, das ich wirklich getan habe. Außerdem geschieht es ihm Recht. Dave neben mir grummelte nur vor sich hin und ich musste mir innerlich einen ablachen. Jap, ich bin hald gestört, was soll’s?

 

Tja, ich musste nachsitzen. Und es war wirklich sterbenslangweilig. Wir waren genau drei Personen: Ich, Dave und Andrew. Ich hatte Andrew gefragt, warum er denn hier sei, und er antwortete nur, er habe ‚aus Versehen‘ etwas an die Wand im Jungs Klo gesprayt. Irgendjemand hatte ihn dabei gesehen und ihn verpfiffen. Dumm muss man schon sein… Aber egal. Unsere Aufsichtsperson war auch nicht gerade die Lebendigkeit in Person. Nein, im Ernst, man könnte meinen, sie würde gerade auf dem Stuhl verrecken. Sie schnarcht und sabbert und macht erstickende Laute. Klingt wirklich nicht schön, muss man dazusagen. Aber so können wir uns wenigstens unterhalten, stimmt’s? Denkste! Andrew macht irgendwas mit seinem Handy und Dave macht … keine Ahnung wenn ich ehrlich bin. Ich versuche nämlich, ihn zu ignorieren. Immerhin durfte ich mir den Mist wegen ihm antun.

„Lilly, kannst du kurz mitkommen?“, fragte Dave mich und tippte mir an die Schulter, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen.

„Nein.“

„Dann lässt du mir keine andere Wahl.“ Er stand von seinem Platz auf, schritt hinter mich und schob den Stuhl, der auf dem ich saß, beiseite und zerrte mich von ihm runter. Ich wollte mich wehren, ehrlich, aber er war einfach so stark… Rarrw… Ups. Meine Hormone drehen wieder durch. Aber er sah ja auch einfach zu heiß aus!

Ich riss mich zusammen und räusperte mich kurz. „Lass mich los.“

„Nein, du kommst jetzt mit. Sorry, aber ich muss mit dir reden.“

„Dann rede hier mit mir.“

„Ich will alleine reden.“ Sein Blick fiel auf Andrew, und auch dieser sah nun zu uns rüber.

„Gibt’s ein Problem?“, wollte er wissen. Dave und ich schüttelten gleichzeitig unseren Kopf. Gleich darauf schnappte sich Dave mein Handgelenk und zog mich mit sich aus dem Raum. Ich ließ es murrend über mich ergehen. Nach dem wir dann aus dem Raum rausgetreten waren ließ er meine Hand in seine rutschen. Seine Hände waren im Gegensatz zu meinen Zierlichen, echt groß. Aber es fühlte sich irgendwie gut, richtig an.

Ich musste den Kopf über meine dämlichen Gedanken schütteln und wäre fast in Dave hineingelaufen, als er abrupt stehen blieb.

„Ich wollte mich bei dir entschuldigen“, fiel er mit der Tür ins Haus.

„Und wofür?“, meinte ich verwirrt.

„Ehm… für den Kuss? Weil das gemein war?“, gab er nun etwas unsicher zu. Nee, ich musste mich täuschen. Dave war nie unsicher, warum auch?

„Ach so. Ist mir egal. Aber wie kommst du darauf, dass ich dir wegen einem Kuss – einem nicht besonders Guten noch dazu – irgendetwas erzähle? Hat dir irgendein anderer Footballer dein Gehirn zermatscht, das eh nur mäßig vorhanden war?“, log ich. Ich hatte eine ausdruckslose Maske aufgesetzt, die verbarg dass mir das eigentlich schon was ausmachte. Ich habe immerhin auch Gefühle.

„Hey! So schlecht war der auch wieder nicht. Und sag bloß nichts gegen mein Gehirn – oder Football. Außerdem kannst du ruhig zugeben, dass du meinem Charme untergeben bist.“

„Welchem Charme?“, grinste ich und er verdrehte seine Augen. „Und du gibst also zu, dass dir der Kuss gefallen hat? Interessant“, schmunzelte ich dann.

„Hat er gar nicht.“

„Und ob. Hast du gerade gesagt, rausreden bringt nichts.“ Ich streckte ihm frech meine Zunge raus.

„Du küsst wie ein sabbernder Ameisenbär“, meinte Dave abfällig und mein Lächeln verschwand augenblicklich.

„Dann musst du es ja zum Glück niemals wiederholen.“ Ich drehte ihm den Rücken zu und er seufzte, aber ich ging einfach zurück ins Klassenzimmer. Was hatte dieses Arschkind, dass er mich immer beleidigen und runtermachen musste? Naja, wahrscheinlich hatte ich mit meiner Aussage einfach nur sein männliches Ego angekratzt. Aber das war mir egal, dieser Idiot sollte mir bloß nie wieder unter die Augen treten. Aber jetzt mal im Ernst – sabberte ich wirklich beim Küssen? Ich meine, woher sollte ich das denn wissen? Vor Dave hatte ich erst einmal jemanden mit der Zunge geküsst, und das war Andrew. Naja, eigentlich war das der Abend an dem die Party war, also hatte eher er mich geküsst und man konnte auch nicht wirklich behaupten, dass mir das gefallen hätte. Oh Himmel, hilf! Ich will nicht, dass ich wie ein sabbernder Ameisenbär küsse! Aber bei meinem Glück bekam ich sowieso nur die asozialen Spinner ab, und da konnte ich wirklich auf Zungenküsse verzichten. Wer weiß, ob ich überhaupt jemals jemanden abbekommen werde? Ich vermute eher nicht. Wäre auf jeden Fall ziemlich unwahrscheinlich. Und außerdem…-

„Alles okay, Lilly?“, unterbrach Andrew meine Gedanken, in dem er mit seiner Hand vor meinem Gesicht rumfuchtelte.

„Jep. Ich bade nur gerade in Selbstmitleid.“ Hab ich das gerade laut gesagt!?

„Warum?“ Andy zog seine Augenbrauen verwirrt zusammen.

„Das war ein Scherz.“ Ich gab ein leicht hysterisches Kichern von mir, das mich lügen strafte.

„Okaaaay.“ Er zog das ‚a‘ in die Länge, was mir wieder einmal klarmachte, dass ich im Schädel nicht ganz richtig war. Beziehungsweise, das Männchen (oder Frauchen, da bin ich mir nicht ganz sicher) in meinem Kopf hatte nicht mehr alle Tassen im Schrank. Wenn ich ein Männchen in meinem Kopf habe, das meinen Körper steuert, hat dann das Männchen auch ein Männchen im Kopf? Ich meine, wie sollte das sonst funktionieren? Und hat das Männchen von meinem Männchen auch ein Männchen? Wenn ja, dann würde das ja in Endlosschleife weitergehen. Krass, wie klug ich bin! Jaja, geistesgestört undso.

 

***

 

 

 

Zuhause wartete wie so oft Rose auf mich. Ach ja, und auch die anderen Idioten waren da. Was für eine Überraschung, war ja überhaupt nicht jeden Tag so, oder so. Wo hatten die eigentlich alle den Schlüssel her? Die waren alle noch vor Dave und mir da. Naja, egal.

„Wollen wir Wahrheit oder Pflicht spielen?“, fragte Penelope auch schon, sobald wir fertig gegessen hatten.

„Ach komm schon, das ist schon lange nicht mehr interessant“, jaulte ich. Wenn es eines gibt, was ich mehr hassen als Schule, dann ist das dieses Spiel. Das bringt mich noch auf die Palme! Vor allem weil ich immer so was Dämliches machen muss, wie zum Beispiel: Roses Füße massieren. Das habe ich schon öfters machen müssen. Es ist zwar nicht interessant oder lustig, aber Rose verlangt das immer von mir und ich muss es leider hinnehmen, weil sie es mir nicht mehr durchgehen lassen, dass ich nichts von dem machen was sie sagen. Tja, die Zeiten waren eben vorbei. Als ich mich das letzte Mal gewehrt hatte, haben sie mir einen eiskalten Kübel Wasser in die Fresse gekippt. Generell hatte ich ja nichts gegen Wasser, aber ohne Scheiß: es war eiskalt. Mir ist da fast mein Gesicht eingefroren.

„Das sagst du nur, weil du immer Rose‘ Käsefüße betatschen musst“, grinste Tobi und fing sich damit einen Schlag von besagter Person ein. Er grinste trotzdem weiter.

„Okay, lasst uns spielen“, sie klatschte in die Hände und besorgte eine Flasche. (Wir spielen immer mit Flasche.)

Phil drehte als erster, und auf wen fiel sie? Wie immer auf mich. Ohne Scheiß jetzt, meistens werde wirklich ich getroffen. Sogar wenn ich selbst drehe.

„Pflicht“, murrte ich ohne dass er fragte.

„Dann will ich, dass du für den restlichen Abend ein heißes, trägerloses Kleid anhast. Und High Heels. Und die Unterwäsche darfst du gnädiger Weise auch anbehalten. Aber mehr nicht.“

„Warum? Und warum ich?“, jammerte ich und mir wurde abwechselnd heiß und kalt bei dem Gedanken, dass sie meine Narben sehen werden.

„Du bist als einzige Single. Und ich will wissen, ob du wirklich so eine heiße Figur hast, wie Rose sagt.“

Mein böser Blick traf Rose. Sie war also Schuld daran! Aber Rose zuckte nur entschuldigend mit ihren Schultern.

„Ich hab nicht einmal High Heels.“

„Du kannst meine anziehen. Wir haben eh die selbe Größe.“, schlug Penelope vor und reichte mir ihre schwarzen High Heels. Unsicher sah ich zu Rose.

„Früher oder später würden sie sie sowieso sehen“, meinte sie gelassen. Na toll, auf ihre Hilfe konnte ich also schon mal nicht hoffen, aber auch Tobi warf mir einen entschuldigenden Blick zu.

Grummelnd erhob ich mich und schritt die Treppe hoch. Dann ging ich zu meinem Kleiderschrank und zog mir ein schwarzes Kleid an. Es war trägerlos und hatte einen tiefen Rückenausschnitt, und in der Seite war es mit ein paar Nieten bestück. Eigentlich hätte ich das Kleid nicht ohne eine Weste, Jacke oder so getragen, aber da musste ich jetzt durch. Rose hatte wahrscheinlich Recht. Früher oder später hätten sie es eh gesehen. Nur wäre mir später definitiv lieber gewesen. Ich meine, ich konnte nicht mal selbst meinen linken, vernarbten Oberarm ansehen ohne Brechreiz zu bekommen. Denn von meiner Schulter, über den Oberarm bis hin fast zum Ellbogen zogen sich lange Narben. Fette, hässliche Narben, dabei waren auch viele kleinere. Ich selbst fand sie schon hässlich, wie würden dann andere darauf reagieren? Naja, ich schätze die Jungs unten werden schreiend wegrennen. Ich sah in den Spiegel, fuhr mit meinen fingen die vielen Narben nach und unterdrückte die Tränen. Ich fand es so unglaublich hässlich. Ich wollte sie nicht haben. Auf dem Arm konnte man solche Narben schlecht verstecken, aber ich hatte es trotzdem versucht. Und letztendlich war das alles für ‘n Arsch. Wegen einem bescheuerten Spiel! Und ich musste ehrlich fast heulen, weil sie es alle gleich sehen würden. Bei Rose war es mir schon egal, aber sie wusste auch die ganze Geschichte darüber. Aber die anderen? Ich wollte nicht, dass sie sie sehen. Außerdem werden sie dann Fragen stellen, da war ich mir sicher.

Ich betrachtete mich noch einmal im Spiegel. Ja, ich hatte eine gute Figur und so weiter und so fort, Brüste und blablabla. Alles worauf ein Junge scharf war, aber ich fand es hässlich. Ich wollte diese verdammte Narbe nicht.

Aber egal, genug rumgeheult. Ich atmete noch einmal tief durch, schlüpfte in Penelopes Schuhe und ging dann in die Küche, zum Tisch wo sie alle saßen. Ich fixierte mich auf Daves Blick, keine Ahnung warum. Er betrachtete erst meine Beine, ging dann weiter hoch und dann fiel sein Blick… darauf. Ich sah auch, dass Pennys, Lukes und Phils Blick darauf gerichtet waren und sie sahen alle … schockiert aus? Oder doch eher angeekelt? Oder verwirrt? Keine Ahnung, ich wusste es nicht. Aber ich war mir sicher, dass sie es hässlich fanden. Und toll, mir schossen auch noch Tränen in die Augen.

Rose bemerkte das und kam auf mich zu, zog mich zum Tisch. Tobi räusperte sich. „Sieht gut aus“, meinte er aufmunternd und ich schnaubte.

„Ist klar.“ Mir rollte eine Träne über die Wange und schnell wischte ich sie mir weg. „Habt ihr mich jetzt … genug angegafft?“, brachte ich mühsam hervor, darauf bedacht meine Stimme nicht zittern zu lassen.

„Nein, wirklich. Du siehst echt scharf aus. Nicht wahr Leute?“, meinte Phil und alle nickten eifrig. Ich musste doch kichern. Das war geradezu niedlich von ihnen.

„Siehst du? Gar nicht so schlimm“, sagte Rose aufmunternd und schubste mich liebevoll zur Seite. (Ja, man kann eine Person liebevoll zur Seite schubsen, geht wirklich)

Ich lächelte leicht und blinzelte meine restlichen Tränen weg. Es schien ihnen wirklich nichts auszumachen, und etwas seltsames passierte. In meiner Magengegend war so ein komisches Gefühl… Ich denke es war … lacht mich jetzt bitte nicht aus, aber ich denke es war … Glück.

„Darf ich euch alle mal knuddeln?“, kam es über meine Lippen, ehe ich es verhindern konnte. Sofort standen alle auf, wenn auch etwas verwirrt. Ich schnappte sie mir alle zusammen auf einen Fleck und wir veranstalteten ein spontanes Gruppenkuscheln, ich mittendrin. Sogar Dave war dabei, obwohl ich eigentlich sauer auf ihn war. Aber im Ernst, ich fühlte mich glücklich und ich hatte die ganze Zeit über ein dümmliches Grinsen im Gesicht. Niemand erwähnte auch nur ein einziges Mal meine Narben, keiner fragte mich woher ich sie hatte.  Danach war es tatsächlich noch ein echt cooler Abend geworden.

 

 

***

 

 

Als ich fertig geduscht war, mir die Zähne gekämmt und die Haare geputzt hatte, ging ich zum Gästezimmer. Als ich gerade meine Hand auf dem Türgriff hatte, drehte mich jemand ruckartig um und presste mich gegen die Tür. Ich wollte aufschreien, aber da lagen schon seine Lippen auf meinen. Schlagartig war das Gefühl von Glück der Angst gewichen. Wie zum Teufel war Andrew in mein Haus gekommen!? Ich stieß ihn heftig von mir und schaute ihn entgeistert an. Mir machte dieser Typ wirklich Angst. Ich meine, wieso war er da? Warum hatte er mich geküsst, und vor allem: WIE IST DER KERL REINGEKOMMEN!?

„SCHEIßE! Was soll das!? Wie zum Teufel bist du reingekommen!?“, schrie ich ihn an.

„Die Tür war offen…-“, fing er an, und ich unterbrach ihn grob.

„DAS IST KEIN GRUND EINFACH SO HIR REINZUSPATZIEREN! Dachtest du etwa: aha, es ist offen, da werde ich mal einfach reingehen und Lilly einen Herzinfarkt bereiten“, brachte ich wütend hervor.

„Nein, Lilly. Hör zu. Ich liebe dich immer noch, das habe ich dir bereits gesagt. Und ich mag es nicht, dass Dave ebenfalls hier wohnt. Ich will mit dir zusammen sein, denn ich liebe dich, obwohl ich alles über dich weiß. Sobald es Dave weiß, wird er dich hassen. Ich nicht. Ich werde bei dir bleiben. Du musst es nur zulassen…-“

„Hau ab! Im Ernst, oder ich rufe die Polizei!  Wenn du noch einmal in meine Nähe kommst, oder irgendjemanden etwas über mich erzählst, dann wirst du im Knast schmoren. Oh, und in der Hölle auch, aber das weißt du ja schon. Ich dachte ernsthaft, dass du vielleicht nicht ganz so gestört bist wie früher, aber da habe ich mich geirrt. Ich gebe dir eine Minute, um hier herauszurennen und nie wieder zurückzukommen, ansonsten hole ich wirklich die Polizei. Deine Zeit läuft“, knurrte ich.

„Aber ich..-“

„Ich sagte: Deine Zeit läuft! Und wage es nicht, Dave oder sonst irgendeiner Person von mir zu erzählen! VERSTANDEN!?“, schrie ich ihn an und dabei fiel ihm Spucke von mir ins Gesicht.

Er nickte hastig und machte sich dran, hier wegzukommen. Gut so, dachte ich. Endlich hatte ich mal die Hosen an. Er würde mich nie wieder herumschubsen können. Ich werde das nicht zulassen, oder auf mir sitzen lassen, da kann Andy Gift drauf nehmen.

„Ehm, was war das gerade?“, mischte sich Dave ein, der gerade aus dem Zimmer kam.

„Geht dich einen feuchten Dreck an“, grummelte ich und schlug die Tür hinter mir zu. Nachdem sie zugefallen war wischte ich mir des Öfteren über den Mund, denn ich spürte immer noch Andrews dreckige Lippen darauf. Aber leider wurde das Gefühl nicht besser, im Gegenteil. Ich erinnerte mich zurück an die Party und obwohl ich gerade duschen war fühlte ich mich dreckig. Meine Hände ballten sich zu Fäusten und ich versuchte es zu ignorieren, aber es ging einfach nicht. Letztendlich kapitulierte ich und ging erneut unter die Dusche, auch wenn ich wusste, dass es nicht half.

Allerdings stand Dave direkt vor mir, als ich aus dem Badezimmer kam.

„Warst du vorher nicht auch schon duschen?“ Er zog eine Augenbraue hoch und sah mich fragend an.

„Stimmt gar nicht.“

„Doch, ich hab dich doch gesehen.“

„Stalkst du mich etwa!?“, grummelte ich und sah ihn abschätzend an.

Er seufzte. „Nein, aber ich hab deinen schrecklichen Gesang bis in mein Zimmer gehört.“

„So schlecht singe ich auch wieder nicht“, murmelte ich und eine leichte Röte bildete sich auf meinen Wangen, obwohl das sonst auch nie passierte. Ich schätze aber, dass Dave all meine Sinne lahm legt, und es ihnen dann egal ist, was ich will oder nicht.

„Damit hast du zugegeben dass du zwei mal geduscht hast“, meinte er triumphierend.

„Wow. Ist das jetzt der Weltuntergang, oder was? Warum interessiert dich das überhaupt“, brummte ich und wollte mich an ihm vorbeidrängen, aber wie so oft klappte das nicht. „Kannst du mich nicht mal in Ruhe lassen?“, jaulte ich daraufhin demotiviert und ließ meinen Kopf hängen.

Er hob mein Kinn mit seinem Finger an, sodass ich ihm in seine absolut traumhaften Augen sehen musste. „Sorry, aber du bist halt echt interessant. Und du bist mir ein totales Rätsel. Und scharf bist du auch, aber du stehst nicht auf mich, wie alle anderen Mädchen. Das macht dich wirklich mysteriös“, grinste er.

„Jaja, witzig. Mit diesem Rätsel“, ich zeigte auf mich „wirst du wohl oder übel leben müssen. Da kann ich dir leider auch nicht helfen“, sagte ich bedauernd und wollte ihn von mir wegschieben, aber er stand da wie ein Felsen. „Könntest du bitte…“ Ich machte eine wegwischende Handbewegung, die ihm signalisieren sollte, dass er sich verzupfen soll. Aber er bewegte sich nicht von Fleck und ich gab einen müden Seufzer von mir.

„Erzählst du mir ein bisschen was von dir?“, wollte er neugierig wie eh und je wissen.

„Wenn du mich dann in Ruhe lässt?“, meinte ich hoffnungsvoll.

Er nickte. „Aber eine längere Geschichte.“

Ich willigte ein, wollte dabei aber in meinem Bett liegen. Aus diesem Grund und keinem anderen lagen wir beide fünf Minuten später gemeinsam in meinem Doppelbett. Ich meine, er hätte sich genauso gut in eines der anderen  Betten legen können, aber er bestand darauf und mittlerweile war ich so müde, dass es mir schon egal war.

„Alsooo, was willst du wissen?“, sagte ich und musste gleich darauf gähnen.

„Woher hast du die Narbe?“, fragte er neugierig.

Sofort versteifte sich mein Körper und ich begann nervös zu werden. „Eine andere…“, ich musste mich kurz räuspern. „Eine andere Frage, bitte“, sagte ich mit leicht zittriger Stimme, was Dave keinesfalls entging.

„Ales okay, Lilly?“, wollte er wissen und berührte mich sachte an meiner Hand, die ich nicht zugedeckt hatte. Sofort zuckte ich heftig zurück. „Fass mich nicht an!“ Jetzt zitterte ich wirklich, ich hatte die Bilder genau vor meinen Augen. Der Schneesturm, Der Wald, …

„Lilly?“

Ich atmete tief durch. Zum Glück konnte er meine Tränen in der Dunkelheit nicht sehen. Ich versuchte mich zu beruhigen und atmete ein paar mal tief durch.

„Geht schon. Ehm, also zu deiner Frage über meine Kindheit…“ Ich hatte bewusst seine Frage geändert und ihm schien es nichts auszumachen.

„Also… eigentlich waren wir eine tolle Familie. Wir waren glücklich, also Mum, Amy, Dad, Emily und ich. Also theoretisch waren wir das. In Wirklichkeit sah das ein bisschen anders aus, aber wir haben das ignoriert. Wir haben so getan, als wären wir glücklich, und letztendlich waren wir es ja doch irgendwie.  Mum war eine Autorin. Sie hat ehm… spezielle Bücher geschrieben. Erwachsenenbücher. Und ich war ja noch ein Kind. Und die anderen in der Klasse, naja, die haben sich über mich lustig gemacht. Sie kannten die Bücher, weil ihre Eltern die auch gelesen haben. Und sie waren alle noch kindisch. Dumme, kleine Kinder, die mich wegen den Büchern meiner Mutter gehänselt haben. Naja, alle, außer Tobi. Aber der war ja schon immer mein bester Freund. Der hat das ganze erträglicher gemacht, und wirklich schlimm war es eh nicht. Aber es hat einen trotzdem … weniger glücklich gemacht, verstehst du? Und Amy… Amy war durch und durch glücklich, denke ich. Sie war klug, beliebt, das hübscheste Mädchen aus ihrer Klasse. Und Emily …“ Jetzt kamen mir doch die Tränen. „Emily war… also, sie war … krank. Aber sie war vermutlich der glücklichste Mensch auf der Welt. Immer fröhlich, hat gelächelt und immerzu lustiges Zeug gebrabbelt. Emily war nämlich … behindert. Aber ich sage das nicht gerne, das ist so ein hässliches Wort. Und für mich war sie auch normal, weißt du? Sie war einfach meine kleine Schwester. Ich hatte sie lieb, wir alle hatten sie lieb. Und sie uns auch. Ich glaube es hätte keine glücklicheren Menschen als Emily gegeben. Und ich vermisse sie. Sie und meine Mum. Weißt du, es hätte mich treffen sollen. Es war doch meine Schuld, wieso mussten dann sie sterben, und nicht ich! SAG MIR WIESO! Das ist nicht fair!“ Nun heulte ich wie ein kleines Kind. Schützend schlug ich mich die Hände vors Gesicht und wollte, dass es weggeht. Ich wollte nicht die Bilder vor meinen Augen haben. Sie sollten weggehen.  Ich wollte mich nicht daran erinnern.

Zwei starke Arme umschlangen mich und ich vergrub meinen Kopf an seiner Brust. Ich weinte stumme Tränen und versuchte mich zu beruhigen.

„Mein Vater ist ein Arschloch.“, begann er dann, obwohl ich ihn nicht dazu aufgefordert hatte. „Als er seinen Job verloren hatte, fing er an zu trinken. Meine Mutter musste also umso mehr arbeiten, damit wir unser Haus behalten konnten. Aber ihn machte das wütend, frag mich nicht warum. Auf jeden Fall, hat er dann angefangen sie zu schlagen. Immer öfter. Ich habe ihr gesagt, dass sie ihn verlassen soll, oder zur Polizei gehen und ihn anzeigen. Das hat mein Vater mitbekommen und hat mich erstmal grün und blau geschlagen. Meine Mutter wollte ihn trotzdem nicht anzeigen, weil sie ihn immer noch liebte. Sie hat mich auch gebeten, dass ich ihn nicht anzeigte. Und das wurde mir dann zu viel. Ich hab deinen Vater kennengelernt, und er bot mir an zu ihm zu ziehen. Ich hatte auch die Erlaubnis meiner Mum dazu. Das ist das einzige Gute was sie nach Jahren für mich getan hat, mal abgesehen davon, dass sie sich fast totarbeitet um den Alkoholkonsum meines Erzeugers abzubezahlen. Das ist die Kurzform meiner fantastischen Lebensgeschichte.“

Tröstend schlang ich auch meine Arme um ihn und so lagen wir einfach nur da. Mir war egal, dass das eigentlich seltsam und peinlich war. Es tat nämlich gut, mit ihm darüber zu reden. Zum Schluss schlief ich dann sogar in dieser Position ein.

 

 

 

***

 

 

 

 

Mit jedem Tag verstand ich mich besser mit Dave. Wir haben viel geredet und er hatte mich sogar zum Lachen gebracht. Ich fing sogar tatsächlich an, ihm zu vertrauen. Schon seltsam, wenn man bedenkt wie gemein er manchmal sein konnte. Aber in den letzten Tagen war er, … nett, freundlich, zuvorkommend. Mein Herz schlug schneller, jedes Mal wenn ich ihn ansah. Seine grün-blauen Augen raubten mir beinahe immer den Atem, wenn er mich ansah. Aber er war nur mein Freund. Nein, er war ein Freund. Jemanden wie mich mochte er nicht, nicht einmal in meinen Träumen. Er duldete mich nur und war nett zu mir, darauf brauchte ich mir nichts einbilden, und das tat ich auch nicht. Ganz sicher war Dave nur nett zu mir, damit er weiter bei meinem Dad wohnen konnte. Und trotzdem … fühlte ich mich unglaublich wohl bei ihm. Jaja, das ist alles viel zu kitschig, ich weiß.

Von Andrew hörte und sah ich nichts mehr, und darüber war ich verdammt noch mal froh. Denn wenn der mir unter die Augen getreten wäre, wüsste ich echt nicht, was ich getan hätte. Vermutlich wäre ich vor lauter Panik zur Polizei gerannt.

 

Am Freitagnachmittag machte ich mich gemeinsam mit Dave auf den Heimweg. Die anderen Idioten – meine Idioten – würden später nachkommen und mit uns gemeinsam etwas essen.

„Lilly?“, fragte Dave nach einer Weile des Schweigens, aber er klang dabei leicht unsicher. Wobei ich mir das sicher einbildete, Dave war nicht unsicher. Er war neugierig, cool, sexy, nervig – ja, aber sicher nicht unsicher.

„Hm?“ Erwartungsvoll blieb ich stehen und sah ihm in seine traumhaften Augen. Ich drohte darin zu versinken, so wie jedes Mal. Das Blau seiner Augen waren wie die Meere der Welt, die die Kontinente umgaben. Völlig unwillkürlich trat ich einen Schritt näher an ihn und mein Atem streifte seine Haut. Er sagte kein Wort, rein gar nichts, obwohl er mich doch eigentlich etwas fragen wollte, aber irgendwie … schien ich das in dem Moment vergessen zu haben. Wir kamen uns langsam näher, bis sich seine Lippen sanft auf meine legten. Ich spürte ein Feuerwerk in meinem Inneren explodieren, spürte wie mein Herz zu rasen begann. Meine Augen schlossen sich und mich überkam eine Welle des Glücks. Es war nur eine kleine, aber sie schwappte über mein Herz, so als wüsste sie nicht, ob es mein Herz aushalten würde. Und dann war es auch schon wieder vorbei.

Denn jemand räusperte sich lautstark vor uns. Ich löste mich etwas verlegen von Dave und trat mit zittrigen Knien einen Schritt von ihm weg. Und wer stand vor mir? Genau, Andrew.

„Habe ich nicht gesagt, dass ich dich nie wieder sehen will? Oder habe ich das nur in Gedanken getan!?“, fauchte ich wütend.

„Ich wusste gar nicht, dass du so eine kleine miese Schlampe bist. Schade eigentlich, wollte ich doch tatsächlich nett zu di sein und dir noch eine Chance geben“, erwiderte er kühl.

„MIR NOCH EINE CHANCE GEBEN!?“, schnappte ich empört nach Luft. „Verkriech dich in ein scheiß Loch und komm nie wieder raus! Verpiss dich, ich brauch doch keine CHANCE, Arschkind. Der einzige, der hier was braucht bist du, und das ist eine Zwangsjacke!“

„Beruhigt euch mal. Was soll das eigentlich?“, fuhr uns Dave dazwischen.

„Oh, hallo Dave. Bist du jetzt mit dieser kleinen Hure zusammen? Na gut, wenn du dieses gebrauchte etwas haben willst, nur zu. Mich wundert es nur, dass du sie willst, obwohl du alles von dem Autounfall weißt“, meinte Andy gelassen, dann sah er in Daves verwirrtes Gesicht. „Oh, du weißt es gar nicht? Na schön, dann werde ich dir eben alles erzählen. Es war nach der Party, Lilly war betrunken. Ihre Mutter…-“

„HALT die Fresse, oder ich schwöre bei Gott, das waren deine letzten Worte!“, knurrte ich. „Übrigens hast du deine Chance vertan. Ich werde zur Polizei gehen, dich anzeigen.“

Die Farbe war komplett aus Andrews Gesicht gewichen, aber ich sah ihm nur kühl und voller Abscheu in die Augen. Ich wandte mich von dem sprachlosen Andy ab und ging weiter in Richtung unseres Hauses. Ich hatte nicht gelogen, ich würde wirklich zur Polizei gehen und ihn anzeigen. Ganz sicher, bald. Aber nicht jetzt. Mir war aufgefallen, dass Andrew ein ziemlich kranker Psychopath war. Und er hatte Dave ganz sicher aufmerksam auf meine Vergangenheit gemacht, was aber nicht besonders schwierig war. Dave ist neugierig wie ein kleines Kind, das an Weihnachten die Geschenke schon aufmacht, bevor es die Erlaubnis dazu hat. Ganz sicher würde er mich jetzt darüber ausquetschen, oder zumindest fragen. Und dabei dachte ich, dass es eigentlich ganz nett bei Dad war. Tja, dann war ich wohl die längste Zeit bei Dad gewesen. Ich würde wieder zu Amy zurückgehen.

 

Ich hatte den Abend ganz gut überstanden, ohne jegliche weiteren Fragen von Dave. Aber als ich dann halbwegs zufrieden im Bett lag, wurde einfach meine Tür aufgerissen. Einfach so. Pff, echt unfassbar, oder!? Und dann kam Dave rein, und legte sich einfach in mein Bett. Unverschämter ging’s ja wohl nicht!

„Alsooo…“, fing er an, „Willst du es mir erzählen? Du musst nicht wenn du nicht willst, aber ich würde es verdammt gerne wissen.“ Abwartend sah er mich an.

Ich sah ihm in seine großen, neugierigen Augen und mir wurde bewusst, dass ich Dave … mochte. Und wie konnte ich mir sicher sein, dass er mich auch mochte, wenn er nicht absolut alles über mich wusste? Klar, er könnte mich danach verachten, aber es könnte auch das Gegenteil der Fall sein. Also Augen zu und durch. Ich wandte meinen Blick von ihm ab, starrte an die Decke und gab einen tiefen Seufzer von mir.

„Nach der Party, auf der ich mit Tobi und Andrew war, da ist es passiert. Also, … ich war betrunken … besser gesagt, Andrew hatte mich dazu gezwungen… Auf jeden Fall, Tobi hatte meine Mutter angerufen…“, begann ich zaghaft zu erzählen, und ich fühlte mich, als würde es gerade wieder passieren, in dieser Sekunde.

>>Nachdem meine Mutter da war und mich erst einmal ausgeschimpft hatte, dirigierte sie mich ins Auto. Auf dem Rücksitz saß überraschender Weise Emily.

„Warum is‘ sie da?“, sagte ich etwas lallend und mein Gehirn fühlte sich dabei total benebelt an. Ich wollte eigentlich zurück zu Tobi, er hatte mich vor Andrew beschützt. Lieber wollte ich jetzt bei ihm sein, als in die Fänge meiner Mutter geraten zu sein.

„Amy konnte nicht auf sie aufpassen. Und jetzt schnall dich an, wir fahren nach Hause. Und denk ja nicht, dass du jemals wieder auf eine Party darfst“, sagte sie scharf.

"Ich will nicht nach Hause", lallte ich. "Ich will bei Tobi bleiben!"

"Du wirst gar nichts tun! Ich sagte du darfst nicht auf die Party und du gehst trotzdem! Was hast du dir dabei gedacht? Es hätte sonst was passieren können!", schrie meine Mutter mich verärgert an.

Ich war stinkwütend auf sie.

"Ich mach' jez das Fenster auf, ich brauch'  frische Luft!", nuschelte ich und kurbelte das Fenster runter. Sofort bekam ich Schnee ins Gesicht geweht.

"Dreh das Fenster wieder hoch!", sagte meine Mutter jetzt richtig wütend.

"Ich will aber nicht!"

Emily auf dem Rücksitz weinte.

„Und ob du das jetzt tun wirst! Es ist kalt und der ganze Schnee kommt rein!“, keifte sie mich an. So wütend hatte ich sie selten erlebt. Wir fuhren jetzt auf der Straße, bis auf den schnell-fallenden Schnee vor uns konnte man höchstens ein paar Bäume erkennen, und das ach nur dank der Autoscheinwerfer.

„Ich werd‘ das Fenster aber nich‘ zumachen!“, murmelte ich trotzig und verschränkte meine Arme. Meine Mutter warf mir einen wütenden Seitenblick zu und streckte ihren Arm nach meiner Fenster-kurbel aus.

„Lass das! Das Fenster bleibt offen!“, meinte ich nun auch wütend und stieß ihre Hand grob von mir weg.Sie geriet kurz mit dem Auto ins Straucheln, fing sich aber gleich wieder.

„Lilly, mach es sofort zu, bevor ich mich komplett vergesse!“, zischte sie und warf mir und der Straße abwechselnd böse Blicke zu.

„Ich denk ja nicht dran!“ Doch plötzlich war ihr Arm wieder da und versuchte erneut, das Fenster zu schließen, was mich verdammt zornig machte. Ja, das war trotzig und kindisch, aber es war mir egal. Aber diesmal sah ich rot. Ich war wütend auf meine Mum, dass sie mich nicht zu Tobi gelassen hatte. In einem Moment ihrer Unachtsamkeit holte ich mit meinem Arm aus und drückte ihre beiden Arme nach unten. Das Scheinwerferlicht ging aus, und es verging für mich alles wie in Zeitlupe. Ich sah noch das Licht, durch den dichten Schnee, hörte das Rauschen von Blut in meinen Ohren. Und dann war es vorbei. Ich spürte den Schmerz in meinem linken Arm, spürte die Kälte durch das halb geschlossene Fenster, und auch durch den Rest des Autos. Es war komplett demoliert, Äste und Bäume waren rund um unser Auto herum. Und dann sah ich auch, obwohl es so dunkel war, was mit meinem Arm war. Scharfe, kantige Metallteile von dem kaputten Auto steckten in meinem Fleisch. Allein der Anblick davon ließ mich beinahe erbrechen. Ich war noch nie ein Mensch, der mit einer Menge Blut umgehen konnte. Und erst dann bemerkte ich etwas Seltsames. Zuerst wusste ich nicht, was es war. Aber dann schoss es mir durch den Kopf.   Es war so still…

„Mum?“, fragte ich mit krächzender Stimme, mein Kopf fühlte sich auf einmal nicht mehr schwer und benebelt an. Sondern klar. Aber es kam keine Antwort. „Mum? Emily?“ Es kam wieder nichts. „MUMMY!“, rief ich nun verzweifelt. Ich versuchte etwas zu erkennen, aber ich sah nur so viel Blut… Und den Rest davon wollte ich mir ehrlich gesagt auch nicht ansehen. „Mummy! Emily! Sagt bitte etwas!“, schluchzte ich, bemerkte nicht, wann ich angefangen hatte zu weinen. Was wenn ihnen etwas Schlimmes passiert ist? Ich wäre schuld daran…

Da fiel mir ein, dass ich ein Handy bei mir hatte. Ich hatte es irgendwo in das Auto gelegt. Ich musste es nur finden, wer weiß, ob es den beiden gut ging… Wenn ich zu langsam wäre, konnte so viel Schlimmes passieren… Ich musste mich beeilen. Das Handy finden. Jede Sekunde könnte zählen. Hektisch blickte ich um mich, ignorierte den wahnsinnigen Schmerz in meinem Arm. Und dann sah ich es … das Handy… Und es war unversehrt. Ich schnappte es und konnte anrufen …<<

Ich hatte aufgehört zu erzählen, bemerkte, dass ich weinte.

„Es tut mir Leid…“, setzte Dave an.

„Das muss es nicht. Es war ja alles meine Schuld. Und weißt du was? Es war zu spät, als ich angerufen hatte. Sie waren beide tot, meine Mutter, weil sich irgendwas – ich weiß nicht mehr was genau – in ihre Brust gebohrt hatte. Und Emily, weil sie eingequetscht wurde.  Und ich, ich habe überlebt. Obwohl ich es am wenigsten verdient habe. Ach ja, der andere Autofahrer hat auch überlebt, aber das ist mir eh so ziemlich egal. Auch wenn es fies klingt. Ist eben so.“

Ich sah zu Dave und wieder fielen mir seine dunklen Haare, seine wundervollen Augen und seine markanten Gesichtszüge auf.  Er lag ohne Decke da, mit einer Jeans und einem engen, schwarzen Shirt, das seine durchtrainierten, aber nicht übertrieben großen Muskeln zeigte. Wirklich, bei seinem Anblick könnte man anfangen zu sabbern. Ich rutschte ein Stück näher zu ihm, mein Herz fing an schneller zu schlagen, und ich wartete darauf, ob er aus meinem Zimmer flüchten oder bleiben würde.

„Ich finde, dich trägt keine Schuld.“

Ich freudlos auf. „Ist klar. Und dann sagst du mir vermutlich, dass ich die Königin von Schweden bin.“

„Ich finde eher, es ist Andrews Schuld. Wirklich.“

Ich weiß nicht, was mich in dem Moment geritten hatte, aber ich küsste ihn. Wild und stürmisch und er erwiderte es.  Ich lag halb auf ihm, stütze mich mit einer Hand ab, die andere hatte ich in seinen wichen Haaren vergraben. Mir entwich ein leises Stöhnen, als seine Zunge sich in meinen Mund drängte.  Seine Hand fuhr meinen Rücken hinab, unter mein T-Shirt. Er ließ sie meine Wirbelsäule entlang gleiten und mir ließ ein kalter Schauer über den Rücken. Und auch meine Hand steckte ich unter sein Shirt, fuhr über seine harten Bauchmuskeln, dann zog ich ihm es kurzer Hand aus.

Mit glühenden Augen sah er mich an. „Willst du es wirklich?“

Sofort nickte ich, bevor ich es verhindern konnte. Aber dann zögerte ich. „Da ist nur eine Sache…“

„Ja?“ Neugierig und mit Verlangen sah er mich an.

„Ich…“, ich musste mich kurz räuspern. „Ich bin noch Jungfrau“, brachte ich schließlich heraus und senkte beschämt meinen Blick, in der Erwartung er würde mich jetzt auslachen.

„Oh“, entfuhr es ihm. „Wenn du trotzdem möchtest…?“

Ich sah ihm in seine Augen und konnte keine Belustigung darin finden, also nickte ich leicht. „Sicher…“, lächelte ich.

 

 

 

***

 

 

 

Am darauffolgenden Morgen streckte ich mich genüsslich und öffnete dann langsam meine Augen.

„Guten Morgen“, empfing mich Dave sogleich. „Gut geschlafen?“ Er grinste verschmitzt.

„So gut wie noch nie“, grinste ich.

„Ich geh kurz in mein Zimmer, die Jungs werden bald kommen. Du kannst ja duschen gehen, wenn du möchtest?“ Ich nickte und gab ihm einen kleinen Kuss. Mein Herz schlug immer schneller, wenn ich mich daran erinnerte, was ich letzte Nacht gemacht hatte. Beziehungsweise, was wir letzte Nacht gemacht haben. Dave zog sich Boxershorts über und ging gemütlich aus dem Raum raus, in sein Zimmer rüber. Ich schnappte mir frische Sachen und genoss danach eine angenehm warme Dusche. Als ich aus dem Bad kam, wollte ich bei den Jungs vorbei sehen, doch kurz vor der Tür hielt ich inne. Lukes Stimme war eine, die durch Wände ging, und so konnte ich ihn ganz klar hören. Ich wollte eigentlich nicht lauschen, sondern anklopfen, aber ich war eben auch manchmal ein bisschen neugierig.

„Du hast sie dazu gebracht, mit dir zu pennen? Ohne Scheiß? Die muss ja echt in dich verknallt sein, wenn sie selbst Phil nicht wollte…“, meinte Luke anerkennend. „Schätze, du hast die Wette gewonnen, ich gebe dir dann die 10 Dollar.“

Es war, als hätte man mir mein beschissenes Herz rausgerissen, es erneut zerstückelt und auf den Boden geworfen, mit einem Flammenwerfer bearbeitet und wieder eingesetzt. Mein Magen ist mir in meine Socken gerutscht, so fühlte es sich zumindest an. Dave hatte nur mit mir geschlafen, weil ich eine Wette war. Eine Wette…

„Hör mal, so ist das gar nicht…“, setzte Dave an, und in dem Moment ließ ich meinen Kopf lautstark gegen die Tür knallen. Ich war eine Wette. Eine beschissene Wette. Ich habe meine Jungfräulichkeit verloren, weil ich eine Wette war. Tränen wollten mir aus den Augen laufen, aber ich hielt sie mühsam zurück.  Ich habe mich in jemanden verliebt, für den ich NUR EINE KACK WETTE WAR!

Schwungvoll öffnete Dave die Tür und ihm blieb die Luft weg.

„Lilly? Willst du reinko…-“

„Ich war eine Wette?“, hörte ich mich mit brüchiger Stimme sagen.

„Nein, Lilly, hör mir zu…-“

„Oh, du brauchst es nicht zu leugnen, ich habe es gehört. Du brauchst nicht auf meine Gefühle zu achten, denn ich habe eh keine für dich. Es war nur ein Mal, wenn interessiert das schon? Es freut mich für dich, dass du die Wette wenigstens gewonnen hast“, meinte ich kühl und mit Verachtung in der Stimmte.

 Ohne ein weiteres Wort ging ich in mein Zimmer und sperrte mich ein. Heulend suchte ich alle Decken der Gästebetten zusammen, warf sie auf mein Bett und verkroch mich schluchzend unter ihnen. Ich reagierte nicht, auf das Klopfen und die Lilly-Rufe an der Tür. Ich griff mir nur mein Handy und wählte Rose‘ Nummer.

„Kannst du bitte schnell kommen?“, schluchzte ich in mein Handy.

„Klar, bin gleich da. Schokolade?“, fragte sie kurz nach.

„Tonnenweise“, bestätigte ich. Ich brauchte jetzt Haufenweise Süßigkeiten, um diesen Mist hier zu verdauen. Ansonsten wäre ich wohl schon längst ein Wrack.

 

11.Kapitel

„Was genau ist passiert?“, wollte Rose von mir wissen, kaum hatte sie die Tür hinter sich wieder abgesperrt.

„Ich hab mich verliebt“, heulte ich und versteckte mich wieder unter den Decken.

„Das ist doch toll!“, meinte sie aufmunternd.

„Und ich hab ihm meine Vergangenheit erzählt! Einfach alles“, jaulte ich weiter.

„Du hast ihm von dem Unfall erzählt?“

„Und wir haben uns ein paar mal geküsst“, krächzte ich mit brüchiger Stimme.

„Du hast wen geküsst, Lilly?“, fragte Rose besorgt.

„Und gestern hab ich mit ihm geschlafen“, jammerte ich kleinlaut.

„Du…“

„Und es war nur eine Wette für ihn!“ Daraufhin heulte ich wieder hemmungslos.

„WAS!? Du hast jemanden an dich rangelassen? Du hast es ihm erzählt UND du hast deine Unschuld an ihn verloren? Wer ist der Typ?“, knurrte sie aufgebracht.

„Da ist so eine Sache…“, fing ich an.

„Es ist Dave, hab ich Recht?“ Ich kroch kurz unter meinen Decken hervor und nickte stumm, nur um dann gleich wieder in Tränen auszubrechen. Denn Tatsache war, dass ich mich in ihn verliebt hatte. In ein Arschloch. Ist das zu fassen!? Aber nein, es muss nicht nur ein Arschloch sein, es war auch noch Dave! Das Schicksal meinte es nicht gerade gut mit mir. Aber egal, es war nur eine kleine Verliebtheit, nichts, was nicht wieder verschwinden würde. Ich hatte mich nur in die Tatsache verliebt, dass er für mich da war, und nicht gleich weggerannt ist, als ich ihm mein Geheimnis erzählt hatte. Obwohl… rückblickend betrachtet ist er wahrscheinlich nur geblieben, um seine Wette zu gewinnen. Und ich habe meine süße, wertlose Unschuld verloren. Nicht, dass es mir wichtig gewesen wäre, aber ich hatte doch gehofft, dass Dave mich mochte. Ich meine, mir war klar, dass ich nicht hübsch genug für ihn war, aber trotzdem … man durfte doch wohl noch hoffen, oder? Naja, meine Hoffnung ist in dem Moment gestorben, in dem ich Luke belauscht hatte. Und dabei war die Nacht so wundervoll gewesen… er war sanft und liebevoll, und… ich denke besser nicht weiter daran, denn selbst in Gedanken klingt das viel zu kitschig.

„Ich werde den Kerl umbringen. Ich werde zu ihm gehen und ihn eigenhändig umbringen“, knurrte sie mit zusammengebissenen Zähnen.

„N-nein, wirst du nicht! Er muss ja nicht denken, dass ich i-ihn mag!“, schluchzte ich.

„Sei nicht so aufmüpfig. Da magst du nur ein einziges Mal einen Typen, und er serviert dich ab. Kapiert denn niemand, wie toll du bist? Denen hat doch jemand ins Hirn geschissen!“, grummelte meine beste Freundin und starrte wütend vor sich hin.

„So denkst aber auch nur du. Lass es einfach, das wird schon wieder“, versuchte ich sie umzustimmen.

„Na schön, aber dafür musst du die Schokolade essen, die ich mitgebracht habe. Dann wird das Leben wieder wie ein Regenbogenponyhof.“

„Das Leben ist wie eine Hühnerleiter“, grummelte ich, woraufhin sie mich fragend ansah. „Kurz und beschissen“, fügte ich hinzu und sie gab einen tiefen Seufzer von sich. Sie tätschelte noch einmal kurz liebevoll meinen Kopf, dann spazierte sie durch die Tür.

Ich war zwar froh, dass sie kurz da war, aber noch glücklicher darüber, dass sie wieder gegangen war. Klar, sie wollte mich aufmuntern, aber sie würde alles nur noch schlimmer machen. Einfach, weil sie ist wie sie ist. Ich finde auch nicht unbedingt, dass es was Schlechtes ist, es ist sagen wir … eine Charakterstärke von ihr. Bei uns zweien ist es ein Geben und Nehmen. Ich gebe ich nichts und dafür nehme ich nichts. Ich halte sie aus, dafür hält sie mich aus. So sind wir eben. Nur dass ich scheiße bin. Aber egal, ich schweife ab.

 

Als ich mich einiger Maßen beruhigt hatte und etwas weniger verheult aussah, ging ich nach unten in die Küche. Wo ich auf Dave traf. Augenblicklich drehte ich mich wieder um und wollte nach draußen gehen, doch er hielt mich am Handgelenk fest. „Lass mich los“, sagte ich in einem ruhigen Tonfall.

„Nein. Ich muss dir was sagen“, erwiderte er kurz.

„Fick dich, Sackgesicht.“

„Hab ich heute Nacht schon mit dir gemacht, also nein danke.“

Das saß. Augenblicklich stiegen mir die Tränen in die Augen und ich riss mich von ihm los und stürmte weg von ihm, die Treppe hoch.

„Warte! Nein so hab ich das nicht gemeint.. Das war unter aller Sau von mir, tut mir…-“

Mehr konnte ich nicht verstehen, denn ich hatte die Gästezimmertür hinter mir zugeworfen, den Schlüssel umgedreht und mich dagegen gelehnt. Er musste mir nicht auch noch unter die Nase reiben, dass ich dumm und naiv war. Das wusste ich auch schon so, ohne seine dummen Kommentare. Aber hey, ich war ja selbst Schuld, also dürfte ich mir jetzt gar nicht die Augen wegen ihm ausheulen. Was hatte ich auch erwartet? Dass er mich mag, mit mir zusammen wäre? Dass er nicht mehr jede x-beliebige Schlampe nageln würde, die vor ihm steht und sich ihm willenlos verkauft? Ist klar, da könnte ich gleich auf die Titanic gehen und mich versenken lassen. Denn das, was ich mir – naiv wie ich war – gewünscht hatte, das würde niemals, nicht in diesem Leben und nicht im nächsten, passieren. Beruhige dich, es ist dir doch eh egal. Mach dir keine Hoffnungen, sagte ich mir in Gedanken. Ich wischte mir die Tränen von den Wangen und stieß mich von der Tür ab. Dann rief ich meinen Vater an.

 

 

 

 

***

 

 

 

 

 

*Dave*

„Ich muss weg? Warum das denn?“, fragte ich Henry empört. Ich hatte keinen blassen Schimmer, warum mich Lillys Vater aus dem Haus schmeißen will.

„Ach komm, das weißt du doch selbst! Sei froh, dass Lilly dich nicht anzeigen will! Du bist bis morgen aus dem Haus, sonst passiert noch etwas, dass wir beide bereuen würden“, sagte ihr Vater drohend. Lilly? Sie ist daran schuld?

„Lilly? Ich hab doch gar nichts gemacht!“, keifte ich wütend. Sicher war das der ach so tolle Plan, den sie gehabt hatte. Aber der wird ihr ganz sicher nicht gelingen, nicht, solange ich hier war!

„Halt den Mund, bevor ich meine guten Manieren vergesse, Dave! Wehe du kommst noch einmal in die Nähe von meinem kleinen Mädchen!“, giftete er mich an und rauschte davon.

Wow. Ich durfte meine Sachen packen, hatte dafür bis morgen Zeit. Fantastisch. Ich musste unbedingt zu Lilly und die ganze Sache klären. Ich hatte diese bescheuerte Wette mit Phil und Luke gemacht, und sie total vergessen. Ich wünschte, ich hätte sie niemals gemacht, ich wollte doch nur mit Lilly zusammen sein… Moment Mal, das klingt viel zu gefühlvoll. Aber ich wollte sie auf keinen Fall verletzen, nicht, nachdem sie mir vertraut hat und mir alles über den Unfall erzählt hat. Ich musste jetzt unbedingt zu ihr. Und sie fragen, warum ich aus dem Haus raus muss. Würde mich schon interessieren, wie sie das hingekriegt hat.

Ich klopfte an ihrer Zimmertür, aber wie schon die letzten Male davor sagte sie kein Wort. Ich glaube ich habe sie verletzt, und das, obwohl ich sie doch eigentlich irgendwie mag. Klar, sie ist ein bisschen seltsam, aber das macht sie umso interessanter. Sie ist tausend Mal schöner, witziger und charismatischer als diese hirnlosen Barbiepuppen, das ist mir inzwischen klar geworden. Vielleicht sollte ich ihr das sagen, und sie davon überzeugen, dass sie ihren Plan hinschmeißen soll, damit ich weiter hier wohnen kann.

„Lilly, dürfte ich mal wissen, wie du Henry dazu bekommen hast, mich rauszuschmeißen?“, rief ich ihr durch die Tür zu.

Ich hörte Schritte, dann wie sich der Schlüssel im Schloss drehte und dann machte sie mir die Tür auf. Ich sah in das Gesicht von Lilly. Sie sah verheult aus, und ihre Lippe war aufgeplatzt. Jemand musste sie geschlagen haben.

„Lilly, was zum Teufel…-“, fing ich an, aber sie hob ihre Hand, zum Zeichen dass ich still sein soll.

„Das ist der Plan“, erklang ihre zarte, jedoch kühle Stimme. „Ich habe meinem Vater gesagt, dass du dich an mich ran gemacht hast, aber ich nicht wollte. Dann hast du mich geschlagen“, sie zeigte kurz auf ihre Lippe, „Und ich hab dir zwischen die Eier getreten und ihn angerufen, es ihm dann haargenau erzählt. Sag bloß, du erinnerst dich nicht mehr, wie du mich geschlagen hast?“ Herausfordernd sah sie mir in die Augen und ein weiteres Mal wunderte ich mich über ihre Intelligenz.

„Ziemlich klug dir selbst eine zu verpassen. Aber warum das ganze?“

„Ist das nicht offensichtlich?“ Sie schnaubte. „Damit ich deine Fresse nicht jeden Tag sehen muss. Das wäre ja wohl wirklich zu viel für mich zartes Püppchen, findest du nicht?“ Ich Augen blitzten kurz auf. Ihre wundervollen, bernsteinfarbenen Augen, dabei lag ein zartes, herablassendes Lächeln auf ihren Lippen.

„Ja… Also ich muss dir da noch was sagen. Weißt du, ich hatte die Wette schon total vergessen, darum ging es mir nicht. Es tut mir wirklich L…-“, weiter kam ich nicht. Ihr leichtes Lächeln verschwand und sie schlug mir die Tür vor der Nase zu. Verdammt! „LILLY! Es. Tut. Mir. Leid. Glaub mir bitte!“, rief ich durch die Tür.

„Ich kann dich nicht hören“, warf sie zurück.

„Du bist doof!“, grummelte ich ihr zu.

„Du bist noch viel doofer!“, schoss sie zurück.

„Siehst du, du hörst mich doch! Das ist gut, denn ich muss dir unbedingt was sagen. Weißt du, es ging mir wirklich nicht um die Wette, weil ich … ich mag dich, also irgendwie. Und…-“

„Es interessiert mich einen Dreck! Den Schwachsinn kauft dir sowieso niemand ab, also warum machst du dir die Mühe?“, warf sie mir zu.

„Naja, weil ich dich mag, und ich dich nicht verletzten wollte. Weißt du…-“

„Wie heißt ein Schneemann in der Wüste?“, unterbrach sie mich barsch.

„Lilly, was hat das…-“

„Pfütze“, fuhr sie mir erneut dazwischen.

„Ich liebe dich.“ WAS!? Nein, nein, nein, nein, nein, bitte nicht. Das habe ich jetzt nicht wirklich gesagt!

Die Tür öffnete sich und vor mir stand eine wütende Lilly. Und dann traf mich eine schallende Ohrfeige. „Du brauchst mich nicht auch noch zu verarschen, Gurkenkind!“, fauchte sie und schloss die Tür erneut. Diesmal konnte ich aber nicht wieder mit ihr reden, weil sie die Musik laut aufdrehte. Warum zur Hölle sagte ich auch so etwas Bescheuertes!? Sie musste mich tatsächlich für einen Idioten halten. Einen echt fiesen Idioten, der sie auch noch anlügt. Ich hätte mich am liebsten geohrfeigt, was rutschten mir auch diese bescheuerten drei Wörter raus!? Aber hatte ich wirklich gelogen? Ich meine, sie ist wundervoll, niedlich, gestört, hübsch, witzig, ironisch, stark und selbstbewusst.

Oh-oh. Anscheinend habe ich nicht gelogen. Ich bin verliebt in sie. Mist.

 

 

 

 

12. Kapitel

„Danke, dass ich bei dir pennen darf“, brummte ich zum fünfzehnten Mal an diesem Tag.

„Ich sagte schon: Kein Problem“, wiederholte Tobi geduldig.

„Würdest du mit Lilly reden? Ich will nicht zurück ins alte Haus und ich will auch nicht ständig bei dir hocken und dich nerven. Sie wird sicher auf dich hören“, meinte ich hoffnungsvoll.

„Was hast du überhaupt gemacht, dass sie so wütend war?“, fragte mich nun mein bester Freund interessiert.

„Nichts Besonderes. Sie genervt, den Mund geöffnet, das Übliche eben. Du weißt schon“, log ich und senkte beschämt meinen Blick, während ich mit meinem Kumpel auf seiner Couch saß.

„Und was war wirklich?“

Ich räusperte mich und sah überall hin, nur nicht zu Tobi. „Wir ehm … sind, hrrrm, im Bett gelandet?“

„Im Bett. Ich hoffe du hast ihr nur dabei geholfen, ihr Kissen aufzuschütteln, dann bist du wieder gegangen“, erwiderte er kühl.

„Genau so war es“, seufzte ich. „Nicht“, fügte ich leise hinzu, aber er hörte es ja trotzdem. Außerdem war er ja nicht blöd.

„Und du hast ihr wehgetan? Dave, so Leid es mir tut, aber vermutlich werde ich da nicht helfen können. Sie ist furchtbar stur. Aber ich sehe was ich machen kann. Aber ich warne dich: Treib es nicht zu weit mit ihr. Wenn du sie noch einmal verletzt, dann kannst du froh sein, wenn du wieder gesund aus dem Krankenhaus raus kommst.“

Ich schluckte und nickte hastig. Das hörte sich vielleicht feige von mir an, aber man wollte sich sicher nicht mit dem Typen anlegen, wenn er wütend war. Es war ein Wunder, dass er sich beherrschen konnte, und das, obwohl ich seine beste Freundin gevögelt hatte. ‚Gevögelt‘ trifft aber das, was ich empfunden hatte, nicht im geringsten. Es wunderbar, besser als wenn ich es mit einem dieser hirnlosen Mädchen getrieben hätte. Aber ich bin schon wieder viel zu kitschig für meinen Geschmack, ich höre besser damit auf.

 

„Dave, was machst du denn hier?“ Verwirrt zog Rose eine Augenbraue hoch.

„Lilly hat mich aus dem Haus geekelt“, brummte ich.

„Das ist auch ihr gutes Recht! Du bist ein mieser Idiot! Weißt du, dass du glücklich sein kannst, dass sie dich mag? Aber nein, dem werten Herr ist das ja egal, einfach mal auf die Gefühle MEINER besten Freundin scheißen! Warum nicht? Du bist ja nur der einzige, dem sie je von dem Unfall erzählt hat – wenn man von mir absieht. Wenn Dummheit Fahrradfahren könnte, müsstest du bergauf bremsen!  So was wie du gehört echt …-“

„Sei leise, ich weiß selbst, dass ich mich dämlich verhalten habe. Klar, das ist keine Entschuldigung, aber rückgängig kann ich es auch nicht machen. Vor allem, wenn Lilly mir nicht zuhört“, erwiderte ich leise.

„Du magst sie, hab ich Recht?“, flüsterte sie mit einem kleinen Lächeln und ließ sich neben mir auf die Couch sinken. Ich nickte stumm. „Ist da mehr als mögen?“, fragte sie wieder. Darüber musste ich kurz nachdenken. Sollte ich es ihr sagen? Sie würde es ihr sofort sagen.

„Sei mir nicht böse Rose, aber du wärst beinahe die Letzte, der ich das sagen würde“, schnaubte ich. „Naja, abgesehen von Lilly selbst.“

Die Freundin von Tobi musste kichern. „Das heißt, dass du sie lieb hast!“

„Himmel, du klingst wie ein kleines Schulmädchen!“, motzte ich. „Sag’s ihr aber nicht, okay?“

„Dann sag es ihr hald selber!“

„Sie mag mich doch nicht einmal.“

„Du hast wohl die Suppe der Weisheit mit einer Gabel gegessen, wie? Natürlich mag sie dich, du Pfosten! Und als Entschuldigung erwarte ich mir von dir, dass du es ihr sagst. Aber bring es ihr schonend bei. So eine Nachricht kann auch nicht jede verkraften“, kicherte sie aufgeregt.

„Vergiss es!“ Entgeistert sah ich zu Rose. „Das erwartest du nicht wirklich von mir!“

„Doch.“ Sie nickte eifrig und erhob sich. „Hopp hopp, oder ich mache es!“  Mir entwich ein Seufzer. So oder so, ich war tot.

 

 

 

***

 

 

 

*Lilly*

Mein Handy klingelte. Hastig wischte ich mir die Tränen von der Wange und hob ab. „Hallo?“, schniefte ich ins Telefon.

„Süße, weinst du etwa? Warum denn?“ War ja klar, dass es Rose war.

„Ich koche gerade.“  Echt gute Ausrede, Lilly!

„Und warum weinst du deshalb?“ Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie sie ihre perfekt gezupfte Augenbraue hob.

„Naja, du weißt schon. Die Zwiebeln erzählen mir beim Schneiden immer so traurige Geschichten“, log ich. Ich weinte wegen Dave, diesem Mistarsch.

„Du heulst wegen Dave, oder? Alter, er mag dich! Das hat er mir gerade selbst gesagt!“, rief sie durchs Handy, sodass ich es ein bisschen vom Ohr weghalten musste.

„Lüg mich nicht an, das ist nicht witzig. Ich bin weder gut- noch hübsch genug für ihn“, jammerte ich.

„Selbstzweifel? So am Arsch hab ich dich ja noch nie erlebt! Und das wegen einem JUNGEN! Hör auf damit, oder ich krieche durchs Handy und dreh dir mit meiner ganzen Karft den Hals um!“, schnauzte sie mich an.

„Hör mal, Rose. Nur weil der Ponyhof heute geschlossen hatte, brauchst du deine schlechte Laune nicht an mir rauszulassen“, entfuhr es mir sarkastisch.

„Tut mir Leid. Aber Süße, ich weiß dass du Dave magst. Sag es ihm doch einfach! Was kann schon passieren? Oh, ich muss jetzt auflegen!“

Bevor ich noch etwas erwidern konnte (von und wegen sowas würde ich niemals tun), hatte sie schon auf den roten Knopf gedrückt. Müde und erschöpft ließ ich mich auf mein Bett fallen. Sollte ich es ihm wirklich sagen? Würde er meine Gefühle wirklich erwidern, so wie Rose es mir gesagt hatte?

Na, Männchen in meinem Kopf, was sagst du dazu? Sollte ich es ihm erzählen?, fragte ich mich im Kopf zu mir selbst. Mir war klar, dass ich keine Antwort bekommen würde, umso überraschter war ich, als ich doch eine bekam.

 

War nur ein Witz, ich bin doch nicht geisteskrank.

 

Aber sollte ich tatsächlich über meinen Schatten springen, und ihm meine Gefühle für ihn beichten? Gab es da überhaupt Gefühle? Klar gab es die! Ich hatte sie ja selbst gespürt. Ja, gut, okay, ich war feige. Aber wenn Dave mich wirklich mochte, dann würde er zuerst kommen. Ganz sicher.

 

13. Kapitel

 

Es klopfte an meiner Zimmertür. In der festen Überzeugung es wäre Rose, die mich wie immer nur nerven wollte, öffnete ich schwungvoll die Tür. Und hielt schlagartig inne.

Da draußen, direkt vor meine Tür stand nämlich Dave, mit einem zaghaften Lächeln im Gesicht. Es war eine Woche nach dem Gespräch mit Rose vergangen. Und heute, an einem ganz gewöhnlichen Samstag stand er wieder vor meiner Tür. Und in meinen Augen sammelten sich Tränen. Ganz sicher wollte mich dieser Idiot nur davon überzeugen, dass er hier wohnen darf.

„Verpiss dich“, brachte ich erstickt hervor und wollte die Zimmertür zuknallen, aber er hielt sie gekonnt auf.

„Warum bist du denn sauer auf mich?“, lächelte er freundlich, sodass mir der Atem stockte. Dass er es auch noch wagte, sowas zu fragen!

„Weil du ein Arsch bist!“, keifte ich ihn an.

„Du kommst doch sicher mit jedem Arsch klar, oder?“, gab er grinsend zurück. Was fand er denn daran so lustig?

„Nur eine Couch kommt mit jedem Arsch klar“ Ich biss meine Zähne aufeinander.

„Darf ich kurz reinkommen und mit dir reden?“, ignorierte er meine Bemerkung.

Ich fluchte eine Stange von Beleidigungen herunter und setzte mich auf mein Doppelbett, er folgte mir.

„Lilly, du bist so anders, als alle Mädchen die ich bis jetzt kennengelernt habe. Du bist so viel besser. Du bist witzig und klug und frech, schön und selbstbewusst und noch tausend andere Adjektive. Ich weiß, es hört sich verdammt seltsam bei mir an, aber ich mag dich. Ich mag dich mehr, als nur ‚mögen‘. Ich weiß wirklich nicht, wie ich es genau sagen soll, aber du bist … einfach du. Sowie du bist, bist du perfekt. Es tut mir Leid, dass du gedacht hast, dass du nur eine Wette warst, denn das stimmt nicht. Glaub mir, nicht einmal ich bin so ein Pfosten.“

Abwartend sah er mich an.

Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus, welches ihn anscheinend ansteckte. „Ich mag dich auch.“

Und dann trafen seine Lippen auf meine. Seine weichen, Warmen, auf meinen Kühlen.  In mir explodierte ein Feuerwerk aus Gefühlen. Er mochte mich. Er mochte mich mehr, als nur ein Freund. Ja, vielleicht würde er mich sogar eines Tages lieben. Und wie er mich da so in den Armen hielt, empfand ich es als wundervoll. Alles auf einmal.

Es war weich.

Es war warm.

Er war mein Feuer, und ich war sein Eis.

Es war Glück, Vertrauen, Hoffnung.

Es war Liebe.

Es waren Gefühle, Empfindungen.

Es war wunderschon.

Es war Licht in der Dunkelheit.  Es war Licht in meiner Dunkelheit.

Es war das Schönste, das ich je gespürt habe.

Es war ein blutroter Tropfen, der auf  porzellanweißen Schnee traf.

Impressum

Texte: Der Text entsprang meinen seltsamen Gedanken und seine Rechte liegen bei mir.
Bildmaterialien: Stefanie Markstoller
Tag der Veröffentlichung: 26.01.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme das Buch jedem, dem es gefällt. Und meiner besten Freundin, die mich dabei unterstützt hat (:

Nächste Seite
Seite 1 /