Cover

Einleitung

Roxy und Skye besuchen ein privates Gymnasium. Mit Hilfe und finanzieller Unterstützung einer Organisation wird es ihrer Klasse ermöglicht, für einen Zeitraum von zwei Monaten ein Internat zu besuchen, das mit dieser Organisation koorperiert. 

Der eigentliche Roman beginnt am Nachmittag nach der Ankunft, daher braucht der Leser wenig Vorkenntnisse. Ich schreibe abwechselnd aus Roxys und Skyes Sicht, allgemein aus der Sicht des personalen Erzählers. 

 

Es gibt mehrere Nebenpersonen, die in den Szenen kurze Erwähnung finden. Hier beschreibe ich kurz einige, damit beim Lesen keine Fragen auftauchen und ihr dasselbe Bild von den Charakteren habt wie Leser, die auch die anderen Kapitel kennen.

 

Chad ist ein manchmal unreifer Jugendlicher, der sich hauptsächlich für Sport interessiert, aber am liebsten auf dem Sofa mit einer Tüte Chips sitzt. Man könnte ihn auch als den College-Boy bezeichnen, weil er sich wie ein amerikanischer Footballer kleidet und mit sämtlichen regulären Sportarten auskennt, er ein wenig oberflächlich ist und Partys sein zweitgrößtes Hobby sind.

Emily, eine von Roxys drei Zimmermitbewohnerinnen, verbringt viel Zeit mit Chad, da sie ähnlich viel Ahnung über Sportler hat wie er. Für sie allerdings ist körperliche Betätigung nichts auf dem Fernseher, sondern eine Pflicht gegenüber dem eigenen Körper. Sie ist sehr sportlich und hinter Roxy die Beste in Sport. Ein Rang, über den die sich wundert, da sie von sich behaupten würde, die Disziplinierteste zu sein.

Zackery, oder auch Zac, ist zur Hälfte Spanier, versucht seinen noch nicht wirklichen haarigen Drei-Tage-Bart wachsen zu lassen und hat Roxy gegenüber bereits angedeutet, er fände sie attraktiv. Er stammt aus strengem Hause und ist diszipliniert genug, seine Ziele zu erreichen. Roxy allerdings ist eindeutig eine Nummer zu groß für ihn, weil sie komplexe Verhaltensweisen an den Tag legt, die normale Menschen kaum nachvollziehen können. In sozialen Dingen passt er sich anderen Menschen an, so auch Chad, in dessen Gegenwart Zackery zu einem Aufreißer mutiert. 

Evan ist ein wenig älter als seine Mitschüler, da er keine normale Schullaufbahn hatte. Er beendete seine Realschule, fing eine Ausbildung an und entschloss sich nach einigen Überlegungen, doch studieren zu wollen, wofür er weitere Jahre die Schule besucht. Desweiteren lebt er bei seiner großen Schwester. Evan hat früh erkannt, dass er homosexuell ist, und gerät leider öfter mit einer religiösen Mitschülerin aneinander, obgleich er versucht, niemanden durch sein Sein zu belästigen. Er ist ein intelligenter, herzlicher Mensch, der immer ein Ohr offen hat. Für ihn ist Freundschaft gleich Familie.

Monique ist die zweite Mitwohnerin Roxys Zimmers. Sie ist süß wie Zucker, nahezu kitschig romantisch, sieht zauberhaft aus - ist aber leider auch sehr naiv. Roxy hat es sich zur Aufgabe gemacht, immer mal ein Auge auf ihre Mitbewohnerin zu werfen. Nicht nur, weil diese ständig irgendwelche Dinge verliert und ihr Leben chaotisch hinterlässt, sondern mehr aus Angst, jemand würde versuchen, ihre Leichtgläubigkeit in das Gute der Welt auszunutzen.

 

Roxys Mutter taucht nur auf wenigen Seiten des ganzen Romanes auf und findet ab und zu bei manchen Abschnitten Erwähnung. Sie ist eine gestandene Frau, die vormittags ehrenamtlich arbeitet und den restlichen Tag über den Haushalt macht und sich um Roxys zehnjährigen Bruder Jakob kümmert. Zwischen ihr und Roxy herrscht ein angespanntes Verhältnis, auf welches ich leider nicht näher eingehen kann.

Roxys Großvater väterlicherseits ist seit einigen Monaten stark dement geworden. Er ist ein liebenswürdiger, alter Mann, der sich gerne um seinen Garten kümmert und im Sommer mit der Familie grillt. Roxy und ihr Bruder führen ein gutes Verhältnis zu ihm, wobei Jakob, um ihn nicht zu belasten, nichts von der Demenz seines Opas weiß. 

 

 

 

 

Diese drei Szenen wurden von mir ausgesucht und von mir hochgeladen, um erstes Feedback zu sammeln. Am wichtigsten ist mir, dass ihr mir offen und ehrlich sämtliche Kritikpunkte per Nachricht mitteilt, die euch in den Sinn kommen. Ich möchte diesen Roman, wenn er fertig gestellt und überarbeitet wurde, als Manuskript verschiedenen Verlagen vorlegen, damit er hoffentlich in den nächsten Jahren veröffentlicht wird. 

 

Damit ihr wisst, wie genau ich das meine; ihr könnt meinen Schreibstil bemängeln, jeden kleinen Fehler auflisten (es sind vermutlich viele, da ich eine Aufmerksamkeitsstörung habe), über die Charaktere herziehen und in aller Freiheit Kritik ausüben. Ich bitte euch nur, freundlich und sachlich zu bleiben :)

 

Liebe Grüße, bellaaaa.x3 oder auch einfach Isabella.

Szene 1 - Die melancholischen Farben der Welt.

 Die Szene ist eine kleine Einweihungsparty der Internatsschüler auf dem Schulgelände und aus Roxys Sicht geschrieben. 

 

Sie hätte sich wärmer anziehen sollen. Die Kälte am offenen Fenster hätte sie warnen sollen. Sie konnte es nicht ab, wenn ihre Unterarme mit Klamotten bedeckt waren, dann fühlte sie sich eingeengt, also hatte sie einen der neuen Cardigans, einen langen in schwarz, bis fast zu den Ellbogen nach oben gezogen und dazu trug sie nur geraffte Stiefel aus Wildleder, was bei dem Preis sowieso kein echtes Leder war, eine dunkelgraue Leggings und ein luftiges Kleid in A-Form in einem schönen, pinken Beere, welches keine Ärmel hatte und bis zu der Mitte der Oberschenkel ging.

Es war kalt.

Ihr war immer kalt.

Die Leggings wärmte nicht, aber Denim stieß Wärme magisch von sich ab und wäre demnach noch schlimmer. Kälte legte sich zerbrechlich auf ihre Beine, auf Schienbeine, Waden und Oberschenkel, stach ihr in die Haut und versursachte überall, wo sie die Kälte spürte, eine Gänsehaut.

Die 'Party' waren kugelige Papierlaternen, die in angenehmen, bunten Farben leuchteten, und eine kleine tragbare Musikanlage, aus der man im Hintergrund Charts hören konnte, nichts schnelles, nichts langsames, normale Party-Musik, und ein paar nebeneinander gestellte, gedeckte Tische mit Pappbechern, kleinen Getränke-Automaten und bunten Dosen. Auf dem Boden vor der Sporthalle leuchteten kleine, runde Boden-Lampen, die den Boden vor der Halle etwas erhellten.

Die Stimmung war locker, und Roxy erkannte viele ihrer Klassenkameraden, aber auch mehrere kleine Grüppchen Internatsschüler. Sie saßen auf Decken auf dem Boden, auf weißen Gartenstühlen, die wohl für Veranstaltungen im Freien genutzt wurden, standen um die Tische herum und plauderten fröhlich mit Dosen oder Bechern in der Hand.

Es gab sogar Sandwiches.

Sie war mit Monique und Emily los, weil Christina noch eine Weile Musik hören und erst später dazu kommen wollte.

Monique gesellte sich zu Miguel, der sich munter mit Evan an einem der Tische unterhielt, und Emily hielt Ausschau nach – mit wem war Em eigentlich so befreundet?

Die Sportler.

War irgendwie klar.

Emily war immer sportlich angezogen und machte gerne Sport, war im Unterricht das beste Mädchen und machte es zudem richtig professionell, mit Dehnübungen davor und danach. Aber sie sah nicht aus wie ein Handball-Freak, eher als würde sie gerne Football und Fußball mögen.

Roxy hatte sie immer schon ein bisschen bewundert, weil sie auf der einen Seite Kumpel-haft war, Sport mochte und sich mit den meisten Kerlen super verstand, aber sie auf der anderen Seite einen schön proportionierten Körper hatte und weiblich aussah. Mit kurzen Haaren, die nur ein Stück über den Nacken gingen, und einem leichten Pony, der in den Längen der anderen Haare verschwand.

Es kam Roxy vor, als wären alle perfekt geboren, Monique, die auf eine liebe, süße Art chaotisch und ziemlich naiv war, Emily, die sportliche, schöne Kumpelin, die für jeden Spaß zu haben schien, und Christina, die sich zwar ein bisschen billig stylte und anzog, aber das war okay, weil sie trotzdem nicht jeden Vollidioten an sich ranließ, wie Chad es zum Beispiel war.

Und wer war Roxy?

Die mollig Geborene, die eher sinnfreie Comics las, statt wertvolle literarische Bücher wie Skye, die viel zu plump war, zu berechnend und kontrollierend, um so zu sein wie Monique, viel zu wenig Oberweite hatte, um sexy zu sein wie Christina, Roxy war die, die ein Stück von allem war, aber dafür viel zu wenig.

Sie war intelligent, aber nicht intelligent genug, um gebildet zu sein. Sie hatte schöne Haut, aber alle Anderen hatten schönere Haut. Sie hatte Brüste, mädchenhafte, runde Brüste, gutes, straffes Gewebe, dass selbst nach Gewichtsabnahme nicht hing oder schwabbelte, aber Emily war durchtrainiert und Roxy hatte nicht genug Oberweite, um sich sexy in Pose zu setzen.

Alle waren so perfekt, so unterschiedlich und einzigartig und perfekt auf ihre eigene Art, und dann war da Roxy, von allem etwas, aber nie genug, um wenigstens auf eine kleine Art perfekt zu sein.

Sie war so sehr sie selbst, so sehr Roxy, dass sie es nicht schaffte, jemand Besseres zu sein.

Und Sheva Roxann Rivers war unperfekt.

 

Sie sah Skye und ging zu ihm, als hätte sie nie etwas anderes vorgehabt, als an diesem Abend zu ihm zu gehen, dabei hatte sie zwar gesucht, war sich aber nicht sicher gewesen, wen oder was, und vor allem konnte sie nicht glauben, Skye gesucht zu haben. Zumal sie gar nicht gewusst hatte, ob ihm jemand von der Party erzählt hatte.

Trotzdem gingen ihre Füße geradeaus, während die Menschen Platz machten, als wäre Roxy jemand Fremdes.

Und dabei hatte sie keine Ahnung, was sie sagen sollte.

Hi?

>>Chad und Randy überlegen auch, ob sie mitkommen.<<, sagte Skye aber an sie gewandt, bevor sie auch nur überlegen konnte. Dann blinzelte er kurz, sah unauffällig an ihr runter, was ihr verdammt unangenehm war – ihre Beine waren zu dick für Leggings – und sagte dann: >>Du siehst … gut aus.<<

Sie verzog das Lächeln zu einem sehr kurzen, stummen Lachen, um Verlegenheit zu überspielen, blinzelte und sah ihm klar in die Augen. >>Du auch.<<

Er trug eine dunkelblaue Jeans, einen schwarzen Pullover, der schlicht und elegant wirkte, nicht lässig und jugendlich, schwarze Chucks und die schwarzen Haare offen, wie sonst.

>>Warum hast du Chad und Randy von der Shopping-Tour erzählt?<<, fragte sie nicht gerade begeistert.

>>Sie wussten schon Bescheid.<<, sagte Skye ein wenig verwundert. >>Emily hat Chad gefragt, ob er mit will.<<

Oh.

>>Super.<<, erwiderte sie trocken. >>Ich dachte, es würde ein Mädchen-Nachmittag werden.<<

>>Soll ich deine Einladung jetzt falsch verstehen?<<, fragte er.

Die Situation wurde ungemütlich. >>Nein. Wir brauchen doch einen, der trägt.<< Klang nicht sehr viel besser. >>Und ich mag nicht jeden Deppen dabei haben.<<

Er sah ihr einen Moment lang nachdenklich in die Augen, dann drehte er sich einladend halb zum Tisch. >>Möchtest du was trinken?<<

>>Was gibt's denn?<<, fragte sie und ging mit ihm den halben Meter zum Tisch, um sich das Angebot genauer unter die Augen zu nehmen.

>>Orangensaft, Bier in den Apfelsaft-Flaschen, Cola und Wasser.<<

Orangensaft.

Es kribbelte in ihren Fingern. Nicht echt, nicht spürbar, aber etwas in ihr wollte jetzt unbedingt Orangensaft schmecken und die Kehle hinunterkippen und nicht mehr damit aufhören. Sie zwang sich, ruhig zu atmen.

>>Naa, vielleicht später.<<

Vielleicht später war immer gut.

Das war genau wie das Wort irgendwann.

Irgendwann würde Roxy wieder essen.

Irgendwann, wenn sie genug abgenommen hatte, würde sie sich erlauben, alles zu essen, was sie in den letzten Wochen gekauft hatte. Ganz egal, ob das 10000 oder 20000 Kalorien waren, sie würde alles essen, was sie wollte. Irgendwann.

Dabei wusste sie tief in sich drinnen genau, dass sie jedes Mal log.

 

Es riss sie in Verzweiflung, nicht essen zu können. Sie vermisste es. Sie vermisste es nicht mit dem Körper, oder mit Heißhunger, sondern allgemein, vermisste es zu essen, wie man irgendwann anfängt, den Ex zu vermissen. Es waren nicht mal die leckersten Sachen, die sie vermisste, es waren ganz einfache banale Dinge wie Brot mit Salami, Suppe, Ravioli, Nudeln mit Spinat, eine schöne, käsige Pizza. Sie vermisste es zu kauen, feste Masse zu schlucken, hatte die ganzen Flüssigkeiten in Form von Energy oder bis letztens Milch satt.

Sie sehnte sich nicht nach leckerem Zeug, sondern nach fester Nahrung.

Und es stimmte sie traurig. Weil sie jetzt wollte, weil sie es so sehr vermisste, aber nicht einmal könnte, würde sie in der Schulküche stehen und von tausenden, dampfenden, lecker aussehenden Gerichten und Gerüchen umgeben sein.

Sie könnte sich nicht davon überzeugen, dass es okay war.

Denn es war nicht okay, zu essen.

Es war nicht gut für sie.

Jahrelang hatte sie versucht, sich mit Essen zu trösten, darin all die schlechten Gedanken zu verdrängen, und jetzt, wo sie aufgehört hatte, wurden die Gedanken schlimmer und sie vermisste das Essen mehr denn je, weil es zwar schlecht für sie war, aber es wenigstens die Welt aussehen ließ, als wäre sie okay.

Sie wollte nicht mehr den Schleier sehen. Wollte nicht so tun, als wäre die Welt okay. Sie wollte die Welt mit all ihrer Hässlichkeit sehen, ihre eigene Welt, und sich nicht mehr belügen lassen.

''Irgendwann''.

Sie wollte nie wieder essen.

>>Alles okay?<<

Sie wurde von Skye aus ihren Gedanken gerissen. >>Klar, warum auch nicht?<< Sie sah sich verwundert um. >>Oder ist irgendwas?<<

>>Ne, ne, schon gut.<<, sagte er verwundert, schüttelte den Kopf und tat die Sache damit ab.

In Theater/Schauspiel müsste sie sich für eine gute Note nicht mal anstrengen.

Klar, normal wirkte sie nicht. Wahrscheinlich eher seltsam. Aber was kümmerte es sie, sollte sie doch seltsam wirken, besser als dass die Menschen wussten, was wirklich los war.

>>Weißt du schon, was du für ein Buch nimmst?<<

Er verzog die Mundwinkel. >>Ich schwanke noch zwischen zwei Romanen. Aber lesen und das Referat schreiben kann ich auch in der letzten Woche, mehr Zeit brauche ich nicht. Du?<<

>>Ich hab mal in der Bibliothek geguckt, aber sie haben nur drei Bücher von der Liste, und die interessieren mich nicht. Ist hier eine Bücherhandlung in der Nähe?<<

>>Ich ignoriere mal, dass du davon ausgehst, dass ich mich schon informiert habe. Aber ja; im Shoppingcenter sind zwei, da könnten wir mal gucken.<<

Wir.

>>Hmm. Hast die dieses Wochenende Zeit? Ich bin eigentlich recht schnell, was das Lernen angeht, aber ich will lieber sicher sein und mir genügend Zeit einplanen. Wenn wir erst übernächstes Wochenende losgehen, hab ich nur noch zwei Wochen, und wer weiß, was noch an Arbeiten kommt.<<

Er zuckte mit den Schultern. >>Bisher stehen nur noch das Geschichtsreferat und ein Test in Bio an.<<

>>Und ein Vokabeltest in Englisch.<<, ergänzte Roxy. >>Hat mir Zac vorhin gesagt.<<

>>Zac?<< Er sah sie verdutzt an.

>>Ja, vorhin. Von ihm und Chad weiß ich überhaupt von der Party.<<

Er nickte langsam. >>Er war bei euch auf dem Zimmer?<<

Sie zuckte misstrauisch mit den Schultern.

Warum fragte er nach Zackery und sah dabei aus, als würde er sich gleich übergeben?

>>Ich bin mal bei einem Bekannten aus meinem Literatur-Kurs.<<, erwiderte Skye nur und machte sich zu einer Gruppe von Internatsschülern auf.

Sie begrüßten ihn lächelnd und lachend und grinsend, nicht macho-mäßig mit in die Arme fallen oder Hände abklatschen, sondern normal, wie anständige Jungen das so machten. Sie hätte Skye nie für so … bodenständig gehalten.

Aber nun war sie alleine. Mutterseelenalleine. Monique schmiegte sich an ihren Bruder, was immer noch zu vertraut für Geschwister aussah, lachte mit einem herzhaft süßen Ton über einen Witz, den Evan machte, Emily zeigte Chad und zwei anderen Typen belustigt sportliche Verrenkungen, wodurch sie noch kumpelhafter schien, Christina war nicht da und sowieso nicht so eng mit Roxy, und Roxy war allein.

Nicht einmal mit Karen oder Louisa könnte sie sich rausreden, denn die waren meilenweit weg und gleichzeitig nur in ihrer Fantasie.

Warum war sie bloß hergekommen.

Sie könnte in ihrem Zimmer am Tagebuch schreiben, nebenbei im Forum kommunizieren, und es würde sich mehr nach Gemeinschaft anfühlen als hier, unter all den verschiedenen und doch ähnlichen Menschen.

Im Apfelsaft-Getränkespender war Bier?

Wie lange brauchte es, betrunken zu werden, wenn man zwölf Wochen nichts gegessen hatte und bereits umgekippt war?

Aber, noch viel wichtiger: Wie viele Kalorien hatten 100ml Bier?

 

Sie konnte kaum Moniques Frage verstehen, was passiert war. Ob es ihr gut ging. Roxy konnte sich nicht mal richtig daran erinnern, was passiert war, bis ihr die Bilder im Kopf auftauchten.

Ihre Mutter hatte angerufen, weil Roxy vergessen hatte, sich nach der Ankunft am Freitag zu melden. Hatte gefragt, ob es ihr gutging, was Roxy nur knapp beantwortete. Hatte ''Alles in Ordnung'' gesagt, weil sie fand, dass ihr Leben in keinster Weise geordnet war. Für sie hieß ''in Ordnung'' das Gegenteil von ''gut'' oder ''okay''.

Sie liebte ihren Opa. Als sie kleiner waren, hatte sie oft bei ihren Großeltern in dem kleinen Haus geschlafen, und den nächsten Tag hatten sie immer zusammen verbracht, bis ihre Eltern sie abholten. Sie wurde morgens in aller Frühe von ihrem Opa geweckt, laut und begeistert wie er als Frühaufsteher und von Natur aus fröhlicher Mensch war, und hatte mit ihm im Garten Karten oder Gesellschaftsspiele gespielt. Erinnerte sich daran, wie sie als kleines Kind immer gebettelt hatte, Poker spielen zu lernen, und er gesagt hatte, dass sie dafür zu jung sei.

Nachmittags hatte er ihr von seinen Reisen erzählt, weil er sein ganzes Leben lang viel gereist war und auf jedem Kontinent gewesen war, und dann waren sie mit ihrer Oma, die die Geschichten schon tausendmal gehört hatte, zu McDonalds, wo Roxy ein Happy Meal und ihr Opa das Spielzeug für seine Sammlung bekam.

Sie dachte an seine lebhaften, vor Lebensfreude strahlenden Augen, und versuchte sich vorzustellen, wie sie wohl aussahen.

Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass ihr Opa verwirrt außerhalb des Dorfes an einer verlassenen Bushaltestelle aufgefunden worden war und sich nicht mehr hatte erinnern können, wie er hieß oder wo er wohnte. Die junge Frau, die ihn gefunden hatte, rief die Polizei, man brachte ihn auf die nächste Wache und fand in seiner Jacke seinen Notizzettel mit Name, Telefonnummer und Anschrift. Als ihre Oma ihn von der Wache abholte, wusste er nicht mehr, dass er sich verlaufen hatte.

Oft hatte er sie Shayenne genannt, so hieß ihre Mutter. Und wenn sie ihm sagte, dass sie Sheva Roxy hieß und doch von allen nur noch Roxy genannt wurde, sah er sie verwirrt an und nickte dann, sagte, er habe die Namen verwechselt. Sie wusste, dass er sie noch erkannte, aber hatte Angst, dass er sie irgendwann nicht mehr erkennen würde.

Sie hatte nach dem Telefonat diese Angst gefühlt, an so viel Emotionalität ihrerseits konnte sie sich noch erinnern. Die Angst, dass sie irgendwann vor der Haustür ihrer Großeltern stand, er die Tür öffnete und er sie mit fremden Augen ansah, mit einem fragenden Blick; >>Was kann ich für Sie tun?<<

Und dann, so fiel Roxy ein, war es gar nicht mehr so wichtig gewesen, wie viele Kalorien das Bier in den Apfelsaft-Flaschen hatte.

Sie drehte sich in der Leichtigkeit der Welt. Über Kopfhörer hörte sie die Melodie einer Spieluhr, und drehte sich dazu im Kreis, die Arme ausgestreckt und Augen geschlossen, und hatte beflügelt vergessen, dass um sie herum eine andere Welt existierte. Sie wippte langsam den Kopf nach links, nach rechts, während sie sich drehte, und genoss es, so losgelöst zu sein. Die schönste Art von Traurigkeit, dachte sie, >>Die schönste Art vom Traurigsein<<, murmelte sie mit halb geschlossenen Lippen, und wusste, dass kein Ton aus ihrem Mund kam, sie nur ganz sacht die Lippen bewegte.

Sie dachte an bunte Farben, so wie Lichterketten an Weihnachten, in den Einkaufspassagen zur Dezemberzeit. An riesigen Bäumen verteilt, von Laterne zu Laterne, mal bunt, mal in der Farbe von Kerzenflammen. Sie dachte an den Zauber und fühlte sich verzaubert, sah die warmen Lichter der Ballons zu ihren Füßen, die Papp-Laternen, ihre lustig aussehenden, kleinen Füße, die vorsichtig auf das Gras traten, sah hinauf und betrachtete den Himmel, weil ihr so nicht schwindelig wurde, obwohl der Schwindel doch schon die ganze Zeit da war.

Sie spürte die Kälte an ihren Fingern, an ihren Unterarmen, den Handgelenken und Händen, wusste, dass sie wohl ziemlich blass aussehen musste, aber nicht einmal der flüchtige Gedanke, dass die halbe Welt sie beobachten konnte, konnte den sanften Rausch vertreiben.

Es fühlte sich so gut an. Die Tatsache, dass es sich endlich mal wieder, nach all den Wochen, gefühlt Monaten, gut anfühlte, machte sie auf eine langsame, sich schleichende Art euphorisch, erfüllte sie mit tiefer Glückseeligkeit, und der Gedanke, dass sie dieses Gefühl so lange vermisst und so sehr gebraucht hatte, machte sie unendlich traurig, sodass es fast wehtat. Die Gefühle, farblich wie Yin und Yang, vermischten sich und wurden nicht grau, sondern zu einem bunt schimmerndem Regenbogen, dessen Farben überall ineinander flossen. Ein Regenbogen mit Farben, die sie noch nie gesehen hatte, der sie wie eine Luftblase umhüllte.

Die schönste Art von Traurigsein, die sie je gefühlt hatte. So wunderschön, so leicht, es fühlte sich an wie das Gegenteil von Zerstörung, denn das Gefühl von Zerstörung war das Schlimmste und sie fühlte es so oft.

 

Sie spürte kaum, dass sie nach einiger Zeit festgehalten wurde. Jemand oder etwas nahm ihr die Kopfhörer aus den Ohren, und sie merkte es nur, weil die Musik plötzlich aufhörte.

Alltagsgeräusche drangen ihr in die Ohren. Hintergrundgeräusche plötzlich so laut, fremde Musik weiter weg, oder doch nah?, und Husten, Lachen, Menschen, die sich unterhielten, leise Gespräche führten, manche nicht ganz so leise.

Sie hörte ihren Namen. Und dann wurde er ein weiteres Mal gesagt, diesmal energischer, aber sie konnte nicht erkennen, ob die Stimme männlich oder weiblich war, und als sie blinzelte und eine verschwommene Gestalt vor sich vernahm, konnte sie nicht erkennen, wer es war.

Sie fühlte sich, als hätte man sie aus dem Traum gerissen, einem Traum, der so lebhaft und bunt und erfüllt gewesen war, so real, dass es kein Traum gewesen sein konnte. Es war wahrscheinlicher, dass man sie einer wunderschönen Realität entrissen und nun einem Albtraum aus lauten, fröhlichen Menschen und Hektik ausgesetzt hatte.

Sie spürte etwas heißes an ihren Oberarmen, an den Seiten ihres Halses, und die Hitze an den Armen verebbte allmählich. Sie spürte Kälte, oder hörte, wie jemand von Kälte sprach, so genau wusste sie es nicht. Vielleicht hörte sie die Kälte auch.

Ihre Sinne waren zu einer klebrigen, grauen Masse geworden und verschwammen ineinander, so wie eben noch die Farben in ihrem Kopf. Es war, als wären Gefühle plötzlich sehbar, als hätten sie feste Materie und würden sich vor ihren Augen bewegen, und das, was sie vor ihren Augen sehen konnte – was auch immer es sein sollte – konnte sie auf eine seltsame Art in sich spüren, als hätte es keine Materie mehr.

Als sie in der Musik einen Rhythmus spürte, fing sie wieder an, sich im Rhythmus zu bewegen, wollte wieder mit den Gefühlen in ihrem Inneren zerfließen, aber etwas hinderte sie daran.

Der Druck an ihren Oberarmen tauchte wieder auf, diesmal fester, so fest, dass sie sich fühlte, als würde sie gerade nicht innerlich in den Abgrund fallen, oder auf einem schmalen Seil gehen, als gäbe es so etwas wie Ungleichgewicht gar nicht. Es fühlte sich sogar an, als würde sich die Welt plötzlich nicht mehr drehen. Zumindest nicht ihr Körper, nur sie, irgendwie. Sie spürte, wie die Welt sich drehte, und plötzlich trugen ihre Beine keine Last mehr.

Sie schwebte.

Sie streckte die Arme aus und lächelte, sah die Bilder verschwimmen und lachte stumm mit wieder geschlossenen Augen. Druck machte sich in ihrer Magengegend breit, sie hörte seltsame Geräusche, die nach Wörtern klangen, aber wusste nicht, ob das Stimmen waren oder der gleichmäßige Klang der Musik.

Die Musik wurde leiser.

Graue Hintergrundgeräusche wurden lauter. Die Stille wurde lauter. Die Musik, die sie so leicht machte, hörte auf, und Roxy fühlte sich plötzlich brechend schwer, wie eine hundert-Tonnen-Last.

Ihr Bauch wurde ihr in den Rücken gedrückt, als würde sie auf einem Balken liegen. Aber der Balkon verformte sich leicht, war nicht so fest wie Holz oder Metall, und warm.

Sie lachte wieder, weil die Welt so verwirrend war und sie sie nicht verstand. Es war gut, wenn sie die Welt nicht verstand, weil die Welt hässlich war.

Szene 2 - Feuer und Eis – Oder: Wie man erst halb erfriert, nur um sich danach die Finger zu verbrennen.

 Diese Szene findet an einem Samstag statt. Roxy, ihre Zimmermitbewohnerinnen Emily und Monique, sowie Zackery, Chad und Skye fahren in die nächste Stadt und machen einen Shoppingnachmittag. Die Szene umschreibt ein komplettes Kapitel und ist aus Skyes Sicht geschrieben.

 

Es war ein kalter Tag wie er im Buche stand, und gefühlt wurde es immer kälter.

Zumindest laut Monique, aber sie hatte sich auch nur eine Jacke über das Kleid geworfen und trug sonst nur bis zu den Knien reichende Stiefel.

Es war zwar etwas kalt, aber frieren tat er nicht. Chad und Zackery, die sich erstaunlich gut verstanden, obwohl Skye keinerlei Verbindung in beiden sah, fröstelte es leicht, doch Chad ließ den Coolen heraushängen, der wohl nicht einmal beim Schneemann-bauen in Unterhose frieren würde, und Zackery machte es ihm nach und meinte, er würde nichts spüren.

Die Temperatur war in den letzten Tagen um fünf Grad herum geschwankt, aber heute war sie genau auf dem Zweig zwischen Plus- und Minusgraden. Die Bäume hatten nun auch die letzten braunen Blätter verloren, die der Wind relativ schnell in alle kleinen Ecken geweht hatte, wo sie nun genervte Ladenbesitzer und Angestellte der Geschäfte mit einem Besen wegkehren zu versuchten.

Zwei ältere Damen vor der Gruppe klammerten sich an einander, was ziemlich ulkig aussah. Die große, schmal gebaute Dame versuchte, ihren Hut festzuhalten, der sie noch riesiger und dünner wirken ließ, und zupfte an ihrer Jacke. An dieser hielt sich die zweite Dame fest, zwei Köpfe kleiner und korpulent gebaut, als könnte sie trotz ihrer, nun, Masse, wegwehen. Gleichzeitig kam sie mit den großen Schritten ihrer Begleitung nicht mit und versuchte, es auszugleichen, indem sie die große Dame nach hinten zog und selbst so hektisch hinterher lief, dass sie mehrmals fast stolperte und die andere Frau mit zu Boden riss.

>>Hab ich dir schon das Video gezeigt, von der, die ich auf einer Party im Sommer im Bett hatte?<<, fragte Chad und hielt Zackery sein Handy hin.

>>Hast du sie echt in der Umkleide gefilmt?<<, fragte Zackery und machte große Augen, die eine Spur von Begeisterung nicht versteckten, als das Video ablief.

>>Quatsch. Das war auf Saras Geburtstags-Party, im Badezimmer. Einen Monat bevor ich … << Chad grinste und machte dreckige Bewegungen mit seinen Händen, während Zackery sein Handy hielt.

>>Die Sara, die letztes Jahr heimlich eine Grillparty auf dem Schuldach gefeiert hat?<<

>>Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen.<<, nickte Chad, während er in nie passierten Erinnerungen schwelgte.

>>Das kannst du vergessen.<<, zerbrach Monique seine Träume. >>Sara Cunningham lädt nur Studenten auf ihre Partys ein. Und dass du<< - sie zeigte auf Chad >>überhaupt zu ihrem Geburtstag eingeladen wurdest, wundert unsere halbe Stufe.<<

Er grinste bloß, als hätte er Qualitäten, von denen niemand wusste.

Klar.

Und Skye freute sich auf Zuhause.

Chad ließ sich ein Stück zurückfallen, während die Mädchen – Monique, Emily und Roxy – im selben Tempo wie zuvor weitergingen. Dann beugte er sich ein Stück zu Zackery und grinste verstohlen: >>Diese Silvana oder so hat mich auf Saras Party geschleust.<<

>>Das heißt, du … <<

Zackery sprach nicht weiter und grinste, wie gewieft Chad war.

Skye schüttelte kaum sichtbar den Kopf und beschleunigte seine Schritte, um den Mädchen näher zu sein. >>Ekelhaft, so was.<<

>>Dein Mitbewohner?<<, riet Roxy, die mittig der Gruppe ging und gerade am Smartphone tippte. Sie tippte, sah Skye kurz fragend an, sah wieder auf den Messenger oder das Forum, was auch immer sie da gerade geöffnet hatte, und tippte weiter, als wäre Skyes Anwesenheit nicht wertvoll genug, um das Smartphone zurück in die Tasche zu stecken.

Oh Gott, wenn sie jetzt bloß nicht wieder damit anfing.

>>Ich hasse es, wenn Kerle frauenverachtend sind.<<, erklärte er. >>Eigentlich ist Chad gar nicht mal so schlecht drauf, bloß glaubt er immer, dass dieses Macho-Getue super ankommt.<<

Sie zog kurz die Augenbrauen hoch, hielt den Blick aber aufs Display, als wolle sie sagen, dass sie gehört hatte, ohne etwas zu sagen.

Er wollte nicht kampflos aufgeben, doch ihm fiel nichts Gescheites mehr ein. Zudem wollte er sich kein gelangweiltes 'Aha' einhandeln, was noch peinlicher wäre als peinliches Schweigen.

Okay, das Schweigen war nicht auszuhalten. Er sprach den nächstdümmsten Satz aus, der ihm in den Kopf kam. >>Also, du kennst allen Ernstes den Unterschied zwischen Allianz und Horde?<<

Die Mädchen hielten an einer Ampel. Roxy blieb ein wenig weiter hinten stehen, sah zu Chad und Zackery, die sich zu den zwei Mädchen gesellten und ebenfalls auf das grüne Licht warteten, steckte ihr Handy weg.

>>Okay, Skye – nein. Ich bin nicht so eine, die auf Smalltalk steht. Ich bin keine, die darüber redet, ob ihr kalt oder warm ist, was sie alles beim shoppen gesehen hat und haben muss, wie grausam nervig der Unterricht ist und wie windig der Wind ist und wie süß irgendwelche Typen sind und was Mädchen sonst noch für sinnloses Zeug quatschen.<< Sie holte ihre Zigarettenschachtel raus, während Skye sich fühlte, als würde er gerade die größte Abfuhr des Jahrhunderts bekommen. >>Du hast mich gefragt, was ich für eine bin. Keine Ahnung! Ich bin zumindest keine, die auf sinnlose Freundlichkeiten steht, oder auf übertriebene Höflichkeit oder auf liebevolle Gesten.<< Sie verzog die Lippe, rümpfte die Nase und schüttelte leicht angewidert den Kopf. >>Kann ich nichts mit anfangen.<<

Dann machte sie eine Kippe an, gab sie Skye, machte sich selbst eine an und holte dann wieder ihr Handy aus der Tasche, während die Ampel grün aufblinkte.

Wie die Gruppe von unterschiedlichen Jugendlichen über die Ampel zur Buszentralstation ging, um von dort aus zum Shopping-Center in der nächstgrößeren Stadt zu kommen, hatte Skye den Gedanken, dass dieser Tag elendig lang würde.

Und dass es Zuhause genauso beschissen wie hier war, aber er dort wenigstens allein wäre.

 

>>Diese Pasta musst du probieren!<<, rief Monique begeistert, beugte sich quer über den Tisch zu Emily, schob ihren Teller mit und sah dann einen Moment lang süß aus: >>Keine Widerrede!<<

Chad aß komplett ohne Manieren seinen riesigen Burger, so richtig mit die Hälfte auf die Serviette fallen lassen und mit dem ganzen Gesicht essen, während Zackery sein Shopping-Ergebnis neben die Fast-Food-Gerichte auf den Tisch stellte: >>Nike Air Max. Mein drittes Paar jetzt, und ich weiß nicht, welches ich schöner finde.<<

Wer's Geld hat …

Skye sah uninteressiert weg und blieb bei Roxy hängen, die getrennt von allen immer noch an ihrem Smartphone tippte. Das machte sie, seit sie alle in die Fressecke des großen Einkauf-Centers gekommen waren. Sie waren hergekommen, die Gruppe hatte bei den verschiedenen Geschäften bestellt und jeweilige Angestellte hatten nach und nach die Gerichte an die Reihe Tische gebracht, wo sich Skye an einen Tisch gesetzt hatte, rechts von ihm Chad und Zackery, am nächsten Tisch Emily und Monique und ein Haufen Tüten und ganz rechts, am Ende der Reihe, eine einzelne Roxy mit einer einzelnen Tüte.

Skye stand auf, nickte Chad zu und murmelte, dass er sich eine Cola holen wollte.

>>Bringst du mir auch noch eine?<<

Er nickte wieder und fluchte innerlich.

Reinhauen war heute nicht. Das Frühstück hatte Skye verschlafen, weil irgendeines von Randys Teilen nachts angefangen hatte, zu piepen, und Skye war seltsamerweise nicht nur aufgewacht, sondern hatte von zwei bis fünf Uhr morgens nicht mehr einschlafen können. War dann gegen etwa halb sechs endlich eingeschlafen und erst am Mittag aufgewacht, etwa eine halbe Stunde bevor er sich zu Roxy und Monique aufgemacht hatte.

Sie waren eineinhalb Stunden gefahren, was schon eine ganze Weile ausmachte, und hatten das Mittagessen im Center geplant. Nun war es drei, etwas nach drei, die Mädchen hatten Hunger bekommen und so waren sie in die Fressecke, denn anders konnte man diesen Bereich des Gebäudes nicht nennen.

Die Jungs, oder besser Chad, musste noch in die Gaming-Zentrale, so nannte sich laut der Touri-Führerin am Eingang eine Reihe von mehreren Geschäften, die Konsolen, Spiele und interessanten Technikkram verkauften, sollte Randy ja die Ersatzteile mitbringen, und Monique wollte unbedingt in die Zoohandlung, weil sie hier angeblich eine hatten, in der auch Katzen verkauft wurden. Sie war bisher nur in Zoohandlungen gewesen, wo man Nagetiere und Fische kaufen konnte, und wollte schon immer mal eine Katze von Nahem sehen. Ging bei ihr Zuhause nicht, weil ihr Vater eine starke Allergie hatte. Emily hatte sich zum Ziel gesetzt, mit Roxy und Monique als Stil-Beraterinnen jede größere Modekette in diesem Gebäude abzuklappern, und Skye – nun, er stand vor der Tatsache, dass sie zum offiziellen Internats-Abendessen nicht rechtzeitig wieder im Internat wären.

Es fühlte sich an, als würde sein Magen versuchen, letzte Essensreste von Roxys für die Busfahrt mitgenommen Chips zu verdauen, dabei waren die schon abgebaut.

Er war hungrig.

Mit zwei Colaflaschen in der Hand wollte Skye nach dem Bezahlen den Rücktritt antreten, doch stand plötzlich Roxy vor ihm.

>>Kippe?<<

>>Chad wartet auf seine Coke.<<, antwortete Skye trocken, hielt die Flasche hoch und nickte zum Tisch. >>Und eine rauchen will er bestimmt auch.<<

Er glaubte, sie genervt aufatmen zu hören, und bekam dann nur noch aus den Augenwinkeln mit, wie Roxy ihn am Ärmel einen Gang runter und zu einer Tür zog, die aussah, als wäre sie für Notfälle.

Der Notausgang entpuppte sich als Hintertür, durch die man, nachdem man auf der Straße eine Treppe hinauf gestiegen war, direkt in die Fressecke des Gebäudes kam. Wahrscheinlich ein kleines Rauchereck – was die großen Aschenbecher erklärte – und der Aus- und Eingang für die Mitarbeiter in den Fast-Food-Geschäften.

Während die milchglasige Tür ins Schloss fiel, machte Roxy zwei Kippen an und lehnte sich an das Geländer, hinter welchem zusätzlich noch dicke, leicht dreckige Glasscheiben waren, die wohl vor Wind schützen sollten.

Trotzdem spürte Skye die Kälte plötzlich nach Stunden wieder. Ihm war nicht wirklich kalt, im Gegenteil, aber den Umschwung merkte er sofort.

Skye nahm wortlos die Kippe und stellte sich zu ihr.

>>Wieso isst du nicht?<<, fragte Roxy plötzlich, doch starrte dabei geradeaus durch die Scheibe.

Skye zuckte mit den Schultern, stellte eine Cola auf das Geländer und trank ein paar kleine Schlücke aus der anderen.

Eigentlich hatte es keinen Sinn, sparsam zu sein. Wenn er mit der Cola sparte, hatte er zwar lange etwas von ihr, aber irgendwann würde sie sowieso nicht mehr schmecken. Aber hätte er in einer halben Stunde Durst, wenn er sie jetzt hinunter kippte?

Bestimmt.

>>Keinen Appetit.<<, sagte Skye knapp, dem immer noch bewusst war, dass Roxy nicht auf Smalltalk stand. Da musste er ihr auch keine ausführlichen Antworten geben.

Und dann knurrte sein Magen.

So richtig laut, als würde er verhungern. Hätte er seit Stunden nichts bekommen. Sein Magen knurrte, als würde er verhungern, und so fühlte es sich an.

>>Du hast also keinen Appetit, interessant.<<, sagte sie langsam, zog an der Kippe und blies den Rauch gegen das Glas.

>>Danke für die Kippe.<<, sagte Skye, weil er glaubte, das schuldig zu sein. >>Aber was willst du?<<

>>Ich will wissen, warum du die ganze Zeit da sitzt und nichts isst, obwohl du sonst immer Minimum zweieinhalb große Teller verdrückst.<<

>>Hab mein Geld vergessen.<<, log er. Halb.

>>Aber für 'ne Coke für Mr. Chad Super-Brain reicht es?<<, fragte sie.

Er stöhnte genervt. >>Ich hab nicht mehr, okay?<<

Nun drehte sie sich ihm zu. >>Wie, du hast nicht mehr?<<

Er zuckte mit den Schultern.

>>Die meisten Schüler bei uns haben wohlhabende Eltern und die meisten Schüler eigene Kreditkarten.<<

>>Kann ja nicht jeder so reich sein.<<

>>Hey, von reich hab ich nicht gesprochen. Es gibt genug Eltern, die nur Eigentumswohnungen haben, also nicht mal eigene Häuser.<<

Er lachte spöttisch. >>Du raffst es nicht, oder? Ich komme aus einer sozial. Schwachen. Gegend.<<, sprach er die Worte einzeln aus.

>>Was?<<

Er stöhnte erneut, diesmal aber nicht so stark, weil er sie nicht verletzen wollte. >>Ich rede nicht darüber, was bei mir Zuhause abgeht. Hab ich nie, werd ich nie. Weiß niemand, keine Sau, außer mir. Ich hatte 'nen festen Betrag, den ich mitgenommen hab, und der ist jetzt weg. Mehr kann ich dir nicht sagen.<<

Sie runzelte die Stirn und versuchte es zu verarbeiten. >>Ist es … okay, wenn ich Fragen stelle, und du nur die beantwortest, die du beantworten willst?<<

Er seufzte ergebend und nickte.

>>Haben … Hast … <<

>>Frag einfach, verdammte Scheiße.<<

Sie schien zu brechen. >>Haben deine Eltern denn keine Rücklagen? Wie geht das, so wenig Geld zu haben, ich meine, du brauchst doch etwas, um Essen oder so zu kaufen, wie kannst du da nicht genug mithaben? Hast du kein Konto, wo du was abheben kannst? Wie kannst du auf eine private Schule gehen, wenn deine Eltern nicht so … na ja … vermögend sind, wie alle Anderen von uns? Wie können sie dir dann das Schulprojekt bezahlen? Gott; was hast du denn noch mit, dass du dir gar nichts mehr leisten kannst?<<

Wortlos öffnete er grob ihre Hand, die ziemlich kalt war, machte sie flach und griff in seine Jeanstasche – fischte das restliche Geld raus, das er noch hatte, und drückte es ihr ungezählt in die Hand.

Er drehte sich wieder der Scheibe zu und zog, das Grau der Welt betrachtend, an seiner Zigarette. >>Am Schulprojekt mache ich mit, weil sich das Zwischenzeugnis eines Internats – und ist es nur die Benotung des Projektes – verdammt gut im Abschlusszeugnis macht. Und das Internat kann ich … << Fast hätte er sich verplappert.

Ihm war es wichtig, nie zu lügen. Das, so hatte er es sich als kleiner Junge beigebracht, war wichtig, das machte einen guten Menschen aus. Gleichzeitig durfte er nicht zu viel verraten. >>Das passt gerade so vom Finanziellen.<<

>>5,27€? 27 Cent und ein zerknitterter Fünfer?<<

>>Die nehmen für eine Flasche Coke einen Euro fuffzig?<<, fragte Skye ungläubig und hielt die Coke in das Tageslicht, so als wolle er die Echtheit testen. >>Sachma, sind da Goldpartikel drin?<<

>>Gott!<<, rief Roxy, weil Skye nicht auf ihre Frage eingegangen war. >>Du hast nicht mal mehr Sechs Euro bei dir, und das soll noch drei Wochen reichen?<<

>>Deswegen kaufe ich mir heute ja auch nichts.<<, erklärte er, als wäre es völlig verständlich, nahm sich das Geld wieder und steckte es zurück an seinen Platz; die rechte Po-Tasche, weil er dort – warum auch immer – mehr spürte als vorne am Bein und dass ihm das letzte Geld geklaut wurde, konnte er nicht gebrauchen.

Roxy sah aus, als habe sie soeben einen Anfall. >>Alleine die Fahrkarte hat uns pro Kopf drei Euro gekostet! Und dann die Cola für Chad, der gibt dir doch nie das Geld wieder – für den ist das wie .. wie .. na ja, nicht mal zwei Euro, verstehst du? Der Typ hat keine Relation, was Geld betrifft!<<

Skye zog die Augenbrauen zusammen, starrte einen Moment lang in die Luft und dann ihr gleichermaßen verwirrt und fragend in die Augen, als ob ihr diese Beschreibung nicht irgendwie bekannt vorkäme. Nicht unbedingt bekannt, eher, als ob sie nicht irgendeine Verbindung in ihr und sich selbst sah.

Als würde sie es auf diese Art aufgeben, sanken ihre Schultern fast bis zum Boden. Sie beruhigte sich, kam ebenfalls wieder an das Geländer und rauchte weiter.

Skye merkte, dass sie die Zigarette doppelt so schnell geraucht hatte wie er.

Sie machte sie am Fußboden aus, öffnete die Schachtel erneut und fischte nach dem Feuer.

Warum rauchte sie so viel?

Sogar an der zweiten zog sie schon wieder, noch bevor sie den Rauch richtig ausgepustet hatte.

>>Warum hast du ihm die Cola gekauft, wenn du nicht mal Geld für Essen hast?<<, fragte sie, und ihre Stimme klang hoffnungslos.

>>Ich schätze, weil ich versuche, ein guter Mensch zu sein.<<

>>Selbstlosigkeit, hm?<<

Er nickte. >>Und niemandem zur Last zu fallen. Denen zu helfen, die nicht nach Hilfe fragen, und niemals nach Hilfe zu fragen.<<

>>Du bist ein guter Mensch.<<, sagte sie plötzlich. >>Du hast nichts und gibst trotzdem.<< Sie machte eine Pause, betrachtete dann die – nur noch – halbe Kippe zwischen ihren Fingern und senkte den Kopf. >>Manchmal glaube ich, dass Reiche niemals so sein können. Ich könnte tausendmal mehr geben als du, aber hab so viel, dass es keinen Unterschied machen würde, wie viel ich gebe. Es ist die Geste.<<

>>Ich würde mich nicht als guten Menschen bezeichnen.<<, erwiderte Skye trocken.

>>Weißt du was? Ich spendiere dir ein Menü, das größer ist als alles, was du an einem Tag im Internat isst.<<, beschloss sie, schnippte die Kippe beiseite und wandte sich zum Gehen, als sie sah, dass Skye fertig mit seiner Zigarette war.

So langsam machte ihn dieses ganze Gefühls-Hin-und-Her wirklich verrückt. Wie lange hatten Mädchen ihre Tage? Oder besser; wann hatte der ganze Mist angefangen? Oder war sie einfach noch etwas betrunken, die letzten Tage nach Montag?

Klar.

Als er merkte, dass sie wartete, lachte er, um seine Nachdenklichkeit zu verstecken. >>Das würde ich nicht zulassen.<<

>>Du kannst nicht einen Tag lang gar nichts essen!<<, protestierte sie und sah dann einen Moment lang irritiert aus. Danach sagte sie, als würde sie etwas begreifen, mit trauriger Stimme: >>Das wäre doch wahnsinnig.<<

>>Und du sagtest, du würdest nicht auf Smalltalk stehen.<<, grinste er verstohlen und schüttelte den Kopf. >>Du bist ein Miststück.<<

Sie öffnete die Tür, drehte sich halb zu ihm um. >>Das war auch keiner.<<, flüsterte sie, lächelte ihn geheimnisvoll an. Dann küsste sie ihn auf die Wange, halb auf die Wange, halb auf den Mund, berührte seine Lippen mit den Ihren, lächelte wieder, drehte sich um und ging rein, so als wäre nichts gewesen.

WAAAAH!

Sie raubte ihm den Verstand.

Er … konnte nicht mehr … klar denken!

Dieses Miststück raubte ihm den Verstand!

Mit der Gewissheit, dass sie den KFC anvisierte und sich nicht mehr umdrehte, fasste sich Skye an die Stelle, wo sich ihre Lippen getroffen hatten, musste unwillkürlich lächeln und spürte, dass es sich gut angefühlt hatte.

Immer noch anfühlte.

Er wollte, dass sie sein Leben berührte und nie wieder daraus verschwand, und auf der anderen Seite wünschte er sich, wäre er diesem komplizierten, verwirrenden Etwas nie begegnet.

 

Etwas über eine halbe Stunde später, nachdem sie ihm tatsächlich und das gegen seinen Willen ein XXL-Menü bestellt hatte – was es gekostet hatte, wollte sie ihm nicht verraten, aber er schätzte es auf die zwanzig Euro, ergo das, was er sonst im Monat für Essen ausgab – saß er wartend auf einem roten, bequemen Sofa vor einer Umkleidekabine und sortierte die Klamotten, die Roxy ihm in die Hände gedrückt hatte. Dass es sich dabei auch um Unterwäsche handelte, war ihr wohl egal.

Ein fast jedes Kleidungsstück wurde ihm präsentiert, und er sollte mit Daumen hoch und runter bestimmen, ob es an ihr gut aussah oder nicht. Was ihn plötzlich zum Styling-Experten gemacht hatte, wusste er selbst nicht so recht. Und wie sie es sich schon wieder leisten konnte, zu shoppen, wusste er auch nicht. Aber sie tat es.

Chad war mit Emily zu den Technikläden, wegen dem Computer-Kram und weil beide – also Chad und Emily, auf Videospiele abfuhren. Dass sie sich gut miteinander verstanden, verstand Skye wiederum nicht, weil sie charakterlich wie Feuer und Eis waren. Aber um dies richtig zu beurteilen, musste er wohl länger an der Schule sein als eineinhalb Monate, ergo überließ er es lieber ihnen.

Roxy öffnete den Vorhang und posierte leicht. Nicht zu aufdringlich, eher, damit das Kleidungsstück besser zur Geltung kam. >>Pullover.<<

Skye hob den Daumen.

>>Meine Mum hat mir verboten, noch mehr Geld auszugeben.<<, erzählte sie, nachdem sie den Vorhang wieder zugezogen hatte. >>Sie ist der Meinung, ich hätte genug 'verschleudert'. Ich hab über eine halbe Stunde mit ihr darüber telefoniert! Schließlich kam mein kleiner Bruder im Hintergrund damit, dass meine ganzen anderen Sachen total beschissen aussehen – ja, er hat es genau so gesagt! – weil sie viel zu groß sind. Meine Mum ist meinen Kleiderschrank durch, und ich hab ihr gesagt, welche Größen sie alle auf einen Haufen legen kann, was zu groß ist.<<

Er hörte ihr zu, aber nur halbherzig, weil er darüber nachdachte, warum er ihr so viel von sich erzählt hatte. Niemand aus der Schule wusste, woher er kam, oder besser gesagt, dass er nicht wie alle Anderen viel Geld zur Verfügung hatte, und eigentlich hatte er dies auch niemandem erzählen wollen. Vor allem nicht Roxy, die, wie es schien, in goldene Handtücher geboren war.

Vielleicht lag es auch an Randy. Wenn er Randy davon erzählen würde müssen, dann machte es auch nichts, wenn sie es auch wusste, oder? Andererseits war es leicht, Randy zu ignorieren oder gar mies zu behandeln, weil er, nun, nicht gerade in ihn verknallt war. Wenn er mit Roxy stritt, oder besser gesagt sie ihm immer wieder die kalte Schulter zeigte, wollte er nicht damit leben, dass er auf den Tisch gelegt hatte, wer er war.

Ach, das war doch alles nur Mist.

>>Ich will gar nicht wissen, welchen Umfang der Haufen hatte. Es geht ja auch nicht alles weg; viel davon möchte ich noch behalten, der Erinnerungen wegen oder weil man es auch im Alltag oversize tragen kann. Aber BHs, da hab ich welche für einen 85er Umfang, und mittlerweile brauche ich 75.<<

>>Moment mal.<<, unterbrach sie Skye. >>Du hast hier welche wo 70 und 65 draufsteht.<<

>>Die von dem Laden hier fallen unterschiedlich aus. Genau wie ich bei Jeans von H&M 36 oder 38 brauche, bei C&A aber zwei Nummern kleiner.<<

Moment mal. War es nicht sinnvoller, erst die 75 anzuprobieren, wenn sie normalerweise 75 trug? Die Größen verwirrten ihn.

Skye hörte nebenan jemanden husten.

Eine junge Frau, vielleicht zwanzig rum, kam mit zwei Bügeln aus der Kabine neben Roxy, schüttelte den Kopf und ging wortlos weg.

Skye sah ihr verständnislos nach.

>>Ist ja auch Latte. Jedenfalls war meine Mum sprachlos. Richtig sprachlos, und das am Telefon. Ich dachte einen Moment lang, sie wäre ohnmächtig geworden oder so, im Angesicht der Tatsache, wie viele Klamotten ich wirklich habe.<<

Hatte sie nicht erst letztens gesagt, dass sie nie großartig shoppen ging?

>>Roxy, Skye, seid ihr – Oh, hi, Skye!<<, rief plötzlich Monique, die überraschend an der Seite aufgetaucht war. >>Ist Roxy hier?<<

Er nickte.

>>Hi, Monique!<<

>>Ich wollte nur sagen, dass ich Zackery gefunden hab, und wir nochmal in den Laden im ersten Stock wollten. Kommt ihr dann zu uns runter, wenn ihr fertig seid?<< Bevor Skye nicken konnte, wurde Monique von ihrer Linken abgelenkt. >>Zac! Warum starrst du in die Unterwäsche-Abteilung!?<<

>>So viele schöne wunderbare Dessous … <<, hörte er jemanden leise murmeln, bevor Monique entrüstet aufbrach und einen fasziniert strahlenden Zackery mit sich zog, der wie ein kleiner Junge in der Spielwarenabteilung um sich umher guckte.

Auch, wenn er ihn nicht mochte, Skye schaffte es nicht, sich das Lachen zu verkneifen.

Dieser ganze Tag heute war so absurd.

Erst war sie normal, dann ignorierte sie ihn, im Bus eine Mischung aus Ignoranz und Normalsein, dann zog sie ihn nach draußen, zwang ihn nahezu, von sich zu erzählen, küsste ihn fast und jetzt war alles wieder normal.

Langsam aber sicher wollte er endlich wissen, woran er war. Und irgendwann konnte er sich garantiert nicht mehr zusammenreißen, wie auch immer.

>>Shirt.<<

Sie schob den Vorhang zur Seite.

Er rümpfte die Nase.

Entsetzt griff sie nach einem Haufen Klamotten, der auf dem Boden lag, völlig zerknüllt und mit den Nähten nach außen, sammelte alles auf einem Arm und bewarf ihn nach und nach mit jedem einzelnen Kleidungsstück.

Skye versuchte, sich irgendwie zu schützen, doch durch den noch anhaltenden Kater war er in seiner Beweglichkeit massiv eingeschränkt. Also schütze er sich den Kopf mit den Armen und verdrehte sich, befürchtete aber, dass sie dadurch noch mehr Angriffsfläche hatte.

Beleidigt schob sie den Vorhang zurück, nachdem fast alle anprobierten Klamotten weg waren und nur noch Einzelteile auf dem Boden in den Ecken lagen – hey, die Böden der Kabinen waren auch immer so sauber – und ließ ihn mit einem Haufen unordentlicher Klamotten zurück.

Mit dem Gedanken, dass er noch nie – nicht einmal letzten Samstag – so viel Chaos gesehen hatte, und dass jeden Moment eine entsetzte Verkäuferin vorbei kommen konnte.

So schnell wie möglich versuchte er, alles zu sammeln.

Würde es jedes Mal so lustig sein, mit Roxy und Monique shoppen zu gehen? Mal abgesehen von Roxys verdammten Stimmungsschwankungen? Verkäuferinnen herumschubsen, mit Kreditkarte an der Kasse bezahlen, laute Gespräche quer durch alle Kabinen führen und sich dann vor Lachen nicht einzukriegen, wenn man merkte, dass die halbe Welt gezwungen worden war, mitzuhören?

Plötzlich spürte Skye den Drang, unbemerkt in Roxys Kabine zu schlüpfen, sie dazu zu bringen, leise zu sein, indem er einen Finger auf ihre Lippen legte und sie dann küsste. Ganz egal, ob sie noch beleidigt war oder nicht.

Gott, was zur Hölle war nur los mit ihm?

Er sortierte den Stapel Jeans über seinem Schoß und wartete, bis Roxy alles der Reihe nach anprobiert und ihm die schönsten Teile gezeigt hatte.

Irgendwann wurde es ihm zu doof, den Putzmann zu spielen. Das war wahrscheinlich der Moment, in dem er den größten Fehler machte.

Er stand auf, stellte sich direkt an den Vorhang und riskierte einen Blick in das Innere der Kabine, wo er Roxy sekundenlang ins Gesicht starrte, bis sie – in Leggings und Shirt, nebenbei bemerkt – plötzlich erschrak und merkte, dass sie beobachtet wurde.

Skye sah sich draußen um, ob gerade jemand in der Nähe war, da die Kabinen nicht sehr versteckt lagen, verschwand dann spurlos im Inneren und zog die noch nicht anprobierten Klamotten auf dem Fußboden mit rein, bevor er sich auf den Hocker setzte und Roxy wartend ansah.

>>Du erwartest nicht ernsthaft, dass ich mich vor dir ausziehe, oder?<<

>>Psch!<<, flüsterte er, nickte gen Vorhang und grinste verstohlen. >>Das Mädchen mit der großen Klappe, die nicht auf Smalltalk steht, wollte gerade was erzählen? Wie ihre Mutter am Telefon umgekippt ist, wie groß der Haufen Klamotten des nicht shoppingsüchtigen Mädchens war oder dass ihr kleiner Bruder ein Schimpfwort-benutzendes Arschloch ist?<<

Sie grinste boshaft. >>Nenn meinen Bruder bloß nicht Arschloch!<<, rief sie, diesmal aber flüsternd.

>>Er sagt, dass du in manchen Klamotten bescheuert aussiehst, und bei dir kann ich mir das einfach nicht vorstellen. Also leidet er entweder an Realitätsverlust oder ist ein Arschloch, und letzteres kann ich mir bei kleinen Brüdern mit großen Schwestern sehr gut vorstellen.<<

>>Du bist ein Wichser.<<

Er zuckte mit den Schultern. >>Manchmal.<<

Sie sah ihn mit zusammen gekniffenen Augen an, und zog sich dann aus Protest das Shirt quer über den Oberkörper.

Sein Puls ging ein Stück höher. Und sein Blut sackte dann natürlich noch stärker in tiefere Gefilter ab, was verdammt großartig war, wenn man verdammt nochmal nicht geil werden wollte auf ein Mädchen, das verdammt nochmal brennend heiß und gleichzeitig eiskalt war.

Er dachte daran, wie sie im Sportunterricht gelächelt hatte, wie sie ihn am ersten Schultag vor der ganzen Klasse ihren Zuhälter genannt hatte, vergaß komplett die Abfuhr, die sie ihm auf dem Weg zu Busstation erteilt hatte, und konnte nicht aufhören, daran zu denken, wie sich ihre in diesem Licht beigefarbene Haut unter seinen Fingern anfühlte, wie es war, durch ihre Haare zu fahren, sie zu packen, nach hinten zu ziehen, sodass sie gar nicht anders konnte, als ihn zu küssen.

Er spürte ein Verlangen nach ihr, Himmel, wirklich Verlangen? Wollte sie hier und jetzt küssen, sie gegen die Wand stemmen und küssen, und ihr zeigen, dass er das Spiel von Feuer und Eis auch beherrschte.

War es das restliche Bisschen gesunden Menschenverstandes, das ihn davon abhielt?

Anscheinend. War wohl doch noch mehr übrig, als er gedacht hatte.

Sie bückte sich vor seinen Hocker, sah über ihre Schulter hinter sich, ihm in die Augen, göttliche Provokation in ihrem Blick, und biss sich leicht auf die Unterlippe.

So.

Ein.

Verdammtes.

Manipulierendes.

Miststück.

Was hatte er sich nur dabei gedacht, Spontanität, ja, klar, konnte ja nur nach hinten losgehen! JUNGE, warum spielst du auch mit dem Feuer!?

>>Hilfst du mir, den BH zu öffnen?<<, flüsterte sie.

Begeistert, so als wäre dies ein Touchdown, der die Welt zum Guten wendete und die Apokalypse verhinderte: Und da ging er, der reeeeeeeestliche Meeeeeeenscheeeenverstaaaaand!

Und die Menge jubelte.

Szene 3 - Und die Hand der Klinge gehört dem einzigen Menschen, dem du vertraut hast.

 Diese Szene ist ebenfalls ein komplettes, dafür aber sehr kurzes Kapitel. Am Abend nach einem langen Schultag sitzen Roxy und Skye im Gebäude der Schlafsääle, um genau zu sein im Gemeinschaftsraum für Mädchen und Jungen. Es ist kurz vor Ruhezeit, sodass sie die Einzigen im Raum sind.

 

>>Du meinst, sie haben mich einfach so eingeladen?<<, fragte Skye mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht. Er wirkte, als würde ihn das alles nicht so wirklich was angehen, während er die Fernbedienung für den Fernseher immer wieder in die Luft warf und auffing, als würde er auf etwas Interessantes warten.

>>Hab ich doch gerade gesagt.<<, wiederholte Roxy und beobachtete Skye gequält weiter.

Sie hatte immer noch nicht herausgefunden, was ihm nun genau im Sinn stand. Obwohl es keiner von ihnen ausgesprochen hatte, wusste er, was Roxy tat, oder besser gesagt, was sie nicht tat. Er setzte sich neben sie, wenn sie vor ihm im Speisesaal war, nahm sich seine üblichen riesigen Portionen vom Buffet, aß stetig so, als würde er verhungern, und setzte sich im Unterricht zu Evan, Randy und sie.

War es möglich, dass er ihr Geheimnis teilte? Es einfach geschehen ließ, und niemandem davon erzählte?

Konnte er das denn?

>>Na gut, ich gebe es ja zu. Ich hab meinem Vater gegenüber vielleicht kurz mal erwähnt, für wen ich gekocht habe.<<

>>Du hast über mich geredet?<<, fragte er. Seine Stimme klang so direkt herausfragend, so forsch, als wolle er nur bestimmte Dinge aus ihrem Mund hören.

>>Jetzt hör auf herumzuspinnen!<<, rief sie, verkrümelte sich in das Sofa und bewarf Skye mit einem Kissen. >>Ich hab dir gesagt, ich stehe nicht auf Smalltalk. Wieso sollte ich dann mit irgendwem über irgendwelche Typen reden, und vor allem, wieso mit meinem Vater?<<

Er legte das Kissen an seine Seite und lehnte sich zurück. >>Ich gehe mal davon aus, dass du erzählt hast, da hättest für ein paar Freunde und einen Kerl gekocht, den du magst. Daraufhin tat er, was Väter tun, und quetschte dich über mich aus, ob mein Umgang denn gut genug sei. Und weil du wohl ziemlich verknallt geklungen hast, nahm er an, du magst mich, und so hat er mich am freien Wochenende zum Essen eingeladen, um sich selbst ein Bild zu machen.<<

Roxy stand der Mund offen. Sie wollt ihn schließen, schaffte es mit einer wahrscheinlich seltsam aussehenden Grimasse und funkelte Skye wieder einmal böse an. >>Nö!<<, rief sie dann, verschränkte protestierend die Arme vor der Brust und beschloss, nie wieder mit Skye zu reden.

Er lächelte kurz und tippte an seinem Smartphone. >>Musst du noch Englisch machen?<<

Verwundert blinzelte Roxy. Wie kam er davon, dass sie ihn mögen könnte, auf Englisch? >>Theoretisch ja.<<

>>Und in der Praxis?<<

>>Saß ich gestern eine Dreiviertelstunde vor meinem Laptop und wusste nicht, wie ich das verdammte Referat anfangen sollte.<<

Er lachte in sich hinein.

>>Aber was hältst du eigentlich von der Idee von Poletti, Psychologie/Pädagogik?<<

>>Was sie angekündigt hat? Mit dem Ausflug nächste Woche?<<

>>Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.<<, stimmte Roxy zu. >>Klar, lehrreich ist es schon irgendwie, aber warum zur Hölle sollen wir einen Nachmittag in der Jugendpsychiatrie verbringen?<<

>>Weil es lehrreich ist?<<, riet Skye.

Roxy nahm das nächste Kissen, aber warf es ihm nicht an den Kopf, sondern drückte es sich gegen den Bauch, während sie in Bildern versunken ins Nichts starrte. >>Ich will da nicht hin.<<

>>Du kannst dich nicht drücken. Novak hat gesagt, wir müssen wenigstens alle Ausflüge des regulären Unterrichts und der Wahlfächer einhalten. Egal, ob krank oder nicht. Schuld derer, die letztes Mal nicht da waren.<<

>>Es musste ja auch die halbe Klasse beim Burgausflug hier bleiben und krank spielen.<<, sagte sie genervt.

>>Und wenn ich sage, mich hat ein Eichhörnchen attackiert und ich muss mich impfen lassen?<<, fragte sie hoffnungslos. >>Oder im Zimmer hat es gebrannt und ich hab mich vergiftet? Oder ich hab mich im Bad eingeschlossen und find den Schlüssel nicht?<<

>>Ihr habt einen Schlüssel für das Badezimmer?<<

>>Nee.<<

Skye schüttelte grinsend den Kopf, betrachtete etwas durch das Fenster und spielte mit seinen Fingern. Es machte Roxy unruhig, denn mit den Fingern zu spielen war ein Zeichen von Nervosität, und Skye war nie nervös. Und selbst wenn, zeigte er es bewusst nicht. >>Warum willst du nicht hin?<<

Sie bekam den Drang, zu schlucken, wollte das Kissen enger an sich pressen und nie wieder anfangen, zu sprechen. >>Du weißt, warum.<< Sie beugte sich runter, griff in ihre Tasche zum Wasser und schraubte den Deckel ab, um ein paar größere Schlücke zu nehmen.

Abgesehen von Dienstags trug sie immer eine Flasche Wasser mit sich, wegen den freiwilligen Sportkursen und dem Sport- und Schwimmunterricht, obwohl sie sonst nur Energy trank. Heute die Kletterei, morgen nichts, Mittwoch schwimmen mit der Klasse und danach alleine schwimmen und Geräte-Training, Donnerstag Geräte im Kurs, Freitag Sport mit der Klasse, der Kochkurs würde für alle, die das Wochenende zu ihren Eltern fuhren, ausfallen, und in der Zeit musste Roxy das Nötigste für zweieinhalb Tage packen.

Wie ein Mantra konnte sie immer wieder aufzählen, wie viel sie sich bewegte, wie viele Kalorien eine Packung Milch hatte, eine Cola, ein Liter Orangensaft, wie viele Kalorien eine halbe Stunde schwimmen verbrannte, Geräte-Training, laufen oder Fahrradfahren. Sie liebte es, aufzuzählen, wie oft sie Sport machte, weil sie dann stolz auf sich war, so diszipliniert zu sein. Eine solche Kontrolle hatte sie noch nie über sich gehabt.

>>An was denkst du?<<

>>Sport.<<

>>So wie Chad oder so wie eine, die abnehmen will?<<

Wortlos hob Roxy zwei Finger in die Luft und starrte die Wasserflasche an.

>>Wie oft denkst du daran?<<

>>Woran?<<, fragte sie dann und sah ihm direkt in die Augen. >>Kalorien? Nährstoffe, Vitamine, wie der Körper ohne klar kommt, wie mein Körper sich verändert hat, ans hungern, an das Gefühl, wenn der Magen knurrt und dabei von Grund auf verkrampft, dass es sich toll anfühlt, daran, wie viele Kalorien man beim Sport verbrennt, daran, wie viel ich jeden Tag abnehme, an Gewicht, BMI, Essen für sich, Gerüche, wie oft ich mich an den Geschmack von Essen erinnere? Wie oft ich daran denke, umzukippen, an Schwärze vor den Augen und Schwindel und dass mein Kreislauf durch zu heißes Wasser in der Dusche schlapp macht? Was meinst du, Skye? Irgendetwas davon, soll ich weiter raten? Oder meinst du alles zusammen?<<

Sie schwiegen beide. Er beobachtete sie, ihre Bewegungen, ihren Gesichtsausdruck, doch sie starrte mit Kissen vor dem Körper und der Flasche in der Hand auf ihre auf dem Sofa stehenden Füße.

>>Man kann nicht sagen, wie oft.<<, whisperte sie dann. >>Es ist, als wäre man unter einer großen Glaskuppel, und da drinnen ist Nebel. Nebel, der aus diesen Dingen besteht. Und man weiß, man kann nicht raus, weil das alles im Kopf ist. Und der Nebel ist alles, was man sieht. Zwischendurch kleine, klare Stellen, dann wieder nur Nebel.<<

>>Und wie oft denkst du bewusst daran? Aus dir heraus, die Kuppel mal vergessen?<<

>>Jeden Tag. Mindestens einmal alle vier, drei Stunden … Fast jede Stunde. Fast immer. Zu oft.<< Sie runzelte die Stirn, gab es dann auf und pustete angehaltene Luft aus. >>Es ist immer da. Das Muster, der Nebel, ist immer da. Und wenn irgendetwas außerhalb der Kuppel in meinem Kopf, also aus der realen Welt, dem Muster ähnlich ist, verbinde ich es automatisch damit.<<

>>So gesehen also immer.<<, schlussfolgerte Skye.

Roxy nickte. >>Jeden Tag.<<

>>Und wie oft denkst du an den Tod?<<

>>Jeden Tag.<<

>>Was bringt dich dazu? Was führt dich auf diesen Gedanken?<<

Sie sah ein paar Sekunden zu ihrer Flasche. >>Fragst du mich gerade wirklich, warum ich sterben will?<<

>>Du willst nicht sterben.<<

>>Und woher willst du das wissen?<<

Jetzt war er es, der einen Moment für seine Antwort brauchte. Sie konnte sehen, wie er überlegte, wie er abwägte, wie er Sätze in seinem Kopf zusammen baute und wieder verwarf. >>Ich spüre es.<<

>>Du spürst es.<<, wiederholte Roxy.

>>Ich spüre es, wenn du mich ansiehst. Ich weiß es.<<

>>Du meinst fühlen.<< Als sie seinen fragenden Blick sah, erklärte sie. >>Spüren ist das, was wir mit dem Körper wahrnehmen. Kleinste Berührungen, Schmerzen. Nichts weiter als Nervenbahnen, die Signale an unser Gehirn senden. Der Körper funktioniert wie ein Kind; wenn wir die Hand auf eine heiße Herdplatte tun, denkt unser Körper wortwörtlich, dass das nicht gut tut, dass es unserem Körper schadet, und da er sich nicht anders ausdrücken kann, spüren wir von unserem Gehirn ausgedachte Schmerzen, damit wir reflexartig die Hand von der Platte nehmen. Schmerz ist nichts weiter als Illusion, die uns vor etwas bewahren soll.<<

Er hörte wartend zu.

>>Und fühlen ist das, was laut Gläubigen von der Seele kommt, dem tiefstem Inneren. Liebe, Hass, Trauer, die drei ausgeprägtesten Emotionen des Menschen an sich. Die meisten Emotionen und Gefühle können durch einfache Dinge erklärt werden, wie Endorphine, Dopamine, Belohnungs- und Bestrafungs-Systeme. Und auch, wenn Gefühle so einen großen Ruf haben, sind sie nur ein Reflex in meinem Gehirn, wie der Fuß aus Reflex nach oben tritt, wenn man gegen eine bestimmte Stelle am Knie schlägt.<<

>>Und was glaubst du, meine ich damit, wenn ich sage; ich fühle, dass du nicht sterben willst?<<

>>Wissenschaftlich betrachtet, und eine andere Ansichtsweise habe ich in dem Punkt nicht, glaubst du nur zu fest daran, dass Gefühle mehr sind als Reflexe. Glaubst du zu sehr an die Individualität deiner Selbst, an die Unantastbarkeit des Lebens.<<

>>Würdest du sterben wollen, würdest du nicht hier mit mir sitzen. Hättest du nicht geweint, als ich dich bat, dir nicht das Leben zu nehmen. Hättest du in der Burg nicht fast mit mir geschlafen. Hättest du mich nicht in der Umkleide heiß gemacht und dich von mir küssen lassen. Ich spüre es, ich fühle es nicht, sondern spüre es irgendwo in mir, so wie ich auch Schmerz spüren kann. Ich weiß, dass ich recht habe. Ich glaube es nicht, ich weiß es. Und ich will, dass du verstehst, warum du nicht sterben willst.<<

Einen Moment lang sah sie ihn an, und wusste, dass sie ihm glauben wollte. Aber irgendwie … Sie konnte es nicht.

>>Da ist irgendwo ein Teil in dir. Der Mensch in der Glaskuppel. Irgendetwas an dir ist echt, an deinem ganzen verwirrendem Verhalten. Ich glaube nur, dass du nicht weißt, welcher Teil es ist und wie groß.<<

>>Du glaubst, in mich reinsehen zu können?<<, fragte sie schlicht.

>>Ich glaube, dass du gerettet werden willst.<<

Sie sah zu ihren Füßen. Die ganze Situation war so absurd, so ungewohnt, hier mit einem Anderen zu sitzen und über diese Dinge zu reden. Es ging ihr nah, viel zu nahe, und am liebsten wollte sie jetzt gerade im Geräteraum sitzen und so lange an ihren Muskeln zehren, bis ihre Beine sie nicht mehr tragen und ihre Finger nicht mehr zugreifen konnten. Aber sie spürte es, versuchte ein Stück weit, ihm zu glauben, und spürte, dass irgendetwas in ihr hier sitzen und bei ihm sein wollte.

>>Ich habe mit Evan über dich geredet.<<, sagte Skye. Als sie aufblickte, sah sie seine gerunzelte Stirn und den Blick, schuldbewusst und fragend zugleich.

>>Du hast WAS?<<

Erschrocken zuckte er in seinem Sessel zurück. >>Ich habe ihm nicht gesagt, was los ist. Lediglich das mit den Zetteln auf der Busfahrt und dann haben wir spekuliert, was mit dir sein könnte.<<, sprach er weiter und hob leicht die Hände, als wolle er sie beruhigen. >>Wir haben uns Sorgen gemacht.<<

>>Spielst du den verfickten Doc!?<<, rief sie und sprang auf, wobei das Kissen zu Boden fiel. >>Ich hab dir gesagt, du sollst dich aus meinen Angelegenheiten raus halten, und du hast nichts besseres zu tun, als zu Evan zu rennen und mit ihm das große Rätsel zu lösen, warum ich bin wie ich bin!?<<

Sie trat das Kissen mit ihren Schuhen in seine Richtung, nahm ihre Tasche, ging am Tisch vorbei und ließ Skye eiskalt sitzen. Gerade, als sie den großen Gemeinschaftsraum verließ und an die Abzweigung zu Jungen- und Mädchenkomplex kam, stieß sie fast Evan entgegen. Er hatte große Augen, und irgendwie wusste sie, dass er genau wusste, was passiert war. Sie spürte, er hatte zugehört, oder mitgehört, oder einige Worte aufgeschnappt, und war gleich viel wütender.

>>Du kannst mich auch mal!<<, rief sie und zügelte sich, ihn einfach aus dem Weg zu schubsen. >>Ihr könnt mich beide!<<

Mit den letzten Worten schlug sie den Arm in Skyes Richtung, den sie von hier zum Glück nicht mehr sehen konnte, zog sich die Tasche über die Schulter und stampfte die Treppen zum Mädchenbereich hoch, anstatt den Fahrstuhl zu nehmen.

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Tag der Veröffentlichung: 11.12.2014

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