Killian
Der Anruf kam mitten in der Nacht. Laut tönte „Diamonds“ von Sunrise Avenue durch das kleine Jugendherbergszimmer. Ich stöhnte. Die letzten Nächte hatte ich kaum geschlafen. Ich tastete nach meinem Handy und murmelte ein verschlafenes „Ja?“ hinein. „Felicitas“, hörte ich meine Mutter rufen und wunderte mich, dass sie mich mit meinem vollen Namen ansprach. „Wir haben nicht viel Zeit. Er will dich sehen.“ „Wer, Mama, Wer?“ unterbrach ich meine Mutter. „Es stirbt vielleicht. Er will nur dich sehen.“ sprach meine Mutter aufgeregt weiter. „WER, Mama?“ schrie ich panisch und vergaß dabei meine Mitbewohner. „KILLIAN“ schrie meine Mutter zurück.
In mir zerbrach etwas. Mein Bauch krümmte sich zusammen. Meine Augen zuckten vor Schmerz, ich schloss sie und sah ihn vor meinem inneren Auge. „Nein, nicht er, nicht jetzt.“ Mir wurde bewusst, wie sehr ich ihn liebe und brauche. „Es ist zu spät“ zischte eine gemeine Stimme in meinem Kopf. „Was...?“ brachte ich hervor und war mir nicht sicher zu wem ich sprach. „Er hatte einen Unfall, hat viel Blut verloren“, sagte meine Mutter sanft. „Wir sind in einer halben Stunde bei dir. Wir bringen dich zu ihm.“ „Mama, Mama“, wimmerte ich. „Wird er es schaffen?“ „Ich weiß es nicht, Fee. Aber ich glaube daran. Wenn er dich sehen wird, wird er Kraft schöpfen. Glaub mir.“ Es klang als würde sie sich selbst belügen wollen. Kraftlos legte ich auf und blickte in die verschlafen Augen meiner besten Freundin Aura. „Killian“, brachte ich tonlos heraus. „Er hatte einen schweren Unfall.“ Ich sah das Entsetzen auf ihrem Gesicht. „Ich muss zu ihm. Sofort!“ Mit diesen Worten stürmte ich aus dem Zimmer. Panisch sah ich mich um. Da! Das Zimmer unserer Betreuerin. Ich trommelte gegen das Holz der Tür und schrie so laut ich konnte. Die anderen Zimmertüren gingen auf. Ich hörte verschlafene und wütende Stimmen. „Egal“ dachte ich. „Scheißegal“ Endlich ging die Tür von Fr. Mais Zimmer auf. Ich stammelte: „Ein Unfall... Ich muss... sofort nach Hause. Meine Eltern kommen... Killian. „Oh nein“ Frau Mai riss die Hände vor den Mund. „Dein Bruder, dein Freund, ein Unfall?“ „Nein, nicht mein Freund, aber der Junge, den ich über Alles liebe, der das nur nicht weiß!“ Dann brachen die Tränen aus mir heraus. Frau Mai nahm mich behutsam in den Arm. Ich schluchzte in ihre Schulter: „Er wird sterben. Er stirbt! Ich liebe ihn. Bitte... Bitte.“ „Nein, Fee shh. Leg dich da ins Bett“, flüsterte sie. „Ich packe deine Sache“ Die liebe, verständnisvolle Frau Mai. Nie werde ich ihr das vergessen. Wie betäubt lag ich im Bett. Ich konnte nur an ihn denken. An seine braunen Haare, die immer so schön unordentlich waren. An sein herzlichen Lachen, sein süßes, müdes Grinsen, wenn er einen Witz nicht lustig fand. An seine dunkelblauen Augen, in denen man versinken konnte. An seine Arme, die sich in diesem Moment um meine Schultern legten und seine tröstenden Worte: „Fee, Fee. Ich bin da, alles wird gut.“ Doch es war nicht Killian. Es war Mam. Sie hielt mich im Arm, drückte mich fest, redete beruhigend auf mich ein. An ihre Worte erinnere ich mich nicht. Aber sie war für mich da – immer. Irgendwie bin ich ins Auto gekommen, habe irgendwie die Fahrt überstanden. „Wir sind gleich da“, unterbrach meine Mutter meine Gedanken, die sich nur um ein Thema drehten. Killian. Gleich würde ich ihn sehen. Ich erschrak erneut: „Mama, und wenn er stirbt?“ „Nein, er wird nicht sterben. Er wird nicht sterben“, erwiderte sie. Wie ein Mantra wiederholte ich diese Worte im Kopf um mich selbst zu überzeugen. Er stirbt nicht. Er stirbt nicht. Er stirbt nicht. Er stirbt nicht. Er stirbt nicht. Er stirbt nicht. Wir hielten an. Ich riss ungeduldig an dem Gurt. „Scheiße, komm schon. Geh auf“, dachte ich. Die Tränen liefen mir ununterbrochen über Gesicht. Dann, endlich. Beugte sich meine Mutter herüber und befreite mich von dem Gurt. Ich riss die Autotür auf. Der Regen vermischte sich mit meinen Tränen. Ich blickte nach unten. Überrascht bemerkte ich, dass ich eine Jeans trug. „Wie das?“, wunderte ich mich kurz. Ich rannte und rannte und rannte. Da! Die Tür des Krankenhauses. Wohin? Ah eine Krankenschwester. „Wo geht’s zur Intensivstation?“ fragte ich sie schnell. „Das darf ich nicht sagen. Aber...“ Ich unterbrach sie: „Bitte, bitte, es geht um Leben und Tod. Der Junge, den ich liebe, er stirbt.“ Sie antwortete: „Nein, nein, das geht nicht.“ Der Bruch in meiner Brust wurde größer. Werde ich ihn nie wieder sehen? Ich blickte mich panisch um. Endlich. Dort sah ich meine Mutter. Sie schrie: „Nimm den Aufzug in den 3. Stock, dann nach rechts, Zimmer Nummer 34.“ Während ich los rannte, wunderte ich mich, woher meine Mutter das wusste. Doch egal, nur eins war wichtig. Ich drückte panisch auf den Aufzugknopf. Die Türen öffneten sich schnell. Gott sei Dank! Los! LOS, FAHR SCHON. Endlich fuhr der Aufzug los und hielt bald auch schon an. Ich stürzte aus dem Aufzug und rannte fast eine ältere Dame um. Doch für eine Entschuldigung blieb keine Zeit. Nach Rechts! Suchend blickte ich mich, während ich rannte, nach den Zimmernummern um. 20, 21, 22. Weiter. Eine Schwester probierte mich festzuhalten. Aber ich musste weiter. 23, 24. Killian, bleib bei mir. Ich liebe dich! 25, 26. Ich liebe dich! 27 KILLIAN. 28, 29, 30 Ich liebe dich doch! 31, 32, 33. Endlich war ich bei der Nummer 34 angekommen.
Ich riss die Tür auf und mein Herz setze aus. Dort in diesem sterilen Krankenhauszimmer lag auf einem großen Bett Killian. Ich hörte ihn kaum atmen. Aus seiner Nase ragte Schläuche. Sowieso sah ich überall nur Schläuche. Sein Hinterkopf war verbunden, ebenso sein linker Arm. „Killian, ich bin hier. Bleib bei mir“ Mühsam öffnete er seinen Augen. Wie ein Blitz durchzuckte es mich. Warum hast du nicht vorher gemerkt, wie viel er dir bedeutet? Ich stürmte zum Bett. Ich wimmerte. „Killian, verlass mich nicht! Ich liebe dich, ich habe dich immer geliebt. Weißt du das?“ Das Lächeln, dass ich so liebte, erschien auf seinen Lippen und in seinen Augen flammte Hoffnung auf. „Ich … Ich weiß. Ich liebe... dich auch, Fee. Küss mich!“ Ich lehnte mich zu ihm runter und blickt auf seinen wunderschönen Lippen, die unglaublicher Weise völlig unversehrt waren. Ich schloss die Augen und drückte meine Lippen auf seine. Diesen Kuss werde ich nie vergessen. Schmetterlinge im Bauch passte nicht annähernd. Mein ganzer Körper fühlte sich so an, als wären abermillionen von Riesenschmetterlinge in ihm. Mein Bauch krümmte sich zusammen. Ein Stöhnen entwischte mir. Ich war mir so sicher, dass er es schafft. Ich drückte mich näher an ihn. Er atmete schwer. Plötzlich spürte ich seine Zunge. Vorsichtig, aber auch bestimmt. In diesem Moment hatte ich das Gefühl zu explodieren. Doch dann merkte ich, wie er sich langsam zurückzog. Noch einmal versuchte ich, mit allen meinen Sinnen den Moment festzuhalten. Dann ließ ich von ihm ab. Als er zu reden anfing, klang seine Stimmte stark. „Danke, Fee, du bist so wundervoll. Und es ist so schade, dass...“ Er stockte und redete leiser weiter. „...dass unsere Zeit gerade erst begonnen hat und schon wieder endet.“ „Nein, nein“ schrie mein ganzer Körper, meine ganze Seele. Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte er: „Fee, es tut mir Leid. Ich... ich werde sterben.“ „Nein, bleib bei mir“, wollte ich schreien, doch es kam nur ein leises Wimmern über meine Lippen. Mit brüchiger Stimme flüsterte ich: „Nein, mir tut es Leid. Dass ich nicht vorher erkannt habe, dass ich dich liebe. Bleib bei mir. Bleib hier, BITTE!“ Ich bemerkte wieder die Tränen auf meinem Gesicht. Er schloss seine Augen. Auf seinen Lippen erschien das müde Lächeln. Es wirkte glücklich. Ihm entwich ein leises Stöhnen und dann starb er. Der Bruch in meinem Innerer wuchs ins Unermessliche...
Texte: "Killian" ist eine kleine Kurzgeschichte. Es ist eine meine ersten Geschichten. Über Lob, aber auch über konstruktive Kritik würde ich mich sehr freuen. :-)
Tag der Veröffentlichung: 21.01.2010
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