Das Wunder von Graustedt
Es war einmal eine kleine Fee namens Greta, die hatte schillernde blaue Flügel und ganz dünne zarte Glieder. Sie wohnte auf einem kleinen See im Grünwald auf einer Seerose mit blassroten Blättern. Greta war eine freundliche und zuvorkommende Fee aber konnte auch ziemlich herrisch, eigensinnig und stur sein.
Jeden Mittwoch traf sie sich mit ihren Freundinnen Gerlinde und Rosalie auf ihrer Seerose um Tee zu trinken. Doch als Greta diesen Morgen die Augen aufschlug und auf ihre beiden Freundinnen wartete, stellte sie fest, dass diese beiden nicht kamen. Verwundert setzte sie sich auf das oberste Blatt ihrer Seerose und dachte nach. Aber auch nach zehn Minuten war ihr keine Ausrede für das Nichterscheinen ihrer Freunde eingefallen und sie hatte keine Lust, sich weiter damit zu befassen.
Also flog sie los, um ihre Freundinnen zu suchen. Zuerst fragte sie Franz den Frosch, einen großen, fetten Frosch mit einer grünen Warze auf dem Rücken. Franz machte den ganzen Tag nichts anderes, als auf unterschiedlichen Seerosen vorbeizuschauen und alle anderen Seebewohner zu nerven, indem er ihnen Märchen erzählte. Doch er wusste immer über alles bescheid und hatte bestimmt gesehen, in welche Richtung Gerlinde und Rosalie geflogen waren.
„Hallo Franz“, rief Greta und machte einen kleinen Knicks.
„Morgen“, brummte Franz und sah sie entzückt an, „willst du ein Märchen hören?“
Greta schüttelte entschuldigend den Kopf. „Tut mir leid, Franz, aber ich suche eigentlich Gerlinde und Rosalie. Hast du zufällig gesehen?“
Aber Franz der Frosch schien sie überhört zu haben und begann mit seinem Märchen: „Es waren einmal zwei Feen mit blauen Flügeln, die hießen Gerlinde und Rosalie. Sie wollten ausziehen, um...“
Greta wandte sich ab und flog einfach davon. Sie hatte jetzt keine Lust, sich Märchen vortragen zu lassen, und schon gar keins über ihre beiden verschwundenen Freundinnen.
Sie flog weiter, ließ den See hinter sich und flog einfach in eine Richtung , vorbei an hohen Bäumen, kleinen Steinen, brauner Erde und grünem Gras.
Nach einiger Zeit kam sie zu Lisa dem Eichhörnchen, dass hoch oben auf einem Baum lebte.
„Hallo Lisa“, rief Greta und machte einen kleinen Knicks.
„Morgen“, piepste Lisa und kletterte aus ihrem Baumloch hervor.
„Ich suche Gerlinde und Rosalie, hast du die beiden vielleicht hier vorbeifliegen sehen?“
Das Eichhörnchen nickte heftig. „Oja, das habe ich. Die beiden wollten nach Graustedt, haben sie gesagt. Sie sind dem Pfad der Menschen nach Osten gefolgt. Dort müsstest du sie finden.“
Greta machte erneut einen kleinen Knicks, bedankte sich und flog weiter. Sie flog vorbei an hohen Bäumen, kleinen Steinen, brauner Erde und grünem Gras. Dann kam sie an den Weg der Menschen und folgte diesem nach Osten. Nach kurzer Zeit erblickte sie etwas graues am Horizont. Ja, dachte sie, das muss die Stadt Graustedt sein. Und als sie näher kam, wurde ihre Vermutung bestätigt. Die komischen Häuser, die die Menschen erbaut hatten, waren alle grau, genau wie die Dächer und alle Menschen in der Stadt. Sie hatten graue Haut, graue Augen, graue Haare, graue Klamotten und graue Schuhe. Alles war grau. Selbst der große Kirchturm, der hoch über der Stadt aufragte war grau und so düster, das Greta schauderte. Doch sie fasste sich ein Herz und flog durch das graue Tor der Stadt und durch die Gassen. Das ganze Grau bedrückte sie und ließ ihr das Herz schwer werden. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut.
Am Straßenrand erblickte sie eine graue Ratte, die ein graues Stück Käse aß. Greta flog zu ihr hin und knickste. „Hallo. Hast du zufällig zwei Feen gesehen, die hier entlagn geflogen sind?“
„Zur Kirche“, mampfte die Ratte und kaute weiter auf ihrem Käse. Greta bedankte sich und flog weiter.
Die Kirche war, dank des grauen Turms nicht zu übersehen und Greta steuerte sie jetzt direkt an. Schon von weitem erblickte sie zwei schillernde, blaugrüne Lichtpunkte durch das graue Fensterglas.
Auch von innen war die Kirche grau. Die zwei Feen waren, wie zwei leuchtende Farbkleckse zwischen dem ganzen tristen grau.
Mit einem befreienden Freuderuf flog Greta auf ihre Freundinnen Gerlinde und Rosalie zu und umarmte sie heftig. „Ich hab mir solche Sorgen gemacht“, sagte Greta, „ihr ward nicht zum Tee, wie sonst immer.“
Die beiden blickten kein wenig schuldbewusst drein und das ärgerte Greta. „Wieso seid ihr nach Graustedt geflogen?“
„Franz der Frosch hat uns ein Märchen erzählt...“, sagte Rosalie.
„Das wollte er mir auch auftischen. Aber warum seid ihr hier?“
„Jetzt lass uns doch mal ausreden.“ Gerlinde klang verärgert.
„’tschuldigung.“
„Franz hat uns eine Märchen erzählt und darin kam vor, wie wir beide die Stadt Graustedt erlösen.“
Greta wartete, doch die Geschichte schien schon vorbei zu sein. „Ach so. Und jetzt wollt ihr sie wirklich erlösen?“
Die beiden nickten.
„Und wie wollt ihr das hinkriegen?“
Die beiden zuckten mit den Achseln. „Franz hat etwas von der Jesusstatue erzählt. Und von den Augen Jesu“, sagte Gerlinde.
Greta wusste sofort was zu tun war. Sie wusste zwar nicht, woher diese plötzliche Eingebung kam, aber sie konnte direkt sagen, was sie tun mussten und wozu.
„Wir müssen die Stadt bunt färben! Kommt!“
Sie nahm ihre Freundinnen bei der Hand und flog vor das Gesicht der Jesusstatue.
Die drei Feen legten alle ihre Hände auf die Augen der Statue und drückten ganz fest.
Und plötzlich geschah etwas sehr sonderbares. Die Statue schlug die Augen auf. Jesus hatte blaue Augen und als er sich streckte, erkannte man sein braungold schimmerndes Haar, die rosafarbene Haut und den weißen Lendenschutz.
Jesus stieg vom Kreuz hinab und sprang auf den Boden. Jetzt färbte sich unter seinen Füßen der Boden bunt und die ganze Kirche erstrahlte in hellem Licht. Die Glocken begannen zu läuten und die Fenster schienen sich zu bewegen und stellten Geschichten dar. Jesus aber nahm die drei Freunde und setzte sie auf seine Schultern. Gemeinsam öffneten sie das Kirchenportal und das Pflaster der grauen Stadt färbte sich grün und gelb und rot und blau und lila und pink, okka, weiß, schwarz und beige.
Den ganzen Tag noch verbrachten die vier mit der Aufgabe, der Stadt die Farben wiederzugeben und erst, als die Sonne hinter dem Horizont verschwand kehrten die drei Feen wieder nach Hause zurück um Tee zu trinken.
Und dies ist die Geschichte über das Wunder von Graustedt und Greta. Von diesem Tag an, verging keine Woche, in der in Graustedt nicht eine neue Blume wuchs oder eine Hauswand grün gestrichen wurde. Doch das Jesuskreuz in der Kirche, blieb seit jenem Tag leer.
Tag der Veröffentlichung: 22.10.2011
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