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Ein weiterer Neuanfang

Ich saß im Bus. An der Fensterseite. Ich lehnte meinen Kopf gegen die Scheibe und sah in die Dämmerung. Ich konnte noch nicht viel erkennen, es war mir auch egal. Normalerweise würde ich jetzt mein Zeichenblock, ein Buch oder ein Block zum Schreiben in meinen Händen halten und die Zeit damit verbringen.
Aber sie haben meinen Rucksack kontrolliert und mir genau das raus genommen. Genau wie die Rasierklingen. Obwohl ich die eigentlich nur noch dabei hatte, damit ich sie ansehen kann, wenn ich mich in irgendeiner Ecke verkrümel.
Sie sagten, ich soll soziale Kontakte knüpfen. Wenn ich jemanden nach etwas Papier fragen würde, könnte ich Freundschaften aufbauen. Als würde das so schnell gehen.
Ich hasste solche Tage wie diesen. Ich hatte sie schon zu oft durchlebt. Es lief immer auf das gleiche hinaus und der Tag wurde Mal zu Mal immer schlimmer für mich.
Ich stieg in einen neuen Bus ein, mit neuen Menschen um mich herum, obwohl mir die Menschen in den anderen Bussen eigentlich sowieso nicht wirklich aufgefallen sind.
So wie jetzt stieg ich immer an einer neuen Schule aus.
Diese war aber anders. Sie hatte einen anderen Flair. Die Menschen waren anders. Vielleicht lag es daran, dass die Schule mitten in einem Waldgebiet stand.
Ich hatte nicht viel von dieser Schule hier gehört, abgesehen davon, dass sie recht klein war, hier jeder Schüler den anderen kannte und es fast nie Neuzugang gab.
Ich ging also über den Parkplatz, wo mich alle Leute anstarrten. Ich fühlte mich gleich unwohl. Die Leute starrten mich alle so intensiv an und ich hatte das Gefühl, dass mich ihre Blicke auszogen und sie jeden Zentimeter meines nackten Körpers studierten.
Ich senkte meinen Blick schnell nach unten und beschleunigte meine Schritte. Ich wollte so schnell wie möglich in dieses blöde Sekretariat kommen. Dort wird die Frau wahrscheinlich in meine Akte sehen und mich entweder bemitleidend oder ignorierend ansehen. Auf beides hatte ich keinen Bock. Ich wollte eigentlich nur noch schnell in meine neue Klasse und mich auf den hintersten Stuhl setzen und verstecken. Ich hoffte inständig, dass ich mich nicht vorstellen musste. Das konnte ich noch nie gut. Wie auch, wenn man nicht weiß wo man herkommt und nur mit einem Zettel mit dem Vornamen auf einer Müllkippe gefunden wird. Da konnte man nicht wirklich etwas sagen. Und meist kommen Fragen wie, wo kommst du her oder wieso bist du hier hergezogen. Zum Glück kennen die Lehrer alle meine Akte und lassen mich aus Mitleid meist gleich auf meinen neuen Platz. Den Fragen hinterher kann ich eh umgehen, weil sich solch eine Geschichte vom Pflegekind wie meine schnell herum spricht und man dann nicht mehr beachtet wird. Es heißt nur noch, ach sie ist ein Pflegekind und hinter dem Rücken tuscheln sie.
Meistens finden sie es dann nur noch interessant, zu spekulieren, wie viele Pflegefamilien ich hatte und warum ich dauernd die Pflegefamilie gewechselt habe.
Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nicht mehr wirklich auf meinen Weg geachtet habe, also rannte ich in jemanden hinein.
Ich wurde panisch und stieß mich ab. Das passiert mir nicht, nicht mir.
Derjenige hielt mich an meinem Arm fest, damit ich nicht hinfiel.
Ich fiel aber lieber hin.
Mein Ärmel hat sich nach oben verschoben und seine Hände brannten auf meiner Haut. Blitzartig huschten Bilder in meinem Kopf, Hände die meinen winzigen Körper trafen.
Ich sah hoch und sah in hellbraune Augen. Sie schimmerten golden in der Sonne und sahen mich warm und sorgenvoll an. Meine Lippen fingen an zu zittern, ich war kurz vor einer Panikattacke. Ich sah auf seine Hand die immer noch meinen Arm umfasste. Ich versuchte mich loszureißen. Sein Blick wanderte ebenso hinunter. Und da sah er es natürlich. Tausend Narben auf meiner Haut. Manche waren sehr dick und nicht zu übersehen. In ihnen lasen die anderen immer Geschichten wie, oh mein Gott die ist gestört, bloß von der fernhalten. Ich war die einzige, die die wahre Geschichte hinter jeder Narbe kannte.
Aber der Junge schien anders zu sein. Er sah wieder hoch und sein Blick war traurig, behutsam löste er seine Finger von meinem Arm. Er hatte hellbraune gewellte Haare. Sie ließen ihn ein wenig süß und unschuldig aussehen. Aber ich konnte Menschen mittlerweile gut lesen, ihn prägt viel Pflicht und er hat früh gelernt Verantwortung zu tragen.
Sein leichtes Lächeln vertuschte diese Züge in seinem Gesicht ganz gut.
Er öffnete seine Lippen und er brachte mit einer leisen und warmen Stimme eine Entschuldigung hervor.
>>Es tut mir leid.<<

Ich nickte nur. Ich antwortete den meisten Menschen nicht und schon gar nicht am ersten Tag. Der Junge hob seinen Kopf und grinste dann wieder.
>>Es wird gleich klingeln, ich habe dich aufgehalten. Es tut mir leid. Am ersten Schultag sollte man nicht zu spät kommen.<<
Er sah mich erwartungsvoll an. Aber ich zuckte nur unschlüssig mit den Schultern und sah zu Boden. Ich fühlte mich total unwohl, ich stand kurz vor dem Punkt, an dem ich mich umdrehte und in die andere Richtung weg lief.
Eine andere Stimme ließ mich meinen Kopf wieder heben, sie klang mir zu nah.
>>Alec?!<<
Sie klang energisch und verärgert. Und da stand plötzlich ein Kerl neben dem Jungen vor mir. Er sah so anders aus, aber trotzdem hatte er ähnliche Züge, wahrscheinlich Brüder. Er hatte glatte schwarze Haare die durcheinander gewirbelt waren und etwas länger. Seine hellblauen Augen stachen heraus. Sie hatten einen schwarzen Rand um der Linse. Man musste einfach hineinschauen. Jetzt verstand ich, warum viele meine Augen faszinierend fanden. Ich habe ein hellgrünes und ein dunkelgrünes Auge. Ziemlich ungewöhnlich.
Der Junge vor mir, der wahrscheinlich Alec hieß, was ich aber bald wieder vergessen würde, sah zu seinem größeren Bruder auf. Und der sah zu ihm hinunter, sie schienen ohne Worte zu kommunizieren. Das war mein Stichpunkt. Ich war schneller an ihnen vorbei, als der Wind.

Genau als es klingelte kam ich endlich in das Sekretariat.
Die Frau las sich gerade meine Akte durch.
Ich kam herein und erwartete die üblichen Reaktionen. Aber ich bekam eine ganz neue. Sie sah mich an und sagte einfach nur.
>>Herzlich Willkommen.<<
Ich war perplex. Irgendetwas war total anders an diesen Tag, obwohl ich ihn schon so oft erlebt habe. Ich sagte nichts und schnappte mir einfach nur die Zettel vom Tresen.
Ich ging zu dem Raum, der mein neuer Klassenraum sein sollte. Wahrscheinlich wieder auch nicht mein letzter.
Ich klopft und hörte schon eine Stimme, die immer lauter wurde, weil sie Richtung Tür kam.
>>Das wird die neue Schülerin sein. Behandelt sie mit Respekt und Achtung, sie ist jetzt eine von uns.<<
Na super. Das ist so eine familiäre Schule. Die kann ich nicht gebrauchen, da heißt es alle für einen und einer für alle. Juhuu...
Die Tür ging auf und mich sah ein strahlender Lehrer an. Er schien noch sehr jung und nett zu sein. Ich habe nicht einmal geguckt, welches Fach ich jetzt habe.
Er bat mich herein und dann brachte auch er etwas, womit ich nicht gerechnet habe.
>>Stell dich uns doch einmal kurz vor.<<
Ich sah ihn an und dann in die Klasse. Es waren rund 25 neugierige Schüler mit noch neugierigeren Augen. Ich schluckte. In mir kam die Panik hoch. Ich hatte eigentlich fest damit gerechnet, dass man mich auf meinen Platz schickte.
Ich sah plötzlich in ein warmes paar braune Augen, welches mit einem Lächeln kombiniert wurde. Der Junge vom Parkplatz. Schlimmer geht’s wohl nicht.

Der Lehrer räusperte sich einmal kurz. Ich schreckte zusammen. Ich öffnete langsam meinen Mund, aber es kamen nicht viele Worte raus und sie waren auch nur fast gehaucht in der Hoffnung, dass keiner sie hörte.
>>Ich bin Riley, 17 Jahre alt.<<
Ich hoffte das reichte.
Aber dem Lehrer war es anscheinend nicht genug.
>>Woher kommst du denn?<<
Hat dieser verfluchte Lehrer nicht seine Hausaufgaben gemacht und meine Akte gelesen?
Er machte mich wütend. Und ich werde nicht wütend. Ich provoziere niemanden und werde nicht frech. Und schon gar nicht einem Erwachsenen gegenüber nicht. Das tue ich nie.
Aber heute tat ich es. Meine Stimme wurde für meine Verhältnisse extrem laut und wütend.
>>Von der Müllkippe!<<
Für einen kurzen Augenblick funkelte ich den Lehrer kurz wütend an und im nächsten schrak ich zusammen und kniff meine Augen aus Reflex zu und zuckte kurz. Ich konnte gerade so mit purer Anstrengung verhindern, dass sich meine Arme auch reflexartig vor meinem Gesicht zogen. Diese Reflexe lernt man, wenn man öfter mal mit Händen konfrontiert wurde.
Der Lehrer sah mich leicht besorgt an, überging aber meinen kleinen Ausraster.
>>Gut dann setz dich doch in die zweite Reihe zu Alec. Er wird dir ein wenig helfen, dich in unserer Schule zurechtzufinden.<<
Ich ließ meine Schultern sinken. Normalerweise schicken sie mich in die letzte Reihe. Aber so musste ich mich neben diesen Jungen setzen. Ich setzte mich neben niemanden. Das hielt ich auf Dauer nicht durch.
Aber ich biss die Zähne zusammen, schluckte die Tränen hinunter und setzte mich neben Alec. Ich holte meinen Stift raus und betrachtete ihn, während der Lehrer mit dem Unterricht anfing. Es war Mathematik. Ein langweiliges Fach. Eigentlich war alles langweilig. Ich griff immer wieder nach meinen Stift und stellte immer wieder fest, dass ich gar keinen Block hatte.
Plötzlich schob mir Alec seinen Block rüber, als ich wieder nach meinen Stift griff.
Er achtete darauf mich nicht zu berühren, entweder weil er mich abstoßend findet, oder weil er ein sehr einfühlsamer Mensch ist. Er flüsterte kurz.
>>Ich denke du kannst den besser gebrauchen als ich.<<
Ich sah ihn an und sofort wieder weg. Eigentlich bedankte ein normaler Mensch sich in solch einer Situation, aber ich war nicht normal.

Sofort begann ich etwas zu zeichnen. Einen Wolf. Ich zeichnete fast nur Wölfe. Ich weiß nicht wirklich warum. Wahrscheinlich finde ich sie unbewusst faszinierend und selbstbewusst.
Ich konnte endlich alles um mich herum vergessen, mein Stift flog nur so über das Papier. Ich fühlte mich endlich sicher, wenn ich überhaupt etwas fühlen konnte.
Ich war relativ schnell fertig. Der Wolf sah eigentlich immer gleich aus. Es war ein einsamer Wolf vor einer Müllkippe mit meinen Augenfarben.
Einer meiner Therapeuten hat in diesem Bild meinen Herkunftsverlust und meinen Wunsch nach einem Selbstbewusstem Tier gedeutet und weiteren psychologischen Kram. Aber ich zeichnete eigentlich unbewusst. Ich ließ den Stift für mich übernehmen. Ich konnte dann frei sein. Leider versteht das kein Mensch. Nicht einmal wirklich die Therapeuten. Die meinten dann immer nur, ich muss mich dem stellen, was ich versuchte damit zu sagen.
Ich fühlte ein Kribbeln auf meiner Haut. Mein sechster Sinn meldete sich. Jemand beobachtete mich. Ich sah zu Alec. Er war derjenige. Vielleicht wollte er seinen Block wiederhaben.
Aber ich irrte mich, er sah meine Zeichnung an. Sein Blick deutete Ernsthaftigkeit und Verwirrtheit. War es so seltsam, dass ich so etwas zeichnete?
Er sah zu mir und lächelte leicht.
>>Das ist ungeheurer gut, mir gefallen die Augen. Magst du Wölfe?<<
Eine Frage. Eine neue und seltsame Frage. Warum versuchte er mit mir ins Gespräch zu kommen? Das taten die Schüler normalerweise nicht.
Ich zuckte nur leicht andeutend mit den Schultern. Dann musste ich nicht wirklich antworten.
Die Schüler um mich herum fingen an, sich zurück zu lehnen und mit den Nachbarn zu quatschen, ich sah mich überrascht um, gerade als es klingelte. Sie waren ein eingespanntes Team. Ich fühlte mich in die Enge getrieben. Ich hatte Alecs Block und jetzt wird er weiter das Gespräch suchen.
Aber er ließ von mir ab und kramte nur ein Gesichtsbuch hervor und las darin.

Ich hatte das dringende Bedürfnis, mich zurückzulehnen und die Augen zu schließen, ich war total verspannt. Warum saß ich auch hier zwischen all den Menschen.
Wie lange würden sie wohl dieses Mal brauchen, mich zu finden, wenn ich einfach weglief? Würden sie mich wieder in irgendeine Pflegefamilie stecken, damit sie Ruhe vor mir hatten? Nur noch ein Jahr und ich war 18. Dann würde mich kein Polizist wieder zurückbringen, weil ich noch minderjährig war. Leider hat das Jugendamt trotzdem noch ein paar weitere Jahre dann das Sorgerecht.
Meine Haut kribbelte wieder und ich bekam Gänsehaut. Warum beobachtete er mich die ganze Zeit?
Ich versuchte es zu ignorieren und sah auf meinen Stundenplan. Ich hatte nach Geschichte eine Doppelstunde Biologie und dann endlich erst einmal Mittagspause. Da konnte ich endlich einfach verschwinden und mich irgendwo verkrümeln. Die besten Verstecke hatte ich meist nach einer Woche gefunden.
Es klingelte und herein kam eine ältere Dame, sie sah sehr streng aus. Ich versteckte mich wieder hinter meinem Stift. Wenn der Wolf einmal gezeichnet war, versuchte ich immer bewusst etwas anderes dazu zu malen, aber das fand ich immer total hässlich. Meist zeichnete ich ein Baby in die Müllkippe, aber das war unrealistisch, denn ich sollte ja laut Therapeuten den Wolf darstellen und alle weitere Deutung ist mir sowieso zu hoch. Dann habe ich meist schon nicht mehr zugehört.
Plötzlich wurde der Block weggerissen.
Die Lehrerin stand neben mir und betrachtete das Bild. Ihr Stimme war total kalt.
>>Sehr schön, aber nicht Themen Relevant, würdest du bitte etwas zum Thema beitragen!<<
Ich sah sie mit großen Augen an. Angst bereitete sich aus. Warum saß ich nicht hinten, da haben sie mich nie erwischt.
Zum Glück rettete mich die Klingel und die Lehrerin schmiss den Block zurück auf meinen Tisch.
>>Ich will einen Aufsatz zu morgen, warum man nicht im Geschichtsunterricht irgendwelchen Müll zeichnen sollte!<<
Ich nickte und starrte auf den Block. Sollte ich ihn Alec zurückgeben?
Alec beantwortete meine Frage.
>>Behalte ihn, wir haben Biologie mit der Klasse meines Bruders zusammen, weil unsere Lehrerin krank ist, er kann mir mit Papier aushelfen.<<
Damit ließ er mir den Block und ich verschwand.
Ich konnte mich in Biologie zum Glück hinten hinsetzen und zeichnete weiter. Somit verflogen die zwei Stunden schnell und es klingelte zur Mittagspause. Eine Stunde verplempern die hier für das Mittagessen.
Ich sah in die Richtung, wo sich Alec hingesetzt hat, aber der war schon verschwunden. Und die letzten beiden Stunden habe ich nicht mit ihm. Wie soll ich ihm den Block wiedergeben? Ich durfte ja nie einen mit in die Schule nehmen.
Ich machte mich erst einmal langsam in Richtung Cafeteria. Ich holte mir einen Kaffee und wollte mich ganz hinten in die Ecke setzen. Vorne waren mir zu viele Menschen. Ich hasste Menschen. Aber der einzige Weg nach hinten war durch diese sehr enge Menschenmenge, wo mich tausend Menschen berühren würden und jede Berührung für mich wie ein Schritt in das Feuer ist.

Ein Blick in die Vergangneheit

 

Ich biss mir die Zähne zusammen und sah angestrengt auf den Boden. Mir wurde leicht schwindelig, als mich die ersten Mitschüler streiften. Meine Hände fingen an zu zittern und Hitzewellen überkamen meinem Körper. Ich wollte die Augen schließen und dem Schwindel nachgeben. Ich schwankte und krallte meine Finger immer fester um meinen Kaffeebecher. Mein Atem ging hektischer. Immer wieder schossen Bilder blitzartig vor mir auf. Fäuste. Die auf mir landeten. Stimmen die mich anschrien und mir die Schuld gaben, egal was war. Gelächter, die über mich lachten, während ein Elternteil mich maßregelte.
Es wurde immer schwieriger zwischen diesen Geräuschen und denen aus der Mensa zu unterscheiden. Einmal waren es noch viele Stimmen und dann war es plötzlich nur noch diese eine. So viele Menschen konnte ich einfach nicht ab.
Ich verschwand immer mehr aus der Realität. Ich drohte umzukippen. Aber da riss mich ein Schrei wieder ganz zurück in die Realität.
Ich stand direkt vor einem Mädchen. Sehr viel kleiner als ich, denn ich hatte eine stolze Größe von 1,78. Sie hatte wunderschöne blonde Locken. Der Mund von dem Mädchen war weit aufgerissen und sie blickte entsetzt auf ihr weißes T-Shirt. Auf dem war ein großer Kaffee Fleck und ich hatte meine Hände mit dem Kaffeebecher immer noch gegen ihr T-Shirt gedrückt. Ich riss sie weg und ließ den Kaffeebecher los.
Genau solch eine Situation hatte ich schon einmal erlebt.
Ich hatte den Kaffee damals aus versehen über einen meiner Pflegevater geschüttet. Das ging nicht gut aus, ich konnte tagelang nicht wirklich laufen.
Meine Hände zitterten ich wusste nicht wohin und ich fing an zu stammeln.
>>Es tut mir leid, so furchtbar leid. Ich weiß nicht, ich, ich weiß nicht, ich, wie das passiert ist. Es tut mir leid, ich bezahle die Rechnung, es tut mir leid. Was kann ich machen?<<

Meine Stimme wurde leise und zittrig.
Das Mädchen war sehr wütend. Ich spürte ihre Wut in den Adern aufkochen. Das ist kein gutes Zeichen. Die anderen Zeichen sind nicht viel besser. Der Versuch eines kontrollierten Atems und das Pochen der Halsschlagader, das zusammen Beißen der Zähne und zuletzt, die geballte Faust.
Ich duckte mich und ging einen Schritt zurück, ich will nicht, es tut mir doch leid.
Sie sah jetzt ganz langsam hoch in mein Gesicht und ich machte mich immer kleiner, das ist die Ruhe vor dem Sturm. Ich habe gelernt, ab jetzt am Besten kein Wort mehr zu sagen, sonst werden sie nur noch wütender.
Ihre Augen. Sie sind so blau. Sie erinnerten mich an ein Augenpaar, welches ich heute schon einmal gesehen habe. Der andere Junge neben Alec, oh Gott sie ist Alecs Schwester. Peinlicher geht’s wohl kaum.
Ich wollte die Wogen glätten, aber wenn sie ihre Wut nicht selber in den Griff bekommt, dann kann ich nichts machen.
Obwohl ein Versuch wäre es Wert.
Den Fehler habe ich damals auch immer wieder gemacht, ich wurde entweder lange genug provoziert, das ich ein Widerwort hatte, oder wollte mich einfach noch einmal entschuldigen.
>>Es tut mir wirklich leid, ich bezahle es und es war keine Absicht, wirklich nicht.<<
Ihre Miene wurde gleich wieder wütender. Nein Nein, ich habe sie noch wütender gemacht. Ich sah mich hektisch um, es gab kein Fluchtweg, alle sahen zu. Ich versuchte abwehrend die Hände zu heben, ganz langsam, sonst denkt sie noch, ich wehre mich, das kommt nie gut an. Mein Herz pochte bis zum Anschlag. Ich spürte wieder die Schmerzen.
Jetzt kam da auch noch ein Typ dazu und lachte das Mädchen aus.
>>Ey die hat es dir ja voll gegeben. Und du lässt es dir wie eine Memme gefallen!<<
Oh nein eine dritte Person die provoziert. Das geht nicht gut aus.
Ich sah den Schlag kommen. Ich hob noch rechtzeitig meine Hände und duckte mich. Er warf mich trotzdem zu Boden. Er hat mein rechtes Handgelenk getroffen. Nein nein nein. Mein Herz pochte und die Tränen drangen durch, so fängt es an. Jetzt prasseln weitere Schläge und ich kann nicht jeden abwehren, aber Hauptsache sie treffen nicht mein Gesicht, ansonsten wird er noch wütender, wenn sich die ersten sichtbaren blauen Flecken zeigten. Das macht ihn noch rasender. Im Laufe der Jahre kommen immer einfallsreichere Ausreden dazu. Die Ausrede, ich bin gegen eine Tür gefallen oder die Treppe runter gefallen, glauben sie irgendwann nicht immer. Aber im Sportunterricht war ich auch nie die Beste, so kam ich mit Tollpatschigkeits Ausreden ganz gut durch.
Ich wartete weitere Schläge ab, aber es kamen keine. Ich hatte meine Augen zugekniffen und hörte nichts mehr, weil mir so schwindelig war. Meine Arme waren schützend über meinen Kopf ausgebreitet.

Nach einer Zeit verlangsamte sich mein Puls wieder und das Rauschen in den Ohren ließ nach, das Blut verließ meinen Kopf. Den Schmerz an meinem Arm nahm ich kaum war, aber das Brennen von einer Hand verließ meine Hand nicht, jemand fasste mich an.

Jetzt nahm ich auch das ganze Stimmengewirr wahr. Eine Stimme war direkt an meinem Ohr.
>>Hey kannst du aufstehen?<<
Es ist Alec. Das ist so schrecklich, jetzt stellte er bestimmt weitere Fragen.
Eine andere Stimme diskutierte mit einer weiblichen. Und gleichzeitig mit der lachende und provozierende Stimme von dem anderen Jungen. Ich vernahm Fetzen, wie Verpiss dich oder ich ballere dir eine oder Lass meine Schwester gefälligst in Ruhe und warum hast du sie geschlagen und du musst dich doch unter Kontrolle halten oder ich war wütend und heißer Kaffee.
Es waren so viele Worte, sie verwirrten mich, ich kam bei dem Gewirr in meinem Kopf nicht ganz mit. Da waren auch Stimmen wie Du hast selber Schuld und Es ist allein deine Schuld oder Das hast du dir selbst zuzuschreiben.
Die Stimmen haben recht. Es war meine Schuld. Es war immer meine Schuld. Ich blinzelte leicht und riss mich von Alecs Hand weg. Ich sah wahrscheinlich aus wie ein jämmerliches Wesen am Boden.
Verschiedene Menschen haben zum Glück die anderen Zuschauer verjagt. Oder es gibt hier öfters Gewalt, sodass es total uninteressant war. Es war auch kein Lehrer da. Aber ich hatte ja auch selber Schuld.
Ich stand zittrig auf. Und sah zu dem Mädchen, was sich beruhigt hat. Der Junge von heute Morgen stand bei ihr und sah wütend aus. Ich hoffte er war nicht wütend auf mich. Alec sah mich besorgt an.
>>Ist alles in Ordnung? Meine Schwester kann ganz schön zuschlagen, du solltest deinen Arm kühlen.<<
Ich schüttelte nur den Kopf. Sollte ich mich noch einmal entschuldigen und ihr recht geben? Manchmal hat es damals geholfen, manchmal hat es ihn aber auch nur noch wütender gemacht. Ich wagte aber einen Versuch, sollte sie wieder wütend werden, ich kann ja einiges ab.
>>Es tut mir leid. Du hast Recht, es war meine Schuld.<<
Ich murmelte und war mir nicht einmal sicher, ob sie es verstanden hat.
Sie verdrehte aber die Augen, also wahrscheinlich hat sie es vernommen.
Das ging zum Glück gut aus, sie ist soweit besänftigt, aber jetzt sollte ich ihr aus dem Weg gehen. Die Wut ist noch in ihr und könnte wieder aufkochen.
Plötzlich hob Alec dafür die Hand und ich zog gleich die Hände wieder über den Kopf und duckte mich weg.

Aber mich traf kein Schlag, sondern eine Hand berührte mich sanft. Ich wich zurück und beobachtete ihn genau. Wahrscheinlich wollte er sich nur mein Handgelenk ansehen, aber ich will nicht.
Das Klingeln riss mich aus meiner Trance und es fing wieder an zu wuseln, mir kam gleich wieder Übelkeit auf, an den Gedanken, dass ich mich inmitten einer bewegenden Menschenmenge befand. Sie können alle wütend werden oder Lust auf Vergnügen bekommen. Das ist beides schrecklich.
Der Junge von heute morgen mit den schwarzen Haaren und den Hellblauen Augen schickte das Mädchen weg und lehnte sich die Arme vor der Brust verschränkend gegen einen Tisch.
Alec hob etwas vom Boden auf und hielt es in meine Richtung.
Es war der Block. Er ist zwar ein wenig zerknittert, aber die Zeichnung hat es überlebt. Alec schien es zu gefallen, zumindest lächelt er leicht.
>>Hier es ist nicht kaputt gegangen, es wäre auch viel zu schade.<<
Er wollte mir den Block reichen, aber ich wich wieder einen Schritt zurück. Ich wollte es nicht. Er konnte es behalten, die Gedichte habe ich schon in meine Schultasche gestopft. An der Zeichnung wollte ich zwar noch arbeiten, aber ich würde mich immer an Alec und die ganze Situation hier erinnern und Erinnerungen sind meist schlimmer.
Alec drehte sich zu dem Jungen und zeigte ihm meine Zeichnung.
>>Cole, sie kann gut zeichnen.<<
Cole hieß er also. Die beiden Jungs haben sehr geheimnisvolle Namen.
Cole sah sich das Bild an. Dabei spielte er mit den Ringen Piercings in seiner Ober und Unterlippe. Das erinnerte mich an mich selber, ich tue das auch oft beim zeichnen. Cole hatte in der rechten Augenbraue auch noch zwei. Außerdem hatte er viele Tattoos. Seine Arme waren voll damit. Auf seinen rechten Arm war so eine Art Stammbaum. Ich hatte nur eins, was man aber nicht sehen konnte.
Cole runzelte leicht die Stirn als er meine Zeichnung sah. Er sah mich interessiert und auch ein wenig argwöhnisch an.
>>Hat das irgendeine Bedeutung?<<
Ich wollte ihm bestimmt nicht die Deutungen meiner Therapeuten erläutern und für mich hatte es keine Bedeutung. Ich wollte ihm aber nicht wirklich antworten. Ich war immer noch total angespannt und mein rechtes Handgelenk tat jetzt immer mehr weh. Ich sah auf es. Es schwoll leicht an und eine Verfärbung war auch schon sichtbar.
Als ich wieder aufsah, kam Cole gerade auf mich zu. Ich wich automatisch einen Schritt zurück, dabei stieß ich gegen einen Stuhl. Ich konnte nicht weiter zurück weichen, das machte mir Angst. Ich hasste es in der Enge getrieben zu werden. Das rief bei mir wieder so viel Angst und Schmerz hervor, ich wurde zu oft in die Enge getrieben, wie ein ängstliches Tier.
Meine Augen weiteten sich leicht und Cole blieb überrascht stehen. Er sah zu Alec und dieser zu ihm. Sie schienen wieder ohne Worte zu kommunizieren.
Cole sah wieder zu mir und machte langsam ein paar Schritte, dabei hob er langsam die Hände in die Höhe.
>>Ich werde dir nichts tun, ich möchte mir nur dein Handgelenk ansehen.<<
Seine Stimme klang sanft, aber mit einem rauen Unterton.
Ich wägte ab, wie stark ich ihm Vertrauen sollte. Sie haben mir oft gesagt, dass sie mir nichts tun. Und am Ende haben sie mich genommen, sie haben mir alles genommen. Meinen Körper und meine Seele.
Als Cole direkt vor mir stand, hämmerte mein Herz wieder unregelmäßig in meiner Brust. Ich sah sie vor mir. Die zwei Männer. Zwei waren es. Erst der eine und dann der andere. Sie haben mich gebrochen. Warum mussten sie es auch tun.
Coles Hand kam langsam auf meinen Arm zu. Ich wich zu spät aus. Als er mich berührte, brannte meine Hand gleich auf. Ich verzog das Gesicht. Cole beobachtete mich genau, so wie ich ihn.
Er sah hinunter auf mein Handgelenk. Er drehte es vorsichtig hin und her. Es tat weh. Cole sah ernst aus.
>>Vielleicht ist es gebrochen?<<
>>Nein.<<
Es war das erste Mal, dass ich etwas zu ihm sagte. Aber ich wusste, dass es nicht gebrochen war. Ich konnte Schmerz von gebrochenen Knochen mit den Schmerz von nur geprellten Sachen unterscheiden. Ich hatte zu oft in der Notaufnahme gesessen.
Cole sah mich überrascht an, ein kleiner Schatten huschten über seinem Gesicht, als ihm klar wurde, warum ich das wahrscheinlich wusste. Sie konnten es sich vielleicht zusammen reimen. Ich habe mich vor ihnen wie ein ängstliches kleines Kind benommen, aber das war ich nun einmal auch.
Cole ließ meinen Arm wieder los.
>>Vielleicht sollten wir in die Notaufnahme fahren, damit wir uns sicher sind.<<
Ich schüttelte heftig den Kopf. Nein nicht in die Notaufnahme. Ich wollte nicht in die Notaufnahme. Ich musste mir so oft Untersuchungen unterziehen und dort berühren sie mich und stellen mir fragen. Das ertrug ich nicht. Außerdem bemerkten die meistens meine Narben und stellten dann nur noch mehr Fragen.
Cole ging zu Alec. Sie unterhielten sich leise. Sie beachteten mich immer weniger und ich nutzte meine Chance. Ich verschwand leise aber schnell. Ich ließ alles zurück, meine Tasche, diesen blöden Block und meine Jacke. Ich konnte die Sachen morgen aus dem Büro holen.
Stifte zum Zeichnen hatte ich im Haus genug.
Viele nennen es Zuhause. Aber ich hatte noch nie ein Zuhause. Für mich war es einfach nur ein Haus, wo mehrere Jugendliche zusammen wohnen. Eine Wohngruppe eben.

Dort lief ich jetzt hin und hoffte, dass sie mir keine Fragen stellten. Aber meistens ließen sie es, sie haben die Hoffnung aufgegeben, dass ich ihnen viel antworte.
Ich kam dem Haus näher. Ich wurde langsamer. Ihnen würde vielleicht auffallen, dass ich ein dickes Handgelenk habe, oder meine Sachen nicht dabei hatte. Vielleicht auch nicht, ich wollte nur kein Risiko eingehen

Der Besuch

Ich huschte durch die Pforte in den Garten, als erstes sah ich einmal durch das Wohnzimmerfenster, was fast direkt neben der Tür war. Es waren alle Betreuer darin, das heißt, wenn ich schnell durch den Flur auf die Treppe schlich, würden sie mich nicht bemerken!
Ich schloss ganz leise die Tür auf und öffnete sie langsam einen Spalt. Einer der anderen Mädchen verschwand gerade auf Toilette, sie hatte Bulimie und wollte wahrscheinlich wieder kotzen gehen. Ich wartete, bis sie die Tür hinter sich schloss.
Dann schlich ich mich leise und so schnell wie möglich nach oben. Durch den Flur und bis auf halber Treppe war es nicht so schwer, aber die letzten Treppenstufen sahen da schon anders aus. Ab der Mitte fingen diese nämlich an zu knarren.
Ich betrat vorsichtig die erste knarrende Treppenstufe. Sofort knarrte sie natürlich.
Aus dem Wohnzimmer kam natürlich sofort die Stimme einer der Betreuerinnen.
>>Riley bist du das?<<
Ich stöhnte und lief die letzten Stufen schnell nach oben. Mein Zimmer war das letzte in dem Flur, ich lief hinein und schloss die Tür schnell. Wir durften unsere Türen leider nicht abschließen, aber wenn man in vielen Pflegefamilien, Heimen und Wohngruppen aufwuchs, lernte an einige Tricks, wie man sie trotzdem versperren konnte. Ich stellte also einen meiner Stühle vor die Tür und verhakte sie unter der Klinke.
Ich hoffte, dass die Betreuerin nicht nach oben kommt und nach mir sehen will. Wenn die nämlich merken, dass ich mithilfe des Stuhls die Tür blockierte, nahmen sie ihn mir weg. Sie mussten es wohl so machen, wegen der Möglichkeit von Selbstmorden und anderen Psychologischen Zeugs. Ich hatte Glück, sie kam nicht nach oben. Mein nach oben rennen, war ihr wohl Zeichen genug, dass ich es war. Ich sah mich in meinem Zimmer um. Es war nicht all zu groß. Es stand ein Bett, ein kleiner Kleiderschrank, ein kleines Sofa und ein Schreibtisch darin, damit war der Platz schon fast aufgebraucht. An meinen Wänden hingen hauptsächlich viele Zeichnungen von mir. Umgeben von ihnen fühlte ich mich wenigstens einigermaßen wohl. Meine Gedichte waren unter einer der losen Dielen unter dem Teppich versteckt und hinter der Heizung geklebt. Somit fanden sie sie nicht.
Die Betreuer führen nämlich regelmäßig im Zimmer Durchsuchungen durch, weil wir ja verschiedene Sachen wie Essen, Rasierklingen oder Tabletten und so verstecken könnten. Aber ich wollte nicht, dass sie meine Gedichte fanden und etwas verschließen dürfen wir ja nicht. In den Pflegefamilien hatte ich immer einen kleinen Kasten mit einem Schloss versteckt. Dort bewahrte ich meine persönlichen Sachen auf. Aber den Schlüssel musste ich abgeben, als ich in die Wohngruppe kam, deshalb kann ich den Kasten nicht mehr verschließen.
Jetzt bewahrte ich dort meine Lieblingsstifte, Farbe und eine kleine vertrocknete Blume auf. Ich weiß nicht, wer mir den Kasten geschenkt hat. Er stand an meinem 12. Geburtstag, kurz bevor ich in die dritte und letzte Pflegefamilie kam, vor der Tür des Heimes. Sie war verschlossen und mein Name war in dem Deckel eingraviert. Riley

Auf ihr war der Schlüssel geklebt und in ihr nur diese einfache Blume. Ich habe bis heute nicht herausgefunden, woher sie stammt. Ich kannte diese Blumenart nicht, obwohl ich sehr viele kannte, da ich gerne draußen zeichnete.
Ich durfte sie behalten und sie gab mir oft Kraft, da die letzte Pflegefamilie die Schlimmste für mich war. Ich hoffte immer, dass sie von einem meiner Elternteile stammte. Aber das war relativ unwahrscheinlich, weil sie es ziemlich liebevoll wäre, mir dieses Kästchen zu meinem Geburtstag zu schenken und ein Neugeborenes auf der Müllkippe abzuladen nicht wirklich liebevoll ist.
Als ich mit 13 das erste Mal wirklich verloren fühlte, glaube ich, dass es ein Schutzengel sein könnte. Aber es wäre ein schlechter Schutzengel, denn ich hatte nie Schutz vor diesem Pflegevater.
Ich ging zum Sofa, hinter dem Kissen war das kleine Kästchen. Es war nicht wirklich versteckt und die Betreuer würden es sofort bei ihren Durchsuchungen finden, aber so hatte ich ein klein wenig das Gefühl, es wäre sicher.
Ich setzte mich im Schneidersitz auf den Teppich und hielt das Kästchen in meinen Händen. Meine schmalen Hände fuhren über die vielen Verzierungen auf dem Deckel und an den Rändern.
Auf dem Deckel fuhr ich meinen Namen langsam nach. Außerdem war dort noch ein kleiner Wolf eingraviert. Er heulte den Mond an. Vielleicht habe ich deswegen die Vorliebe für Wölfe gewonnen. Ich öffnete es.
Ich nahm die Blume hinaus, die ganz oben lag. Sie war sehr klein und wäre bestimmt wunderschön, wenn sie nicht vertrocknet wäre. Die Blüte schimmerte in blauen und violetten Farben. Der Stiel war hellgrün und das eine Blatt dunkelgrün. Es erinnerte mich an meine Augenfarbe. Ich betrachtete sie näher und meine Schwarzen Haare fielen vorne rüber und umrahmten die Blume. Behutsam legte ich die Blume auf die Innenseite des Deckels. Ich kannte schon jedes Detail an dieser Blume, so oft wie ich sie täglich betrachte.

Ich nahm einen meiner Bleistifte heraus und schloss den Kasten vorsichtig wieder.
Aus meiner Schreibtisch Schublade nahm ich meinen Zeichenblock heraus und setzte mich wieder im Schneidersitz auf den Teppich. Ich zeichnete meistens in der gleichen Position. Jeden Tag.
Wenn ich in der Mitte im Schneidersitz sitze und den Zeichenblock in meinen Schoß lege, erreichen ein paar Sonnenstrahlen das Papier, wenn die Sonne scheint. Heute war es eher trüb, aber ein zwei Strahlen verirrten sich auf mein Papier. Außerdem fielen dann meine Haare wie ein Umhang um mich herum. Dann fühle ich mich sicher, weil ich meine Umgebung nicht mehr wahr nahm. Ich konnte mir vorstellen, dass ich an einem ganz anderen Ort war. Einem schönen Ort.
Ich setzte meinen Stift auf das Papier, da fuhr ein Stechen durch mein Handgelenk.
Ich stutze, es riss mich aus meiner Trance und ich war wieder in der Realität, in der ich mein rechtes Handgelenk geprellt hatte. Ich betrachtete es. Es war geschwollen und leicht bläulich verfärbt. Ich sollte es kühlen, dann konnte ich schneller wieder Schmerzfrei zeichnen.
Das war immer das Schlimmste für mich. Wenn der Pflegevater damals mich so sehr bestraft hatte, dass ich nicht mehr zeichnen konnte.
Das nahm mir die Chance aus der Realität zu fliehen und dann stellte ich mich ihr und das ging nie gut aus. Dann drehte ich oft durch, weil ich den Überblick verlor.
Ich stand also auf und nahm den Stuhl von der Tür. Ich musste in die Küche. Dort waren die Kühlpacks. Ich öffnete also die Tür. Auf dem Flur lief gerade einer der Jungs in meine Richtung. Er war suizidgefährdet und musste nach der geschlossenen Therapie hier her, weil keine Pflegefamilie ein älteres Kind mit Suizid Problemen übernimmt. Meistens nehmen sie jüngere Kinder, die nicht so Problem belastet sind.

Er sah mich mit leeren Augen an. Er hat einen schlechten Tag. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck, wenn jedes kleines Gefühl aus einem gewichen ist und du einfach irgendetwas verletzendes tust, damit du wenigstens ein bisschen fühlst. Egal ob es Schmerz ist, Hauptsache man fühlt überhaupt etwas.
Er hat mich sogar schon einmal nach meinen Rasierklingen gefragt, aber das sind meine, obwohl ich sie schon seit drei Monaten nicht mehr benutzt habe. Sie geben mir Kraft. Sie erinnern mich an die Freiheit, die ich fühle, wenn ich sie benutze. Sie zaubern mir ein Lächeln auf die Lippe. Aber meine Therapeutin sagt, dass es auch anders gehen muss. Es sei nicht gut, wenn so eine Erinnerung mir gefällt.
Der Junge ging in sein Zimmer gegenüber von meinem. Wir wechselten keine Worte. Die wenigstens redeten in dieser Wohngruppe miteinander, auch wenn die Betreuer immer wieder versuchten uns einander näher zu bringen. Wir alle hier hatten unsere eigene Geschichte. Ich kannte nicht einmal wirklich die Namen der anderen. Wir waren diejenigen die das Leben geprägt hat. Der Junge, der Suizid Probleme hat oder das Mädchen mit Bulimie oder ich, das ausgesetzte Baby und Pflegekind. Oder wir gaben uns Namen. Aber das wollte ich nicht. Mein Name war das Einzige, was ich über mich wusste, über meine Herkunft. Das wollte ich nicht auch noch verlieren.
Ich öffnete die Tür ganz und ging zur Treppe.
Es war nicht nötig zu schleichen, denn wenn man in die Küche wollte, musste man durch das Wohnzimmer, dass ist total unpraktisch für viele, denn die Betreuer sitzen fast immer im Wohnzimmer. Und essen mussten wir gemeinsam, es gab kein Essen aufs Zimmer. Wie sollten die kranken Menschen also sich scharfe Gegenstände, weiteres Essen oder Kühlpads besorgen? Aber genau das war wahrscheinlich der Sinn von der Konstellation.
Ich ging also die Treppe runter und ins Wohnzimmer. Sofort sahen die Augenpaare auf. Zwei Betreuer saßen darin. Die eine, die vorhin nach mir gerufen hat und ein Mann. Dem Mann traue ich nicht. Ich traue keinem Mann. Ich ging ihm aus dem Weg. Und sollte ich überhaupt einmal etwas sagen, dann niemals zu ihm. Aber er redet mich auch nicht an, er geht mir auch aus dem Weg. Als ich in meinem 15. Lebensjahr damals in die Wohngruppe kam, nachdem jemand meinen Pflegevater angezeigt hatte, bin ich ausgerastet, als er mich einmal am Arm angefasst hat. Seit dem ließ er mich in Ruhe. Psychologischer Hintergrund nennen die so etwas. Deswegen haben sie mich ja auch zu mehreren Therapeuten geschickt. Bei der letzten bin ich jetzt schon drei Mal gewesen. Gestern war ich dort und nächste Woche soll ich gleich wieder hin.
Der Betreuer wandte sich also von mir ab, aber die Betreuerin stand auf und kam zu mir.
>>Riley. Was ist mit deiner Hand passiert?<<
Sie klang immer so furchtbar nett, aber das konnte man ganz leicht vortäuschen und ich traute nun einmal einfach niemanden. Ich ignorierte sie und wollte an ihr vorbei in die Küche gehen. Aber sie hielt mich an meiner Schulter zurück.
>>Du musst schon mit mir reden.<<
Sie klang immer noch einfühlsam, aber ein genervter Unterton schwang in ihrer Stimme mit. Ich zuckte nur mit den Schultern und schüttelte ihre Hand ab. Ich vernahm ein Seufzen von ihrer Seite aus.
Ich ging zum Kühlfach und holte ein Kühlpad raus. Ich wollte wieder nach oben gehen, aber die Betreuerin hielt mich wieder auf.
>>Nimm ein Handtuch mit, sonst ist es zu kalt.<<
Ich schüttelte nur den Kopf und verschwand dann schnell. Ich brauchte kein Handtuch, ich spürte die Kälte nicht mehr wirklich. Ich habe in meinem Leben zu oft Kühlpads gebraucht. Außerdem ist die Kälte vom Kühlpad nichts hingegen den Schmerzen, die ich schon erlitten habe. In meinem Zimmer angekommen setzte ich mich dieses Mal auf mein Bett. Ich brauchte noch ein paar Minuten bis ich wieder zeichnen konnte. Den Stuhl stellte ich auch nicht vor die Tür. Heute wird mich wohl die Betreuerin nicht mehr nerven.
Aber ich habe mich geirrt. Nach einer halben Stunde ca. klingelte es an der Tür und irgendjemand machte sie auf. Es interessierte mich nicht. Aber dann rief die Betreuerin nach mir.
>>Riley du hast Besuch!<<
Mich besuchte eigentlich keiner, aber wenn dann doch eine Betreuerin vom Jugendamt oder so auftauchten, dann rief sie mich immer nach unten, denn ich ließ keinen „Besuch“ in mein Zimmer. Es reicht mir schon, wenn die Betreuer rein kommen, wenn sie es durchsuchen oder nach mir gucken.

Ich stöhnte also und machte mich wieder auf den Weg nach unten. Die Tür war schon wieder verschlossen, also werden sie im Wohnzimmer sitzen. Als ich ins Wohnzimmer ging, traf mich der Schlag. Dort saß nicht irgendeine Tante vom Jugendamt, sondern Alec und Cole. Was machten die denn hier?
Cole sah sich ein wenig desinteressiert um und Alec hielt meine Tasche und meine Jacke hoch. Warum haben sie mir die Sachen vorbeigebracht? Und jetzt wissen doch die Betreuer davon und werden mir Fragen stellen.
Alec sprach als erster.
>>Du hattest deine Sachen vergessen und weil wir uns für unsere Schwester noch einmal entschuldigen wollten, bringen wir sie dir. Es tut uns leid.<<
ich stand unschlüssig im Wohnzimmer. Die Betreuer sahen interessiert zu uns. Sie wollten bestimmt die Geschichte wissen und würden bestimmt auch nachfragen. Ich wollte eigentlich nicht, dass das passiert. Aber wenn ich sie jetzt so einfach wegschicke, werden sie bestimmt gleich fragen, warum hast du sie schon weggeschickt und darauf hatte ich keine Lust.
Aber wenn ich sie in einer Stunde zur Essenszeit wegschicke, dann werden die Betreuer mit allen anderen beschäftigt sein und gar nicht fragen können. Aber wir können auch nicht hier unten bleiben.
Normalerweise lade ich doch niemanden in mein Zimmer ein!
Warum kann es nicht so wie immer sein?
>>Wollt ihr noch mit hoch?<<
Meine Stimme klang abgebrochen. Es waren für meine Verhältnisse viele Worte auf einmal. Das merkten auch die Betreuer, die zufrieden lächelten.
Cole verdrehte die Augen, aber Alec nahm dankbar an.
>>Gerne.<<
Ich nahm Alec meine Sachen ab, war aber angespannt und passte auf, dass ich ihn nicht berührte. Dann ging ich nach oben. Die Jungs folgten mir. Sie waren die ersten Mitschüler, die jemals bei mir waren. Vor meiner Tür drehte ich mich noch einmal um und funkelte die Jungs wütend an. Sie waren Schuld, dass ich jemanden in mein Zimmer mit hinein nahm. Sie waren Schuld, dass der heutige Tag nicht normal verlief. Zumindest so normal, wie es bei mir möglich war.
Alec lächelte unschuldig. Cole beachtete mich nicht wirklich. Ich öffnete die Tür und schmiss meine Sachen auf das Bett. Ich war ungewöhnlich wütend. Ich werde eigentlich nicht wütend. Ich fauchte die Jungs an.
>>Warum habt ihr mir die Sachen vorbei gebracht?<<
Alec öffnete gerade den Mund, um mir zu antworten, aber Cole unterbrach ihn.
>>Warum wohnst du in einer Wohngruppe? Warst du zu schwierig als Kind für deine Eltern? Wussten sie nicht welche Konsequenzen das hat?<<
Ich sah ihn verdutzt an. Wie kam er denn darauf?
>>Ich wurde ausgesetzt als Baby, tut mir leid, dass ich noch ein Säugling war und anscheinend zu schwierig!<<
Wut kochte in mir hoch. Das ist ein total neues Gefühl. Ich bin eher der unterwürfige Typ. Ich provoziere niemanden und ziehe mich zurück. Das Feuer, was ich in meiner Brust spürte, kenne ich nicht. Es brennt, aber es tut nicht weh. Es ist eher ein schönes Gefühl. Aber es will sich ausbreiten, es zehrt und drängt in meine Adern.
Cole zog die Augenbrauen hoch. Und sein Gesichtsausdruck wurde sofort sanfter.
>>Tut mir leid. Das war sehr unhöflich von mir. Ich konnte es mir nicht vorstellen, so ein hübsches und kluges Mädchen wie du es bist, weggeben zu können.<<
Er verwirrt mich. Auf der einen Seite lässt er das Arschloch raus hängen und sofort danach ist er wieder total ruhig und liebenswürdig. Er will mir etwas vortäuschen. Das ist seine Masche, ganz bestimmt. Er will mich besitzen.
Als mir das bewusst wurde, wich ich zurück. Das Feuer wich vor der Kälte der Angst. Mir wurde kalt. Meine Hände zitterten und mir liefen mehrere Schauer über den Rücken. Cole sah verwirrt zu Alec. Der sah mich mit einem leicht traurigen Blick ab. Seine Stimme war leise.
>>Riley wir wollen dir nicht weh tun.<<
Das sagen sie immer alle, bevor sie es tun.
Cole holt ein gefaltetes Blatt aus seiner Jackentasche. Er hatte eine schwarze Lederjacke an. Er faltete es auseinander und legte es auf den Boden. Dann schob er es mit seinem Fuß vorsichtig zu mir rüber. Es war meine Zeichnung. Warum kamen sie immer wieder mit dieser Zeichnung an? Wenn man sich in meinem Zimmer umsieht, dann hängen hier so viele ähnliche Zeichnungen, hauptsächlich von Wölfen. Warum interessiert er sich also für das eine besonders?
>>Ich finde, etwas ist besonders an dieser Zeichnung. Sie ist so präzise und detailliert, viel zu schön, um in meiner Tasche gefaltet zu liegen. Außerdem ist es deine, sie gehört dir. Sie sollte in keinen anderen Händen seinen, außer in deinen.<<
Seine Stimme war leise und beruhigend. Er fuhr vorsichtig fort.
>>Alec macht sich Sorgen um dich. Vielleicht sollten wir dir ein wenig helfen, es könnte schwierig an unserer Schule werden. Dort wird es öfters Gewalt geben, damit sind wir hier aufgewachsen. Aber du scheinst ein Problem mit der Gewalt zu haben, deshalb wird es nicht einfach werden.<<
Ich versuchte tief durchzuatmen. Solche Gespräche führte ich nicht. Ich bin doch unscheinbar, warum ignorierten mich nicht einfach alle?
>>Ich komme alleine klar, ich brauche keine Hilfe.<<
Meine Stimme klang leider nicht so entschlossen, wie ich es mir erhofft hatte. Sie klang piepsig und abgebrochen.
>>Ihr solltet gehen.<<
Cole setzte noch einmal an, aber Alec legte seine Hand auf dessen Schulter. Es folgte eine Stille Kommunikation, dann gingen sie und nickten mir jeder noch einmal zu zum Abschied. Ich sah aus dem Fenster, wie Cole auf ein Motorrad stieg und Alec sich hinter ihn setzte. Dann brausten sie davon.
Und ich war alleine mit meinen Gedanken.
Ich ließ das Abendessen ausfallen und ging schnell zu Bett, damit ich mich verkriechen konnte und den Gedanken fliehen konnte.

Neuer Tag, neue Katastrophen

 

Am nächsten Morgen ertönte das Gebimmel von meinem Wecker. Ich schlug die Augen auf und sah die Decke meines Zimmers an. Ich wusste nicht mehr wovon ich geträumt hatte, aber ich war Schweiß gebadet, also sollte ich froh sein, dass ich keinerlei Erinnerung an den Traum habe.
Ich warf die Decke zurück und sah auf die Uhr. Es war halb sechs, meine Zeit im Badezimmer. Ich schnappte mir ein paar Sachen, die ich anziehen wollte, eine einfache Jeans und einen sehr weiten Pullover. Ich tapste ins Badezimmer und drehte das Schild von frei auf Besetzt um. Auch hier durften wir uns nicht einschließen. Aber da ich das nie durchstand, habe ich auch hier meine Tricks. Ich hatte in der Badezimmerlampe ein wenig Schnur versteckt und schnürte ein Ende immer an die Klinke und das andere Ende immer an den Wasserhand. Da das Waschbecken direkt neben der Tür war, könnte man dadurch die Tür nicht mehr öffnen. Bis jetzt kam ich damit auch durch.
Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass die Tür offen wäre, zu oft verspürte ich die Angst, dass er mit ins Badezimmer kam. Diese Angst wird man nicht mehr los. Ich stellte mich unter die Dusche. Ich brauchte immer etwas länger zum Duschen, da ich gerne den Schmutz von meinen Erinnerungen und Träumen abwusch. Somit hatte ich immer das Gefühl, ein klein wenig von ihm befreit zu sein.
Jetzt waren alle Stellen, wo sich Narben versteckten offenbart. Fast mein gesamter Körper war übersät mit Narben. Manche sogar so tief, dass sie genäht wurden und manche, die nicht genäht wurden, aber hätten müssen, waren sehr groß. Außerdem war mein Tattoo sichtbar. Auf der rechten Seite auf meinen Rippen. Es war ein offener Vogelkäfig, wo eine abgerissene Schnur raus hängt und ein paar Zentimeter höher ein Vogel mit ausgebreiteten Flügeln, der am Fuß den Rest der abgerissenen Schnur hat. Darunter stand der Text: Frei wie ein Vogel
Das habe ich mir vor zwei Jahren stechen lassen, als ich gerade aus meiner dritten Pflegefamilie kam. Es war Privat und illegal. Aber es hat mir sehr viel bedeutet.
Nach 20 Minuten war ich fertig angezogen. Ich hatte noch 10 Minuten. Ich sah in den Spiegel. Meine schwarzen Haare reichten mir jetzt bis über die Brüste. Sie waren noch nass und daher glatt. Ansonsten lockten sie sich ungefähr ab den Schultern.
Zwei grüne Augen sahen mir entgegen. Das linke war ein hellgrünes und das rechte ein dunkelgrünes. Sie waren von sehr langen Wimpern umrahmt. Im linken Nasenloch und in der Rechten Oberlippe hatte ich jeweils ein Ringpiercing.
Ich hatte generell einen eher dunkleren Teint und war von Natur aus ein wenig muskulöser. Ich versteckte es immer unter den langen Pullovern. Ich verstand nicht, warum mich Leute schön finden können. Ich sehe in mir immer das Baby auf der Müllkippe. Warum wurde ich ausgesetzt, wenn ich doch so schön war?
Vielleicht dachten sie, ich wäre verkrüppelt, als ich von Geburt an diese Augen hatte. Vielleicht dachten sie, sie könnten mich nicht lieben, aber andere dafür schon.
So war es aber nicht. Niemand liebte mich und ich liebte niemanden.
Ich bin vielleicht außerirdisch?
Ich seufzte, wandte mich von meinem Spiegelbild ab, löste die Schnur, versteckte sie wieder, packte meine Sachen und ging nach unten in die Küche. Ich hatte heute Frühstücksdienst. Als würde es etwas bringen, wenn wir alle zusammen essen würden. Ich deckte den Tisch und nach und nach kamen alle essen.
Ich ignorierte diejenigen, die etwas sagten, obwohl es bei uns meistens sowieso eher etwas ruhiger zugeht. Kaum jemand sagte etwas oder reagierte auf die Versuche der Betreuer ein Gespräch zu beginnen.
Ich beendete mein Frühstück und stellte meinen Teller weg.
Ich ließ die Betreuerin kurz meinen Rucksack untersuchen, aber sie fand nichts. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, irgendetwas zu verstecken. Dann machte ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle. Es nieselte leicht und die Sonne hatte sich versteckt.
Das Wetter spiegelte meine Stimmung wieder. Denn als ich in den Bus stieg und der Schule immer näher kam, wurde mir bewusster, was gestern passiert war.
Ich musste mich damit auseinandersetzen.
Aber vielleicht, nur ganz vielleicht, vergessen die Jungs mich auch einfach und lassen mich in Ruhe. Ich holte einen Stift raus und fing an auf meinem linken Arm herum zu kritzeln. Auf einem Arm kann man nicht wirklich zeichnen. Auch weil meine rechte Hand immer noch ein wenig schmerzte. Aber immerhin konnte ich so weiter dem entgehen, was mir Angst machte.
Als der Bus auf den Parkplatz fuhr und alle ausstiegen, sah ich ihn. Cole.
Alec schien nicht in seiner Nähe zu sein.
Das war auch gut so, denn Cole scheint sich eigentlich nicht für mich zu interessieren. Er hatte sowieso etwas anderes zu tun, er flirtete gerade mit so einem Mädchen, welches jeden Jungen ran lässt. Das scheint den Macho abzulenken und ich hatte die Hoffnung, mich ungesehen an ihn vorbei zu schleichen.
Ich sah zu Boden und versuchte unscheinbar zu wirken, soweit es möglich war bei meiner Größe.
Aber plötzlich sprach mich einer an. Er hatte diese bekannte Stimme.
>>Hey ich fand das echt stark gestern.<<
Ich blieb abrupt stehen und sah auf. Ich sah in das Gesicht von dem Jungen gestern, der die Schwester von Cole und Alec provoziert hat. Ich ignorierte ihn und drängte mich an ihm vorbei. Aber er packte meinen Arm ziemlich fest.
>>Hey warte doch mal. Ich habe mit dir geredet. Ich fand es cool, dass du dich gegen Raya gestellt hast, willst du nicht wenigstens meinen Namen und meine Nummer haben? Ne Neue wie du müsste doch glücklich sein, wenn sie Freunde findet.<<
Ich riss mich los und stolperte leicht.
Warum sollte ich glücklich sein? Wegen ihm ist diese Raya doch noch wütender geworden. Außerdem will ich keine Freunde finden. Der ist doch echt bescheuert.
Bevor ich mich dazu durchringen konnte, etwas zu ihm zu sagen, weil er mich womöglich sonst nie in Ruhe lässt, stand Cole Plötzlich vor mir.
Cole stellte sich beschützend vor mich und seine Stimme klang bedrohlich leise und knurrend.
>>Lass sie gefälligst in Ruhe und Raya wirst du nicht noch einmal ansprechen, sonst breche ich dir den Kiefer!<<
Er machte mir ziemlich Angst, eine Gänsehaut zog sich langsam und qualvoll über meine Haut. Auch wenn er es wahrscheinlich nur nett meinte, konnte ich ganz ruhig auf diese Gewaltdrohungen verzichten.
Der Typ sah aus, als würde er jeden Moment die Kontrolle verlieren und Cole eine reinhauen, Cole spannte sich an und ich wollte definitiv weg sein, bevor hier die Fetzen flogen. Aber der Junge verschwand sehr schnell und wütend. Wahrscheinlich damit er nicht zuschlug.
Cole entspannte sich langsam und drehte sich zu mir um. Er nickte mit seinem Kopf in Richtung Eingangstür. Zum Glück sprach er mich nicht an und fragte so etwas banales, wie geht es dir oder hast du gut geschlafen. Vielleicht hat er verstanden, dass ich meine Ruhe will und wollte eben nur nett sein.
Wir liefen bis zu meinem Klassenraum, dann nickte er mir kurz zu und verschwand.
Er war komisch. Warum hat er mich bis zu meinem Klassenraum begleitet? Ich dachte, er hätte verstanden, dass ich keine Hilfe brauche. Ich drängte weitere Gedanken zurück und ging zu meinem Platz. Alec saß schon auf seinem.
Auf meinem Tisch lag ein Block. Auf der ersten Seite stand in einer ein wenig kritzeligen Schrift Falls du wieder einen Block brauchst..
Es war sehr nett von Alec, aber irgendwie schloss es meine Hoffnung, dass sie mich in Ruhe lassen aus. Ich setzte mich seufzend und Alec ignorierend, der mich zum Glück auch nicht ansprach.
Als nächstes kam eine junge Lehrerin herein, wir hatten jetzt Deutsch. Sie fing auch gleich an fröhlich los zu plappern. Sie sagte irgendetwas von Gruppenarbeit. Ich stöhnte, das war heute wieder nicht mein Tag. Ich hatte früher immer das Glück, dass niemand mit mir zusammen arbeiten wollte und ich somit die 6 einkassieren konnte, weil ich mich weigerte, aber sie wollte uns einteilen. Und natürlich verdonnerte sie mich, mit Alec zu arbeiten. Und dann sollen wir auch noch in der zweiten Stunde alle unsere Ergebnisse präsentieren. Alec war eigentlich viel zu nett, damit er meinetwegen eine 6 bekommen könnte.
Sie verteilte unsere Themen und Alec wandte sich zu mir.
>>Jetzt müsste wir wohl miteinander kommunizieren.<<
Er klang für meinen Geschmack ein wenig zu fröhlich. Ich antwortete mit meinem üblichen Schweigen. Wir hatten das Thema Gedichtinterpretation. Das Thema an sich wäre nicht schlecht, ich kannte mich mit Gedichten aus, aber es gestaltet sich schwierig ein Gedicht ohne Worte zu interpretieren. Vor vielen Menschen konnte ich sowieso nicht reden, also müsste Alec eigentlich den ganzen Vortrag alleine machen, dann könnte ich sowieso gehen.
Ich meldete mich kurzerhand. Alec sah mich erstaunt an. Die Lehrerin kam zu mir und lächelte total nett. Ich hasste diese Menschen, die so taten, als würde ihnen der Job Spaß machen. Aber ihr machte er wahrscheinlich wirklich Spaß.
>>Ja. Du musst Riley sein. Es freut mich, dass ich heute einen ersten Eindruck von dir gewinnen kann.<<
Sie lächelte noch breiter und ich zog eine Grimasse. Deshalb zeigte ich auch auf meinem Hals und krächzte ein wenig. Vielleicht ist sie ja so eine Lehrerin, die man damit reinlegen konnte. Hoffentlich verstand sie den Wink, ich hätte Halsschmerzen und könnte nicht reden.
Aber sie lachte nur nett und machte mir einen Strich durch die Rechnung.
>>Es tut mir leid, Riley, aber wir mussten von deinen Betreuern aus deine Akte lesen. Ich weiß schon, dass du dich vor Gruppenarbeit und Vorträgen gerne drückst, deshalb habe ich dir Alec zur Seite gestellt, der bekommt hoffentlich ein paar Worte aus dir heraus.<<
Ich sah sie wütend an. Warum konnten sie mich denn nicht einfach alle mein Ding machen lassen? Wenn ich Mitleid empfinden würde, würde ich ich erst einmal selbst bemitleiden. In diesem Moment vermisste ich meine Rasierklingen. Die bräuchte ich jetzt ganz dringend, bevor ich noch total durchdrehte.
Die Lehrerin ging zu der nächsten Gruppe. Alec fuhr sich durch seine hellbraunen Locken. Seine Augen sahen heute, wo die Sonne nicht schien, ziemlich dunkelbraun. Aber die Sonne hätte mir gestern auch etwas vorspielen können, wahrscheinlich sind sie nicht einmal goldfarben.
>>Also vielleicht solltest du das Gedicht aussuchen, wir haben freie Auswahl.<<
Ich atmete einmal tief durch. Das erste Gedicht was mir einfiel war Die Füße im Feuer. Das musste ich einmal vor der gesamten Klasse vortragen, ich konnte es auswendig und habe es schon einmal interpretieren müssen.
>>Die Füße im Feuer, von Conrad Ferdinand Meyer.<<
Alec lächelte mich vorsichtig an.
>>Ich kenne das Gedicht, es ist schön, das kann man gut interpretieren.<<
Ich zuckte nur mir den Schultern. Es war mir eigentlich egal, ich war mit meinen Gedanken bei dem Punkt, wo ich vor so vielen Menschen etwas sagen soll. Das konnte ich nicht, ich wusste nicht wie. Ich werde so schnell aus dem Konzept gebracht, dass ich immer den Faden verliere, wie soll ich da eine Gedichtinterpretation halten?
Wir arbeiteten relativ schnell, weil wir beide das Gedicht kannten. Ich versuchte so wenig wie möglich zu sagen und immer schön kühl und sachlich zu bleiben. Dabei war das gar nicht so einfach, denn Alec konnte sehr lustig und humorvoll sein. Er brachte mich sogar ein wenig zum Lachen. Ich vergaß relativ schnell, dass ich nachher vor vielen Menschen vortragen soll. Es wurde mir erst wieder bewusst, als wir fertig waren.
Ich schluckte, die Lehrerin pfiff zum Abschluss. Jetzt begannen die ersten mit ihren Vorträgen.

Jetzt waren wir dran. Wir hatten unser Gedicht auf Folie kopiert bekommen und mussten nach vorne.
Alec sah mich aufmunternd an.
>>Ich rede und du zeichnest dazu ein.<<
Ich sah ihn dankbar an. Wir fingen an. Er erzählt was wir analysiert haben, ich zeichnete es gleichzeitig ein und er stellte danach gleichzeitig immer vor, was wir daraus interpretiert haben. Es klappte alles super, bis Die Lehrerin uns stoppte.
>>Ich möchte einmal, dass ihr die Rollen tauscht. Du Riley wirst reden und du Alec wirst zeichnen.<<
Alec ließ die Schultern hängen und sah zu mir. Panik stieg in mir auf. In meinem Mund schmeckte es plötzlich säuerlich und nach Metall. Die Angst klammerte sich an mir fest und erstickte mich fast. Alec kam zu mir und überreichte mir den Zettel, worauf ich die Notizen geschrieben hatte.
>>Du schaffst das. Stell dir einfach vor, sie hätten alle eine Glatze und säßen auf dem Klo.<<
Ich hätte vielleicht gelächelt, wenn mein Gesicht nicht vor Angst erstarrt wäre.
Ich tauschte mit Alec die Plätze. Ich sah in all die Gesichter. Sie starrten mich teilweise belustigt, spöttisch, bemitleidend oder aufmunternd an. Ich öffnete meinen Mund. Wusste aber gar nicht, was als nächstes dran war. Also schloss ich ihn wieder und sah auf den Zettel. Ich bekam schwitzige Hände, mein Herz pochte schneller und ich vernahm ein Rauschen in meinen Ohren. Ich las immer wieder die nächste Zeile, aber die Bedeutung der Worte kamen nicht in meinem Kopf an.
Die ersten Schüler fingen an zu lachen und ich schloss gedemütigt meine Augen. Mir wurde schwindelig. Ich vergaß immer wieder zu atmen.
Plötzlich sprach einer der Jungs.
>>Sie hat ihre Sprache auf der Müllkippe vergessen!<<
Alle lachten.
In mir kroch Wut hervor. Warum ließen sie es nicht einfach bleiben? Sie hatten doch keine Ahnung von meinem Leben! Ich riss die Augen auf. Der Junge, der es gesagt hat, grinste mich spitzbübisch an und lachte noch breiter.
Es verschwamm alles, außer er. Es flackerte rot und meine Sicht wurde rötlich. Mich packte die reißende Wut. Der hat doch keine Ahnung von meinem Leben, also soll er sich gefälligst auch heraushalten! Ich rannte auf ihn zu und packte ihn am Kragen von seinem Shirt. Er streckte seine Arme zur Seite und lachte nur noch mehr.
>>Was jetzt? Was willst du machen? Hab ich dich verletzt?<<
Ich wusste nicht wirklich warum, aber ich tat es. Ich holte aus und schlug ihn gegen seinen Kiefer, gleichzeitig ließ ich ihn los. Er stolperte nach hinten und fiel über den Stuhl. Er hielt sich seinen Kiefer. Seine Lippe ist aufgeplatzt und es fing an zu bluten. Es sah mich erst überrascht an und dann wütend.
Ich wich zurück, was habe ich getan? Ich werde nicht wütend, niemals! Ich schlage nicht, ich hasse Gewalt, warum habe ich das getan? Vielleicht hat mein Pflegevater auf mich abgefärbt.
Der Typ sprang auf und ging geduckt auf mich los.
>>Das wirst du noch bereuen!<<
Er knurrte die Worte mehr, als er sie sprach. Bevor er mich erreichte, ging Alec dazwischen. Er schubste Den Jungen von sich.
>>Jakob beruhige dich und lass sie in Ruhe, du hast doch angefangen!<<
Um mich herum drehte sich alles, was habe ich bloß getan?
Verzweiflung machte sich in mir breit.

Warum ausgerechnet Jakob?

Wie konnte ich nur so etwas tun?
Dieser Jakob ist so wütend und Alec stellt sich beschützend vor mich, weil ich Jakob provoziert hatte. Wie konnte ich nur etwas tun, was ich abgrundtief hasste?
Jakob beruhigte sich leider nicht und schubste Alec auch zurück.
>>Was willst du machen? Gegen mich hast du keine Chance, geh mir aus dem Weg du Pappnase! Ich mach sie fertig!<<
In Jakobs Augen blitzte es und sein Körper zitterte.
Alec kontrollierte sich, aber auch er spannte sich jetzt an.
>>Jakob bitte, beruhige dich und alle können das hier vergessen! Du weißt doch, wie es sonst endet, denke doch einmal nach, bevor du etwas tust!<<
Jakob lachte und ging bedrohlich auf Alec zu.
>>Du kannst mir keine Angst machen!<<
Warum ging denn niemand anderes dazwischen? Die Lehrerin oder ein Mitschüler? Die Lehrerin sah einfach nur teilnahmslos zu und machte sich irgendwelche Notizen. Was ist denn das für eine Schule?
Alec ballte seine Hände zu Fäusten und knurrte kurz wütend auf. Dann ging er langsam zu Jakob. Er blieb vor ihm stehen und es waren nur Millimeter zwischen ihm und Jakob. Er fing an zu reden. Ganz langsam und leise, aber sehr deutlich, Wort für Wort.
>>Also gut. Wann? Und. Wo?<<
Seine Stimme hat etwas sehr provozierendes.

Er hatte sich kaum noch unter Kontrolle. Jakob grinste hämisch und schnaubte spöttisch. Alec wurde ungeduldig und herausfordernder, seine Stimme lauter.
>>Wann? Und. Wo? Du feige Sau!<<
Ich habe Alec noch nie von dieser Seite gesehen. Er machte mir Angst. Ich machte mir Angst. Was ist nur in mich gefahren?
Jakob ließ sich mitreißen und näherte sich Alec noch ein Stückchen, sodass sich ihre Gesichter fast berührten.
>>Ring. Mittagspause. Normal.<<
Es herrschte so eine Spannung zwischen den Beiden, dass es fast knisterte.
Im ganzen Raum war es ruhig. Man konnte mein Herz fast klopfen hören.

Plötzlich klingelte es. Und die Spannung war gebrochen. Beide machten noch eine Provokative kurze Bewegung nach vorne zum anderen und ließen dann voneinander los. Alec sah ernst aus und kam zu mir.
>>Brauchst du vielleicht ein bisschen Ruhe? Wir haben jetzt Kunst.<<
Ich konnte nicht antworten, nicht weil ich es sowieso nicht wollte und auch nicht vorhatte, sondern weil mich immer noch Angst und Panik packte. Ich habe einen Streit ausgelöst.

Gewalt.
Langsam ging ich zu meinem Platz. Ich stand den Tränen nahe. Wie konnte ich mich nur so mitreißen lassen? Ich stand kurz vor einer Panikattacke. Die Gedanken und Fragen verschwanden nicht. Warum habe ich es getan? Wie konnte ich Gewalt anwenden? Werde ich so wie er?
Bilder tauchten auf. Blut, das auf den Boden aus meiner Nase tropfte oder aus den Schnittwunden, wenn er ein Glas nach mir geworfen hatte.
Ich packte langsam meine Sachen zusammen. Es ist alles meine Schuld. Es ist immer meine Schuld.

Alec seufzte leise.
>>Riley? Komm bitte sage etwas. Es tut mir leid. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass so etwas passiert!<<
Ich sah ihn an. Verwirrung machte sich breit. Wie hätte er es aufhalten können, warum gab er sich die Schuld? Es war meine, ich hätte niemals ahnen können, dass ich Gewalt anwende, aber ich habe es getan. Das werde ich mir niemals verzeihen.
Ich ging aus dem Klassenraum. Alec folgte mir.
>>Ich werde in deiner Nähe bleiben, Jakob ist sehr nachtragend. Und ich weiß nicht, ob er dich in Ruhe lässt, Jakob hält nicht immer sein Wort.<<
Vielleicht hätte ich es verdient. Wenn er mich jetzt bestrafen würde, hätte ich es verdient, es wäre meine Strafe, für das, was ich getan habe.
Ich sah, wie ein sehr wütendes Mädchen auf uns zugerannt kam. Es war Raya. Das Mädchen, das ich mit Kaffee bekleckert habe. Vielleicht will sie mich auch noch einmal bestrafen, ich hätte es verdient. Aber sie rannte direkt zu Alec.
Ihre blauen Augen sprühten vor Wut.
>>Warum ausgerechnet Jakob? Ich habe es gehört, spinnst du? Lass Cole das regeln! Er ist stärker! Wieso hast du dich auf ihn eingelassen?<<
Alec hob beschwichtigend die Hände. Er war wieder total ruhig.
>>Raya beruhige dich! Es ist doch nichts neues.<<
Raya raufte sich die Haare und knurrte vor sich hin.

>>Doch wir erledigen so etwas nicht im Ring! Nicht wo die ganze Schule zuguckt! Was würde Dad dazu nur sagen!<<
Alec sah ein wenig getroffen aus. Seine Stimme war nur noch ein Murmeln.
>>Er wäre stolz, dass ich mich nicht von einem..<<
Er sah kurz zu mir und korrigierte sich.

>>..von Jakob unterkriegen lasse. Außerdem hatte es einen triftigen Grund zu diesem Kampf!<<
Raya sah zu mir. Und dann wieder zurück zu Alec. Ihr Blick wurde sofort wütender.
>>Wegen ihr? Deswegen?<<
Alec seufzte.
>>Raya! Bitte! Was regst du dich denn so auf? Du interessierst dich sonst auch nicht wirklich dafür?<<
Raya grummelte leicht, aber wurde wieder ruhiger.
>>Es hängt auch mein Ruf davon ab! Und ich interessiere mich nur nicht für diesen Pflichtkram da und der Verantwortung, das ist mir alles zu hoch.<<
Alec verdrehte die Augen.
>>Ich werde unseren Ruf schon verteidigen und dieser Pflichtkram und die Verantwortung ist ein sehr wichtiger Teil, Raya!<<

>>Ja ja ich weiß, ach ich gehe nach der Schule shoppen, also könnt ihr alleine fahren.<<
Damit lief sie auch davon. Alec stöhnte kurz auf.
>>Raya!<<
Es war sehr verwirrend ein Gespräch unter Geschwistern zu folgen. Ich hatte keine, ich kenne das nicht. Ich hatte keine Ahnung von was die Beiden gefaselt haben.
Wir gingen weiter zum Kunstraum.
Ich war froh darüber.
Wir durften etwas frei nach Wahl zeichnen und ich konnte endlich der Realität entfliehen.
Als es klingelte, schossen die Schüler alle aufgeregt nach draußen. Stimmt es ist Mittagspause. Jetzt liefen alle zum Ring. Gleich machten sich bei mir wieder fragen und Gedanken breit. Aber ich hatte nicht lange Zeit sie durchzugehen, denn Cole packte Alec und nahm ihn beiseite. Ich blieb automatisch stehen.
>>Warum ausgerechnet Jakob?<<
Alec stöhnte auf. Ich verstand ihn. Was war denn an Jakob so schlimm? Er war ein Junge, der mich schlagen wollte. Ich hörte Cole und Alec nicht mehr zu. Ich sah mich nach Jakob um. Er stand an seinem Spind und packte seine Sachen weg. Dann zog er sich sein Shirt aus und ließ seine Muskeln spielen.
Es war doch meine Schuld, warum also sollte ich meine Strafe nicht bekommen? Und da Cole und Raya anscheinend nicht damit einverstanden sind und ich eine Strafe brauchte, ging ich zu Jakob.

Als er mich sah wurde er wütend. Er kam langsam auf mich zu.
>>Du solltest verschwinden, noch einmal wird dich keiner retten!<<
Ich zuckte nur mit den Schultern. Ich rede ja nicht, ich will nur meine Strafe.
Jakob machte es nur noch wütender.
>>Warum redest du dreckige Schlampe nicht? Fühlst du dich zu fein?<<
Ich zuckte wieder nur mit den Schultern. Er hob seine Hände und ich zuckte zusammen und hob automatisch meine Hände vor meinen Kopf. Jakob lachte darüber.
>>Ach denkst du ich schlage dich? Das solltest du denken. Und du solltest Angst haben! Jeder weiß, dass ich niemanden verschone und schon gar nicht wenn er mich gedemütigt hat.<<
Ich sah auf. Jakob war sich in die Brust, er dachte wohl er wäre der King. Seine blonden Haare hatte er sich stachelig gegelt und seine grauen Augen strotzen geradeso vor Kälte. Er hatte viele Ringe an den Fingern und mehrere Ketten um seinen Hals. Manche aus Silber und manche sogar aus Gold. Auf seiner rechten Halsseite war ein Tattoo. Ein Totenkopf. Ein sehr realistischer Totenkopf.
Es ließ ihn sehr gefährlich aussehen.
Er lachte spöttisch, als er meinen etwas sehr ängstlichen Blick sah.
Ein Kumpel von ihm, rief ihm etwas zu.
>>Die hat dich geschlagen, Alter! Und du gibst ihr nicht mal einen kleinen Denkzettel? Seit wann lässt du dich von Mädchen Schlagen? Du Pussy, Digger!<<
Jetzt war er wütend. Ich sah wie die Wut in ihm aufloderte. Ich sah seine Faust kommen, ich drehte mein Gesicht weg, aber sie traf mich nicht.
Ich blinzelte in Jakobs Richtung. Eine Hand hatte seine Faust umschlossen und hielt sie ab, auf mich niederzusausen. Es war Coles Hand.
Cole war sehr ruhig. Verdächtig Ruhig.
>>Schlag noch einmal zu und wir gehen in den Wald und klären das auf die eigentliche Art!<<
Jakob riss seine Faust weg und schlug schreiend gegen die Wand. Es krachte. Er hatte ein Loch in die Wand geschlagen! Ich zuckte zusammen. Wenn diese Faust mich getroffen hätte, dann hätte ich mir garantiert etwas gebrochen! Er schnappte sich sein Shirt und verschwand. Ich sah ihm hinterher. Ich zitterte am ganzen Körper.
Unsicher blickte ich zu Cole. War er auch wütend? Würde er mich jetzt bestrafen? Warum schützte er mich immer wieder? Cole kniete sich neben mir.
>>Warum ausgerechnet Jakob? Du hättest doch jeden anderen schlagen können, aber nicht ihn. Er hat kein Respekt vor Frauen. Er ist leider einer dieser Kerle, die Gewalt als Lösung sehen.<<
Sah er sie aber nicht auch so? Oder warum würde er Jakob ansonsten drohen? Ich wich leicht zurück, aber mir blieb nicht viel Platz bei all den Schülern um mich herum. Cole sah traurig aus.
>>Ich möchte nicht, dass du Angst vor mir hast. Ich habe meine Hand noch nie einer Frau gegenüber gehoben. Das ist ein Prinzip. Ich schlage keine Frau! Bitte habe keine Angst mehr vor mir.<<

Seine Augen sahen mich bittend an. Konnte ich diesen Augen trauen? Oder seinen Worten? Ich war unschlüssig. Cole stand auf und reichte mir seine Hand. In seinen Augen stand die Bitte, mir aufhelfen zu dürfen. Zaghaft nahm ich seine Hand. Langsam zog er mich hoch. Ich stand jetzt direkt vor ihm. Viel zu nahe. So nahe stand ich keinem Mann! Ich riss mich los und ging einen Schritt zurück.
>>Danke.<<
Ich wusste nicht, warum ich mich bedankte, aber mich hat noch nie jemand wirklich beschützt, also dachte ich, dass an dieser Stelle ein Danke angemessen war. Cole lächelte leicht.
>>Siehst du, wir schaffen das.<<
Damit zwinkerte er mir zu.
Alec wartete am Ende des Flures auf uns. Auch er lächelte leicht.
>>Ich denke, ich bin um meinen Kampf gekommen.<<
Cole sah ihn mahnend an.
>>Sag das nicht so, als wäre irgendetwas traurig daran!<<
Alec verdrehte die Augen.
>>Alles klar. Ach Raya geht nachher shoppen und lässt uns allein.<<
Cole sah ein wenig verärgert aus.
>>Wieso ist ihr eigentlich alles egal, wofür wir leben?<<
Alec lachte.
>>Weil es eben Raya ist, sie noch ein Teenager ist und von uns verzogen wurde. Vor allem von dir!<<
Cole brummt als Antwort.
>>Quatsch nicht blöde!<<
Alec lachte wieder. Dieses Mal wohl über die Grimasse, die Cole schnitt.
Geschwister zu haben, scheint anstrengend zu sein.
Wir kamen endlich in der Mensa an. Ich wäre am liebsten wieder umgedreht, es waren wieder so viele Menschen und ich erinnerte mich sofort an gestern.
Mir wurde sofort schlecht und ich hatte das Gefühl, dass die Angst mich zerfrisst oder ich mich übergeben muss. Wird es wieder ein Desaster geben?

Der Wolf im Wald

 

Alec und Cole sahen sich an, dann nickten beide fast gleichzeitig. Cole ging vor und Alec ließ mir dann den Vortritt, er kam hinter mir. Ich war erstaunt, ich kam einfach so durch die Menschenmenge, weil alle Schüler zur Seite gingen, wenn Cole kam, außer ein paar Mädchen, die ihn an schmachteten, aber nach einem leichten Kopfschütteln von Cole aus, gingen sie auch mit leicht traurigen Blick.
Ich war total erleichtert als wir an einem freien Tisch ankamen. Ich hätte mir zwar nie erträumt, dass ich jemals mit anderen Menschen freiwillig an einem Tisch sitzen müsste, aber ich hatte keine Wahl, weil ich sonst wieder durch die Menschenmenge gehen müsste und das würde wahrscheinlich nicht gut ausgehen.
Alec und ich setzten uns hin und Cole ging noch mal los, wahrscheinlich um sich etwas zu essen zu holen. Ich kramte mein Mittagsessen aus meinem Rucksack, es bestand heute aus einem gemischtem Salat. Alec holte sich ein paar belegte Brötchen raus.
>>Magst du das Essen hier auch nicht?<<
Ich sah ihn an. Ich bin erst den zweiten Tag hier, ich kam noch nicht dazu das Essen zu probieren, aber das werde ich wahrscheinlich auch nicht, weil es bei der Essensausgabe viel zu voll war, als das ich mich je dort hinstellen würde. Also zuckte ich nur kurz leicht mit den Schultern und widmete mich dem Salat.
Alec tat es wohl als ein halbes Ja und halbes Nein ab, er ließ mich in Ruhe und sah verträumt in die Weltgeschichte, naja eher in die Mensa. Cole erschien zwischen der Menschenmenge, er balancierte ein sehr volles Tablett vor sich hin. Es gab Nudeln Bolognese. Es sah für Mensaessen sogar ganz lecker aus. Als Cole sein Tablett abstellte und bevor er sich mir gegenüber hinsetzen konnte setzen konnte, sprach ihn ein Mädchen aus, welches aussah wie eine Cheerleaderin. Kurzes Röckchen, noch engeres Top und blond gefärbte Haare. Hatten sie etwas ein Lackross Team?
>>Hey, Süßer. Willst du vielleicht meine Nummer, du siehst echt scharf aus.<<
Cole grinste verwegen.
>>Heeeey. Süße. Ich weiß, dass ich heiß bin, aber heute nicht.<<
Er kniff ihr noch einmal in den Arsch und sah ihr grinsend hinterher, als sie mit schmollenden Lippen verschwand. Irgendwie rief diese Situation ein grummelndes Gefühl in mir aufsteigen, wahrscheinlich weil ich diese Seite an Cole total überflüssig fand, weil ich wusste, dass er im Grunde genommen ein netter Kerl ist.
Er setzte sich und grinste weiter. Er sah zu Alec, der ihn missbilligend ansah. Cole sah genervt aus, als er die Augen verdrehte.
>>Mensch Alec guck nicht so, ich will doch nur ein bisschen Spaß!<<
Alec schüttelte nur leicht den Kopf vor sich hin.
>>Das hast du aber doch nicht, wenn du nur mit ihnen spielst!<<
Cole lachte leise.
>>Doch genau dann habe ich es, du kennst mich, keine feste Beziehung, keine Pflichten und Probleme.<<
Alec seufzte.
>>Dich kann man eh nicht belehren, du weißt ja immer als besser.<<
>>Quatsch nicht blöde. Willst du auch was essen?<<
Er schob Alec sein Tablett rüber, aber Alec schüttelte mit einem leicht angewidertem Blick den Kopf. Cole stöhnte und sah dann vorsichtig zu mir.
>>Möchtest du was haben? Du isst ja nur einen Salat?<<
Wenn ich jetzt mit nur einem Schulterzucken antworte, dann gab er mir bestimmt etwas. Wenn ich nicht antworte, wahrscheinlich auch. Also schüttelte ich leicht den Kopf. Cole lächelte leicht.
>>Mensch das war schon fast ein Wort!<<
Alec nickte mir zu und grinste Cole an.
>>Also mit mir hat sie schon geredet.<<
Machten sie etwa ein Wettrennen daraus? Mit wem ich zuerst rede? Das gefiel mir nicht wirklich, ich wollte nicht, dass sie sich bemühten, mit mir zu reden. Ich bin halt gerne für mich, was hier irgendwie nicht möglich war und mich nervte.
>>Macht kein Wettbewerb daraus!<<
Sie sahen mich beide verblüfft an. Alec lächelt mir sehr erfreut zu und Cole grinste von einem Ohr zum Anderen. Aber sie gingen nicht mehr darauf ein. Zum Glück.
Endlich konnte ich in Ruhe meinen Salat essen und meinen Gedanken nachhängen. Ich drängte den Gedanken an das, was ich getan habe beiseite und dachte darüber nach, dass Raya und Cole nicht wollten, dass Alec sich mit Jakob schlägt, aber Cole keine Probleme hatte, Jakob selber zu drohen. Es herrschte eine gewisse Spannung zwischen Jakob und den Geschwistern. Aber warum?
Ich seufzte leise und stocherte in meinem Salat herum. Wieso ist es dieses Mal so schwer? Sonst war es relativ einfach, ich wurde ignoriert und machte mein eigenes Ding, damit waren immer alle zufrieden.
Dieses Mal versuchen zwei Jungs die ganze Zeit mit mir zu reden, ich schlage jemanden und schlittere von einer Katastrophe in die nächste. Dieser Ort scheint verflucht zu sein, schrecklich. Aber bei meinem Glück, ist dies nicht einmal die letzte Schule. Ich hatte erst kurz vor Schulanfang Geburtstag und es dauerte noch ein Jahr bis ich 18 bin und bis dahin wechsele ich die Schule wahrscheinlich noch mindestens einmal.
Bis dahin muss ich wohl hier durch, aber wenn ich weiterhin wenig rede und mich zurückziehe, lassen die Jungs mich vielleicht in Ruhe.
Ich überlegte, wie sinnvoll es wäre, meiner Therapeuten etwas von meinem heutigen Ausbruch zu erzählen. Vielleicht würde es ja etwas bringen. Aber wahrscheinlich eher nicht, sie kommt dann wieder mit psychologischen Deutungen, die ich eh fast alle nicht kapierte.
Ich seufzte wieder leise. Was wäre ich für ein Mensch geworden, wenn meine Eltern mich damals nicht abgegeben hätten? Wäre ich dann ein ganz normaler Teenager, oder so eine Cheerleaderin? Oder wäre ich genauso geworden? Wohl eher nicht, aber ich habe diese Option nicht. Die wurde mir genommen, als ich auf einer Müllkippe ausgesetzt wurde, wie ein jämmerliches Tier.
Vielleicht waren es ja gar nicht meine Eltern! Ich wurde entführt und dann ausgesetzt, vielleicht suchen meine Eltern mich irgendwo. Ich seufzte ein drittes Mal, das wäre wohl sehr unrealistisch und unlogisch. Leider fliegen mir immer so viele Szenarien durch, wenn ich darüber anfing nachzudenken. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen, ein Kind auf einer Müllkippe abzuladen. Aber immerhin haben sie mir meinen Namen gelassen, das ist doch etwas.
Als es klingelte packte ich meinen Salat weg und Alec und ich gingen in den Klassenraum. Wir hatten Mathematik, aber ich hörte nicht wirklich zu. Ich hing weiter meinen Gedanken nach und war froh, als es endlich klingelte und die Schule vorbei war. Ich fuhr mit dem Bus zurück und machte erst einmal meine Hausaufgaben.
Es hatte aufgehört zu regnen und ein paar Sonnenstrahlen brachen durch die Wolkendecke. Ich wollte zeichnen, aber ich fühlte mich in meinem Zimmer beengt, ich brauchte Freiraum. Also ging ich zu meiner Betreuerin und meldete mich ab. Das mussten wir machen, diejenigen die größere Probleme als ich hatten, bekamen auch eine Ausgangssperre oder nur bestimmte Zeit draußen. Aber wenn ich rausging, dann nur zum zeichnen.
Als meine Betreuerin meinen Zeichenblock sah und bemerkte, dass ich meine Schuhe und Jacke übergezogen hatte, lächelte sie. Die Betreuer freuten sich immer, wenn ein Jugendlicher seine Zeit draußen verbrachte, wenn er es durfte.
>>Das ist schön, dass du raus willst. Aber nicht in den Wald. Das ist hier eine Regel, keiner geht in den Wald. Also such dir ein Feld und bleib in der Nähe von der Straße und der Stadt!<<
Ich antwortete nicht. Warum durfte man nicht in den Wald? Ich ging gerne in den Wald. Es war mir eigentlich auch relativ egal, was man mir sagte, es würde ja keiner mitkriegen, wenn ich in den Wald gehen würde. Ich lief also ganz entspannt zum Waldeingang. Es war ein schöner Mischwald. Sie waren sehr dich und die Sonne kam immer mehr raus, sodass die ersten Sonnenstrahlen durch die Baumgipfel auf den Weg fielen.
Es war so friedlich hier und roch wunderbar. Hier fühlte ich mich wohl. Ich war froh, dass ich hier her gekommen war. Ich ging ein bisschen weiter rein, sodass ich die Geräusche der Stadt nicht mehr hörte, sondern nur noch das Vogelgezwitscher und das Rauschen der Bäume. Ich kam an einer Felsengruppe an. Ich setzte mich auf einen der Felsen. Ich zog mir meine Jacke aus und krempelte meine Ärmel hoch und ließ mich von den Sonnenstrahlen wärmen.
Ich hatte leider einen sehr dunklen Teint, ob ich mich Sonne oder nicht, dadurch konnte man meine Narben sehr stark erkennen. Im Sommer ist es ein wenig schwierig, wenn ich trotz der Hitze einen Pullover trage. Manchmal bereitet mir das schon Kreislaufprobleme. Aber ich werde ansonsten nur noch stärker angestarrt.
Es war so grün hier, das fand ich toll. Auf der einen Seite konnte man erkennen, das hinter den Bäumen eine Lichtung kam. Ich blieb so sitzen und fing an zu zeichnen. Ich zeichnete die grünen Bäume, die teilweise von Moos überzogen waren, das Gras und das Moos auf den Boden, ein zwei Blumen, die durch das Moos schossen. Und zwischen den Bäumen, begann ich die Lichtung zu zeichnen.
Zum Schluss begann ich einen Wolf zwischen die Bäume zu zeichnen, der einen direkt ansah, wenn man die Zeichnung betrachtete.
Als ich das nächste Mal hoch sah, pochte mein Herz schneller. Fast genau an der Stelle, wo ich den Wolf in meine Zeichnung gesetzt habe, stand er jetzt vor mir. Ganz ruhig sah er mir in die Augen. Er hatte blaue Augen, sehr ungewöhnlich für einen Wolf. Ganz ruhig stand er da und beobachtete mich. Er hatte eine wunderschöne Zeichnung. Ich mochte ihn, er war so ruhig und so lieb. Ich wusste nicht, was ich jetzt machen sollte, bewegen ist bestimmt nicht gut, ich wollte ihn nicht erschrecken. Er war so friedlich.
>>Hey. Du magst den Wald auch, stimmts?<<
Ich weiß auch nicht, warum ich keine Angst hatte und mit dem Wolf sprach, aber ich fühlte mich wohl und viel mehr Schmerz als man mir schon angetan hat, kann er mir wahrscheinlich nicht zufügen. Er legte seinen Kopf schief und beobachtete mich weiter. Er kam nicht näher, das ist bestimmt ein gutes Zeichen. Er setzte sich hin und beobachtete mich.
>>Ich hoffe ich störe dich nicht, aber ich habe gezeichnet, ich mag es hier. So wie du mag ich die Ruhe und den Frieden.<<
Ich stand vorsichtig auf und setzte mich auf einen Felsen, etwas näher an den Wolf heran. Dann blätterte ich eine neue Seite in meinem Block auf und begann ihn zu zeichnen. Die Schwarz Weiß Zeichnung kam ihm gar nicht zurecht, weil ich vor allem seine blauen Augen nicht richtig zur Geltung bringen konnte, aber ich wollte immer eine Erinnerung an ihn haben.
>>Du bist wunderschön, wusstest du das? Hier sieh mal.<<
Ich zeigte ihm meine Zeichnung. Ich wusste, das er mich nicht verstand, aber er musste mich nicht verstehen, er würde mir niemals etwas tun, das spürte ich. Ihm konnte ich vertrauen. Der Wolf näherte sich mit seiner Nase vorsichtig und schnupperte. Dann legte er den Kopf erneut schief, das sah süß aus.
Sofort begann ich eine neue Zeichnung, mein Stift flog nur über das Papier. Ich wollte den Moment einfangen. Dabei redete ich weiter leise mit dem Wolf.
>>Ich hoffe du bist nicht so alleine wie ich. Ich hoffe du hast eine große Familie. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist eine Familie zu haben, ich hatte nie eine. Und wenn ich eine habe, dann wollten sie mich nicht.<<
In seinem Gesicht zeigt sich Traurigkeit, vielleicht fühlte er, dass ich es bedauerte, verstehen konnte er mich schließlich nicht. Aber es tat gut mit jemanden zu reden. Ich habe es eigentlich nie vermisst, aber jetzt tat es gut. Er machte sich keine Notizen oder antwortete mir, das war ein schönes Gefühl.
Plötzlich hörte ich ein Knurren. Der Wolf hob seinen Kopf und fletschte die Zähne. In meinem Nacken fing es an zu kribbeln. Ich drehte mich um und da sah ich ihn. Noch einen Wolf. Der sah aber ganz und gar nicht friedlich aus. Er stand auf der anderen Seite von der Felsengruppe. Er war geduckt und fletschte knurrend seine Zähne. Das war kein gutes Zeichen.
Mein Wolf, den ich gezeichnet hab, erhob sich und knurrte auch. Aber sein Knurren galt nicht mir. Seine blauen Augen fixierten den Anderen. Ich stand langsam und vorsichtig auf, ich wollte den nicht noch stärker provozieren, als meine Anwesenheit es anscheinend sowieso schon tat. Ich ging langsam zurück. Ich ließ einen gewissen Abstand zu meinem Wolf, aber ich denke, er will mich beschützen.
Ich ging immer weiter zurück. Mein Wolf stellte sich beschützend vor mich und taxierte den immer noch knurrenden anderen Wolf. Mein Wolf erinnerte mich ein wenig an Cole, wie er sich beschützend vor mich gestellt hat.
Mein Wolf drängte mich zurück und ließ den anderen nicht aus den Augen.
Auf einmal hörte ich eine Stimme. Sie klang besorgt.
>>Riley! Was machst du denn da?<<
Es war Alec. Wieso ist er im Wald? Ich dachte, das darf man nicht. Ich sah mich um und Alec kam schnell auf mich zu und schnappte sich meine Hand. Er zog mich mit schnellen Schritten von den Wölfen weg. Er sah wütend und gleichzeitig besorgt aus.
>>Was machst du denn hier? Bist du verrückt? Es ist eine Regel, dass der Wald nicht betrete werden sollte. Du könntest dich verlaufen oder auf Tiere stoßen!<<
Ich verstand ihn nicht, es war doch alles gut. Ich hatte doch meinen Wolf, der mich beschützen wollte. Er hätte mir bestimmt nichts getan. Ich blickte zurück und konnte ihn ein letztes Mal sehen, bevor wir zwischen den Bäumen verschwanden. Er stand dort steif und mit aufgestelltem Fell. Also wovor sollte ich Angst haben? Er sah nicht einmal hinter uns her. Außerdem schien Alec selber keine Angst vor den Wölfen zu haben.
>>Es war alles gut! Außerdem bist du doch auch im Wald!<<
Das waren sogar zwei Sätze. Ich war sauer, ich wollte bei meinem Wolf bleiben. Dort fühlte ich mich wohl. Alecs Hand brannte auch meiner. Ich riss mich los. Alec fuhr sich wild durch seine braunen Locken.
>>Ich wohne hier in der Nähe, ich bin im Wald aufgewachsen! Aber wenn man nicht weiß, wie man mit Wölfen umgeht, oder in welchem Gebiet man sich aufhalten sollte, sollte man nicht in den Wald gehen!<<
Er ist wütend. Aber bestimmt nur, weil er sich Sorgen gemacht hat oder?
Ich zuckte nur mit den Schultern. Ich wäre am liebsten zurück gelaufen, wo ich mich wohl fühlte und frei sein konnte. Frei von Erinnerungen und Gefühlen.
Alec beruhigte sich etwas.
>>Ich bringe dich jetzt zu dir nach Hause. Die Sonne geht bald unter.<<
Ich lief widerwillig mit und hoffte, er würde meinen Betreuern nichts davon erzählen.

Die Veränderungen

 

Als wir ankamen hatte ich Glück, Alec blieb an der Pforte stehen.
>>Riley, bitte gehe nicht mehr in den Wald. Wir sehen uns morgen.<<
Ich nickte nur dankbar, dass er meinen Betreuern nichts erzählt. Die Sonne war mittlerweile untergegangen, das Abendessen habe ich verpasst. Das gibt Ärger, aber ich hatte auch gar keinen großen Hunger.
Ich schloss die Tür auf und aus dem Wohnzimmer kam sofort meine Betreuerin.
>>Riley! Wo warst du? Das Abendessen ist schon seit einer halben Stunde vorbei, du weißt doch, dass du dann Zuhause sein sollst!<<
Sie war ein ärgerlich aus und in ihrer Stimme klang der Vorwurf mit. Es war mir egal. Sie machte mich wütend. Die Wut kochte in mir hoch. Das Feuer in meiner Brust drohte meinen Körper einzunehmen.
>>Das ist nicht mein Zuhause, es tut mir leid, ich habe einmal die Zeit vergessen, du kannst mich bestrafen, es ist mir egal!<<
Meine Stimme klang provokativ, aber meine Betreuerin war zu perplex, dass ich ihr geantwortet habe, um auf meine Worte zu reagieren. Ich fuhr gleich fort, ich wollte einfach selber entscheiden was ich machte, ich wollte nicht bevormundet werden.
>>Es ist mein Leben und wenn ich raus möchte, gehe ich raus und wenn ich länger bleiben möchte, dann bleibe ich länger. Es nervt mich, dass ihr mir total dämliche Vorschriften macht, dass ich mein Zimmer nicht abschließen darf, dass ich nicht einmal mehr einen Block mit in die Schule nehmen darf!<<
Ich stellte mich bedrohlich vor ihr auf und funkelte sie wütend an. Ich wollte, dass sie mich anschreit, ich wollte zurückschreiben. Ich wollte Dampf ablassen. Aber meine Betreuerin setzte einen sorgenvollen Blick auf.
>>Hast du Drogen genommen?<<
Ich schnaubte. Sah ich etwa so aus, als hätte ich Drogen genommen? Nur weil ich etwas sagte? War es so erschreckend? Konnte sie nicht einfach glücklich sein, dass sie endlich ein paar Worte aus mir heraus bekommen hat, anstatt gleich falsche Vorurteile fällt? Ich rannte an ihr vorbei nach oben in mein Zimmer.
Meine Betreuerin rief mir noch etwas hinter.
>>Riley warte!<<
Ich knallte als Antwort einfach meine Tür zu. Es war mir egal, dass ich normalerweise nicht wütend werde, ich ließ es einfach raus. Ich machte mich Bett fertig und ging schlafen. Ich fühlte mich ziemlich erschöpft, als die Wut wieder verflog.

Am nächsten Morgen klingelte der Wecker erst um sechs. Heute durfte ich nicht Duschen, wir hatten strickte Duschzeiten, ich bin erst heute Abend wieder dran.
Das nervt mich total, immer diese Vorschriften. Das geht einem doch auf die Nerven.
Plötzlich hörte ich Handyklingeln. Ich wunderte mich ziemlich stark, weil ich kein Handy hatte, davon bekam ich immer starke Kopfschmerzen. Aber wessen Handy klingelte so laut, dass ich es hörte? Der Junge gegenüber war zu depressiv um ein Handy zu haben. Das ist echt merkwürdig. Ich versuchte den Klingelton zu erlauschen, aber plötzlich piepte etwas mega laut in meinen Ohren.
Aua! Ich hielt meine Hände gegen die Ohren, kniff meine Augen zu und krümmte auf den Boden. Das tat weh. Ich hatte Angst, dass mir das Trommelfell platzte. Woher kommt das und warum hört das kein Anderer? Ich versuchte meine Augen zu öffnen und bemerkte, das mein Wecker noch piepte und ich versuchte ihn irgendwie auszumachen, das gestaltete sich schwieriger als ich dachte, weil es zu laut war. Endlich kam ich mit dem Ellenbogen auf den Ausschaltknopf und dann war das Piepen auch weg. Kam das Piepen von meinem Wecker? Habe ich ihn aus versehen so laut gestellt? Das verstand ich nicht, warum hat denn sonst keiner etwas gehört.
In meinen Ohren klingelte es noch leise nach.
Ich machte mich fertig, das Essen begann gleich und nach meinem Ausraster von gestern, wollte ich pünktlich sein.
Ich ging nach unten und bekam leichte Kopfschmerzen, was ist denn heute nur los mit mir? Es war alles so laut. Ich hörte alles viel deutlicher. Das Kauen der anderen, das Kratzen der Gabel auf dem Teller, das Einschütten von Getränken in Gläser, das dauerhafte Klicken des Kugelschreibers der Betreuerin und das Pfeifen des Betreuers.
Ich rieb mir meine Schläfe. Es pochte in meinem Kopf und es rauschte in meinen Ohren. Ich blickte von einem Geräusch zum anderen, was ist nur los mit mir, dass ich das alles so laut hörte.
Plötzlich sprach die Betreuerin mich an. Und ich wandte mich zu ihr.
>>Guten Morgen Riley! Bist du wieder entspannt?<<
Sofort war alles wieder ruhiger und nicht mehr deutlich zu hören.
Ich antwortete ihr nicht, meine Kopfschmerzen waren leider nicht abgeklungen.
Sie sah mich besorgt an.
>>Ist alles in Ordnung bei dir? Kopfschmerzen, Schüttelfrost?<<
Vielleicht wollte sie wieder auf Drogen anspielen, aber darauf hatte ich keine Lust. Ich drehte mich einfach um und rannte nach draußen. Ich brauchte frische Luft. Ich hatte sogar meinen Zeichenblock noch im Rucksack, den ich jetzt gar nicht kontrollieren lassen hab. Meine Betreuerin lief mir bis zur Tür hinterher und rief nach mir.
>>Riley warte! Jetzt bleib stehen und laufe nicht weg!<<
Aber ich war schneller, ich sprang in einem Satz über die ca. 1,50 Meter hohe Pforte und war weg. Ich hielt an der Bushaltestelle und setzte mich ins Bushäuschen. Die Sonne blendete mich und ich starrte einfach nur auf die Straße. Wie konnte ich über diese Pforte springen? Das ist doch viel zu hoch. Ich meine, ich bin ja schon wirklich groß mit meinen 1,78 Meter. Aber trotzdem dürfte ich nicht über diese Pforte springen können, aber ich konnte es, das war vielleicht der Adrenalin.
Endlich kam der Bus an, hielt und öffnete die Tür.
Sofort kam mir ein Schwall schrecklicher Geruch entgegen und ich musste mir die Nase zuhalten. Es roch so stark nach Schweiß, dass es in meiner Nase brannte. Der Geruch nach vergammelten Essen rief in mir eine starke Übelkeit hoch und mir wurde schwindelig. Ich hatte Angst, dass ich gleich kotzen musste. Der Busfahrer wurde ungeduldig und schnauzte mich an.
>>Was ist jetzt? Steigst du ein?<<
Meine Aufmerksamkeit richtete sich auf den Busfahrer und schon roch es wieder ganz normal. Ich war total verwirrt, was passiert mit mir? Werde ich krank? Habe ich mir vielleicht gestern eine Krankheit bei dem Wolf eingefangen?
Ich stieg erst mal schnell in den Bus ein, bevor der Fahrer noch wütender wurde, als er es eh schon war. Ich setzte mich auf meinen üblichen Platz, ganz hinten, wo niemand saß. Ich holte meinen Zeichenblock raus und betrachtete die Wolfszeichnungen von gestern. Ich habe insgesamt drei. Die erste ist die Zeichnung, wo ich den Wolf erfunden hatte und die letzten beiden Zeichnungen waren von meinem Wolf. Auf der letzten fehlte noch der Feinschliff, weil der andere Wolf plötzlich da war. Ich begann eine erneute Zeichnung aus meinen Erinnerungen von beiden Wölfen. Ich wurde gerade fertig, als der Bus auf den Parkplatz abbog und anhielt. Ich stieg aus und schnupperte die frische Luft. Sie roch irgendwie nach Sommer. Es gefiel mir, es war ein schöner Duft mit einer blumigen Note.
Ich steuerte gerade auf den Eingang zu, als ich Cole und Alec erblickte. Sie unterhielten sich beide ziemlich ernsthaft. Ich fixierte sie und plötzlich hörte ich Alecs Stimme, als wäre er direkt neben mir, dabei stand ich ca. 100 Meter weiter weg.
>>Was ist, wenn ihr etwas passiert wäre?<<
Cole sah genau in diesem Moment zu mir und er schüttelte kaum merklich den Kopf. Alec sah auch zu mir und verstummte sofort. Ich wurde rot, ich fühlte mich total ertappt, dabei wollte ich sie überhaupt nicht belauschen. Das nächste was Alec sagte, verstand ich leider nicht mehr.
Ich ging zu den Beiden und Cole lächelte leicht.
>>Hey.<<
Alec verdrehte die Augen und sah seinen großen Bruder genervt an. Mir nickte er nur zerknirscht lächelnd zu, was ich erwiderte, was wiederum einen kurzen traurigen Schatten über Coles Gesicht huschen ließ, weil ich ihn nicht begrüßt hatte. Was ist daran so besonders, er weiß doch, dass ich nicht wirklich redete.
Irgendetwas roch plötzlich so erdig, so leicht würzig und nach Wald. Es roch wie in dem Wald gestern nur sehr viel schwächer. Das muss von den Wald kommen, wenn sie dort wohnten.
>>Ihr riecht nach Wald.<<
Alec und Cole sahen erst mich und dann sich überrascht an. Ich selber war auch total überrascht von mir, dass ich etwas gesagt hatte. Die Alec war zu perplex, etwas zu sagen. Aber Cole schien ein wenig erfreut zu sein.
>>Ich weiß, dass ist unser Markenzeichen.<<
Damit zwinkerte er mir zu und ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Es musste schön sein, im Wald zu wohnen, frei von allem zu sein.
>>Dürft ihr Besuch bekommen?<<
Woher nahm ich denn die ganzen Worte? Es erinnerte mich an meinen Wolf, ich wollte ihn wieder sehen. Alec sah immer verblüffter aus, bevor er etwas sagen konnte, mischte Cole sich ein.
>>Du willst nur wieder in den Wald. Wir nehmen selten Besuch mit zu uns, aber für dich würden wir eine Ausnahme machen.<<
Er lächelte erfreut und ich lächelte zurück. Aber jetzt mussten wir uns beeilen, es klingelte nämlich gleich. Alec und ich verschwanden in unseren Klassenraum und ich holte meinen Block raus und fing wieder an zu zeichnen, der Unterricht interessierte mich sowieso nicht, Geschichte hatten wir erst danach und den Aufsatz hatte ich geschrieben. Ich hatte da irgendetwas hin geschrieben, um die Lehrerin zufrieden zu stellen. Ich bemerkte zwar, dass Alec mir wieder heimlich zuschaute, aber es störte mich nicht mehr so stark, wie es am Anfang der Fall war. Irgendetwas veränderte sich mit mir. Vielleicht war es wirklich der Wolf. Die Begegnung gestern war befreiend, ich konnte etwas fühlen und das war schön. Es störte mich nicht mehr ganz so doll, dass es alles anders ist. Ich hatte das Bedürfnis, zu lächeln, das kannte ich nicht von mir. Aber er würde bestimmten Leuten, wie meiner Therapeutin und meinen Betreuern freuen.
Es klingelte und ich hatte eine weitere Zeichnung fertig. Diese war neu. Es zeigte zwei Wölfe. Einer davon war mein Wolf von gestern und der andere hatte meine Augen. Meiner Therapeutin würden bestimmt ganz viele Psychologische Deutungen einfallen, ich werde ihr nicht davon erzählen, es soll mein Bild sein, mein Privates. Ich musste nur noch ein geeignetes Versteck finden, damit die Betreuer es nicht fanden, es sollte niemand sehen. Auch Alec nicht. Ich versteckte es schnell in meiner Tasche in einem Schulbuch. Alec sah mich ein wenig erstaunt an, sagte aber nichts dazu.
Als die Lehrerin herein kam, legte ich meinen Block erst einmal beiseite. Ich legte den Aufsatz offen auf dem Tisch, damit sie ihn auch wirklich sah, wenn sie kam. Sie erteilte uns Aufgaben aus dem Buch zu bearbeiten und kam tatsächlich zu mir. Brav lächelte ich sie an. Sie zog nur die Augenbrauen hoch, nahm meinen Aufsatz in die Hand und verschwand mit ihm ohne ein Wort zu sagen an ihren Tisch. Sie fing an ihn zu lesen und ich versuchte mich tatsächlich einmal auf diese Aufgaben zu konzentrieren. Es gelang mir leider nur nicht wirklich.
Ich hörte ein Handy klingeln und niemand sah auf oder griff nach seinem Handy. Ich sah aus dem Fenster, dort stand Cole bei den Fahrradständern und ging gerade an sein Handy. Als ich seine Stimme hörte und das Klingeln des Handys somit aufhörte.
>>Was ist denn? Ich habe Unterricht.<<
Ich verstand es nicht, wieso hörte ich die Stimme von Cole? Begann ich zu halluzinieren? Werde ich krank? Träumte ich vielleicht einfach nur? Es könnte ja sein, dass dies nicht die richtige Realität war und der Wolf mich gestern angegriffen hat und dies ein Koma Traum war.
Ich verstand nicht, was Cole gesagt wurde, aber sein Gesichtsausdruck wurde sehr ernst. Er sah in meine Richtung und steckte das Handy mit einem kurzem
>>Danke.<< wieder weg. Er lehnte sich gegen den Fahrradständer, verschränkte seine Arme vor seiner Brust und sah, in Gedanken versunken, auf unseren Klassenraum in die Richtung, wo ich saß.
Mein Blick huschte zu der Lehrerin, aber die war noch beschäftigt meinen Aufsatz zu lesen, deshalb schielte ich unauffällig durchs Fenster nach draußen zu Cole. Dessen Lippen bewegten sich, aber ich hörte nichts. Mit wem sprach er? Er stand dort ganz alleine, außerdem sah er so aus, als würde er die Worte murmeln.
Ich bemerkte, dass Alec sich neben mir anspannte. Ich sah zu ihm, aber er starrte weiter in sein Buch. Allerdings sah er nicht so aus, als würde er die Aufgabe lesen oder überhaupt über dieses Thema nachdachte. Auf seiner Haut bildete sich Gänsehaut. Ist alles in Ordnung mit ihm?
Er drehte sich zu mir und sah mich fragend an. Bestimmt fühlte er sich beobachtet. Schnell sah ich in mein Buch. Ich konnte mich nicht konzentrieren, egal wie sehr ich mich anstrengte, oder wie oft ich mir die Aufgabe durchlas.
Ich hörte Alec okay sagen und blickte ihn an. Aber er sah in wieder in sein Buch und auf der anderen Seite irgendwie auch wieder nicht. Er schien gar nicht in diesem Klassenraum zu sein. Ich sah zurück zu Cole, aber dieser war nicht mehr da. Heute war ein echt merkwürdiger Tag. Vielleicht war es wirklich nur einen Traum und ich musste einfach nur irgendwie aufwachen?
Ich kramte einen besonders spitzen Stift aus meiner Federtasche und wartete bis es zum Ende der Schulstunde klingelte. Dann flitzte ich auf Toilette und schloss mich in einer der Kabinen ein. Ich krempelte meinen Arm hoch und nahm den Stift. Mit voller Wucht stieß ich ihn mir in den Arm.
Gleichzeitig spürte ich einen stechenden Schmerz und ich spürte, dass sich etwas in meinem Arm anstaute, vielleicht war er eingeschlafen und ich wachte jetzt auf. Ich schloss die Augen und wartete.

Doch kein Traum

 

Ich wartete weiter. Der Schmerz zog sich jetzt bis in meine Schulter. Mein Arm fing an zu kribbeln. Es war aber nicht das Kribbeln, das beim Einschlafen des Armes entstand. Es war das Kribbeln, dass Blut über den Körper fließt. Ich habe es so oft gespürt. Ich musste nicht einmal meine Augen öffnen und ich wusste es. Ich habe nicht geträumt. Dieser ganze verrückte Tag war real. Der Stift in meinem Arm war real. Das Blut, welches über meinen Arm fließt, war real.
Plötzlich zog ein metallischer Geruch in meine Nase. Es war der Geruch vom Blut. Ich kann diesen Geruch von allen anderen Gerüchen unterscheiden, aber er war nie zuvor so intensiv. Ich riss leicht panisch meine Augen auf. Der Stift steckte in der Mitte meines Unterarms, zum Glück nicht direkt in der Pulsader. Ich wusste aus der Notaufnahme, dass ich ihn nicht einfach herausziehen sollte, ich könnte eventuell eine andere Ader getroffen haben. Ich rupfte das Klopapier auseinander und versuchte es um den Stift herum auf meinen Arm zu drücken.
Plötzlich ging die Tür auf und jemand kam in die Toilette. Ich versuchte leiser zu atmen. Das Blut tropfte auf den Boden und ich hörte jeden einzelnen Tropfen auf dem Boden aufklatschen. Es war so laut, als würde ein Glas auf dem Boden zerspringen. Es war das Adrenalin und die Panik. Ich hörte das Mädchen atmen, es stand direkt vor meiner Kabinentür. Ihr Herzschlag ging jetzt auch schneller und ein Schweißtropfen perlte jetzt von ihrer Stirn. Es roch penetrant.
Ich drehte gleich durch, warum ging sie nicht weiter?
Sofort bekam ich die Antwort durch ein Klopfen an meiner Kabinentür.
>>Ist darin alles in Ordnung? Bist du verletzt? Ist alles okay?<<
Die Stimme versetzte mich in Panik, es war Raya. Warum klopfte sie? Warum klang ihre Stimme so sorgenvoll. Meine Augen huschten von meinem Arm über die Bluttropfen zur Türklinke. Ich schloss meine Augen und hoffte einfach, dass meine Stimme nicht ganz zu abgebrochen klang.
>>Alles ok.<<
Rayas Atmen stockte einmal kurz.
>>Riley? Bist du das? Cole und Alec suchen dich schon überall!<<
Verflucht, woher wusste sie, dass ich es war? Ich sagte doch nie etwas, woher erkannte sie dann meine Stimme? Vielleicht war es offensichtlich, da ich so kurz angebunden war. Was sagte ich jetzt? Wird sie gehen? Ist sie hartnäckig?
>>Es ist wirklich alles in Ordnung. Mir geht es gut!<<
Das waren schon viel zu viele Worte für mich, jetzt musste sie doch wieder gehen. Aber Raya war wirklich hartnäckig.
>>Ist das der Geruch von Blut?<<
Jetzt klang sie wirklich sehr besorgt. Was machte ich jetzt? Der Unterricht geht gleich weiter, Raya stand vor der Tür und bestimmt sagte sie gleich Alec und Cole Bescheid. Es würde mir nicht wirklich die Gelegenheit geben, unauffällig zu verschwinden. Und schon gar nicht mit einem Stift in einem Arm.
>>Ich habe mich nur am Papier geschnitten, ich fühle mich ein wenig bedrängt.<<
>>Okay tut mir leid, ich muss eh in den Unterricht!<<
Genau in diesem Augenblick klingelte es zur nächsten Stunde und die Toilettentür fiel leise ins Schloss. Ich war so erleichtert, dass sie es mir abkaufte, dass ich langsam durchatmete. In 5 Minuten sollten eigentlich alle Schüler in ihren Klassen sitzen, dann dürfte ich es ungesehen aus der Schule schaffen. Aber dann wohin? Ich kann nicht einfach in ein Krankenhaus gehen und meinen Arm verarzten lassen, ich bin minderjährig.
Nach 5 Minuten hin und her, öffnete ich langsam die Kabinentür. Es war wirklich keiner mehr hier. Ich schlich zum Waschbecken. Ich tropfte weiterhin und hinterließ eine Blutspur. Ich fluchte vor mich hin. Es war doch verrückt, hätte es nicht ganz einfach ein Traum sein und ich wäre aufgewacht? Das hätte mir jetzt einiges erspart.
Ich nahm noch viele Tücher mit und hielt mir verzweifelt meinen Arm fest. Langsam wurde er taub. Den Schmerz konnte ich ziemlich leicht ignorieren, die Knochenbrüche, die ich schon hatte, waren um einiges Schlimmer gewesen. Ich öffnete langsam die Toilettentür. Gerade verschwand noch ein letzter hetzender Schüler um die Ecke und es war keiner weiter zu sehen. Ich lief langsam und leise ziemlich nahe an der Wand zur Fluchttür. Wenn ich Glück hatte war sie offen. Wenn ich durch die Eingangstür in den Hof gerannt wäre, hätten mich vielleicht Schüler aus den Fenstern gesehen. Aber die Fluchttür führte direkt an den Rand des Waldes und dort konnte ich in den Schatten der Bäume verschwanden und unentdeckt bleiben.
Mit einem Blick zurück versicherte ich mich, dass niemand im Flur war, bevor ich die Tür aufstieß.
Mir wehte ein leichter Hauch in die Haare und führte den Duft von dem Wald in meine Nase. Ich sah mich nicht um und setzte den ersten Schritt über die Türschwelle. Sofort wurde ich herumgerissen und an die Wand gedrückt. Eine Hand hielt meine auf meinen Arm und die andere hielt meinen Mund zu.
Panik schoss in mir hoch. Was passierte hier? Die kalte Angst kroch in meinen Körper und ließ meine Adern gefrieren. Ich hatte im ersten Moment Angst, dass man mich vielleicht entführte. Aber ich sah in das ziemlich wütende Gesicht von Cole. Als er sich sicher war, dass ich ihn erkannt hatte, ließ er mich sofort los und raufte sich die Haare. Meine Lippen waren erstarrt und meine Kehle ausgetrocknet.
Cole nahm meinen Arm hoch und sah ihn sich an. Wut war in seinem Gesicht deutlich zu erkennen.
>>Was soll das? Du hast die falsche Tür gewählt. Alec wartet an der Eingangstür auf dich. Er hätte dich vielleicht verständnisvoller empfangen. Ich verstehe dich aber nicht! Ich verstehe nicht, warum du mir nicht vertraust. Ich verstehe, dass du verletzt bist, Narben hast. Auf deinem Körper und auf deiner Seele. Ich verstehe, dass du nicht reden willst, dass du Angst hast. Ich verstehe, dass du Zeit brauchst. Ich verstehe, dass du deinen eigenen Weg mit deiner Vergangenheit gehen willst. Das alles verstehe ich. Aber ich verstehe nicht, warum du nicht damit zu mir gekommen bist?
Ich versuche dir zu helfen. Ich bin nicht der tolle Kerl, der dich auf Händen trägt, der lieber schweigt, anstatt dich herauszufordern. Ich bin der Kerl der tackert, anstatt die Wunden brav verklebt. Ich würde dich aber niemals in den Stich lassen. Ich würde niemals etwas tun, was dich verletzen würde! Ich würde niemals eine nicht vollkommene Narbe herausfordern. Ich weiß nicht, was in die vorgeht. Ich bin ahnungslos. Alec würde dich jetzt nur traurig angucken, aber ich frage dich: Was soll das? Ich will nicht wissen, warum du dir einen Stift in deinen Arm gerammt hast, ich will lediglich wissen, warum du vorher nicht zu mir gekommen bist, oder jetzt?<<
Cole sah leicht erschöpft aus. Er schloss die Augen und ließ die Hände sinken. Er drehte sich von mir weg und ließ sich gegen die Wand fallen und an ihr herunter auf den Boden sinken. Er ließ seinen Kopf in seinen Händen fallen und rieb sich die Augen.
Ich war überrascht. So viel hat schon lange nicht mehr jemand zu mir gesagt. Und schon gar nicht so direkt. Warum war er denn enttäuscht? Ich kannte ihn doch nicht einmal. Aber er hatte recht, viele die an mich heran kommen wollten, wollten verständnisvoll sein und mir Zeit geben. Oder sagen mir immer, du musst dich damit auseinandersetzen. Niemand hat einmal zu mir gesagt, dass er mich so nimmt wie ich bin.
Ich setzte mich neben Cole und verschmierte das Blut ein wenig an meiner Kleidung.
>>Es tut mir leid.<<
Cole sah mich traurig an.
>>Ich erwarte zu viel. Ich verstehe, dass du lieber dem Wolf, als mir vertraust. Ich werde dich zu mir bringen. Meine Mutter wird dir deinen Arm nähen können. Ich werde Alec zurück in die klasse schicken, damit nichts auffällt.<<
Ich nickte ihn an. Er verschwand für ein paar Minuten und ich bewegte mich nicht weg. Vielleicht war der Wolf gestern ein Zeichen. Er wohnte im Wald, genau wie Cole und Alec. Der Wolf schien mir zu vertrauen und Alec hat er auch nicht angegriffen, vielleicht zeigte er mir damit, dass ich vertrauen sollte.
Cole kam wieder und bat mir seine Hand an. Zögernd nahm ich sie. Er hielt sie nur, solange es nötig war. Dann sah er mich wieder etwas fröhlicher an.
>>Wenn du möchtest, kann ich dir noch ein wenig zeit alleine im Wald bieten, sobald du zusammen geflickt bist.<<
Ich lächelte. Ich war dankbar, dass er nicht weiter nach dem Grund fragte, wieso ich einen Stift im Arm hatte. Er nahm es hin. Er sah mich nicht an, als würde ich verrückt sein. Er machte mir keine weiteren Vorwürfe. Direkten Vorwurf, dass ich mich verletzt hatte, hat er sowieso nicht gemacht. Alec hätte mich wirklich traurig angesehen.
Ich wüsste aber nicht, wie ich jemanden erklären sollte, warum ein Stift in meinem Arm steckte. Es war eigentlich nicht mit der Absicht mich zu verletzen, sondern, damit ich aufwachte. Das war im Nachhinein total absurd, also würde ich es niemals jemanden erklären und es gibt wahrscheinlich auch niemanden, der sich dafür interessiert. Selbst wenn Cole den Grund wissen wollen würde, würde er wahrscheinlich nur lachen. Damit könnte ich nicht leben, ich könnte es nicht ertragen, der Gedanke daran allein war schon schwierig.
Cole drehte sich zu mir um, als wir am Waldrand standen.
>>Es gibt Gesetze im Wald, die solltest du beherzigen. Es gibt Gebiete, in denen unsere Familie nicht darf. Nicht alle Wölfe sind tolerant uns gegenüber, aber in denen, ich dich bringe, dort werden sie dir nichts tun. Ich möchte dich einfach um den gefallen bitten, es zu berücksichtigen.<<
Er sah mich an und studierte meine Gesten und Mimik bei seinen Worten. Ich verstand und nickte. Ich habe gestern schon begriffen, dass nicht der ganze Wald über meine Anwesenheit erfreut war. Cole lächelte leicht.
>>Und versuche meine Familie so höflich wie es geht zu ignorieren, teilweise sind sie ein bisschen eigen. Ich hoffe du wirst nur meine Mutter kennenlernen, denn nicht alle werden erfreut über deinen Besuch sein.<<
Ich verdrehte die Augen, ich kam schon mit schlimmeren Personen aus, da werden mir schon ein paar Waldbewohner keine Schwierigkeiten bereiten. Cole ging voraus in den Wald, ich folgte ihm vorsichtig.
Ich konnte erkennen, dass er sich hier auskannte, er wusste, wie man sich im Wald bewegte, er war leise und bedacht. Er tat nicht einen falschen Schritt. Ich dagegen stolperte über die ein oder andere Wurzel, zum Glück konnte ich mich jedes mal abfangen, bevor ich mit dem Waldboden Bekanntschaft machte.
Bis auf das eine Mal. Ich blieb wieder an einer Wurzel hängen, dieses Mal strauchelte ich zu stark nach vorne, dass ich es hätte verhindern können, zu fallen. Aber Cole war sofort zur Stelle und fing mich auf. Ich bemerkte seine warme Körpertemperatur. Aber sie brannte mittlerweile nicht mehr all zu stark auf meiner Haut. Die Berührungen wurden für mich angenehmer, das kannte ich nicht. Ich begann wahrscheinlich Cole zu vertrauen und mich in seiner Gegenwart wohler zu fühlen.
Cole grinste ein wenig über meine Tollpatschigkeit.
>>Du wirst dich daran gewöhnen, wenn du öfters im Wald unterwegs bist. Irgendwann wirst du dich hier so sicher bewegen, wie ich.<<
Seine Stimme klag rau, aber leise und behutsam zugleich. Er schien im Wald offener zu werden, mehr er selbst zu sein.
Bald kamen wir zu einer Baumgruppe, die Platz machte. Es begann ein breiterer Trampelpfad und dann hing zwischen zwei Bäumen auch schon ein Schild befestigt. Darauf stand in sehr geschnörkelter Schrift: Clan der blauen Wölfe
Ich stutze ein wenig, aber Cole grinste darüber nur.
>>Beachte es nicht, es entstand noch von meinen Vorfahren, wir sind wie gesagt eine sehr eigene Familie.<<
Wir betraten das kleine Dorf. Hier war es altmodisch, es war keine Elektrizität oder nur sehr wenig zu sehen. Es standen keine Autos vor den Häusern und sie waren aus Holz gebaut. Es war wie in ein mittelalterliches Dorf zu kommen. Es waren keine gepflasterten Wege und sehr naturnahe aufgebaut.
Es gefiel mir hier.
Wir kamen zu einem Haus. Es wurde uns von einer sehr schönen Frau mit langen blonden haaren und hellbraunen Augen die Tür geöffnet. Sie begrüßte Cole mit einem Kuss auf den Kopf, dann trafen sich unsere Augen. Ihrem Blick entglitt alles. Wut und Vorwurf war jetzt in ihren zuvor sehr fröhlichem Gesicht zu erkennen. Und es galt mir.

Der Wolfsangriff

 

Ich sah verunsichert zu Cole, dieser runzelte leicht die Stirn und stellte sich zu mir.
>>Mum das ist Riley. Alec hat gestern von ihr erzählt, das Mädchen aus dem Wald. Sie hat sich verletzt, sie braucht Hilfe.<<
Er klang eindrücklich und schob mich langsam in Richtung Tür, war aber immer ein wenig voraus. Coles Mutter konnte sich nur sehr langsam von mir losreißen und sah zu Cole. Cole sah sie genau an, Verwirrtheit war deutlich in seinem Gesicht zu erkennen. Cole und seine Mutter zogen auch diese ohne Worte Kommunikation ab.
Aber ich konnte eine Sache ganz deutlich verstehen, sie wollte mich nicht hier haben. Nur warum?
Auf Coles Gesicht zeigte sich Verunsicherung und er sah schließlich zu mir.
Dann zurück zu seiner Mutter.
>>Mum bitte, sie ist nur ein Mädchen, welches Hilfe braucht! Wirklich!<<
Ich fühlte mich wieder unwohl in meiner Haut. Ich wusste nicht, dass Coles Mutter gegen mich hatte, ich tat doch nichts.
Sie knurrte noch einmal kurz auf.
>>Diese Augen! Ich kenne sie! Sie bringen nur Unheil! Wie konntest du sie hier herbringen!? Siehst du es nicht?<<
Cole sah mich intensiver an, verdrehte die Augen und blickte dann wieder zu seiner Mum. Sie sah ihn an und irgendwie schienen sie wieder zu kommunizieren, vielleicht lag es an einer sehr engen Bindung, die dies möglich macht.
Sie sah mich jetzt wieder studierend an, ihr Blick wurde weicher und freundlicher.
>>Komm erst einmal rein, ich werde deinen Arm versorgen. Es tut mir leid, ich dachte nur, ich du wärst jemand anderes. Aber Cole hat mir von dir erzählt, dass du neu hier bist, also kannst du unmöglich diese Person sein. Ich habe mich nur erschrocken.<<
Sie lächelte nett und winkte mich ins Haus.
Die Anspannung fiel langsam von meinen Schultern. Ich war mir zwar nicht sicher, ob meine Augen überhaupt jemanden ähnlich sein könnte, aber wer weiß, wie sie hier so sind. Außerdem war ich sehr erstaunt über diesen Gefühlswechsel.
Sie führte mich ins Haus. Es war sehr offen und sehr bunt gestaltet. Sie steuerte auf das Sofa zu und nickte mir zu, dass ich mich setzen sollte. Sie verschwand irgendwie tanzend und anmutig.
Cole grinste verlegen und lehnte sich gegen den Türrahmen der Eingangstür. Die Tür schloss er nicht, Sonne strahlte hinein und ließ das Haus noch offener wirken, als es sowieso schon ist.
>>Es tut mir leid. Ich habe ja gesagt, meine Familie ist ein wenig sehr eigen.<<
Seine Mutter kam wieder herein, sie hatte einen Verbandskasten in den Händen.

>>Mein Name ist übrigens Saya mit einem scharfen S.<<
Sie setzte sich vorsichtig neben mich und hielt mir fragend ihre offene Hand hin. Ich legte vorsichtig meinen Arm in ihre Hand. Dabei huschte mein Blick zu Cole, der mir aufmunternd zu nickte. Und da mein Körper der Meinung war, Cole vertrauen zu können, vertraute ich ihm auch.
Sayas Hand war sehr warm, angenehm warm. Die Wärme beruhigte das Pochen und Pulsieren meines Armes ein wenig. Langsam entfernte Saya die Tücher von meinem Arm. Manche Tücher bekam sie nicht ganz ab, weil das Blut schon angetrocknet war und die Tücher auf meiner Haut klebten. Als sie soweit es ging alle entfernt hatte, schluckte ich kurz.
Mein Arm war schon leicht angeschwollen und sehr stark gerötet um den Stift herum. Saya winkte Cole zu sich heran.
>>Hol bitte warmes Wasser aus der Küche und zwei Handtücher. Während Cole die restlichen Sachen besorgte, sah Saya sich meinen Arm näher an. Es tat weh, als sie ihn behutsam drehte. Sie sah mich an. Ihr Blick war besorgt und ernst.
>>Ich muss den Stift heraus ziehen, das könnte wahrscheinlich weh tun. Ich werde die Wunde desinfizieren und dann nähen, auch das könnte ohne Betäubung weh tun. Willst du nicht lieber in ein Krankenhaus?<<
Ich schüttelte heftig den Kopf und Angst bereitete sich aus. Wenn ich ins Krankenhaus gehen würde, würde man meine Betreuer informieren und die würden das am Ende noch als Selbstmordversuch deuten.
Saya atmete tief durch, akzeptierte meine Entscheidung aber. Cole kam mit den Sachen wieder und stellte die Schüssel mit dem Wasser auf den Tisch und reichte Saya die Handtücher. Ein Handtuch legte Saya zwischen ihrer Hand und meinem Arm, das kleinere nutzte sie um vorsichtig die angetrockneten restlichen Papiertücher und das Blut zu entfernen.
Das Wasser war angenehm, aber es ziepte ein wenig, wenn sie über den Arm strich.
Sie öffnete den Arztkoffer, als mein Arm halbwegs sauber war, es fing schon wieder an zu bluten. Sie holte eine Kompresse, Nähzeug, Verband und Desinfektionszeug heraus.
Sie legte meinen Arm auf den Tisch und nahm die Kompresse in die eine Hand. Sie sprühte das Desinfektionsmittel darauf.
Dann fasste sie mit ihrer noch freien Hand den Stift, sah mich an und zog ihn langsam heraus. Wahrscheinlich, damit er nicht absplitterte, sie sah konzentriert aus und ihre Handlungen schienen bewusst und geübt zu sein, sofort presste sie die Kompresse auf die Wunde. Es fing an zu brennen, aber das konnte ich ertragen, ohne einen Laut von mir zu geben.

Saya nähte mir den Arm relativ schnell zu, auch das ließ ich still über mich ergehen.
Saya sprach mich an.
>>Du scheinst so etwas schon öfters gemacht zu haben. Vielleicht deutete sie damit auf die verblassten Narben auf meinen Arm. Teilweise sah man, dass sie genäht wurden.
Sie hatte recht, ich wurde schon oft genäht, manchmal auch ziemlich stümperhaft von meiner Pflegemutter, damit es nicht zu stark auffiel, wenn ich zu oft in die Notaufnahme kam und zu häufig Ausreden benutzt wurden, die der Arzt durchschauen konnte. Deshalb nickte ich einfach nur.
Ich kannte den Schmerz, er kam mir vertraut vor.
Saya behandelte meinen Arm weiter und verband ihn an Ende. Sie achtete netterweise darauf, dass der Verband nicht zu dick war. Als sie fertig war, sah sie mich leicht lächelnd an.
Du kannst ruhig deinen Ärmel über das Verband ziehen, wenn du darauf achtest wird es keiner bemerke, es sei denn du bist Linkshänderin.<<
Zum Glück war ich es nicht. Ich war gut darin, Verletzungen zu verbergen, niemand wird etwas merken, außer diejenigen die es natürlich wussten. Ich sah heimlich zu Cole. Er bemerkte meinen gestohlenen Blick und setzte sich zu mir, als Saya aufstand, um die Sachen wegzuräumen.
>>Ich werde niemanden davon erzählen und niemand anderes aus meiner Familie. Darüber brauchst du dir keine Sorgen machen. Ich werde dich wieder zu meiner Mutter bringen, wenn die Fäden gezogen werden müssen.<<
Plötzlich schossen unsere Köpfe beide in die Luft.
Wir hatten es anscheinend beide gehört.
Ein tiefes verzweifeltes Heulen eines wahrscheinlich verletzten Wolfes.
Cole sprang auf und rannte hinaus, Saya folgte ihm direkt.
Schon waren beide aus meiner Sichtweite. Ich schob meinen Ärmel den Arm hinunter und versteckte meinen Verband, dann stand ich auch auf und folgte den beiden langsam. Hörten sie nicht so oft verletzte Wölfe heulen?
Schließlich wohnten sie sozusagen mit den Wölfen zusammen in dem Wald. So wie sich die beiden Wölfe gestern an geknurrt hatten, würde es doch bestimmt öfters Kämpfe geben, oder etwa nicht?
Draußen liefen mehrere Menschen in die Richtung des Dorfeingangs. Cole allen voran. Saya rannte an mir vorbei zurück ins Haus und besorgte schon wieder das Verbandszeug. War jemand verletzt worden? Wurde jemand von einem Wolf angegriffen?
Cole verschwand kurz im Wald und kam zurück. Er trug jemanden in seinen Armen. Einen kleinen Jungen. Sein Kopf mit seinen schwarzen Locken hing hinunter. Blut strömte aus vielen Wunden, des kleinen Jungens. Er war von der Größe vielleicht gerade einmal 8 Jahre alt. Neben Cole lief ein etwas älteres Mädchen. Sie war auch blutüberströmt, schien aber nicht verletzt zu sein. Die Tränen liefen ihr wie verrückt über die Wangen. Sie war vielleicht 10 Jahre alt. Warum waren sie auch alleine im Wald? Ich dachte, sie wissen, wohin sie durften und wohin nicht. Cole hat doch gesagt, dass sie sich auskannten.
Cole rannte gleichmäßig in meine Richtung, wahrscheinlich um in das Haus seiner Mutter herein zu laufen, die gerade das Wohnzimmer provisorisch als Arztzimmer einrichtete.
Ich hörte bald die Stimme des kleinen Mädchens. Sie klang verzweifelt und besorgt.
>>Es war Niemandsland, das schwöre ich. Er ist abgerutscht und auf Niemandsland gefallen, es gehörte nicht in ihren Territorium! Wird er wieder?<<
Der arme kleine Junge, die Wölfe scheinen teilweise echt aggressiv zu sein. Ist es dann nicht sicherer, wenn kleine Kinder hier nicht aufwachsen?
Cole lief an mir vorbei ins Wohnzimmer und legte den kleinen Jungen auf den Tisch. Er drehte sich um und wollte wieder raus, aber seine Mutter packte ihn an dem Arm.
>>Cole, lass es gut sein! Schicke mir lieber noch Verstärkung und nimm das Mädchen mit, sie wird dich brauchen!<<
Sie versuchte beruhigend auf Cole einzuwirken. Aber Cole war sehr wütend. Er riss sich knurrend los.
>>Sie ihn dir an, Mum! Ein Kind! Sie haben ein Kind angegriffen! Wie konnten sie so etwas tun? Er ist doch erst 8!<<
Er rannte wieder hinaus an mir vorbei in den Wald.
Ich kam mir überflüssig vor, wusste aber auch nicht was ich wirklich tun sollte, also ging ich hinein zu dem Mädchen. Auch sie hatte schwarze Locken, aber waren ihre etwas länger, als der des Jungen. Vielleicht waren sie Geschwister, ich konnte in ihren fast schwarzen Augen den Schmerz sehen.
Ich fasste mich ans Herz und sprach sie an.
>>Hey, vielleicht solltest du noch ein wenig Hilfe holen und dann um deinen Bruder beten!<<
Ich glaube nicht wirklich ans Beten, aber ich wusste, dass für manche Menschen, das ein sehr wichtiger Aspekt ist. Vor allem, wenn es um ein Menschenleben geht.
Das Mädchen sah mir in die Augen und für einen kurzen Augenblick hörten ihre Tränen auf zu fließen. Sie nickte nur stumm und rannte wieder hinaus.
Ich tat es ihr nach, ich wollte nicht hier bleiben, ich wollte nicht eventuell im Weg stehen
Ich hörte im Wald verschiedene Wölfe heulen.
Ich fragte mich, was Cole jetzt tat.
Ich setzte mich auf einen ziemlich großen Stein am Rand eines Trampelweges und wartete auf Cole. Ich sollte vielleicht nicht gerade zu dieser Zeit in den Wald gehen.
Mir kamen zwei eilende Frauen entgegen.
Das kleine Mädchen rannte ein paar Häuser weiter in die Arme eines Mannes.
Es war sehr still hier im Dorf.
Die Menschen gingen ihren Tätigkeiten bedächtig nach.
Eine Frau befreite leise weinend Unkraut aus ihrem Bett.
Eine andere fegte leise ihre Veranda.
An vielen Fenstern sah man Menschen Beten.
Es war auch laut im Dorf.
Zwei Männer stritten sich.
Ein weiterer Mann schrie irgendetwas in den Wald.
Zwei Jungs in meinem Alter fingen sich an zu prügeln.
Immer wieder hörte ich hier ein Knurren, dort ein Heulen.
Irgendwann kamen mehrere Kinder in verschiedenem Alter ins Dorf.
Manche waren aufgebracht.
Manche waren fröhlich und wurden traurig.
Fast alle Menschen sahen immer wieder zum Haus von Cole.
Irgendwann kam Alec ins Dorf. Er schien verwirrt und rannte erst einmal zu der nächsten Person, die er erreichen konnte. Er wurde wütend und traurig zugleich, als er von der Nachricht erfuhr. Er rannte zu mir.
>>Wo ist Cole?<<
Ich sah in den Wald und er verstand. Alec knurrte leise vor sich hin und rannte dann an mir vorbei ins Haus. Ich fühlte mich wieder überflüssig. Ich kam hier nicht weg. Ich kannte nicht den sicheren Weg durch den Wald zu meiner Wohngruppe. Ich wollte mich nicht verlaufen oder wieder irgendeinem Wolf begegnen. Nicht nach dem was passiert war. Ich wollte den Wölfen erst einmal aus dem Weg gehen, obwohl ich mir sicher war, dass mein Wolf nichts damit zu tun hatte.
Alec kam wieder zu mir und setzte sich neben dem Stein auf dem ich saß auf den Boden. Er war bedrückt und besorgt.
>>Der Junge wird es schaffen. War Cole sehr wütend, als er in den Wald ging.<<
Ich habe Cole schon öfters wütend gesehen, ich konnte trotzdem keine Definition erstellen, wie wütend er war. Deshalb zuckte ich nur mit den Schultern und murmelte leise.
>>Ich weiß es nicht.<<
Alec sah mich nicht einmal überrascht an, dass ich ihm wirklich geantwortet hatte. Ich selber konnte darüber auch nicht nachdenken. Alles woran ich dachte, war der kleine Junge und Cole. Wie er ihn getragen hatte und wie wütend er in den Wald rannte.
Plötzlich erschien ein Schatten aus den Bäumen des Waldes hervor.
Diese schwarzen total durcheinander aufgewirbelten Haare erkannte ich sofort.
Es waren Cole seine. Seine Augen stachen auch sofort hervor. Es war ein sehr starker Kontrast, dunkle Haare und so helle Augen. Aber es stand ihm, es erzeugte etwas geheimnisvolles.
Alec sprang sofort auf und rannte ihm entgegen.
>>Was hast du getan?<<
Cole schüttelte ihn ab und ignorierte ihn. Er sah etwas ruhiger aus und entspannter.
Alec ließ sich aber nicht so leicht abwimmeln, er lief vor Cole und versperrte ihn den Weg.
>>Cole!<<
Cole wurde wieder wütend.
>>Alec! Ich habe nichts getan! Ich habe nur diesen kleinen Jungen verteidigt!<<
Cole stieß Alec zur Seite und ging weiter auf mich zu.
Alec seufzte, folgte Cole aber nicht weiter. Cole versuchte mich anzulächeln, es wurde aber eher eine Grimasse.
>>Ich möchte dir etwas zeigen, vertraust du mir soweit?<<
Ich stand vorsichtig auf und hielt Cole meine Hand hin. Wenn er mich von diesem Ort weg brachte und ich die Gedanken an den Jungen für einen Moment vergessen konnte, dann wollte ich es. Ich wollte für einen Moment vergessen.
Es war die Geste des Vertrauens.
Coles Hand kam immer näher.
Auf halber Mitte berührten sich erst nur unsere Fingerspitzen.

Es knisterte ein wenig und ich überwand meinen kompletten Schatten, ich bewegte meine Hand in Cole seine.
Es fühlte sich wunderbar an, ich wusste, Cole würde mich niemals los lassen.
Es kribbelte in meinem Herzen.
Ich kannte das Gefühl nicht.
Aber ich wusste sofort was es war.

Vertrauen.

Das erste Mal Vertrauen

 

Cole lächelte und zog mich sanft in den Wald hinein. Als wir an Alec vorbeikamen, dachte ich, Alec würde mich traurig ansehen, weil er sich erhofft hätte, dass ich ihm als erster vertraute. Aber er sah mich nur zufrieden lächelnd an. Er schien glücklich zu sein.
Es war mir nicht unwohl, dass Cole immer noch meine Hand hielt. Ich wollte sie gar nicht mehr loslassen. Ich fühlte mich stärker mit ihm. Ich fühlte mich beschützt und sicher. Cole führte mich durch den Wald und gab mir Halt, wenn ich stolperte oder strauchelte.
Ich vertraute Cole, obwohl ich keine Ahnung hatte, wohin er mich führen wird. Ich fand es einfach nur schön, ich fühlte mich schwerelos. Cole drehte sich öfters einmal zu mir herum und grinste mich an. Er schien auch glücklich zu sein.
Wir vergaßen Beide für einen Augenblick, den Jungen und den Wolfsangriff.
Die Bäume standen mittlerweile immer dichter beisammen und es wurde ein wenig steiler. Ich konnte nicht mehr wirklich viel erkennen, aber Cole führte mich sicher durch die Bäume hindurch.
Als er ein wenig langsamer wurde, wurde auch der Wald lichter. Ich konnte ein starkes Rauschen hören. Cole drehte sich wieder zu mir und grinste.
>>Es wird dir gefallen!<<
Cole führte mich weiter und ich war gespannt, wohin er mich führte. Wir kamen durch die Bäume und ich konnte es erkennen. Wir standen am Rand eines kleinen, klaren Sees. Er war die Mündung eines Wasserfalls, der ca. 20 Meter weiter oben entstand. Es war wunderschön. Es entstand ein Regenbogen, dort wo das Wasser auf den See prallte und die Sonnenstrahlen im Wasser brachen. Um den See herum war viel Gras und der Wasserfall war in einem Berg.
Wenn ich jemand wäre, der Ruhe sucht und die Freiheit fühlen will, würde ich genau an diesen Ort gehen. Ich war Cole dankbar darüber, dass er mir diesen Ort gezeigt hatte, es war eine erfreuliche Belohnung dafür, dass ich ihm vertraut hatte. Cole löste vorsichtig seine Hand aus meiner und ging zum See. Er tauchte seine Hände ins Wasser und drehte sich zu mir.
>>Komm her, das Wasser ist schön kühl! Manchmal wenn ich eine Erfrischung brauche, komme ich her.<<
Ich folgte seinem Rat. In seinem Gesicht zeigte sich Ruhe und Zufriedenheit. Ich tauchte meine Hand auch ins Wasser. Er hatte recht, es fühlte sich wunderbar an. Das Wasser war sehr klar und total blau, so einen wunderschönen See habe ich noch nie gesehen. Cole spritzte ein wenig Wasser in meine Richtung und lachte leise.
>>Ich werde dich ein bisschen alleine lassen. Vielleicht hast du ja Glück. Manchmal kommen die Wölfe auch hier her. Dieser Wasserfall liegt in deren Territorium. Hier wirst du sicher vor den anderen Wölfen sein. Vertraue mir.<<
Das tat ich. Ich vertraute ihm.
Cole verschwand aus meiner Reichweite.
Ich setzte mich ins Gras und zog meine Schuhe aus.
Vorsichtig streckte ich meine Zehe ins Wasser, es war kühl, aber nicht kalt. Ich ließ meine Füße ins Wasser baumeln. Ich streckte meine Arme hinter mich und stützte mich auf sie ab. Dann lehnte ich meinen Oberkörper und Kopf zurück und schloss die Augen. Die Sonne wärmte mein Gesicht und spürte die Strahlen auf meiner Haut. Es war wohl einer der schönsten Momente, die ich bis dahin erlebt hatte.
Cole hatte wieder Recht. Ich musste nicht lange warten, da erschien mein Wolf. Zwischen den Bäumen stand er und beobachtete mich. Er sah glücklich und zufrieden aus. Langsam kam er näher. Er ließ einen gewissen Abstand von ca. 2 Metern zwischen uns. Er stellte sich an den Rand und trank ein wenig. Die Sonne brachte sein Fell leicht zum Glitzern und sie funkelte in seinen hellblauen Augen.
Wenn er stand und ich saß, war er größer als ich. Er war generell ziemlich groß. Seine Schulterhöhe hatte eine Größe von ca. 1,50 Meter. Sein Kopf war breiter als meiner.
Er schien kein normaler Wolf zu sein, er war größer und schwerer.
Er legte sich vorsichtig neben mich hin und legte seinen Kopf zwischen seinen Pfoten und sah mich an.
Ich sollte ihm vertrauen. Ich war in der Stimmung ihm zu vertrauen. Ich vertraute heute viel. Langsam streckte ich meine Hand aus. Er legte seinen Kopf zur Seite und ich berührte sein Fell. Es war weich und dicht. Ihm war bestimmt sehr warm. Ich kraulte ihn ein wenig hinter den Ohren. Er schloss zufrieden seine Augen. Er vertraute mir auch. Es war total schön und angenehm, wie wir hier saßen und beide die Augen geschlossen die Sonne genossen.
Es war so ruhig und so friedlich. Am liebsten würde ich diesen Moment zeichnen, ich weiß nicht, ob ich jemals wieder an diesen Ort kam, ich hatte keinen Plan wo ich mich befand und wie ich hier her kam. Außerdem wusste ich nicht, wie lange Cole mich mit dem Wolf alleine lassen würde.
Ich öffnete zaghaft meine Augen und blinzelte. Der Wolf lag entspannt neben mir. Verträumt betrachtete ich sein Fell. Ich wollte ihn nicht mehr verlassen, ich fühlte mich pudelwohl.
>>Heute war ein mieser Tag.<<
Wo ich an die ersten Stunden des Morgens dachte, kamen mir wieder diese merkwürdigen Dinge in den Sinn.
>>Es war komisch heute Morgen. Ich dachte den halben Tag, das ich träumte. Ich konnte Dinge hören, die ich nicht hätte hören können. Ich konnte viel intensiver riechen. Es war so unrealistisch. Aber ich habe nicht geträumt, es war die Wahrheit. Ich wollte aufwachen. Aber ich bin nicht aufgewacht.<<
Mein Wolf sah auf und mich interessiert an. Es sah wirklich so aus, als würde er mich verstehen und mir zuhören. Ich lächelte leicht.
>>Wir sind ein komisches Team. Aber du musst vorsichtig sein. Hier draußen sind Wölfe, die gefährlich sind. Ich würde auch gerne im Wald wohnen. Hier ist es friedlich. Ich muss mir keine Gedanken machen. Hier braucht man nicht wissen, woher man kommt und wo der eigene Platz in der Welt ist.<<
Ich sah traurig auf das Wasser. Hier würde ich mich wohl fühlen. Ich müsste keinen Fragen ausweichen. Keine komischen Blicke ertragen. Keine blöden Sprüche hören. Keine Gedanken über mich und meine Herkunft machen.
>>Ich wäre auch gerne ein Wolf. Dich interessiert es wahrscheinlich nicht, woher du kommst. Für dich ist es nicht wichtig. Aber für mich. Ich wüsste gerne, warum man mich ausgesetzt hat. Wurde ich nicht geliebt? War ich überflüssig? Aber warum würden sie mir dann einen Namen geben? Riley. Das klingt so stumpf und trotzdem geheimnisvoll. Aber kein normaler Mensch heißt Riley. Das ist das Einzige, was ich weiß. Meinen Namen. Riley.<<
Ich sah den Wolf erwartungsvoll an. Ich wusste auch nicht warum, er konnte mir schließlich nicht antworten. Ich lehnte mich wieder zurück.
>>Es ist ziemlich neu für mich, mich mit jemanden zu unterhalten. Obwohl wir keine richtige Unterhaltung führen, schließlich antwortest du nicht. Aber genau das mag ich, weißt du? Meine Therapeutin deutet jedes Wort, jeden Satz von mir. Einfach alles. Sogar meine Zeichnungen.<<
Ich versank in den Erinnerungen.
Warum konnte das Leben für mich nicht einfacher laufen? Warum musste mein Schicksal so ein schwieriges sein? Schicksal. An so etwas glaubte ich eigentlich nicht einmal. Es war nicht die Schuld meines Schicksals, sondern die Schuld von Entscheidungen. Entscheidungen meiner Eltern, meiner Pflegefamilien und von mir. Ich habe schlechte Entscheidungen getroffen. Ich war an so vielem Schuld, wenn ich besser gewesen wäre, hätte ich auch ein besseres leben gehabt.
Mein Wolf stupste mich leicht mit der Schnauze gegen den Arm. Seine Nase war feucht, aber zaghaft. Ich spürte seine Reißzähne in seinem Maul.
>>War das eine Antwort? Oder eine Reaktion? Denn das ist sehr unrealistisch. Aber wahrscheinlich willst du einfach nur weiter gekrault werden, stimmts?<<
Ich streckte einfach meine Hand aus und strich ihm durch das Fell.
Am liebsten würde ich darin versinken. Ich sah ihn an, in seine hellblauen Augen. Und er sah mich an, in meine grünen Augen.
Als sich unsere Blicke trafen, keimte etwas aus.
Etwas Hoffnung. Etwas Versprechen. Etwas Vertrauen.
Eine Verbundenheit.
Ich legte mein Leben in seine Pfoten. Er legte sein Leben in meine Hände.
Ein Wolf und ein Mädchen. Diese Verbindung ist wahrscheinlich etwas ungewöhnlich, aber sie existierte. Dieses vertrauen, welches ich aufgebaut habe, würde niemals brechen. Ich spürte es in meinen Knochen und in meinem Herzen.
Sein Blick löste sich langsam und er sah zwischen die Bäume in den Wald.
>>Ich weiß, du gehörst in den Wald.<<
Meine Stimme war nicht viel mehr als ein Flüstern. Sie klang leise und trocken, obwohl ich nicht wirklich viel gesprochen hatte. Ein bisschen Traurigkeit bereitete sich kalt um meinen Herzen aus. Ich wusste, ich musste meinen Wolf ziehen lassen. In den Wald, dort wo er zuhause war. Ich gehörte nicht dorthin.
Ich wusste nicht, wo mein Platz war, ich musste ihn erst noch finden. Vielleicht führte er mich auch in den Wald, aber das wusste ich noch nicht.
Er stand langsam auf und lief elegant und leise zu den Bäumen. Er sah noch einmal zurück. Zurück zu mir. Dann drehte er sich um und lief zwischen den Bäumen in den Wald. Ich wusste nicht, ob ich ihn jemals wiedersehen würde. Ich hoffte es. Jede einzelne Zelle meines Körpers hoffte es und sehnte sich jetzt schon nach ihm.
Vielleicht war es wirklich mein Schicksal so ein schreckliches Leben zu haben. Ansonsten wäre ich meinem Wolf wahrscheinlich nie begegnet. Ich hatte das Gefühl, dass er etwas besonderes war. Etwas bedeutungsvolles. Irgendwann werden unsere Welten aufeinander treffen und wir können es gemeinsam schaffen. Aber jetzt war nicht dieser Zeitpunkt. Jetzt wartete ich auf Cole, der mich wieder abholt und zurück zur Wohngruppe bringt. Zurück in die Welt.
Ich konnte heute nicht einmal eine Zeichnung machen. Ich musste mir jede Sekunde einprägen, damit ich alles aufs Papier brachte. Heute ist soviel passiert. So viele neue Erinnerungen, die auf dem Papier festgehalten werden sollten.
Auch wenn der Tag nicht gut anfing und immer noch schlecht enden konnte, ich wollte ihn niemals vergessen. Es passierte so viel Gutes. Mein Wolf war eines der Dinge. Aber das Vertrauen, was ich aufgebaut hatte, zu meinem Wolf, aber auch zu Cole, ist wohl das Beste.
Ich sollte eine Möglichkeit finden, auch das aufs Papier zu bringen. Irgendwie werde ich es darstellen können. Schließlich ist es das, was ich kann. Zeichnen. Und endlich werde ich schöne Erinnerungen und keine Phantasie zeichnen können. In diesen Bildern wird meine Therapeutin nichts deuten können. Denn sie haben ihre eigene Bedeutung.
Ich zeichne etwas, was passiert ist, nichts was man deuten könnte, weil es aus meinem Unterbewusstsein entstand.
Ich habe mich wohl noch nie so sehr gefreut, in die Wohngruppe zu kommen, wie heute. Ich konnte es kaum erwarten, dass ich in mein Zimmer kam und zeichnen konnte. Sie werden erstaunt sein, dass ich den ganzen Tag unterwegs war. Das kannten sie nicht von mir.
Die Sonne verschwand schon langsam hinter den höchsten Baumgipfeln, Cole sollte lieber bald kommen, bevor das Sonnenlicht dem Mondlicht im Wald Platz machte. Aber Cole kannte sich wahrscheinlich auch nachts perfekt im Wald aus und würde niemals einen falschen Schritt machen.
Da kam er auch schon. Er stand zwischen den vordersten Bäumen. Seine Hände hatte er tief in seinen vorderen Hosentaschen vergruben und beobachtete mich. Ein zufriedenes leichtes Lächeln sitzt auf seinen Lippen. Es ist eine will kommende Abwechslung zu der sonstigen im Gesicht zu sehenden Ernsthaftigkeit oder der Überschwänglichkeit.
Ich stand langsam auf und strich meine Haare hinters Ohr. Ich mochte es, wenn sie wie einen Vorhang um mich herum hinunterfielen, aber heute wollte ich ein wenig von dem Leben in mich hineinlassen. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne aufsaugen. Ein leichtes Lächeln stahl sich auf meine Lippen und erwiderte Coles.
Langsam und vorsichtig ging ich zu ihm rüber.
Ich räusperte mich leise, bevor sich meine Lippen öffneten.
>>Danke.<<
Cole grinste ein schiefes Grinsen. Er zog dabei nur seinen rechten Mundwinkel in die Höhe. Es sah ziemlich süß aus und ein Kribbeln bereitete sich in meiner Magengegend aus. Es war angenehm und ich freute mich darüber. Ich deutete es erst gar nicht, ich hasste Deutungen wirklich.
Cole nickte zum See.
>>Hier kommt der Wolf gerne hin. Er hat hier seine Ruhe, ich denke das passt zu dir. Er sucht das Friedliche. Genau wie du.<<

Ich lächelte jetzt etwas tiefer. Er hatte recht. Er schien Wölfe zu verstehen und vielleicht verstand er mich auch ein klein wenig.
Er drehte sich in den Wald und nickte mir zu.
>>Wir sollten langsam zurück, die Sonne beginnt unterzugehen. Ich möchte nicht, dass du nach dem Sonnenuntergang noch draußen bist. Das gehört sich nicht für eine Dame.<<
Damit grinste er und ich antwortete ihm, indem ich ihm meine Zunge entgegenstreckte. Wir waren locker. Zumindest hier. Hier im Wald.
Wir gingen zurück. Er führte mich an seinem Dorf vorbei fast an die Pforte, die zu meiner Wohngruppe führte. Es war, als hätte er eine Karte und einen Kompass in seinem Kopf, sodass er wusste, wo er lang musste, damit er dort herauskam.
Er blieb vor der Pforte stehen, weiter schienen die Jungs mich anscheinend immer nicht begleiten zu wollen. Das fand ich aber gut, weil damit blieb die Chance sehr niedrig, dass einer der Betreuer sie durch das Fenster sehen konnte und dann Fragen stellen konnte.
Cole lehnte sich gegen die Mauer neben der Pforte und betrachtete mich sehr intensiv.
>>Vergiss einfach die Hälfte des Tages, dann wirst du den Rest auch noch überstehen. Eine Portion Schlaf würde dir sicher gut tun.<<
Ich nickte und öffnete die Pforte. Als ich sie wieder schließen wollte, sprach Cole mich wieder an.
>>Ach Riley?<<
Ich zog meine Augenbrauen hoch und sah ihn fragend an, was wollte er? Es klang wie eine Frage. Ich wurde zögerlich, ich wusste nicht, ob ich bereit für Fragen war.
>>Vergiss nicht wer du bist.<<
jetzt war ich verirrt, was meinte er? Es war keine Frage, es war aber auch sehr offen für eine Aussage. Cole lächelte wieder und verschwand dann wieder in die mittlerweile Dunkelheit. Er hat mir zwar keine direkte Frage gestellt, hat aber bei mir welche aufgeworfen. Ich versuchte die Gedanken zu verscheuchen und aufkommende Fragen zu ignorieren. Schließelich lag ich im Bett und glitt in die Traumwelt.

Die Blicke auf mir

 

Ich wachte langsam auf. Die Sonne blendete mich leicht und ich blinzelte. Ich fühlte mich friedlich und ich wollte nicht aufstehen. Es war ein schönes Gefühl. Ich war mitten in der Nacht aufgewacht und hatte gemerkt, dass ich vergessen hatte, die Zeichnungen zu skizzieren. Also war ich aufgestanden und hatte angefangen. Und wenn ich einmal anfing, dann hörte ich auch nicht mehr so schnell auf. Erst als die ersten Sonnenstrahlen zu sehen waren, schlich ich mich zurück ins Bett.
Wahrscheinlich hatte ich nicht gerade viel geschlafen, aber heute war Freitag und der letzte Schultag dieser Woche. Dann kam das Wochenende. Endlich dann kann ich den ganzen Tag zeichnen!
Ich stand auf, ging duschen und machte mich für die Schule fertig. Meine Augen strahlten heute ein wenig mehr und meine Haare waren heute ein wenig seidiger. Das Leuchten in meinen Augen war schon vor sehr langer Zeit erloschen, aber langsam entstand wieder ein Funken. Dieser Funken war heilig. Ich fand, er sah gut aus.
Ich setzte mich an den Frühstückstisch und war total versunken in meine Gedanken. Meine Gedanken weilten bei dem gestrigen Tag. Natürlich, worüber würde es sich mehr lohnen nachzudenken? Es gab kein weiteren Tag, an den ich jetzt lieber denken würde.
Meine Betreuerin fuchtelte plötzlich vor meinem Gesicht herum und holte mich ins Jetzt zurück. Sie lächelte ein wenig.
>>Wo warst du denn? Ich wollte eigentlich nur fragen, ob du heute wieder später nach Hause kommst?<<
Ich sah sie an und zuckte nur mit den Schultern. Es lag nicht daran, dass ich es ihr nicht sagen wollte, aber ich wusste es einfach nicht. Ich wusste nicht, ob Cole mich wieder in den Wald mitnahm oder ob heute alles etwas normaler und für mich bekannter abläuft.
Ich wollte zwar eigentlich nicht ins kalte Wasser geworfen werden, aber anscheinend blieb mir keine andere Wahl übrig. Ich wusste, was ich wollte, zumindest was ich hoffte. Ich hoffte, dass ich heute wieder in den Wald konnte und meinen Wolf sehen konnte. Genau das wollte ich. Nichts anderes, aber wenn ich das jemanden versuchen würde zu erklären, käme das wahrscheinlich nicht gut an.
Außer Cole. Der würde mich bestimmt verstehen, er zeigt mehr Verständnis. Anders als Alec. Alec hat es nicht verstanden, dass ich mich bei meinem Wolf wohl fühlte. Cole schon. Ich sollte mich eher an Cole halten. Aber erstens waren es Brüder und zweitens wäre Alec als Umgang aber wahrscheinlich die bessere Wahl. Cole war zwar im Herzen ein feiner Kerl und nett, aber nach Außen hin war er ein Macho.
Er war temperamentvoller und aufbrausender als Alec. Aber er versuchte im Gegenzug auch seine Familie zu beschützen und würde niemals so schnell Gewalt anwenden wie Jakob zum Beispiel. Er war im Wald auch ein ganz Anderer.
Aber Alec war im Gegenteil zu Cole immer friedlich. Er redetet auch nicht viel und ließ mich öfters in Ruhe. Er war der stille Beobachter. Wahrscheinlich wollte er mir helfen, er hatte oft einen traurigen Ausdruck in seinem Gesicht, wenn er merkte, wie verletzt ich war.
Alec wollte mich nicht verletzen und aus Angst davor, fasste er mich, Sprichwörtlich natürlich, nur mit Samthandschuhen an. Es gefiel mir, dass er immer nett und liebenswürdig war, aber er mutete mir nichts zu. Er wollte mich irgendwie vor allem beschützen, aber das konnte ich alleine. Cole hingegen forderte mich heraus, er war offener und versuchte Worte aus mich herauszukitzeln, indem er mich immer wieder anquatschte, aber er kannte auch seine Grenzen.
Alec hingegen redete nun auch nicht mehr viel mit mir, oder er erwartete nie eine Antwort und setzte Aussagen, auf die er keine Antwort brauchte. Alec hatte seine anderen Methoden mich zum Lächeln zu bringen, sanftere. Aber er verstand meine Sehnsucht gegenüber dem Wald und meinem Wolf nicht.
Ich verscheuchte die Gedanken und sah auf die Uhr. Ich sprang sofort auf und schnappte meine Tasche, ich musste jetzt zum Bus rennen, damit ich ihn noch kriegen konnte. Warum haben die Betreuer nicht Bescheid gesagt? Manchmal brachten sie mich echt zur Weißglut. Ich hätte sie am liebsten angeschrien. Aber statt dem Feuer meiner Wut die Kontrolle über meinem Körper zu überlassen, rannte ich hinaus.
Die leichte Brise, die ich auf meinem Gesicht spürte, löschte langsam das Feuer in mir.
Ich kam gerade noch rechtzeitig zur Bushaltestelle, der Bus hielt gerade und öffnete seine Türen. Ich stieg ein und setzte mich auf meinem Platz. Ich fühlte mich langsam erschöpft, das Adrenalin verschwand aus meinem Körper. Aber bestimmt schoss es bei meinem Glück bald wieder ein und die Erschöpfung verschwand auch wieder. Ich hatte schließlich nicht viel geschlafen heute Nacht.
Der Bus hielt und ich stieg als letzte aus, dann war ich mir zumindest sicher, dass ich mit keinem anderen Mitschüler in Verbindung kam.
Sobald ich aus de Bus kam und auf dem Parkplatz kam, merkte ich es das erste Mal. Es beobachtete mich jemand. Ich spürte die Blicke auf mir. Es kribbelte in meinem Nacken und ich drehte mich unauffällig um, aber ich sah niemanden, der mich anstarrte.
Mein blick fiel auf Alec und Cole, sie sahen mich an. Aber ihre Blicke spürte ich nicht, denn ich kannte sie. Aber mein sechster Sinn sagte mir ganz deutlich, dass mich jemand beobachtete. Ich schüttelte es ab und ging in die Richtung von Cole und Alec.
Langsam ließ das Kribbeln nach und ich entspannte mich ein wenig. Als ich bei Cole und Alec ankam, musterte mich beide. Cole war ein wenig angespannter und ließ jetzt auch seine Blick über den Parkplatz gleiten.
>>Beobachtet dich jemand? Du hast so ausgesehen, als hättest du dich so umgesehen, als hättest du das Gefühl, dass dich jemand beobachtet.<<
Coles Stimme war auch angespannt und klang ein wenig gepresst. Bevor ich etwas sagen konnte, legte Alec seinem großen Bruder die Hand auf die Schulter.
>>Cole.<<
Seine Stimme klang teilweise beruhigend und teilweise als Mahnung. Cole sah zu Alec und seine Anspannung ließ ein wenig nach. Aber ein Rest Anspannung blieb. Sie machten mir ein wenig Angst. Nicht die Angst vor ihnen, sondern Angst davor, dass mich wirklich jemand beobachtete.
Cole nickte Alec zu und drehte sich um. Wir gingen in die Schule und bald trennten sich Cole und Alecs und meine Wege. Cole musste ein Stockwerk höher als wir.
Alec und ich gingen in die Klasse und wir setzten uns auf unsere Plätze. Wir holten beide unsere Schulsachen aus der Tasche. Ich hatte meinen Block dabei, die Betreuer ließen mit ihrer Kontrolle nach, vielleicht weil sie dachten, dass ich Anschluss gefunden hatte.
Ich öffnete ihm und fing an, die erste Skizze aus der Nacht weiter zu vertiefen. Es sollte eine Zeichnung von dem Wasserfall, See und meinem Wolf mit mir werden. Alec schien mich heute nicht zu beobachten, er konzentrierte sich ganz auf den Unterricht. Wir hatten schon wieder Mathe. Ich hatte das Gefühl, dass unsere Klasse sehr viel Mathe hatte.
Ich mochte Mathe nicht. Aber immerhin ließ der Lehrer mich vorerst in Ruhe. Ihm saß unserer Kennenlernen vielleicht noch in den Knochen. Ich vergaß es zumindest nicht. Er brachte das erste Mal etwas Wut in mir hervor. Das würde ich ihm niemals verzeihen.
Ich war froh, als es endlich klingelte. Aber wir schienen dieses Mal eine Doppelstunde Mathe zu haben. Vorher hatten wir immer Einzelstunden, aber heute anscheinend nicht. Der Lehrer verschwand nicht, sondern fing einfach nur an, die Tafel zu putzen. Alle ließen auch ihre Mathematikbücher offen.
Ich drehte mich zu Alec. Er starrte irgendeine Matheaufgabe an.
>>Haben wir noch eine Stunde Mathe?<<
Alec sah mich überrascht an und nickte. Irgendwann sollte er mich nicht mehr mit diesem Blick ansehen. Er weiß doch mittlerweile, dass ich manchmal etwas sagte. Er sollte es einfach ganz normal hinnehmen, oder Lächeln, so wie Cole es immer tat. Ich war schließlich nicht Stumm. Ich hatte in den letzten Tagen hier sehr viel geredet. Es lag vielleicht an diesen Ort, der alles andere ist, als die die ich kannte. Vielleicht lag es an den Jungs, die irgendwie mit mir befreundet sein wollten, warum auch immer.
Aber sicher war, dass ich an dieser Schule mit Mitschülern sprach, das ist doch nichts neues. Ich redete nicht viel, aber ich redete.
Bevor ich Alec aber darauf hinweisen konnte, klingelte es erneut und der Lehrer ließ uns Aufgaben im Buch lösen. Ich legte meinen Block beiseite und fing an sie zu lösen. Sie waren nicht schwierig. Ich war nicht eines dieser Mädchen, das Mathe nicht verstand. Mathematik war nicht schwierig. Für mich war alles logisch und ich konnte Mathe, aber ich fand es langweilig. Im Grunde fand ich aber alles langweilig an der Schule außer den Kunstunterricht. Aber Schwierigkeiten hatte ich nicht. Nur Konzentrationsschwierigkeiten manchmal.
Ich löste die Aufgaben und als ich fertig war, sah ich aus dem Fenster, bis der Lehrer uns ansprach die Aufgaben vergleichen wollte. Er rief einfach verschiedene Leute auf und die lasen ihre Ergebnisse vor. Wenn jemand eine Frage hatte, dann schien er sie nicht zu stellen. Ich verglich meine Ergebnisse nur flüchtig, denn ich machte selten einen Fehler.
Plötzlich rief der Lehrer nach mir.
>>Riley.<<
Ich sah auf meine Aufgabe und las einfach monoton das Ergebnis vor. Der Lehrer wirkte positiv und zufrieden überrascht.
>>Das ist sogar richtig.<<
Ich verdrehte die Augen. Natürlich war es richtig.
>>Ich weiß.<<
Der Lehrer zog jetzt seine Augenbrauen in die Höhe, aber er ignorierte mich schließlich doch und rief einfach weiter die Schüler auf. Endlich klingelte es. Ich packte meine Sachen, denn die anderen Schüler taten es auch. Vielleicht hatten wir jetzt woanders Unterricht. Ich hatte meinen Stundenplan mir noch nicht eingeprägt.
Als ich Alec folgte und am Lehrertisch vorbeiging, hielt der Lehrer mich auf.
>>Riley, wartest du bitte noch eine Sekunde?<<
Ich blieb überrascht stehen und sah Alec an. Alec nickte kurz.
>>Ich warte vor der Tür auf dich.<<
Ich sah den Lehrer an, würde er mich jetzt bestrafen, weil meine Antwort vorhin frech gegenüber einem Erwachsenem war? Aber es kam anders als ich dachte.
>>Riley, ich war sehr überrascht, dass du die Aufgabe lösen konntest. Du wirkst immer so teilnahmslos und ich dachte wirklich, es läge daran, dass du Mathematik nicht verstehst. Aber dürfte ich mir deine Aufgaben der letzten Stunden und deine Hausaufgaben einmal ansehen, du bekommst sie nächste Woche sofort wieder.<<
Ich schüttelte ziemlich verwirrt meinen Kopf, aber gab ihm mein Heft. Es war alles sehr ordentlich, es stand immer die Buchseite und Nummer der Aufgabe dort und war sehr leserlich geschrieben. Ich mochte keine Schlamperei meiner Sachen.
Der Lehrer lächelte zufrieden und schickte mich mit einem nicken aus die Klasse.
Alec wartete gegen die Wand gelehnt auf mich. Wir liefen in die Richtung der Naturwissenschaftlichen Räumen.
Plötzlich kribbelte mein Nacken wieder und ich blieb abrupt stehen. Ich Spürte es wieder. Die Blicke auf mir. Hier sind nicht so viele Menschen im Flur, aber dafür sind ziemlich viele auf dem Schulhof, den man durch die Fenster des Flures erblicken konnte.
Alec blieb auch stehen. Er wurde angespannt und seine Nasenlöcher blähten sich immer wieder auf.
>>Was ist los?<<
Ich schüttelte das Kribbeln wieder ab.
>>Nichts, ich dachte nur, dass mich jemand ansah. Wahrscheinlich nichts beunruhigendes, ich bin schließlich die Neue!<<
Alec zwang sich zu einem Lächeln, es wurde aber eher eine ziemlich schlechte Grimasse. Er war mit meiner Antwort nicht zufrieden. Aber ich wollte mich nicht verrückt machen lassen. Das Kribbeln war auch schon wieder verschwunden.
Ich lief einfach zu Alec und zog ihn am Arm weiter. Mir fiel wieder ein, dass wir jetzt Chemie hatten.
Ich überstand die nächsten beiden Stunden ohne, dass das Kribbeln erneut entstand.
Eine leichte Anspannung wurde ich aber nicht ganz los. Endlich klingelte es wieder und wir hatten Mittagspause. Ich warf meine Sachen schon fast achtlos in meine Tasche und stand ziemlich schnell auf, ich wollte so schnell aus dem Raum, wie ich es nur konnte.
Die Anspannung kribbelte und es wurde langsam unangenehm. Gänsehaut überzog meine Haut. Bevor ich davon laufen konnte, fing Cole mich im Flur ab. Er stellte sich vor mich und umfasste vorsichtig aber doch fest meine beiden Arme.
>>Beruhige dich! Was ist denn los? Du musst runter kommen und dich beruhigen!<<
Ich wollte mich losreißen, aber Cole war stärker und ließ mich nicht gehen. Ich presste meine Lippen zusammen. Trotzdem entwich mir ein Laut, der einem Knurren ähnelte. Es erschreckte mich so sehr, dass ich innehielt. Ich blinzelte ein paar Mal, damit sich der Schleier der Wut, der sich über meine Sicht verbreitet hatte.
Je klarer ich wieder sah, desto ruhiger wurde ich auch wieder. Ich atmete einmal tief durch und wehrte mich nicht mehr gegen Coles Hände, die mich jetzt langsam losließen.
>>Was ist denn los?<<
Ich seufzte leise.
>>Ich weiß es nicht, ich glaube, jemand beobachtet mich schon den ganzen Tag.<<
Sofort spannte Cole sich an und sah sich um, aber niemand sah auffällig stark zu mir. Vielleicht bildete ich mir das alles auch nur. So etwas nennt man Verfolgungswahn.m
Alec stieß auf uns. Er musterte Cole lange und sah sich dann auch um. Wenigstens glaubten sie mir, auch wenn ich mir langsam nicht mehr glaubte.
Aber sobald wir in die Mensa kamen, spürte ich es sofort wieder. Ich spürte eindeutig die Blicke auf mir.
Wessen Blicke waren es nur?

Der stille Beobachter

Ich sah mich um. Niemand fiel auf, aber ich war mir sicher, dass mich irgendjemand beobachtete. Aber was war an mir so besonders? Warum sollte mich jemand beobachten? Ich sah keinen Grund. Ich war nicht schön genug, dass mich jemand beobachten sollte. Ich war nicht klug genug, dass es jemanden auffallen sollte. Ich war nicht neu genug, dass ich noch immer im Mittelpunkt stände. Mir fiel wirklich nichts ein, warum man mich beobachten sollte.
Cole sah sich auch um und Alec ging kurz zu seiner Schwester und sagte ihr etwas, woraufhin sie sich auch umsah. Sie glaubten mir wirklich und wollten mich beschützen, als würde hier jemand auf mich lauern. Wahrscheinlich war das einfach nur irgendeiner, dem meine unterschiedlichen Augen aufgefallen waren.

Wir setzten uns an unserem Tisch sehr weit hinten. Cole setzte sich dieses Mal neben mich, denn so konnte man fast die gesamte Mensa erblicken. Cole und Alec waren sehr schweigsam und sahen ernst aus. Jeder humorvolle oder Macho Blick war verschwunden.
Ich las Verantwortung in ihren Augen. Sie wollten mich beschützen. Aber wir befanden uns doch in einer Schule, hier würde mir schon niemand etwas tun. Und die Wahrscheinlichkeit für irgendein Attentat oder etwas anderes derartiges war schon sehr gering. Sie machten sich wahrscheinlich total umsonst Sorgen.

Aber die Gänsehaut verschwand nicht und auch nicht dieses Kribbeln welches mir kalt den Rücken hinunter rieselte. Ich schloss ein paar Mal meine Augen, damit ich mich auf etwas anderes konzentrieren konnte. Leider gelang es mir nicht wirklich und meine Gedanken wanderten immer wieder zu diesem Gefühl, dass mich immer noch jemand beobachtete.
Als ich zu Cole sah, fixierte er gerade irgendjemanden in der Menschenmenge mit einem sehr ernst vollem und Angst einflößenden Blick. Ich konnte den Blick zu niemanden zuordnen, aber Alec konnte es anscheinend.
Er folgte Coles Blick und taxierte jetzt auch diesen Jemanden. Ich wollte wissen wer es war.
>>Cole?<<
Er gab mir keine Antwort, seine Lippen hatte er zusammen gepresst und seine Hände ballten sich um sein Tablett. Sie fingen an zu zittern. Ich wandte mich zu Alec.
>>Alec?<<
Aber auch er gab mir keine Antwort. Er sah nicht ganz so verspannt aus, aber auch seine Hände waren verspannt, er ballte sie zu Fäuste. War dieser Jemand gefährlich?
Alle Menschen saßen, aber plötzlich stand einer auf. Er ist mir vorher gar nicht aufgefallen, aber jetzt fällt er mir besonders auf.
Er hatte fast schwarze wuschelige gelockte Haare. Als er sich zu mir umdrehte und seine Augen auf meine trafen, schnappte ich nach Luft. Er hatte goldene, Bernsteinfarbene Augen. Ich wusste sofort, dass er es war, der mich beobachtet hatte. Er rief wieder ein Kribbeln in meinem Nacken hervor. Aber sein ganzer Körper strahlte etwas friedliches aus. Er sah auch nicht gefährlich aus, obwohl er bestimmt 1,90 Meter groß war. Er hatte einen dunkleren Teint und sein T-Shirt spannte sich über seine Muskeln. Er hatte weder ein Piercing noch einen Tunnel.
Trotzdem stand Cole im gleichem Moment auf und ließ seinem Blick nicht von ihm.
Alec stand jetzt auch auf und folgte mit seinem Blick dem Jungen, der jetzt davon ging. Cole ließ alles stehen und liegen und folgte ihm.
Alec erwachte aus seiner Starre und rief Cole etwas hinterher.
>>Cole warte! Es ist doch nur Aiden.<<
Diese Worte klangen so, als würde von diesem Aiden keine Gefahr ausgehen. Alec wandte sich zu mir.
>>Warte bitte hier. Ich werde Cole davon abhalten, irgendetwas dummes
anzustellen!<<
Er folgte Cole jetzt. Ich wusste, ich sollte auf Alec Rat hören, aber ich war nicht so ein Mädchen, dass sich gerne etwas von einem Mitschüler etwas sagen ließ. Also stand ich auch auf und folgte den Beiden.
Ich wich den Mitschülern so gut aus, wie ich konnte. Das Glück war auf meiner Seite, alle saßen und interessierten sich nicht für mich, sondern für ihr Essen oder den anderen Menschen an ihren Tischen.
Als ich endlich im Flur war, hatte ich die Jungs allerdings aus den Augen verloren.
Ich sah nach rechts in einem etwas kleinerem Flur. Er führte zu einer Notausgangstür, sie schloss sich gerade wieder und ich konnte den Wald dahinter erkennen, dort sind sie bestimmt lang.
Ich folgte meinem Instinkt und lief zu der Tür. Sie war ziemlich schwer zu öffnen, aber als ich es endlich geschafft hatte, hörte ich Coles Stimme.
>>Was ist dein Problem?<<
Eine weiche und sehr sanfte Stimme antwortete ihm.
>>Ich habe kein Problem! Alec, dein Bruder sollte sich beruhigen.<<
Aber ich hörte Alec nichts sagen.
Ich kam um die Ecke und sah die Jungs. Cole schubste Aiden jetzt von sich. Aiden stand ein paar Meter vor einer Wand und hob abwehrend die Hände. Alec hatte die Arme vor seiner Brust verschränkt und beobachtete die beiden Jungs einfach nur. Er schien nicht die Absicht zu haben, Cole aufzuhalten.
Cole knurrte und lockerte seine Schultern.
>>Du solltest mir lieber eine Erklärung liefern, die mich beruhigt! Bevor ich wirklich soweit bin, dass mein Bruder mich nicht mehr aufhalten könnte!<<
Aiden lächelte leicht. Seine Augen waren hell und leuchteten in der Sonne.
>>Cole ich habe keine schlechten Absichten. Ich habe nichts getan, was gegen das Abkommen verstoßen würde. Ich habe einfach nur ein schönes Mädchen angesehen.<<
Cole knurrte ihn an und packte Aiden am Kragen. Er hob ihn leicht an und presste Aiden gegen die Wand.
>>Das ist nicht sehr beruhigend! Eigentlich seid ihr doch die friedlichen! Warum siehst du sie so an?<<
Alec löste seine Arme jetzt und legte Cole die Hand auf die Schulter.
>>Cole, bitte beruhige dich ein wenig, wir können das auch anders lösen! Sie sind dafür bekannt, dass sie keine Gewalt anwenden!<<
Cole knurrte Alec an und fletschte die Zähne. Es beunruhigte mich ein wenig. Er hat eindeutig zu viel zeit im Wald verbracht und zu lange unter Tieren gelebt. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, das er Wolfs ähnliches Verhalten an den Tag legte. Aiden lächelte immer noch.
>>Ich habe wirklich nichts böses im Sinn, du solltest auf deinen Bruder hören.<<
Cole schüttelte Alecs Hand ab und sein Gesicht näherte sich dem von Aiden. Er war tatsächlich ein wenig kleiner als Aiden, obwohl Cole wirklich groß war.
>>Ich bin der Ältere. Ich höre auf mich und nicht auf meinen jüngeren Bruder!<<
Aiden verdrehte leicht die Augen.
>>Vielleicht solltest du dann auf sie hören.<<
Aiden nickte in meine Richtung ohne die Augen von Cole zu lassen. Cole und Alec drehten sich gleichzeitig zu mir herum. Ich sah sie zerknirscht an, ich fühlte Schuld aufkeimen.
Aber Cole nahm sich Aidens Worte zum Herzen und ließ ihn los, aber sein Blick lag wieder auf Aiden.
>>Dann kannst du ihr gleich mit erklären, warum du sie beobachtest!<<
Aiden sah jetzt zu mir und schlängelte sich an Cole vorbei und kam einen Schritt auf mich zu. Seine Augen sahen mich friedlich und neugierig an.
>>Ich wollte dich nicht erschrecken, ich hatte gehofft, dass ich diskreter gewesen wäre und du es nicht bemerkt hättest. Ich habe nichts böses im Sinn.<<
Ich wusste sofort, dass diese Augen nicht lügen konnten, sie leuchteten in der Sonne so hell wie die Sonne selber. Er hatte bestimmt keine bösen Absichten.
Cole gab sich damit nicht zufrieden, er schubste Aiden zurück gegen die Wand.
>>Ich wollte nicht wissen, ob du friedliche Absichten hatte, ich will wissen, warum du sie so beobachtest. Ich kenne dich Aiden, du hältst nichts von normalen Mädchen und generell Menschen!<<
Diese Worte verwirrten mich, was war denn für diesen Aiden normal und was nicht? War ich ihn seinen Augen nicht normal? Er beantwortete mir die Frage sofort.
>>Sie ist nicht normal. Aber ich habe sie nicht beobachtet, weil ich Interesse habe, falls du das meinst!<<
Cole knurrte seine Augen verdunkelten sich und er sah so aus, als würde bald sein Geduldsfaden reißen.
>>Aiden, warum?<<
Aiden verdrehte die Augen und schüttelte Coles Arme ab. Sein Lächeln trübte sich und seine Augen verdunkelten sich auch.
>>Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig! Ich kann ansehen, wen ich will, wann ich will, wo ich will und warum ich will!<<
Alec stellte sich zwischen die Beiden. Aber Cole sah nicht so aus, als würde er sich noch lange zurück halten. Ich ging auf die Beiden zu und legte meine Hände auf Coles Brust und versuchte ihn ein wenig zurück zu schieben.
Das sollte jemanden beruhigen, zumindest hat das meine vorletzte Pflegemutter manchmal versucht, wenn mein Pflegevater auf mich wütend war und manche Menschen schon fragen stellten, weil ich zu oft in der Notaufnahme war.
Coles Brust vibrierte, aber er ließ sich von mir zurückschieben und er entspannte sich etwas.
Aiden sah mich überrascht und leicht verwirrt an.
>>Was machst du da?<<
Jetzt war ich diejenige, die Aiden überrascht und verwirrt ansah, warum sollte ich es nicht tun? Ich vertraute Cole. Und Cole vertraute anscheinend mir, sonst hätte er sich bestimmt nicht beruhigt.
Cole schob mich sofort leicht hinter sich. Ich sah an ihm vorbei zu Aiden.
>>Du solltest es uns vielleicht wirklich erklären.<<
Ich konnte Coles Gesichtsausdruck nicht mehr sehen, aber dafür Aidens.
Aidens Augen strahlten warm und ruhig.
>>Du würdest es nicht verstehen. Außerdem habe ich versprochen, es nicht zu erzählen.<<
Cole schob mich durch ihn weiter zurück. Er schaffte Platz zwischen Aiden und mir. Er drehte sich zu mir und musterte mich besorgt.
>>Du solltest vielleicht gehen. Ich weiß nicht, warum er dich beobachtet hat, aber er scheint dich nicht für sich selber beobachtet haben. Ich möchte nicht, dass er dich verletzt.<<
Aiden knurrte jetzt auch leicht.
>>Ich würde sie niemals verletzten. Dass wir keine Gewalt anwenden weißt du und emotional würde ich ihr auch nie wehtun! Selbst wenn ich es wollte, würde ich es nicht machen! Ihr wisst nicht, wer sie ist!<<
Aidens Worte verwirrten mich. Was wollte er von mir? Und warum sagte er solch komische Dinge? Was meinte er damit, dass Cole und Alec nicht wüssten, wer ich sei? Ich bin niemand. Ich bin einfach nur Riley.
Cole schloss kurz seine Augen, er spannte sich schon wieder an. Ich legte wieder meine Hände auf seine Brust. Cole öffnete seine Augen und umschloss mit seinen Händen weich meine. Sein Blick sah mich flehend an.
>>Bitte nicht.<<
Was meinte er? Sollte ich ihn nicht beruhigen? Ich wollte aber. Ich wollte nicht, dass er sich verletzt oder meinetwegen Gewalt anwendete. Aiden schien doch friedlich zu sein, auch wenn er verwirrtes zeug laberte und mich beobachtete. Er hat nichts getan. Er hat mich nicht angefasst, er hat mich nicht angesprochen, er hat mich nur angesehen.
All dies versuchte ich Cole mit meinen Augen zu sagen. Ich wusste nicht, ob er es verstand, aber er war gut, Sachen und Situationen ohne Worte zu verstehen. Cole nickte mir zu.
>>Aiden ich möchte, dass du sie in Ruhe lässt, sehe sie einfach nicht mehr an. Sollte ich merken, dass du sie immer noch beobachtest, regeln wir das Ganze auf meine Art. Ich beschütze nicht nur meine Familie! Riley gehört zu meinen Freunden! Und auch die beschütze ich! Du kennst unseren Kodex! Wir beschützen unsere Familie und diejenigen, die sich nicht selber beschützen können!<<
Aiden lächelte wieder.
>>Ich wollte ihr nie etwas antun, vor mir brauchst du sie nicht beschützen, denn du kennst mich schließlich. Hast du selber gesagt!<<
Cole versuchte ihn zu ignorieren und legte seine Hand in meinen Rücken und schob mich leicht in Richtung der Tür zur Schule. Als wir dort waren, drehte ich mich um. Alec stand hinter uns und auch Aiden war uns gefolgt.
Cole und Alec machten Aiden Platz, damit er vor uns durch die Tür ging. Er wurde etwas langsamer, als er auf meiner Höhe war.
>>Riley, ich würde dir niemals weh tun. Sie in meine Augen, könnten sie jemals lügen? Oder geschweige etwas anderes sein als einfach nur friedlich?<<
Ich kannte die Antwort, sie war nein. Diese Augen könnten wohl wirklich niemals lügen oder etwas anderes als friedlich zu sein. Aiden lächelte, weil er meine Antwort kannte.
>>Du hast wunderschöne Augen.<<
Damit öffnete er die Tür und wollte gehen. Aber Cole sprach ihn noch einmal an.
>>Du kannst deinem Auftraggeber ausrichten, dass er Riley ab sofort in Ruhe lassen sollte, sonst würde ich ihn finden.<<
Aiden lächelte weiter. Er hatte ein kleines Grübchen auf seiner rechten Seite seiner Wange.
>>Ich war einfach nur der stiller Beobachter.<<

Der Junge mit meinen Augen

Aiden lächelte mir zu und lief dann los. Meine Worte hörte er wohl nicht mehr.
>>Für wem?<<
Es war auch nur ein Flüstern. Aber Cole und Alec hörten mich. Alecs Stimme klang fest und überzeugt.
>>Wir werden es herausfinden.<<
Cole stimmte ihm sofort zu.
>>Auf jeden Fall. Und heute kannst du wieder mit zu uns kommen. Das Mädchen von gestern hat nach dir gefragt, du hast bleibenden Eindruck hinterlassen.<<
Mein Herz machte einen Sprung. Ich freute mich. Ich wollte wieder in den Wald. Dort konnte ich frei sein. Ich würde auch gerne nach dem Jungen sehen.
Wir gingen erst einmal zu den letzten beiden Unterrichtsstunden, aber meine Konzentrationsschwäche setzte ein und ich hatte nicht wirklich eine Ahnung, worüber der Unterricht handelte. Aber es war nicht wichtig ich fieberte dem Klingeln und gleichzeitig dem Zeichen vom Schulschluss entgegen. Als es endlich klingelte, hüpfte ein Herz gleich noch einmal schneller.
Alec grinste mich an.
>>Du kannst es wohl kaum erwarten.<<
Ich grinste sogar zurück.
>>Ich mag es bei euch.<<
Wir gingen dieses Mal durch den Haupteingang und trafen dort auf Raya und Cole. Als Raya mich erkannte, sah sie Cole fragend an. Cole grinste mich an.
>>Riley wird uns wieder besuchen. Mum wird sich freuen. Außerdem hat sie heute Mittag die Gelegenheit verpasst, irgendetwas zu essen.<<

Jetzt wo er das erwähnte, knurrte mein Magen, um seinen Worten mehr Gewicht zu übermitteln. Raya grinste jetzt auch.
Wir gingen zusammen durch den Wald. Ich lief immer sicherer und blieb nicht mehr ganz so oft an den Wurzeln hängen. Selbst wenn es mir dennoch passierte, unterstützte mich einer der drei immer, mein Gleichgewicht zu finden. Meist lachten sie ein wenig, aber es störte mich nicht. Die Freude auf den Wald überwog alles andere. Es war wieder ein sonniger Tag. Aber das war zu erwarten, schließlich war es Sommer.
Wir kamen endlich am Dorfeingang an und liefen ins Dorf. Es war heute wieder alles friedlich, der Junge hat es also gut überstanden, ansonsten würde hier wohl eine traurigere Stimmung herrschen. Ich staunte nicht schlecht, als der besagte Junge uns mit seiner älteren Schwester entgegen lief. Die schwarzen Locken beider Kindsköpfe wehten im Wind. Man sah jetzt viel deutlicher, dass sie Geschwister sind.
Dadurch dass seine Augen dieses Mal geöffnet waren, konnte ich erkennen, dass er genau wie seine Schwester fast schwarze Augen hatte.
Kein Mensch würde merken, dass er gestern blutüberströmt auf einem Tisch, welcher provisorisch zum Operationstisch umdisponiert wurde, lag.
Entweder waren seine Verletzungen nicht so schlimm, wie es aussah, oder er hatte krasse Schmerzmittel bekommen. Seine Wunden mussten doch schmerzen, wenn er so herum tollte. Er lief in Coles Arme und dieser hob ihn hoch und wirbelte ihn durch die Luft. Der kleine Junge lachte glücklich und auch Cole lachte.
>>Hey, was machst du denn hier draußen? Solltest du nicht im Bett bleiben und dich erholen?<<
Cole setzte den kleinen Buben wieder ab und zwinkerte ihm zu. Der kleine Junge stöhnte.
>>Es war aber viiiel zu langweilig im Bett. Außerdem geht’s mir schon viel besser, das war nicht so schlimm.<<
Seine Schwester stemmte ihre Arme in ihre Hüfte und sah ihren kleinen Bruder vorwurfsvoll an.
>>Nicht so schlimm? Du hättest beinahe deine Leber verloren! Wenn Mama heraus findet, dass schon aufgestanden bist, macht sie uns Beide einen Kopf kürzer!<<
Der Junge streckte seiner Schwester die Zunge heraus.
>>Nein nur dir! Denn du hast die Verantwortung für mich! Du bist die Ältere!<<
Bevor seine ältere Schwester auf ihn los gehen konnte, versteckte der kleine Junge sich hinter Cole und dieser fing seine Schwester ab. Er drehte sich ernst voll guckend zu dem kleinen Jungen um und hockte sich hin.
>>Jared, du bist der Junge! Du hast die Verantwortung gegenüber deiner Familie und vor allem gegenüber von Mila. Du musst lernen, dass dein Leben Verantwortung und Pflicht mit sich bringt.<<
Der Junge, der anscheinend Jared hieß, verdrehte seine Augen und rannte davon. Seine ältere Schwester, die wohl Mila hier, folgte ihm schnell.
Ich sah zu Cole.
>>Glaubst du es ist richtig, einem so kleinen Kerl so eine große Bürde von Verantwortung aufzulasten?<<
Es kam mir nicht richtig vor und zeugte eigentlich nicht von Verantwortung, wenn man sie einem kleineren Jungen aufhalst. Aber Cole sah mich ernst an.
>>Er muss lernen, Verantwortung zu tragen. So ist das bei uns. Wir wohnen ihm Wald. Hier gibt es Tiere, Gebiete und Feinde. Er muss lernen Verantwortung zu tragen. Bei uns trägt der älteste Mann im Haus, die Verantwortung. Wenn sein Vater plötzlich nicht mehr wäre, würde er diesen Platz einnehmen, egal wie alt er ist.<<
Cole sagt das mit so viel Pflichtbewusstsein und Überzeugung, dass es mich zum Nachdenken brachte. Sie sind im Wald aufgewachsen, vielleicht ist es wirklich besser, wenn sie schon von Anfang an lernen, damit umzugehen.
Aber Cole redete auch so, als wüsste er, wovon er redete.
Cole ging voraus zum Haus und Raya folgte ihm unmittelbar. Alec hielt mich kurz zurück, als ich zögerte.
>>Riley, nimm dir seine Reaktion nicht sehr zu Herzen. Unser Vater ist gestorben, als Cole 10, ich 8 und Raya erst 6 war. Das brachte für Cole eine große Verantwortung mit. Er hat die Vaterrolle und die Rolle des Mannes im Haus übernommen. Deshalb reagiert er jetzt ein wenig empfindlich. Er trägt einfach fast die komplette Verantwortung auf seinen Schultern. Deswegen nimmt er unseren Kodex des Beschützens auch sehr ernst und reagierte sofort, als uns Aidens Verhalten auffiel. Aber das ist alles normal bei uns.<<
Ich nickte verständnisvoll. Wenn die Situation natürlich so liegt, ist es etwas ganz anderes. Er möchte einfach nur seine Dorfmitglieder auf Situationen vorbereiten, die passieren können, wenn man im Wald lebt.
Alec und Ich kamen auf die Veranda ihres Hauses. Am Ende wartete Cole auf uns. Alec ging an ihm vorbei ins Haus. Ich öffnete vorsichtig den Mund.
>>Es tut mir leid.ich wollte dich nicht verletzen.<<
Cole lächelte leicht mein schiefes Lächeln. Ich liebte es an ihm. Es offenbarte seine Verletzbarkeit. Denn auch er konnte verletzt werden, Physisch wie Psychisch. Das zeigte er natürlich nicht jedem und es freute mich, dass ich für ihn nicht irgendwer war.
>>Ist schon okay, das konntest du nicht wissen.<<
Er führte mich ins Haus.
>>Mum, wir haben Besuch!<<
Seine Mutter Saya kam tanzend in den Flur, sie lächelte freundlich und überschwänglich, als sie mich erblickte.
>>Riley, es freut mich total, dass du hier bist, was macht der Arm?<<
Ich fasste an meinen linken Arm. Er war ja immer noch genäht. Aber das konnte niemand sehen und ich hatte mich nach den ersten Stunden so sehr an den Schmerz gewöhnt, dass ich es total verdrängt hatte, dass es da war. Ich lächelte Saya immer noch dankbar für ihre Hilfe auch freundlich an.
>>Ganz gut.<<
Cole grinste.
>>Was gibt’s zu Essen?<<
Saya verdrehte ihre Augen und gab Cole einen Klaps gegen seine Brust.
>>Du bist aber auch verfressen. Es gibt Lasagne. Lass aber etwas für Jared und Mila nachher übrig. Sie kommen rüber.<<
Hier im Dorf schienen sie für einander zu sorgen. Es ist, als wären sie eine sehr große Familie. Wir setzten uns an den Tisch und sie füllten mir auch einen Teller auf. Es roch sehr lecker, außerdem herrschte hier eine sehr lockere Stimmung. Es wurde gequatscht. Hier fühlte ich mich tatsächlich wohler, als bei mir in der Wohngruppe.
Saya sagte etwas, was die Jungs sofort zum schweigen brachte.
>>Und heute wieder mit einem vom Tal angelegt?<<
Ich verstand nicht direkt, was sie damit meinte, aber die Jungs schienen es sofort zu wissen und hatten ein schlechtes Gewissen, so wie sie guckten.
Alec fand seine Sprache zuerst. Er murmelte ziemlich leise.

>>Nein, heute mit einem von der Sonne.<<
Saya ließ ihre Gabel mit offenem Mund fallen. Es klirrte ziemlich hässlich und alle schwiegen. Meinte Alec damit Aiden? Und wenn ja, warum war es so schlimm? Saya fand ihre Stimme als erstes wieder.
>>Was habt ihr getan?<<
Ihre Worte klangen ruhig und leise. Bedrohlich leise. Als wäre es die Ruhe vor dem Sturm. Cole ging sofort in die Verteidigung.
>>Es war berechtigt.<<
Saya ließ ihn mit einem Blick verstummen.
>>Ich habe gefragt, was ihr getan habt, Cole!<<
Alec lehnte sich seufzend nach hinten.
>>Nichts Mum. Er hat uns den ganzen Tag beobachtet, es war gruselig. Er hat es für jemand anderen getan, er wollte nicht verraten warum, wir haben es ganz gewaltfrei gelöst. Cole hat ihm nur deutlich gemacht, was er davon hielt.<<
Saya sah erst zu Alec und dann zu Cole.
>>Er hat EUCH beobachtet?<<
Sie betonte das Wort euch ziemlich deutlich, als wüsste sie, dass es nicht sehr wahrscheinlich ist. Ich kaute auf meinem Ringpiercing in meiner Oberlippe herum, das machte ich immer, wenn ich nervös wurde.
>>Nein. Er hat hauptsächlich mich beobachtet. Es tut mir leid, wenn sie Alec und Cole meinetwegen in Schwierigkeiten gebracht haben, aber sie haben ihn doch nur gefragt, warum.<<
Saya sah mich an. Ihre Augen wurde ein wenig schmaler.
>>Und warum hat er es getan.<<
Cole schlug auf dem Tisch.
>>Mum! Er hat es nicht gesagt. Er hat es einfach getan und meinte, er wäre für jemanden der stille Beobachter gewesen. Es ist nichts passiert, aber ich habe unseren Kodex verteidigt, mehr nicht.<<
Coles Stimme klang fest und energisch. Nicht laut oder kindlich. Sondern wie ein gefestigter Kerl. Ich verstand jetzt Alecs Aussage, dass Cole die Rolle des Mannes im Haus übernommen hat. Saya atmete tief auf und lockerte sich wieder.
>>Okay. Dann ist es okay. Wenn ihr euren Grund hattet, dann tut es mir leid, dass ich euch angezweifelt habe.<<
So schnell wie die Stimmung gesunken war, desto schneller heiterte sie sich auch wieder auf und ehe ich mich versah, befand ich mich wieder in einer lockeren und lustigen Stimmung.
Leider hielt das nicht lange an. Plötzlich heulte es wieder. Aber es klang dieses Mal nicht nach einem verletzten Wolf. Eher nach einem Ruf, nach den Rudel Mitgliedern. Was sollte es bedeuten?
Saya, Alec, Cole und Raya standen auf und rannten auf die Veranda. Ich folgte ihnen vorsichtig und etwas langsamer. Als wir draußen standen, sah ich es. Es war Aiden. Er stand am Eingang des Dorfes. Er hatte die Hände abwehrend und zeigend leicht in die Höhe gehoben. Ein Paar Meter vor ihm stand ein ziemlich großer und kräftiger Mann. Vor ihm hätte ich Angst. Er war links und rechts von zwei sehr großen Wölfen flankiert. Meiner war nicht dabei. Ich wusste ja, dass das Dorf im Wald lebte, aber ich wusste nicht, dass sie Wölfe an ihrer Seite hatten. Aber anscheinend brachte man sie, wenn man im Wald zwischen gefährlichen Tieren lebte. Cole spannte sich sofort an und knurrte leise.
>>Wenn man vom Teufel spricht, ist er natürlich nicht weit.<<
Auf dem höchsten Felsen in der Nähe des Eingangs stand ein fast schwarzer Wolf. Er war größer als jeder Wolf, den ich bisher gesehen hatte. Er schimmerte in der Sonne bläulich. Er hatte genau wie Cole hellblaue Augen mit einem schwarzen Rand um der Linse. Sie stachen aus dem Wolf heraus, wie der Himmel aus der Dunkelheit. Ich würde sagen, dass dieser Wolf ein Anführer war und er geheult hatte.
Er setzte sich auf den Felsen, nachdem er einmal in unsere Richtung gesehen hatte, es kam mir sogar vor, dass er mich direkt angesehen hatte.
Aiden fing an zu sprechen. Sehr laut und deutlich.
>>Ich komme in friedlichen Absichten. Ich möchte nur zu einem Mädchen, das momentan unter euch weilt. Riley.<<
Er sah zu mir und in meine Augen. Ich wurde rot, alle drehten sich zu mir herum und starrten mich an. Aiden nahm seine Hände jetzt hinunter. Wartend sah er wieder zu mir. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, oder was von mir jetzt erwartet wurde. Cole stellte sich wieder beschützend vor mich und knurrte wieder.
>>Vergiss es Aiden, geh wieder.<<
Saya legte ihre Hand auf die Schulter ihres Sohnes.
>>Provoziere keinen Streit. Gehe deiner Pflicht nach.<<
Es hörte sich so ähnlich an, wie Coles eigene Worte vorhin bei Jared. Cole sah sie verblüfft an. Alec nickte ihm zu.
>>Ich werde mit euch gehen. Sie wird das Dorf nicht verlassen, aber lass uns mit ihm reden. Vielleicht erklärt er sich jetzt.<<
Cole lockerte sich etwas und nickte. Er drehte sich zu mir herum. Er griff nach meiner Hand.
>>Bitte bleibe hinter mir.<<
Ich nickte kurz. Es war mir sowieso lieber, wenn er vorging. Ich vertraute ihm und fühlte mich geborgen in seiner Nähe. Zwar erschien Aiden mir gegenüber friedlich, aber es musste ja etwas heißen, wenn alle Leute ihn erwarteten und sogar Wölfe als Schutz riefen.
Wir gingen also zu ihm runter. Cole ging voran und rechts neben ihm lief Alec. In der Mitte leicht hinter Cole lief ich. Die Wölfe machten uns Platz und der sehr kräftige Mann nickte Cole zu. Er lief mit den Wölfen ein paar Meter zurück, aber ließ uns nicht aus den Augen. Sein Blick bohrte sich in meinen Rücken.
Aiden nickte mir freundlich zu. Dann sah er gefestigt zu Cole und Alec.
>>Danke.<<

Cole knurrte wieder.
>>Du warst also der stille Beobachter! Wir haben es verstanden, was willst du?<<
>>Zu Riley.<<
>>Von wem warst du der stille Beobachter?<<
Aiden antwortet darauf nicht und Plötzlich erschien noch jemand. Er hatte schwarze etwas längere Haare und am Ende lockten sie sich. Sein Kopf hatte er leicht gebeugt, wir konnten sein Gesicht nicht sehen.
>>Von mir. Ich habe sie suchen lassen. Aiden hat sie gefunden.<<
Er hob seinen Kopf und unsere Blicke trafen sich.
Ich keuchte auf.
Alles um mich herum verschwamm und drehte sich.
Es war unmöglich, es konnte nicht wahr sein.
Aber sie verschwanden nicht.
Der Junge stand vor mir.
Er hatte meine Augen.
Ein linkes hellgrünes Auge.
Ein rechtes dunkelgrünes Auge.
Wer war der Junge mit meinen Augen?

Der Junge aus der Vergangenheit

 

Ich stolperte zurück. Cole und Alec duckten sich und spannten ihre Muskeln an. Knurrend fletschten sie die Zähne. Mein Kopf pulsierte und meine Lippen zittern. Ich schnappte immer wieder nach Luft, aber meine Kehle war zugeschnürt. Ich konnte nicht atmen. Meine Knie fingen an zu zittern, ich stand nur ein paar Minuten vor einer vollen Panikattacke. Der Junge hatte meine Augen. Das war doch nicht möglich? Was bedeutete es? Es konnte nicht wahr sein. Wie sollte es so sein? Es waren meine Augen. Diese waren außergewöhnlich und einmalig, er konnte nicht meine Augenfarbe haben. Meine Knie brachen unter mir zusammen. Ich sackte auf meine Knie. Bevor ich mein Bewusstsein verlor, wagte der Junge einen Schritt auf uns zu. Auch er hob seine Hände in die Höhe.
>>Ich bin in friedlichen Absichten. Sie verliert gleich das Bewusstsein. Bitte. Kann nicht einer von euch, ihr wenigstens zuerst helfen.<<
Cole drehte sich kurz zu mir herum. Ich sah ihm noch in die Augen und dann wurde langsam alles schwarz. Ich sackte nach vorne. Aber bevor ich mit meinem Gesicht auf die Erde fiel, fing Cole mich auf. Mein Gesicht prallte stattdessen gegen seine Brust. Er drehte mich herum, jetzt lag mein Kopf in seinem Schoß. Er strich mit seinen Händen, meine Haare aus meinem Gesicht. Meine Augen waren nur leicht geöffnet und ich atmete nur noch sehr flach. Es erschien mir alles soweit weg. Alles was ich noch wahr nahm, waren Coles hellblaue Augen. Ich klammerte mich an ihnen fest.
Seine Augen waren mein Halt in der Realität. Coles Stimme drang zu mir durch, als wäre sie Meter weit entfernt.
>>Bleibe bei mir bitte. Wir kümmern uns darum, wir finden es heraus. Bitte, ich brauche dich doch. Ich brauchte Wasser!<<
Jemand brachte Wasser und er kippte es mir gnadenlos ins Gesicht. Er strich mir die Tropfen aus den Augen und zog sein T-Shirt aus, damit er mein Gesicht trocknen konnte. So langsam kam ich wieder zu Bewusstsein.
>>Cole.<<
Er war sehr muskulös und er hatte einen wirklich dunklen Teint. Cole grinste, als er merkte, dass ich ihn musterte.
>>Wenn du wolltest, dass ich mein T-Shirt ausziehe, hättest du mich einfach darum fragen können.<<
Hinter uns hörte ich ein Knurren. Coles Grinsen verschwand und ich sah die Wut in seinen Augen auflodern. Er wollte meinen Kopf vorsichtig ins Gras legen, aber ich hielt ihn am Arm fest.
>>Bitte nicht.<<
Dieses Mal sah mein Blick ihn flehentlich an. Ich hätte seine Antwort wahrscheinlich auch aus seinen Augen lesen können, aber ich war zu schwach dafür. Müdigkeit machte sich breit. Das restliche Adrenalin verschwand aus meinem Körper. Meine Augenlider flackerten, lange konnte ich meine Augen bestimmt nicht mehr offen halten.
Cole schloss kurz seine Augen und nahm mich dann hoch.
>>Natürlich nicht.<<
Er brachte mich fort. Fort von Aiden und fort von diesem Jungen. Ich wollte auch ehrlich gesagt gar nicht wissen, warum er da war und wer er war. Ich hätte Vermutungen anstellen können, warum wir die gleichen Augenfarben haben, aber ich fühlte mich zu schwach. Ich konnte meine Augen kaum offen halten.
Cole legte mich aufs Sofa und setzte sich neben mich. Er schickte alle raus, die herein kamen. Er ließ nicht zu, dass irgendwer Fragen stellte. Er ließ nicht einmal seine Familienmitglieder ins Haus. Er knurrte jedes Mal, wenn jemand das Zimmer betrat. Irgendetwas an diesem Knurren ließ die Menschen jedes Mal fast fluchtartig das Haus verlassen.

Irgendwann schlossen sich meine Augen.
Ich wusste nicht wie lange ich schlief.

Als ich wieder zu mir kam, war es immer noch sehr hell und Cole saß immer noch auf dem Sofa. Er beobachtete mich und lächelte, als ich ihn anlächelte.
>>Du hast uns einen ganz schönen Schock eingejagt. Ich bin froh, dass du wieder anwesend bist. Aiden und dieser Junge sind immer noch da. Sie sitzen am Eingang des Dorfes. Er hat nicht viel mit uns geredet. Das einzige was er sagt ist, dass er nur mit dir reden wird. Ich frage dich nun, soll ich sie wegschicken? Oder soll ich dich noch einmal zu ihm bringen?<<
Ich sah zur Tür. Ich musste es wohl tun. Ich musste wissen, wer er war. Also nickte ich. Cole griff nach meiner Hand. Aber bevor er mich hinaus fühlte, strich er mir vorsichtig über die Wange.
>>Ich werde nicht zulassen, dass er dich verletzt. Ich verspreche es.<<
Er sah mir ernst in die Augen. In seinem Gesicht lag die vollkommene Ehrlichkeit, dass er dieses Versprechen halten würde. Cole war kein Typ, der sein versprechen brach. Also nickte ich wieder. Er brachte mich wieder zum Eingang.
Dort stand er. Er hatte leider Gottes immer noch meine Augen. Als er mich erblickte, verschwand der sorgenvolle Ausdruck aus seinem Gesicht und machte der Erleichterung Platz. Er kam einen Schritt auf uns zu.
>>Riley!<<
Cole knurrte kurz und sah ihn mahnend an.
Der Junge wich sofort wieder ein paar Schritte zurück. Ich stand immer noch leicht hinter Cole. Der Junge versuchte es zu ignorieren.
>>Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht so erschrecken.<<
Ich sah ihn einfach nur an und wollte einfach nur diese eine Frage beantwortet haben, die sich mir immer wieder stellte.
>>Wer bist du?<<
Der Junge fuhr sich durch seine schwarzen Locken. Sein Gesicht war vor Schmerz verzehrt.
>>Es ist nicht so einfach, wie du denkst. Ich muss von vorne anfangen, ansonsten würdest du zu schnell urteilen. Aber ich will mich erklären können. Das können wir hier nicht. Komm bitte mit mir. Du gehörst nicht hier her.<<
Cole knurrte und schob mich weiter hinter sich.
>>Du hast keine Ahnung, also entweder du fängst an zu reden oder verschwindest, Riley wird nicht einen Schritt mit dir gehen!<<
Der Junge wurde sofort wütend und ging auf Cole los.
>>Das kann sie selber entscheiden!<<
Cole warnte den Jungen knurrend. Aber er hörte nicht auf ihn, er rannte weiter auf uns zu. Cole spannte sich an und wartete lauernd auf ihn. Als er ausholte, holte Cole auch gleichzeitig aus. Er schlug dem Jungen mit seinem Arm gegen die Brust. Der Junge flog ein paar Meter zurück und blieb kurz liegen, bevor er leichtfüßig aufsprang. Er fletschte die Zähne.
Cole knurrte wieder warnend.
>>Das ist unser Territorium, hier wirst du nach unseren Regeln handeln! Ich weiß aus welchem Clan du kommst und hier ist kein neutraler Boden!<<
Der Junge schloss kurz die Augen und schüttelte sich.
>>Es tut mir leid. Ich habe ein sehr aufbrausendes Temperament. Ich will doch einfach nur mit ihr reden!<<
Cole entspannte sich wieder.
>>Dann höre auf dich wie ein kleiner Junge zu benehmen und sei ein Mann. Sie hat gefragt, wer du bist!<<
Ich stieß meinen Atem aus, ich hatte nicht einmal gemerkt, dass ich ihn angehalten hatte. Der Junge nickte.
>>Ich bin Rik und 15 Jahre alt. Ich habe von dir erfahren, als ich kurz vor meinem 10. Geburtstag stand. Mein Vater nahm mich mit und fuhr mit mir zu einem Kinderheim. Wir standen also vor diesem Fenster und starrten hinein. Da habe ich dich das erste Mal gesehen. Deine schwarzen Haare waren sogar noch etwas länger. Ich habe deine Augen gesehen. Ich hatte den selben Schock, wie du vorhin.
Wir gingen zur Tür und mein Vater sagte nicht ein Wort. Er holte ein Kästchen hervor. Auf diesem Kästchen stand dein Name. Riley. In diesem Kästchen war die schönste Blume aus unserem Tal. Sie war schon vertrocknet, aber immer noch wunderschön. Wir legten also dieses Kästchen ab und gingen wieder. Ich hielt es nicht aus. Ich wollte wieder zu dir. Ich wollte dich wieder sehen. Ich dachte jeden Tag an dich. Aber als ich das nächste Mal dort war, warst du fort. Sie wollten mir keine Auskunft geben, sie sagten nur, dass du eine neue Familie gefunden hast und geliebt wirst.<<
Er stockte. Tränen liefen über sein Gesicht. Genau wie bei mir. Ich wusste natürlich sofort von welchem Kästchen er sprach. In diesem Moment sammelten sich immer mehr Tränen an.
>>Wieso erst an diesem Tag?<<
Warum erst da? Warum kam erst nach 12 Jahren? Rik fiel auf die Knie und vergrub sein Gesicht in seinen Händen.
>>Ich wusste es nicht. Ich habe erst an diesem Tag von dir erfahren. Ich habe seit dem nach dir gesucht. Es wurde in unserem Dorf immer schlimmer. Du hättest nicht existieren dürfen. Du warst verboten. Ich komme aus einem Clan der viele Feinde hat. Er ist sehr stark verfeindet mit einem anderen. Wir dürfen nicht mit diesem anderen Clan Kontakt halten, aber mein Vater tat es trotzdem. Ich weiß nicht viel, ich weiß nur, dass sie dir ein Leben schenken wollten. Ein gutes Leben. Denn das hättest du nicht, wenn du bei ihnen geblieben wärst.<<
Cole erstarrte bei seinen Worten immer mehr. Er knurrte wütend auf.
>>Das ist nicht möglich!<<
Ich sah ihn an. Wusste er etwas? Cole sah zu mir. Schmerz war in seinem Gesicht geschrieben.
>>Du bist ein Kind, zwischen zwei verfeindeten Clans. Es sind Dörfer, wie unseres. Dein Vater ist aus dem Clan der Wölfe des Tales. Deine Mutter ist aus dem Clan der Mondwölfe. Sie hassen sich einander und haben ein Abkommen geschlossen. Es dürfte niemals eine Vermischung der Clans geben. Sobald sie sich sehen, greifen sie sich an. Er hat Recht. Du hättest nach einem ungeschrieben Gesetz der Loyalität nicht entstehen dürfen. Es existieren verschiedene Gesetze im Wald, in den Clans. Wenn zum Beispiel ein Kind zwischen zwei verschiedenen Clanmitgliedern entsteht, dann bleibt das Kind bei der Mutter. Der Vater verliert jedes Recht an dieses Kind, dagegen kommt man nur an, wenn man wegläuft und verbannt ist, aber dann wären diese Mitglieder für immer allein. Sie hätten niemals wieder eine Familie oder Zugang, es sei denn sie werden von einem anderen Clan aufgenommen, aber das ist sehr selten.<<
Ich verstand es nicht, was heißt das alles? Ich gehörte zu einem Dorf. Einem Dorf, welches im Wald lebte? Cole sah meinen verständnislosen Blick.
>>Du wirst es verstehen. Aber eines kannst du mir glauben, wenn deine Mutter dich behalten hätte, dann wärt ihr verstoßen worden. Dann wärt ihr für immer auf der Flucht, wenn nicht sogar schlimmeres. Du hättest niemals eine Chance auf ein Leben gehabt, nirgendwo. Nicht in der Stadt und nicht im Wald. Aber jetzt wo du 17 bist. Wird es noch schwieriger für dich.<<
Warum? Was passierte denn jetzt mit mir? Wer war ich? Ich wusste immer noch nicht, wer ich war. Schließlich bin ich ein Kind von zwei Dörfern. Das ist wie ein Kind mit Eltern aus unterschiedlichen Ländern. Nur dass sie es anscheinend ernster nahmen. Cole strich mir mein Haar aus dem Gesicht.
>>Wir schaffen es. Aber darf ich vorstellen, Rik ist dein Halbbruder.<<
Ich hatte es mir schon fast gedacht. Aber ich konnte es nicht aussprechen. Immerhin hat er mich gesucht, was man von meinen Eltern nicht behaupten konnte. Ich drehte mich zu Rik.
Er sah mich verzweifelt an. Wir waren uns so ähnlich, das muss ich dann also von meinem Vater haben.
>>Wohin gehöre ich jetzt? Nirgendwohin?<<
Eine Stimme mischte sich ein, die ich bisher noch nicht gehört hatte.
Sie klang weise und ruhig.
>>Du kannst zu uns gehören. Wenn du willst. Und wenn du komplett weißt wer du bist.<<
Ich drehte mich zu der Stimme herum. Es war ein Mann. Er war riesig, bestimmt über 2 Meter groß. Er hatte dunkle kurze Haare mit einem grauen Ansatz. Er muss sehr alt und sehr weise sein. Seine Augen waren genauso blau, wie die von dem Wolf. Ich sah zum Felsen, aber er war verschwunden. Ich sah zurück zu diesem Mann.
>>Was heißt, wenn ich komplett weiß, wer ich bin? Wer weiß das schon?<<
Der Mann lächelte leicht.
>>Du wirst es wissen.<<
Cole neigte leicht seinen Kopf.
>>Wie willst du das erreichen?<<

Der Mann sah zu Cole.
>>Ich werde dafür Sorgen, dass ich sie adoptieren kann.<<
Es war wie eine Faust in mein Gesicht.
Er will mich adoptieren?
Was bitte ist gerade passiert?
Dieser Mann will mich adoptieren?

Wo bitte bin ich hier gerade hinein geraten?

Die Einweihung in die Clans

 

Ich schluckte schwer.
>>Muss ich denn vorher wissen, wer ich bin?<<
Meine Stimme klang zaghaft. Aber Der Mann lachte leise.
>>Nein das wird noch ein wenig dauern. Ich rede gleich morgen Vormittag mit meiner Verbindung beim Jugendamt, am Anfang der Woche kannst du schon hier einziehen.<<
Er verschwand einfach im Wald. Ich stand dort wie ein begossener Pudel. Das ist alles zu viel für mich. Erst erfahre ich, dass ich einen Halbbruder habe. Dann, dass ich ein Kind zwischen zwei Dörfern oder eher gesagt Clans bin, was verboten war. Dann, dass mich ein Fremder adoptieren soll und dass ich ab Montag im Wald leben kann. Welcher normaler Mensch würde das bitte verstehen?
Rik mischte sich wieder ein.
>>Das ist gut für dich. Es wäre das Beste. Du musst jetzt zu einem Clan gehören, denn du bist 17 geworden. Dein leben wird jetzt komplizierter.<<
Ich drehte mich zu Rik. Er war Schuld. Wenn er nicht gekommen wäre, wäre das alles nicht passiert. Und jetzt sagt er mir, dass es so das Beste wäre? Ich wurde wütend. Feuer brannte in meiner Brust. Ich unterdrückte es nicht. Ich war es leid, es zu unterdrücken. Ich ließ das Feuer zu. Ich rannte wütend auf Rik zu. Rik wich sofort zurück, als er meinen wütenden Gesichtsausdruck sah.
Ich wollte ihn schlagen, ich wollte meine Wut rauslassen, er war Schuld. Er war schuld an meinem Leben.
Ich kam bei ihm an und schubste ihn zu Boden. Rik wehrte sich nicht wirklich.
>>Beruhige dich bitte. Ich kann nichts dafür. Du wirst es irgendwann verstehen. Du bist nicht irgendein Mädchen. Du bist die Tochter eines Clans, naja also von Mitglieder von verschiedenen Clans. Aber darum geht es nicht. Du.<<
Mehr konnte er nicht sagen, ich schlug ihn. Meine Faust prallte auf seinen Mund. Seine Lippe platzte auf und fing an zu bluten. Ich erschrak, als ich es bemerkte.
Plötzlich war Aiden da. Er umfasste meine Faust. Er strahlte eine friedliche Ruhe aus, die mich besänftigte.
>>Riley. Bitte. Wenn jemand Schuld hat, dann deine Eltern. Dein Bruder kann nichts dafür. Er hat sein Leben und seine Familie geopfert, damit er dich finden konnte.<<
Ich sah Aiden fragend an. Was bedeutete, denn das schon wieder? Aiden sah traurig aus.
>>Rik wird verbannt. Er wird verstoßen. Sein Vater ist geflohen. Seine Mutter hat ihm gegenüber das Chorix ausgesprochen. Bitte, er hat schon genug gelitten.<<
Ich knurrte. Woher sollte ich wissen, was ein Chorix war?
Rik stand mit zitternden Knien auf.
>>Bitte Riley. Ich erkläre es, beruhige dich einfach nur. Meine Mutter Kara hat von dir erfahren. Sie hat das Chorix ausgesprochen.<<
>>Was ist das?<<
Rik hob abwehrend die Hände.
>>Das Chorix bedeutet, dass ich verstoßen bin, dass meine Mutter kein Kind, in meinem Fall keinen Sohn mehr hat. Ihre Worte waren. Du bist jetzt das Chorix. Es heißt übersetzt genau. Du bist jetzt verstoßen und ich habe kein Kind mehr. Ich habe also keine Mutter mehr. Und keinen Vater, weil er geflohen ist. Das war, weil ich dich finden wollte. Meine Gefühlen und mein Instinkt haben mir gesagt, dass du meine Schwester bist, dass du alleine bist und mich brauchst. Ich bin dein Bruder.<<
Er nahm meine Hand und legte sie ihm auf seine Brust. Ich fühlte seinen Herzschlag.
>>Dein Blut, ist meins. Es fließt durch deine Adern, sowie durch meine. Dein Fleisch ist meins. Dein Fleisch umschließt deine Knochen, sowie meine. Dein Herz schlägt in meiner Brust. Du bist mein Blut, mein Fleisch, mein Herz. Du bist meine Familie.<<
Ich war gebannt von seinen Worten. Es klang wie ein Schwur. Ein Schwur den er mir gegenüber geleistet hat.

Er war nicht Schuld. Er hat mich nicht ausgesetzt und mich nicht nicht geliebt. Er kam her und erklärte mir, wer ich war. Er hat mich nicht gezeugt und mich nicht zu dem gemacht, wer ich war. Das waren meine Eltern. Er konnte nichts dafür, dass seine Eltern ihn nicht weggeben haben. Er war schließlich mein Bruder.
>>Du hast Recht. Es tut mir leid.<<
Rik lächelte leicht.
>>Ich liebte dich, ab der Sekunde, als ich wusste, wer du warst. Ich werde dich nie wieder verlassen, ich werde dich immer finden. <<
Es war ein Versprechen. Ich hoffte so sehr, dass er es halten würde. Aber ich war immer noch sehr verwirrt. Ich hatte plötzlich einen Bruder und ein Mann, dessen Name ich nicht einmal weiß, wollte mich adoptieren. Und was war das für eine Aussage, dass ich wissen werde, wer ich war?
Das einzige was ich wusste war:
Mein Name war Riley. Einfach nur Riley.
Ich hatte keine Ahnung wer ich war.
Ich weiß nur, ich war ein unscheinbares Mädchen, die meisten Menschen sahen mich nicht. Ich wollte nicht gesehen werden, ich wollte nur aus der Realität fliehen.
Leider holte mich meine Vergangenheit immer wieder ein.
Ich hätte aber nie gedacht, dass meine Herkunft mich irgendwann einmal einholte, denn ich hatte nie eine.
Aber es passierte.
Mehr wusste ich nicht. Was sollte ich auch noch weiteres wissen? Was kam denn noch? Ich setzte mich auf diesen Stein. Auf dem saß ich auch gestern. Gestern. Da war noch alles in Ordnung. Es war zwar ein komischer Tag, aber es war in Ordnung. Vielleicht träumte ich tatsächlich noch? Vielleicht bin ich einfach nur nicht aufgewacht, weil es ein sehr realistischer Traum war. Aber in Träumen konnte man nicht lesen. Und ich konnte lesen. Und in Träumen hatte man immer mehr Finger. Aber ich zählte an jeder meiner Hand fünf Finger. Genau so wie es sein sollte.
Ich träumte also definitiv nicht. Aber ich wollte das alles nicht.
Es war mir zu viel. Es war alles so verwirrend und durcheinander.
Ich stand auf von diesem Stein. Ich setzte mich in Bewegung und lief einfach fort. An Cole vorbei und an Rik und Aiden. Ich wollte sie nicht sehen. Ich wollte niemanden sehen. Ich wollte nicht einmal meinen Wolf sehen. Ich lief in den Wald, lief und lief immer weiter.
Wenn ich zurück sah, sah ich, dass mir keiner folgte. Ich war froh darüber. Ich wollte niemanden sehen. Ich wollte meine ruhe und darüber nachdenken, was jetzt mit mir passierte. Mein komplettes Leben war eine Lüge. Sie wollten, dass ich ein schönes Leben habe? Das ich glücklich wäre und geliebt werden würde? Aber es war nicht so! Ich wurde auf einer Müllkippe gefunden. Ich war sofort das ausgesetzte Waisenkind, das niemand wollte. Trotzdem kam ich sehr schnell in eine Pflegefamilie.
Meine erste Pflegefamilie behielt mich bis zu meinem 5. Lebensjahr. Dann starb mein damaliger Pflegevater und ich kam bis zu meinem 7. Lebensjahr ins Heim.
Meine zweite Pflegefamilie nahm mich bis zu meinem 11. Lebensjahr auf. Dieser Pflegevater schlug mich und misshandelte mich körperlich. Ich war weder glücklich noch wurde ich geliebt. Kurz vor meinem 11. Geburtstag rief eine der Lehrer bei dem Jugendamt an, weil ich nicht zum Unterricht kam, weil ich im Keller eingesperrt war und mich kaum bewegen konnte, weil mehrere meiner Rippen gebrochen waren.
Dann war ich bis kurz nach meinem 12. Geburtstag wieder im Heim.
Meine dritte Pflegefamilie nahm mich auf und behielt mich bis zu meinem 15. Lebensjahr. Dort wurde ich von meinem damaligen Pflegevater sexuell misshandelt. Ich war nicht glücklich und wurde bestimmt auch nicht so geliebt, wie man ein Kind lieben sollte. Kurz nach meinem 15. Geburtstag zeigte meine Sportlehrerin meinen Pflegevater an, weil ich in der Sport Umkleide eine Fehlgeburt hatte.
Ich kam wieder ins Heim und wurde jetzt meinem 17. Geburtstag letzte Woche Mittwoch in die Wohngruppe gebracht.
Ich war in drei verschiedenen Pflegefamilien, in vier verschiedenen Heimen und in einer Wohngruppe. Ich bin mittlerweile in der 8. Schule. Ich hatte ein beschissenes Leben. Ich habe mich selber verletzt und wurde zu einem Wrack. Ich musste zu verschiedenen Psychologen und Therapeuten. Ich hatte eigentlich kein richtiges Leben. Und das alles nur, weil meine Eltern mir ein besseres leben schenken wollten? Vielleicht hätten sie sich nach mir erkundigen sollen. Nein stattdessen schafft es erst mein Bruder mich zu finden? Und jetzt auf einmal wollte mich Jemand adoptieren?
Jemand, den ich nicht kannte?
Ich hielt an. Meine Lungen brannten und ich hatte Seitenstechen. Ich drehte mich im Kreis. Irgendetwas an dieser Stelle kam mir bekannt vor. Es war diese Felsengruppe, wo ich das erste Mal meinen Wolf getroffen hatte. Ich wollte eigentlich nicht meinen Wolf treffen, aber ich wusste auch, dass sich hier die Gebiete teilen und ich wusste nicht, in welchem ich mich gerade befand.
Ich setzte mich also auf einen der Steine dieser Felsengruppe. Ich vergrub meinen Kopf zwischen meinen Händen. Ich wollte das alles nicht. Ich wollte doch einfach nur auf diese verdammte Schule und einfach wieder in irgendeiner Ecke verschwinden. Ich wollte zeichnen und Gedichte schreiben, das was ich immer machte. Ich wollte in der letzten Reihe sitzen und mit keinem reden. Ich wollte einfach wieder ich sein.
Ich bemerkte, dass sich mir jemand näherte und sah auf.
Es war ein schwarzer gelockter wuscheliger Kopf. Aber es waren goldene Augen die mich ansahen. Es war Aiden. Ich vergrub meinen Kopf wieder zwischen meinen Händen. Ich wollte doch meine Ruhe haben. Aber Aiden sagte nichts. Er setzte sich erst einmal nur mir gegenüber und blickte in den Wald. Er strahlte ein Ruhe und einen Frieden aus. Es beruhigte mich sofort. Ich wusste nicht, wie er es machte, aber es tat mir irgendwie gut. Seine Stimme klang weich und sanft. Ganz anders als die etwas rauere Stimme von Cole.
>>Du weißt schon, wo du dich befindest?<<
Hatte diese Felsengruppe etwa eine Bedeutung? Ich blickte Aiden an und schüttelte zaghaft meinen Kopf. Aiden lächelte. Er lächelte fast immer, wenn ich ihn sah.
>>Das ist die Felsengruppe. Sieh sie dir genau an. Wie sind die Steine aufgereiht?<<
Ich sah mich um. Jetzt wo er es sagte, sahen sie aus wie ein Stern. Zumindest die größeren Steine. An jeder spitze war ein sehr großer Stein und zwischen den großen Steinen war immer jeweils ein kleiner Stein. In der Mitte dieser Felsengruppe waren viele flache Steine, aber sie alle waren sehr niedrig.
>>Es ist ein Stern.<<
Aiden lächelte jetzt noch offener. Seine Augen funkelten.
>>Es stimmt. Diese Felsengruppe ist neutral. Hier kommen einmal im Monat alle Anführer der Clans zusammen und tauschen sich aus. Oder wenn etwas vorgefallen ist, dann wird auch eine Sitzung hervorgerufen. Sie nennt sich die Sitzung der Ältesten. Meistens werden die Anführer von ein bis zwei weiteren Clanmitgliedern begleitet. Jeder Stein an der Spitze steht für einen Clan. Dieser Ort ist uns heilig, hier herrscht Frieden.<<
Ich sah von einem Stein zum anderen. Das würde ja bedeuten, dass ich hier sicher wäre. Aber welcher Stein steht für welchen Clan.
>>Es gibt 5 Clans?<<
Aiden nickte als Antwort. Er zeigte auf den Stein von uns Gegenüber.
>>Das ist das Territorium von dem Clan der Wölfe des Tales. Dies war der Clan deines Bruders und deines Vaters. Außerdem ist es der Clan von Jakob. Dieser Clan ist sehr feindselig gegenüber uns anderen. Für sie steht Gewalt als Lösung an erster Stelle. Ihr Kodex ist einfach nur. Wir der Clan der Wölfe des Tales sind der direkte Nachfahre vom Alpha des Tales, der Mächtigste und Stärkste. Damit meinen sie, dass sie die Besten sind und über alle anderen stehen, vor allem über dem Clan der Mondwölfe.<<
Er zeigte auf dem Stein links von uns, der gleichzeitig zwischen unserem Stein und dem von uns Gegenüber liegt.
>>Das ist das Territorium von dem Clan der Mondwölfe. Dies ist der Clan deiner Mutter. Ihr Kodex ist. Wir der Clan der Mondwölfe jagen diejenigen, die uns jagen. Damit meinen sie am meisten den Clan der Wölfe des Tales. Sie sind eigentlich nicht sehr Gewalt befangen. Aber sie lassen sich nichts gefallen.<<
Dann zeigte er auf den Stein rechts von dem Stein uns gegenüber.
>>Dies ist das Territorium von dem Clan der Wölfe der Sonne. Das ist mein Clan. Unser Kodex lautet Wir der Clan der Wölfe der Sonne ehren die Erde, unsere Mitmenschen und den Frieden. Wir wenden Gewalt nur im schlimmsten Notfall an, nur wenn es der einzige Ausweg sind. Wir sind die friedlichsten. Wir lügen nicht, wir sündigen nicht. Wir sind sozusagen die Reinen der Clans.<<
Er klang stolz. Schließlich zeigte er auf den Stein rechts von uns.
>>Dies ist das Territorium von dem Clan der Wölfe des Lichts. Aus diesem Clan kenne ich niemanden. Dieser Clan ist an sich nur unter sich. Ihr Kodex lautet
Wir der Clan der Wölfe des Lichts schwören der Erde ewige Treue.
Das heißt eigentlich so viel, dass sie niemals aus dem Wald herauskommen. Sie haben nichts aus der Stadt, man könnte sagen, sie leben von nichts anderem, außer das aus der Erde. Also nichts aus dem Supermarkt und so.<<
Endlich kam er zu dem Stein, auf dem wir saßen.
>>Dies ist das Territorium von dem Clan der blauen Wölfe. Ihr Kodex lautet Wir der Clan der blauen Wölfe beschützen unsere Familie und diejenigen, die sich nicht selber beschützen können. Das bedeutet, dass sie ihren Clan und die Menschen beschützen. Sie würden jeden beschützen, der schwächer als sein Gegner ist. Sie setzen Gewalt nicht immer ein, sie sind sehr respektvoll. Vor allem Cole. Denn wer zu diesem Clan gehört, das weißt du.<<
Ich nickte. Es war alles sehr viel auf einmal, aber vielleicht könnte ich es verstehen. Aiden lächelte und strich mir die Haare hinters Ohr.
>>Jeder Clan hat ein Markenzeichen. Willst du sie wissen?<<
Ich war neugierig und nickte sofort übereifrig. Aiden grinste jetzt.

>>Wenn ein Clanmitglied dieses Zeichen trägt, dann schuldet man ihm seinen Respekt, denn es zeugt, dass derjenige mit besonderer Kraft, Stärke und Schnelligkeit gesegnet ist. Das Zeichen der Mondwölfe ist, dass bei Vollmond ihre Augen aufleuchten. Das Zeichen der Wölfe der Sonne sind goldene fast Bernsteinfarbene Augen. Das Zeichen der Wölfe des Lichts sind weiße Haare und das Zeichen der blauen Wölfe sind hellblaue Augen mit einem schwarzen Rand um die Linse.<<
Er sah mich an und fuhr dann leise fort.
>>Das Zeichen der Wölfe des Tales sind die grünen Augen. Ein hellgrünes linke Augen und ein dunkelgrünes rechtes Auge.<<
Er sah mich mit einem leicht besorgtem Blick an. Er meinte meine Augen. Ich schluckte.
>>Warum hat mir Cole das nie gesagt? Er musste es doch wissen?<<
Aiden lächelte entschuldigend.
>>Hättest du es Cole geglaubt?<<
Nein wahrscheinlich nicht. Ich hätte es nicht verstanden. Es war auch eigentlich nicht Coles Aufgabe mir das zu sagen. Ich dachte über die Zeichen nach. Cole hatte das Zeichen, Raya auch. Rik und ich anscheinend auch. Sogar Aiden hatte das Zeichen. Aber Jakob und Alec zum Beispiel hatten nicht ihr Zeichen.

>>Heißt es jetzt, dass ich automatisch zu diesem Clan der Wölfe des Tales gehöre?<<
Aiden schüttelte langsam den Kopf.
>>Nein nicht unbedingt. Es sind nur Zeichen, die zeigen, dass du besonders bist. Aber du bist noch kein Mitglied irgendeines Clans.<<
Ich sah ihn verständnislos an.
>>Warum?<<
Aiden sah mich lange an, bevor er mir antwortete.

>>Du trägst kein Merkmal.<<

Die Adoption

 

Ich war verwirrt. Ich hatte ein Zeichen, aber kein Merkmal?
>>Welches Merkmal?<<

Aiden zog sich sein T-Shirt aus. Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Was sollte das werden? Ich konnte seine vielen Muskeln sehen und seine Haut schimmerte ein wenig in der Sonne. Aiden grinste und stupste gegen mein Kinn. Ich schloss beschämt meinen Mund.
>>Sie dir lieber meinen Rücken an.<<
Ich runzelte die Stirn. Ich sollte mir seinen Rücken ansehen? Aiden drehte sich mit dem Rücken zu mir und ich verstand warum. Er hatte ein Tattoo. Ein sehr großes. Es war über den gesamten oberen rücken und beiden Schulterblättern ausgebreitet.
Es war ein Wolf mit goldenen Augen der seinen Kopf in den Nacken gelegt hatte und heulte. Aber er stand direkt vor der Sonne, als würde er die Sonne an heulen.
Es sah so schön aus, aber schien auch sehr alt zu sein.
Ich streckte meine Finger aus und fuhr mit den Fingerspitzen über den Wolf. Es war wunderschön. Diese Augen erinnerten mich an Aidens Augen selber.
Aiden drehte sich wieder zu mir und grinste. Er zog sich sein T-Shirt wieder über.
>>Ich weiß, es ist hypnotisierend. Aber es ist kein Tattoo, falls du es denkst. Es ist ein Merkmal. Siehst du dieser freie Raum in der Mitte der Felsengruppe?<<
Ich starrte hinunter. Ich sah es. Ich wusste was er meinte. Es waren fünf Fackeln zu sehen, sie sahen so aus, als wären sie ein umgedrehter Stern zu dem, den die Felsengruppe bildete. Ich nickte also.
>>Wenn ein neues Clanmitglied geboren wird, wird es dort getauft. Es ist die offizielle Aufnahme in den Clan. Der Anführer und die jeweiligen Eltern stehen dort unten mit einem Druiden. Dieser Druide ist ein sehr weiser Mann. Er erscheint nur zu diesen speziellen Taufen. Jede Fackel steht für die fünf Clans. Die Fackel des Clans, dessen Baby getauft wird, brennt als stärkstes. Bei jeder Taufe wird etwas spezielles aus dem jeweiligen Clan mitgebracht. Bei dem Clan der Wölfe des Tales ist es zum Beispiel eine Blume, die nur dort in diesem Tal wächst. Es ist die Blume, die du in deinem Kästchen hast. Und dann wird das Kind getauft. Bei dieser Taufe entsteht dieses Merkmal. Es wächst mit dem Kind mit. Es tut nicht so weh wie ein Tattoo, es ist eher wie ein Muttermal. Deswegen heißt es auch Merkmal. An diesem Merkmal sehen wir anderen, zu welchem Clan der Mensch gehört. Wenn ein Clanmitglied verbannt wird, dann wird das Merkmal brüchig. Sobald das Chorix ausgesprochen wird. Aber das Merkmal bleibt trotzdem. Und du hast keins.<<
Ich senkte den Kopf. Okay also Baby werden getauft und ein Muttermal entsteht, welches zeigt, zu welchem Clan man gehört.
Aidens Hand umfasste mein Kinn. Sanft hob er meinen Kopf wieder hoch. Seine goldenen Augen blickten mich intensiv an.
>>Ich weiß, es ist sehr viel. Das alles zu verstehen braucht Zeit. Das Problem wird, dass dir die Zeit davon läuft. Bei uns im Clan werden die Kinder mit dem 17. Geburtstag volljährig. Sie sind ausgewachsen. Du bist 17 geworden. Du wirst mit noch mehr konfrontiert werden. Damit niemand herausfindet, dass du ein Clanmitglied bist, musste deine Mutter dir etwas geben. Eine seltene Pflanze. Sie nennt sich Sakriti. Es bedeutet soviel wie verstecken. Wenn ein Baby eines Clans diese Pflanze zu trinken bekommt, untergemischt in der Muttermilch, verbirgt er vor anderen Clans dein Zeichen und dein Geruch. Aber sobald du 17 wurdest, ließ die Wirkung dieser Pflanze langsam nach. Vorher waren deine Augen für uns einfach nur grün. Deine besonderen Fähigkeiten waren verborgen und unterdrückt. Aber jetzt werden andere dich erkennen. Deshalb ist es wichtig, dass dich ein Clan aufnimmt.<<
Ich schüttelte den Kopf.
>>Stopp. Ich komme nicht mehr mit. Kannst du es für mich bitte einfach ganz normal erklären?<<
Aiden lächelte nicht mehr. Er sah ernst aus. Seine Augen waren nun getrübt.
>>Du brauchst einen Clan. Deshalb ist diese Aufnahme sehr wichtig. Aber die Vollendung dieser Aufnahme würde deine Taufe voraussetzen. Und bevor diese stattfinden kann, muss die Pflanze vollends aus deinem Blut und deinem Körper verschwunden sein.<<
Wollte Aiden mir wirklich erklären, dass eine Pflanze 17 Jahre lag in meinem Blut war? Mein Kopf brummte, es war alles nicht gerade einfach zu verstehen. Irgendwie ist es sehr verwirrend, was diese Clans mit sich bringen. Es scheinen nicht einfach irgendwelche Dörfer zu sein. Sie haben eigene Regeln, Gesetze, Kodexe, Zeichen und Merkmale. Welcher normale Mensch kommt bei so etwas noch mit.

Eine Träne lief mir über die Wange. Ich war verzweifelt, ich würde niemals dazugehören.
Aiden wischte mir die Träne vorsichtig mit seinem Daumen weg.
>>Bitte, weine nicht. Ich weiß, es ist nicht einfach. Du erfährst so viel. Ich kann dich verstehen. Ich bin damit aufgewachsen, aber wenn mir jetzt jemand sagen würde, das mein Leben bisher eine komplette Lüge war, dann würde ich mich auch nicht mehr halten können. Ich würde meinen Anker verlieren und mich selber. Ich verstehe das. Du hast auch niemanden, dem du die Schuld geben kannst. Aber ich weiß etwas. Du bist ein starkes Mädchen. Du wirst es schaffen. Du brauchst ein wenig vertrauen.<<
Ich schüttelte den Kopf und weitere Tränen liefen jetzt über meine Wangen.
>>Ich bin nicht so, wie du denkst. Ich bin nicht stark. Ich weiß nicht, ob ich das alles möchte. Ich kann nicht vertrauen. Ich bin ein Mädchen, dass niemanden vertraut, mit niemanden redet und zu niemanden gehört. Ich gehe jeden Montag zu einer Therapeutin und hatte nie eine Familie. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe die Vergangenheit in meine Gegenwart zu lassen. Wenn ich das mache, lasse ich nicht nur meine Vergangenheit meiner Herkunft zu. Dann muss ich meine kompletten letzten 17 Jahre zulassen. Das schaffe ich nicht.<<
Ich fühlte mich verloren und verlassen. Ich hatte keine Hoffnung mehr und keine Selbstachtung mehr. Ich würde sonst niemals mit jemanden darüber reden. Ich weiß nicht, ob ich mich verändern konnte und meine Vergangenheit zulassen könnte. Es würde viel Bewältigung bedeuten.
Aiden sah jetzt auch traurig aus. Er sah mit seinem Lächeln viel besser aus. Diese Traurigkeit stand ihm nicht.
>>Riley. Du darfst nicht aufhören zu kämpfen. Du bist nicht alleine, alle die dich mögen, kämpfen mit dir.<<
Ich schnaubte leise und verächtlich. Wofür sollte ich denn kämpfen? Und wie sollte es mir helfen, wenn jemand mit mir kämpfte, sie würden sich auch nur kaputt machen.
>>Das kann ich nicht.<<
Aiden sprang hinunter und hielt mir seine Hand hin. Er lächelte mich aufmunternd an. Ich nahm seine Hand und er half mir vorsichtig hinunter.
>>Du hast recht. Es geht viel zu schnell. Noch bist du einfach nur Riley. Ich werde dich jetzt nach Hause bringen und du wirst das Wochenende verbringen, genauso wie du es immer getan hast. Du machst nichts anders, kein Clanmitglied wird dich nerven und du wirst überhaupt nichts von irgendwelchen verrückten Sachen hören. Rik wird dir Zeit geben und ich werde mit Cole und den anderen reden, dass sie dich bis Montag einfach in ruhe lassen. Du kannst machen, was dir lieb ist und langsam abschließen. Ich würde es als Urlaub sehen.<<
Aiden grinste mich an und seine Augen funkelten wieder. Ich lächelte vorsichtig. War es denn so einfach? Würde ich nicht einfach die ganze Zeit daran denken? Aber eigentlich war ich gut darin, meine Gedanken zu verscheuchen oder zu verdrängen. Wenn ich wollte, konnte ich einfach abschalten.
>>Okay, glaubst du, das werden sie zulassen?<<
Aiden grinste.
>>Natürlich, wenn ich es ihnen erkläre. Versuch einfach an etwas anderes zu denken und sei ein letztes Wochenende du selbst.<<
Aiden führte mich durch den Wald zu mir in die Wohngruppe.
Auch Aiden blieb an der Pforte stehen, er hielt sie mir allerdings noch auf. Er strich mir ein letztes Mal die Haare hinters Ohr. Seine Finger hinterließen ein leichtes Kribbeln auf meiner Haut.
>>Ab jetzt, vergisst du die letzten Tage für das Wochenende und schaltest ab. Ich werde dich Montag einfach hier erwarten und dann beginnt der Weg zu einem besseren Leben, ich verspreche es dir.<<
Mit diesen Worten verschwand er auch schon wieder. Ich holte tief Luft und ging in die Wohngruppe schnurstracks nach oben in mein Zimmer. Ich sah mich um. Es waren so viele Zeichnungen. Ich fand ein paar weitere, würden meiner Wand sicherlich nicht schaden. Also holte ich meinen Zeichenblock heraus und folgte Aidens Rat. Ich verbannte die Gedanken an diese komischen Clans, an Cole, an Alec und jeden der dazugehörte. Ich verdrängte die Tatsache, dass ich einen Bruder hatte und dass mich jemand adoptieren wollte.
So lief es auch am Samstag. Ich stand auf, blieb im Schlafanzug und zeichnete, ich frühstückte und zeichnete, ich aß zu Mittag und zeichnete danach, ich ging zum Abendbrot und danach ins Bett.
Am Sonntag wachte ich auf und ging zum Frühstück. Ich zeichnete und aß Mittags eine Kleinigkeit, ich machte Schularbeiten und ging zum Abendbrot.
An beiden tagen sagte ich nicht ein einziges Wort. Ich sah niemanden an und dachte über nichts nach. Mein Stift flog über das Papier und immer mehr fertige Zeichnungen stapelten sich. Ich betrachtete sie nicht lange, sondern machte einfach weiter. Am Sonntagabend ging ich zu Bett und schloss die Augen. Ich dachte immer noch nicht über diese komplizierten Dinge nach, die in der letzten Woche passierten.
Ich wollte es auch gar nicht.
Am Montagmorgen blinzelte ich in die Sonnenstrahlen. Mein Kopf fühlte sich so frei wie noch nie. Ich stand auf und ging ins Badezimmer. Ich zog mich aus und entfernte dann den Verband, die Wunde sah sehr gut aus. Ich war mir sicher, dass ich sorgenlos den Verband weglassen konnte. Ich duschte etwas länger als sonst, ich ließ das heiße Wasser auf meinen Nacken prallen. Langsam bereitete sich nämlich eine gewisse Anspannung in meinem Körper aus. Ich machte mich fertig und ging hinunter zum Frühstückstisch. Es waren noch nicht viele hier. Die Betreuerin und zwei weitere Mädchen saßen schon am Tisch. Ich setzte mich und machte mir mein Müsli fertig.
Plötzlich klingelte das Telefon. Die Betreuerin ging ran und ließ uns ein paar Minuten alleine.
Keiner von uns sagte ein Wort, es war ein ganz normaler Tag in der Wohngruppe. Wir aßen schweigend unser Frühstück. Die Betreuerin kam zusammen mit dem Betreuer in die Küche. Der Betreuer setzte sich und die Betreuerin kam zu mir.
>>Riley wir müssen uns unterhalten.<<
Ich sah sie verwirrt an. Seit wann will sie mit mir reden? Aber ich stand wortlos auf und folgte ihr in eines der Besprechungszimmer. Es lagen viele Papiere auf dem Tisch und sie deute mit ihrer Hand auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Ich setzte mich und sie setzte sich mir gegenüber.

>>Riley das Jugendamt hat gerade angerufen. Es liegt ein Adoptionsverfahren für dich vor. Sie kommen heute Nachmittag dich abholen.<<
Sie legte eine Pause ein und wartete meine Reaktion ab. Aber von meiner Seite kam nichts. Sie seufzte nur und fuhr dann dort.
>>Ich würde es mir wünschen, wenn du direkt nach der Schule hier her kommst und deine Sachen packst. Ich weiß es geht sehr schnell und eigentlich dauert so ein Verfahren länger und ist mit mehr Papieren erforderlich, aber du hast am Freitag einen neuen Vormund beim Jugendamt bekommen und er ist sich sicher, dass der Mann sehr gut für dich Sorgen kann. Ich weiß nicht viel darüber, ich muss dich nur vorbereiten.<<
Ich sah sie gefühllos an.
>>Okay. Ich bin dann da.<<
Die Betreuerin schüttelte nur verständnislos über meine Reaktion den Kopf und entließ mich dann.
>>Ach so, deine Therapeutin kommt heute, die Stunde wird trotzdem stattfinden.<< Ich verdrehte meine Augen, holte meine Tasche und ging dann nach draußen.
Aiden hielt sein Versprechen, er stand an der Pforte und wartete auf mich. Er lächelte freundlich als er mich erkannte.
>>Ich hoffe du hattest ein schönes Wochenende.<<
Ich nickte kurz. Ja es war sehr schön. Langsam ließ ich auch wieder meine Gedanken an die Dinge von der letzten Woche zu. Die Adoption fand also wirklich statt. Ich werde mich mit meiner Herkunft und meiner Vergangenheit auseinander setzen müssen. Vielleicht war es auch langsam an der Zeit. Ich wurde erwachsen. Oder zumindest wäre ich es, wenn mich meine Eltern damals nicht weggegeben hätten. So viel weiß ich noch.
Wir kamen zur Bushaltestelle, waren allerdings 10 Minuten zu früh dort. Es dauerte noch ein bisschen, bis der Bus kam. Wir standen einfach nur schweigsam dort. Ich ignorierte Aiden. Ich wollte noch ein paar Minuten für mich. Die Realität um mich herum kam mir ziemlich unecht vor. Es war als würde ich zwar körperlich anwesend sein, aber geistlich war nicht hier. Ich war mit meinen Gedanken wo anders.
Wir stiegen in den Bus und kamen an der Schule an. Warum war Aiden eigentlich mit dem Bus gefahren? Warum hat er mich abgeholt? Wir redeten kein Wort mit einander und er schien mit seinen Gedanken auch nicht gerade hier zu sein.
Auf dem Parkplatz warteten Cole und Alec wie die Tage letzter Woche auch heute auf mich. Cole grinste als er mich sah, sagte aber nur etwas zu Aiden.
>>Wir übernehmen ab jetzt. Es ist nicht mehr deine Aufgabe.<<
Aiden nickte ihm zu und wandte sich lächelnd zu mir.
>>Wir sehen uns wieder.<<
Dann verschwand er und ich sah ihm auch nicht wirklich hinterher. Es kam mir alles so unwirklich vor. Als würde ich in einer Blase schweben und wäre von dem Rest der Welt abgeschirmt. Wir gingen in die Klasse.
Ich wusste nicht, was wir jetzt hatten, aber es war mir auch egal. Ich sah die ganze Zeit aus dem Fenster und dachte an nichts. Ich hörte nichts. Ich sah nichts.
Noch nicht. Die Stunden bis zur Mensa vergingen relativ schnell. Wir saßen dann in der Mensa und ich stocherte in meinem Essen herum. Ich bekam nichts runter. Ich starrte einfach nur in den Raum und war wieder abwesend. Ich bekam nur am Rande mit, dass Cole und Alec sich dauernd besorgte Blicke austauschten. Aber sie sprachen mich nicht an.
Die letzte Stunden fielen aus und ich fuhr mit dem Bus zur Wohngruppe. Genau so wäre ein Tag abgelaufen, wenn mein Leben so geblieben wäre, wie ich es kannte. Ich hätte zwar nicht mit Cole und Alec zusammen in der Mensa gegessen, aber ich wäre abwesend gewesen.
Ich kam zur Wohngruppe. Dort wartete auch schon meine Therapeutin auf mich. Ich seufzte und folgte ihr in das Besprechungszimmer. Zum zweiten Mal heute schon setzte ich mich vor dem Schreibtisch. Diesem Mal war er allerdings befreit von den ganzen Papieren und meine Therapeutin hatte das einzige Papier vor sich. Ein Stift lag auch schon bereit, damit sie Notizen machen konnte. Es nervte mich gerade tierisch.

Die letzte Therapiestunde

 

Wir saßen uns also gegenüber und meine Therapeutin sah mich erwartungsvoll an.
Ich sah sie emotionslos an und dann auf meine Hände. Ich redete in diesen Therapiestunden sowieso nicht viel. Meist sollte ich etwas zeichnen oder sonst was und sie deutete es und machte ihre Notizen. Aber jedes Mal sah sich mich erst einmal erwartungsvoll an und wünschte sich, dass ich etwas von mir aus sagte.
>>Gab es in der letzten Woche irgendetwas Neues?<<
Jetzt fingen die Fragen an. Sie stellte mir ein paar Fragen und wartete auf meine Antworten. Ich antwortete fast nie darauf und sie machte ganz brav ihre Notizen.
>>Deine Betreuerin hat mir erzählt, dass du Anschluss gefunden hast?<<
Ich verdrehte genervt die Augen, warum unterhielten sich die Beiden auch immer vor meinen Stunden. Es brachte doch eh nichts.
>>Außerdem sagt sie, dass du ein wenig geredet hast?<<
Sie lächelt mich aufmunternd an. Sie nervte mich mit ihren blöden Fragen, ich wollte nicht hier sitzen. Sie sollte nicht in meiner Psyche herum stochern. Es machte mich wütend.
>>Na und?<<
Sie lächelte sofort und schrieb fleißig irgendeine Deutung auf.
>>Ich würde mich freuen, wenn du auch ein wenig mit mir reden würdest.<<
Ich schnaubte. Ich wollte aber nicht. Warum verstand sie es nicht? Eigentlich ist sie eine ganz Nette, aber sie nervte einfach mit ihren psychologischen Deutungen und diesen ganzen Kram.
>>Und ich würde mich freuen, wenn Sie nicht immer irgendeine psychologische Deutung aufschreiben würden.<<
Sie klatschte in die Hände und schrieb trotzdem etwas auf.
>>Das sind super Fortschritte, du machst deine Meinung deutlich, das stärkt dein Selbstbewusstsein!<<
Ich seufzte. Aber was nützte es, wenn sie nicht darauf hörte? Es war doch nur eine einfache Bitte. Ich bin ihrer Bitte auch gefolgt und habe mit ihr geredet, warum kann sie dann meiner Bitte nicht nachkommen? Sie sah mich wieder so aufmunternd an.
>>Wie war denn deine erste Schulwoche? War sie anders?<<
Ich zuckte nur mit den Schultern und sah wieder auf meine Hände. Ich wollte nicht mit ihr darüber reden. Aber eigentlich sah ich sie ja sowieso nie wieder.
>>Sie wissen, dass es unsere letzte Stunde sein wird, oder?<<
Sie sah erst ein wenig überrascht an, faltete dann ihre Hände und lehnte sich etwas zu mir herüber.
>>Es liegt an mir, zu entscheiden, ob du noch weitere Stunden benötigst.<<
Ich knirschte mit den Zähnen. Wie konnte sie es wagen, so eine Äußerung anzustellen. Ein leichtes Brennen meldete sich in meiner Brust. Es war das auflodern des Feuers der Wut. Es wollte frei und sich ernähren.
>>Aber nicht, wenn ich adoptiert werde, oder?<<

Meine Therapeutin lächelte ein wenig.
>>Doch, Riley. Ich entscheide, wann diese Therapie endet. Aber du machst nicht immer Fortschritte. Du bist hier, weil du manchmal mit jemandem reden solltest. Vor allem darüber, wenn du dich selbst verletzt hast.<<
Ich knurrte leise. Woher wollte sie denn wissen, dass ich mich verletzt hatte?
>>Ich brauche niemanden zum reden.<<
Das Brennen loderte auf und es wurde langsam zu einem stetigen Feuer.
>>Und wenn, dann würde ich es mit jemand anderen tun.<<
Meine Therapeutin konterte sofort.
>>Also hast du Anschluss gefunden? Du hast jemanden zum Reden?<<
Ich dachte für einen kurzen Augenblick an meinen Wolf.
>>Ja habe ich.<<
Meine Therapeutin lächelte.
>>Wie geht’s es dir damit? Wenn du mit jemanden redest?<<
Ich lehnte mich zurück und meine Augen verengten sich. Wieso sollte es mir besonders gehen? Ich redete doch auch gerade mit ihr. Was war so besonders daran, wenn ich mit ihr redete.
>>Ich fühle mich frei.<<
Vielleicht stellte sie sich damit zufrieden und ist der Meinung, dass ich keine Therapie mehr brauchte. Aber sie musterte mich ein paar Minuten, bevor sie wieder anfing sich Notizen zu machen.
>>Deine Betreuer meinten, du wärst sehr viel unterwegs, bist du da alleine?<<
>>Nein.<<
Meine Stimme klang mittlerweile immer mehr nach einem Knurren. Ich musste mich zusammen reißen, dass ich nicht wütender werde. Woher kam diese Wut? Erst fing ich an Wut zu spüren und dann fing ich an gewalttätig zu werden, was kommt als nächstes?
Meine Therapeutin runzelte die Stirn.
>>Warum bist du wütend.<<
Ich verdrehte die Augen und presste meine Lippen zusammen. Ich wollte diese Wut kontrollieren können, sonst steckt sie mich vielleicht noch in eine Antiaggressionstherapie. Ich starrte sie einfach nur an und ignorierte dem Impuls, sie anzuschreien und dem Feuer Freiheit zu gewähren.
>>Warum lassen Sie mich nicht etwas zeichnen?<<
Meine Therapeutin seufzte kurz.
>>Du zeichnest immer dasselbe. Außerdem will ich mich diese Stunde mit dir unterhalten. Schließlich könnte es unsere letzte Therapiestunde sein, nicht war?<<
Sie lächelte so hinterhältig, sie wollte mich locken. Aber ich ließ mich bestimmt nicht bestechen und sie konnte mich zu nichts zwingen, auch nicht zum Reden. Ich verschränkte meine Arme vor meiner Brust und starrte sie an.
Meine Therapeutin seufzte. Sie legte ihren Notizblock und ihren Stift zur Seite.
>>Riley du siehst mich als deine Feindin, aber das bin ich nicht. Ich will doch nur helfen, aber wenn es dir hilft, dann schreibe ich nichts mehr auf. Du kannst einfach deinen Frust von der Seele reden und ich höre einfach nur zu. Wir machen uns doch nur Sogen um dich. Du hast viel durchgemacht, da solltest du nicht alleine durch müssen.<<
Ich schnaubte.
>>Sie wissen doch gar nicht, wie mein Leben war.<<
Meine Therapeutin zuckte mit ihren Fingern, aber sie griff nicht nach dem Stift. Sie entschied sich, dieses Mal nichts aufzuschreiben.
>>Deshalb sollst du ja mit mir reden. Du weißt doch, dass ich eine Schweigepflicht habe, ich mache mir diese Notizen nur für mich, ich dürfte überhaupt nichts davon weiter geben.<<
Es interessierte ich nicht, dass sie nichts davon weiter erzählen durfte, ich wollte nur einfach nicht mir ihr reden, warum verstand sie das nicht?

>>Ich will aber nicht mit Ihnen reden. Wenn ich es wollte, hätte ich es schon getan.<<
Meine Therapeutin seufzte wieder. Sie schob mir ein leeres Blatt Papier rüber.
>>Dann zeichne wieder was.<<
Ich schob das Papier wieder zurück.
>>Ich will nicht.<<
Ich werde hier nichts mehr zeichnen. Ich wollte nicht, dass sie irgendetwas von meinem Bruder erfuhr oder von dem was mir erzählt wurde. Es ging sie nun einmal nichts an. Ich schloss die Augen und versuchte sie auszublenden.
Plötzlich hörte ich eine Stimme. Es war die Stimme meines Betreuers.
>>Glaubst du wirklich, dass es eine gute Idee ist, wenn Riley adoptiert wird?<<
Ich zuckte zusammen, aber ich strengte mich weiter an, ich wollte hören, mit wem er über mich redete. Es war meine Betreuerin, die ihm antwortete.
>>Vielleicht kann sie dann ein neues Leben anfangen. Das Jugendamt scheint sich sicher zu sein, dass es dieses Mal gut geht und sie es gut haben wird. Ich hoffe einfach, dass sie endlich ein normales Leben führen kann, ich würde es ihr wünschen.<<
Ich verzog mein Gesicht zu einer Grimasse. Ich verstand nicht wirklich, warum ich dieses Gespräch hören konnte, aber ich fand es total unangebracht, dass sich alle in mein Leben einmischten.
Meine Therapeutin riss mich aus meiner Trance.
>>Riley ist alles in Ordnung?<<
Ich öffnete langsam meine Augen.

>>Warum sollte nicht alles in Ordnung sein?<<
Meine Therapeutin sah mich an, als wäre ich verrückt. Aber wahrscheinlich glaubte sie es wirklich. Warum sonst, sollte ich eine Therapie brauchen? Da muss man ja verrückt sein.
>>Weißt du denn schon, wer dich adoptieren wird?<<
Ich nickte.
>>Ja ich weiß es. Ich habe ihn kennen gelernt.<<
Meine Therapeutin sah mich wirklich überrascht an, wahrscheinlich wusste sie das nicht.
>>Glaubst du denn, dass du ihm vertrauen kannst?<<
Ich zuckte nur mit den Schultern. Ich vertraute schließlich niemanden. Außer vielleicht Cole. Und Alec vielleicht auch. Und Aiden vertraute ich mittlerweile auch. Irgendwie sind da schon sehr viele Personen, denen ich vertraute. Ich freute mich sogar ein wenig, dass ich endlich in den Wald konnte. Aber ich hatte auch ein wenig Angst davor, mich mit meiner Herkunft und Vergangenheit auseinanderzusetzen. Außerdem taten alle immer so geheimnisvoll, wenn ich wüsste wer ich bin und es kommt noch mehr auf mich zu. Das war alles echt verwirrend und dann möchte meine Therapeutin auch noch, dass ich mich mit ihr unterhielt.
>>Wissen Sie, wer Sie sind?<<
Meine Therapeutin sah mich überrascht an, wahrscheinlich hatte sie nicht mit einer Frage von mir gerechnet.
>>Ja ich weiß wer ich bin.<<
Ich zog meine Augenbraue in die Höhe und sah sie skeptisch an. Sie lächelte.
>>Ich bin Jessica Miller und Therapeutin. Wer bist du denn?<<
Ich zuckte mit den Schultern.
>>Ich weiß es nicht. Ich habe nicht einmal einen Nachnamen. Ich heiße Riley. Mehr weiß ich nicht. Wissen Sie, woher Sie kommen?<<
Meine Therapeutin sah mich still an. Sie antwortete zuerst nicht, holte dann aber tief durch.
>>Ich weiß woher ich komme. Und ja ich weiß auch, wer meine Eltern sind. Ich weiß, dass du Schwierigkeiten mit deiner Herkunft hast. Aber ist es für dich denn wichtig zu wissen, wer deine Eltern sind? Definierst du dich mit deinen Eltern? Jeder Mensch ist anders und jeder Mensch bildet sich. Glaubst du, du wärst ein anderer Mensch, wenn du wüsstest, wer deine Eltern sind?<<
Ich antwortete ihr nicht. Aber ich wusste, dass ich ganz bestimmt ein anderer Mensch wäre, wenn ich im Wald aufgewachsen wäre in diesen Clans. Natürlich wäre ich dann jemand anderes. Ich wüsste meinen vollen Namen und von meinem Bruder.
>>Glauben Sie, dass ich Geschwister habe?<<
Meine Therapeutin zögerte einen Augenblick.
>>Das kann ich dir nicht sagen. Vielleicht Halbgeschwister. Aber warum denkst du, wollten deine Eltern dich nicht?<<
Ich zuckte mit den Schultern. Ich wusste ja mittlerweile, dass ich verboten war und sie mich nicht behalten konnte.
>>Vielleicht waren sie zu jung? Oder konnten sich mir nicht leisten?<<
>>Stellst du dir oft Fragen, wo du herkommst und warum deine Eltern das getan haben? Fragst du dich, ob sie an dich denken?<<
Ich sah sie nicht an. Ich sah auf meine Hände.
>>Jeden Tag.<<
Meine Therapeutin lehnte sich weiter zu mir rüber.
>>Riley. Es ist nicht deine Schuld. Deine Eltern hatten bestimmt gute Gründe.<<
Ihre Stimme klang sanft und ruhig. Aber sie musste auch so sein. Genau das war ihr Job. Irgendwelche Antworten aus den Patienten herauskitzeln. Ich sah sie an und meine Tränen schluckte ich hinunter. Ich wollte mich nicht öffnen. Ich war lieber wütend, dass sie mich doch ausgetrickst hat. Die Wut schmerzte nicht so.
Sie befreite mich, sie brannte lichterloh in meiner Brust auf.
>>Warum tun Sie das?<<
Meine Stimme klang hart und fest. Aber ich wusste nicht, wie lange ich mich noch zurückhalten konnte. Meine Therapeutin sah mich überrascht und verwirrt über meine heftige Reaktion an.
>>Was meinst du?<<
Ich knurrte wütend und ballte meine Hände zu Fäusten.
>>Warum wollen Sie unbedingt, dass ich rede. Warum tun Sie mir das an? Ich habe doch klar gemacht, dass ich nicht reden wollte!<<
Sie seufzte.
>>Riley, beruhige dich bitte. Ich will dir doch nur helfen.<<
Ich knurrte jetzt und sprang auf. Der Stuhl auf dem ich saß, prallte ab und fiel zurück. Es krachte ein wenig und die Tür wurde aufgerissen. In der Tür standen meine Betreuer und der weise Mann von gestern, der mich adoptieren wollte. Was machte er denn hier? Es war mir egal.
Aber mir war nicht egal, dass diese hinterhältige Therapeutin mich immer wieder dazu drängt, dass ich mit ihr über mich redete.
>>Es geht sie aber nichts an und ich brauche verdammt noch einmal keine Hilfe. Wenn mir nicht immer alle helfen wollen würde, wäre es doch viel einfacher!<<
Ich knurrte jetzt und meine Hände zitterten ein wenig. Ich versuchte ruhig zu atmen und das Feuer unter meiner Haut wieder zu beruhigen, aber es loderte in meinen Adern und brach immer wieder an die Oberfläche. Es brannte mittlerweile ein wenig unangenehm und war kaum kontrollierbar.
Plötzlich legte der Mann eine Hand auf meine Schulter. Sofort kühlte das Feuer in mir ab und ich besänftigte mich.
>>Riley.<<
Mehr sagte er nicht. Aber er hatte so eine ruhige aber dennoch bestimmende Stimme, dass das Feuer sofort erlosch.
Ich drehte mich zu meiner Therapeutin. Fest und hart sprach ich zu ihr, meine Stimme ließ keine Widerrede zu.
>>Dies war unsere letzte Therapiestunde!<<

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.02.2017

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch meiner Familie besonders meiner Mutter aus Dankbarkeit, dass ich sie habe. Danke (Copyright von Text- und Bildmaterial liegt bei mir.)

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