Mein Atem ging schneller. Ich umschlang meinen Körper mit meinen dürren Armen. Ich zitterte und langsam zog sich Gänsehaut über meine ganze Haut. Überall. Die Kälte kroch in jede Faser meines zierlichen Körpers. Ich blickte mit meinen eisblauen Augen in den Himmel. Hier und dort blitzte ein Stern auf. Der Mond schien in seiner vollen Pracht. Ich konnte mich von seinem Anblick erst wieder losreißen, als das gegeneinander schlagen meiner Zähne meines klappernden Mundes die Stille zerriss. Bald würde ich auch solch ein Stern sein. Ich ertrug es nicht mehr, auch nur eine Sekunde weiter an meine Zukunft zu denken. In die ungewisse Dunkle zu blicken. Ich seufzte leise.
Dann blickte ich ungeduldig auf meine Armbanduhr. Sie war golden und schlicht. Und trotzdem etwas besonderes. Sie stammt noch von meiner Mum, die für mich gestorben ist, indem sie mir ihr Herz schenkte. In der Innenseite stand mit schnörkelhafter Schrift: In liebe deine Mutter
Die Uhr zeigte bereits fünf Minuten nach Mitternacht. Er wollte schon längst hier sein. Ich wusste schon immer, dass auf Männer kein Verlass ist. Mein Vater hatte uns verlassen, als mein Herzfehler ans Licht kam. Seit dem war ich allein. Bis vor einer Woche. Da stand er nämlich vor mir.
Plötzlich knackte etwas hinter mir. Ich blickte kurz über meine Schultern. Ich blickte in grüne Augen. Er hat es also doch geschafft. Ich konnte ein kleines Lächeln nicht unterdrücken. Er strahlte und seine weißen Zähne blitzten im Mondlicht auf. >>Genau. Dein süßes Lächeln wollte ich sehen.<< Seine raue Stimme ließ einen Schauer über meinen Rücken rieseln. Er schlich mit großen Schritten auf mich zu. Er sah mich vorwurfsvoll an. >>Warum hast du so wenig an? Du frierst doch!<< Er strich mir sanft über meine Wange und ich sah ihn mit großen Augen an. Wahrscheinlich hatte ich wirklich wenig an. Ich trug ein Kleidchen mit einer Netzstrumpfhose und einem dünnem Shirt. Ich lächelte leicht und blickte auf meine kleinen Hände mit dem hellblauen Nagellack drauf. >>Vielleicht hatte ich ja die Hoffnung, dass du mich in den Arm nimmst.<< Er kicherte leise. >>Dafür brauchst du dich aber nicht so leicht bekleiden.<< Er nahm mich vorsichtig in den Arm, als hätte er Angst, ich könnte in seinen Händen zerbrechen. Er küsste mein helles Haar. Es ist so hellblond, dass es fast weiß ist. >>Du bist mein Engel. Ich werde dich nicht mehr los lassen.<< Ich blinzelte und drängte die Tränen zurück. Es war für mich neu, dass jemand das zu mir sagte. Normalerweise war ich auf mich selber gestellt. Mit der Frage, wo schlafe ich? Wo bekomme ich mein Essen her? Wie überlebe ich? Und jetzt ist da etwas, was mich von diesen Fragen ablenkt. Plötzlich landete eine Schneeflocke auf meiner Nase und dann welche auf seinem dunklem Haar, auf seiner bronzefarbenen Haut. Auf seinem Pullover, auf meinem Shirt. Es fielen Schneeflocken. Die ersten in diesem Jahr. Sie machten mir nur allzu deutlich, dass es Winter ist, dass ich bald nicht mehr im alten Bahnhofsgebäude schlafen kann und vor allem, dass in drei Tagen Heilig Abend ist und ich wieder alleine auf den Gleisen sitzen werde und überlege, ob ich mich vielleicht nicht wegbewege, wenn der Zug angerast kommt. Riley grinste wieder. >>Der erste Schnee dieses Jahr. Ist das nicht wunderbar? Du siehst so süß und sanft aus, wenn der Schnee in deinem Haar klebt.<< Ich verdrehte die Augen. Ich mag es nicht, wenn man mir Komplimente macht. Außerdem rede ich nicht viel. Ich bin ein stiller Mensch, der vorsichtig auf seine Umwelt achtet. Riley hingegen ist ganz anders. Er ist laut, humorvoll, witzig, unbeschwert und dazu noch ein richtiger heißer Teenager. Es schneite immer mehr. Eigentlich mag ich den Schnee. Wenn es überall weiß ist und der Schnee in der Sonne glitzert. Riley strich mir sanft eine Strähne aus meinem Gesicht. >>Wieso kommst du nicht Weihnachten zu mir?<< In mir fing etwas an zu kribbeln. Diese leichte Flauheit im Magen. Dieses Gefühl habe ich zuletzt gespürt bevor meine Mum es aufgegeben hat. Sie hat mir dieses Gefühl genommen und gleichzeitig ihr Leben gegeben. Die Hoffnung. Auf ein Leben, auf eine Familie, auf Geschwister, auf die Liebe. Ich schluckte kurz und sah ihn zögerlich an. Er hat das Gefühl wieder erweckt. Riley sah mich fragend an und blickte mir gründlich mit seinen grünen Augen in meine. Als ich nichts erwiderte, erlosch langsam die kleine Hoffnung in seinen Augen. >>Wenn du nicht möchtest, dann ist es okay.<< Ich wollte es nicht zu lassen. Ich will die Hoffnung nicht verlieren. Ich will nicht, dass er die Hoffnung aufgibt. >>Nein. Also ja. Ich komme gerne, wenn es für deine Eltern okay ist?<< Er grinste zufrieden. >>Ich habe nur noch meinen Dad. Meine Mum ist bei meiner Geburt verstorben. Aber ich habe viele Brüder. Wir sind eine große Familie. Also bist du immer willkommen. Soll ich dich abholen? Ich brauch nur deine Adresse.<< Da ist wider der Punkt, an dem ich ihn anlügen muss. Welche Ausrede ist es dieses Mal? Was kann ich ihm auftischen, damit er nicht erfährt, dass ich mal hier mal dort wohne? >>Ich komme lieber zu dir, an Weihnachten solltest du deine Familie nicht alleine lassen. Gib mir lieber deine Adresse.<< Riley sah mich skeptisch an, aber sagte nichts dazu. Er schrieb seine Adresse auf einen zettel und gab ihn mir. Meine zierlichen Finger umklammerten den Zettel wie eine Strohhalm im reißendem Strom des Flusses des Lebens. Er beugte sich zu mir, aber kurz vor meinem Mund stoppte er. >>Ich muss leider auch schon wieder los. Soll ich dich nach Hause bringen?<< Ich fand keine Worte. Meine Augen waren auf seine Lippen fixiert. Es vergingen Sekunden und es fühlte sich an wie Stunden. Ich schaffte es endlich, mich loszureißen und schüttelte langsam den Kopf. Meine Haare fielen in mein Gesicht und verbargen die leichte röte, die sich auf meinen blassen Wangen ausbreitete. Riley nickte kurz und strich mir sanft über die Wange. >>Ich verstehe das. Wir sehen uns Heilig Abend. Sei vorsichtig.<< Dann verschwand er in die Dunkelheit. Er drehte sich noch einmal um und ich konnte seine grünen Augen schimmern sehen.
Mittlerweile war schon eine paar Zentimeter hohe Schneeschicht. Ich seufzte und schlich mich auch davon. Zum Bahnhof waren es nur knapp zehn Minuten. Um den Weg abzukürzen wollte ich den Hang hinunter gehen, anstatt den Weg. Ich merkte zu spät, dass es zu rutschig war. Ich rutschte aus und versuchte mich mit meinen Armen an einem Dornbusch festzuhalten. Die zarten Zweige rissen aber, als mein Gewicht an ihnen hing. Ich rutschte hinunter. Mein Gesicht wurde ein paar Mal in den Schnee gedrückt. Ich kam erst zum stoppen, als ich mit meinem Kopf gegen einen Baum knallte. Ich stöhnte leise und rieb mir meinen Kopf. Ich hatte an der Stirn eine Platzwunde und meine Arme waren aufgekratzt. Mit meinem Fuß konnte ich auch nicht wirklich auftreten. Ich rappelte mich langsam auf. Am Anfang war mir ein wenig schwindelig. Zum Glück waren es jetzt nur noch fünf Minuten bis zum Bahnhof, wo ich meine Sachen versteckt habe und heimlich meine Nächte verbrachte. Ich humpelte und biss die Zähne auf einander. Ich machte eine Pause neben einer Straßenlampe. Meine Arme bluteten. Das Blut tropfte hinunter auf den Boden. Der Schnee färbte sich schnell dunkelrot. Teilweise steckten noch Dornen in meinem Arm. Ich seufzte leise, das wird eine harte Nacht. Als ich mit meiner Hand nach meiner Stirn fasste, merkte ich eine Flüssigkeit. Ich sah meine Finger an. Sie waren auch rot. Ich humpelte weiter. Als ich mich dem Bahnhofsgelände näherte. Ich schlich mich vorsichtig zur Hintertür. Sie war nicht abgeschlossen. Ich atmete auf. Es ist mir auch schon passiert, dass ich nicht mehr hineinkam, weil abgeschlossen war. An diese Nächte auf der Straße war ich gewohnt, aber heute in diesem Zustand hätte ich es mir echt nicht gewünscht. Ich ging zuerst ins Badezimmer. Ich sah echt übel aus. Meine Haare waren zerzaust. Und sie waren auch noch nass. Ich versuchte sie zu trocknen, aber sie waren am Ende immer noch klamm. Ich konnte nur noch hoffen, dass ich nicht krank werde. Aber ich hoffte nicht. Also überließ ich es dem Schicksal. Ich wischte mir das Blut ab und versuchte mit Klopapier den Blutfluss zu stoppen. Ich wickelte ein sauberes T-Shirt um meinen Arm, der schlimmer verletzt war. Bei dem anderen drückte ich Papiertücher auf die Wunden. Ich suchte mir einen geschützten Winkel. Nachdem ich meine Schuhe ausgezogen habe und meinen Fuß untersucht habe, rollte ich mich zusammen und deckte mich mit einer einzigen geschlissenen Decke ein.
Mittlerweile sind drei Tage vergangen. Meine Wunden haben sich zum Glück gut verkrustet und nicht entzündet. Meine Kratzer an den Armen kann ich mit einem Shirt verdecken und meine Platzwunde durch meine Haare retuschieren. Außerdem kann ich auch schon fast ohne Humpeln laufen. Riley wird also hoffentlich nichts bemerken. Er soll sich keine Sorgen machen. Ich komme alleine klar. Ich weiß, wie hart das Leben ist. Die Nächte auf der Straße haben mich gelernt, wie man sich verhält, wenn man überleben will. Ich lackierte meine Nägel hellblau. Es ist immer der gleiche Ton. Sie sind immer lackiert. Das sind die Kleinigkeiten, die sich nie in meinem Leben verändern werden. Dafür gebe ich meinen letzten Cent her. Ich zog mir mein dunkelblaues Kleidchen über, eine Netzstrumpfhose und ein blaues Jäckchen. Eigentlich genau das, was ich immer an hatte. Ich halte mich an dieser einen Regelmäßigkeit in meinem Leben fest. Es ist mein Anker zum überleben, dass ich weiß wer ich bin. Ich bin das zierliche, kleine Mädchen, mit dem weißem Haar, den eisblauen Augen, dem hellblauem Nagellack, dem blauem Kleidchen, der Netzstrumpfhose und dem blauem Jäckchen. Mehr soll ich nicht sein. Mehr will ich nicht sein. Mein Name ist unbekannt. Ich bin für viele einfach nur Angel. Engel. Das haben sie laut meiner Mum schon immer gesagt, ich sehe aus, wie ein Engel. Ich hatte schon bei meiner Geburt vor genau 16 Jahren fast weiße Haare. Ich wurde geborben in einer weißen Weihnachtsnacht. Der Schnee wirbelte am fenster und geboren wurde ein Engel in die Nacht. Jeden Falls hatte meine Mum dies in einen Brief an mich geschrieben. Ich habe nicht viele Erinnerungen an sie. Sie musste viel zu früh ihr Leben geben, damit ihre Tochter weiter leben kann. Hätte ich damals mit entscheiden können, hätte ich es anders gewollt. Aber ich war nur ein Kind. Klein und für alle außer meiner Mum unerreichbar. Ich seufzte und stand auf. Ich brauchte zu Fuß zu der Adresse von Riley bestimmt eine halbe Stunde. Ich versteckte meine Sachen und nahm nichts mit. Ich hatte kein Geschenk, außer ein kleines Büchlein mit Weisheiten drin. Mehr war leider nicht drin. Es war mir unangenehm, aber die Sachen für meine Wunden, die Verbände, Pflaster und die Jodsalbe, die ich doch noch kaufen musste, waren teuer. Ich brauchte tatsächlich 33 Minuten. Das Haus war riesig und der Garten fast so groß, dass man sich darin verlaufen könnte. Ich fand die Tür. Sie war beeindruckend. Ich atmete einmal tief durch und klingelte dann zaghaft. Es war so still. Aber dann hörte ich Schritte, mir wurde die Tür geöffnet und ich sah entsetzt in ein Gesicht, was ich nie vergessen könnte. Und an seinem Blick konnte ich ablesen, dass auch er mich erkannte. Dieser Mann hatte mich vor genau einem Jahr von dein Gleisen gerissen, als der Zug auf mich los raste. Ich hatte gerade die Augen geschlossen und den Aufprall erwartet, da packten mich zwei Arme und rissen mich von dem reißenden Zug weg. Ich bin weg gelaufen. Aber er ist mir gefolgt. Er weiß über meine Lage Bescheid. Wir haben zwar noch kein einziges Wort miteinander gewechselt, aber er kennt mich besser, als irgendjemand anderes. Er hat mich beobachtet, hat mir manchmal Geld zugesteckt, wenn ich mal wieder kraftlos auf der Straße saß und um mein Leben bettelte. Ich konnte kein Wort heraus bringen. Ich drehte mich einmal um und überlegte wieder weg zu laufen. Meine Lügen werden auffliegen. Aber er bewahrte mich vor meiner Feigheit. >>Du müsstest Angel sein. Das Mädchen, welches den Kopf meines Bruders verdreht hat.<< Ich war nicht einmal fähig zu nicken. Er hielt mir die Tür auf und bat mich mit einer Handbewegung herein. Gleichzeitig rief er nach Riley. >>Hey Bruder, dein Mädchen ist da!<< Riley kam um die Ecke und grinste mich zufrieden an. Er strich mir zur Begrüßung über die Wange. >>Du siehst wunderschön aus.<< Er musterte mich etwas intensiver und setzte dann seinen besorgten Gesichtsausdruck auf. >>Du siehst blasser aus als sonst, ist alles okay bei dir?<< Ich riss mich zusammen, setzte ein Lächeln auf und nickte. Dann reichte ich ihm das Büchlein. >>Ich war mir nicht sicher, was dir gefällt.<< Ich lächelte jetzt verlegen. Riley grinste. >>Das war nicht nötig, du reichst als Weihnachtsgeschenk.<< Er zog mich mit in das Wohnzimmer. Er stellte mir alle Vor und ihnen mich. Es waren bestimmt über 15 Leute in diesem Raum versammelt. Ich konnte mir nur einen einzigen Namen merken. Uns zwar Jack. So hieß der Typ, der mir die Tür aufgemacht hat. Es waren alle sehr nett und freundlich. Aber ich konnte nicht entspannen, ich spürte die ganze Zeit den Blick von Jack auf mir. Wird er mich auffliegen lassen? Das Essen war wunderbar. Aber auch das konnte ich nicht genießen. Ich aß sowieso nicht viel. Selbst wenn ich eine gute Ausbeute im Sommer beim betteln hatte, mir schmeckte essen nicht, es war nur ein Mittel zum überleben. Ich aß auch nur, wenn mein Magen anfing zu knurren und ich den Hunger nicht mehr unterdrücken konnte. Außerdem saß ich Jack gegenüber und er ließ mich nicht aus den Augen. Hat er Angst, ich war hier, weil ich seinen Bruder ausbeuten wollte? Ich wusste nicht, dass Rileys Familie Geld hatte. Und es interessierte mich auch gar nicht. Ich will kein Geld. Es würde mich auch nicht glücklicher machen. Es würde mich auch nicht aus meiner Trauer hinaus helfen, aus meiner Verlassenheit, aus meiner Wut. Ich will jemanden wie Riley, der mich in den Arm nimmt, der mich nimmt, wie ich bin. Aber würde das Riley? Wenn er wüsste, dass ich ein Straßenkind bin? Dass ich Schuld am Tod meiner Mum war? Dass das Herz jederzeit versagen könnte, weil ich nicht zum Arzt ging? Dass ich kriminell war? Würde er bei mir bleiben? Mich immer noch lieben? All diese Fragen spukten in meinem Kopf. Eigentlich verscheuchte Rileys Anwesenheit meine Fragen. Nur heute schuf sie neue. Während des Essens schneite es und als wir aufgegessen hatten lag draußen bestimmt 30 Zentimeter hoher Schnee und es schneite immer noch dicke Flocken. Es war weiße Weihnacht seit langem. Riley zog mich durch die Hintertür nach draußen in den Garten. Er zog mich bis unter den Mistelzweig. Er sah mich zärtlich an. Die Schneeflocken wirbelten um uns herum. Er strich mit seinem Daumen über meine Wange. >>Du siehst wunderschön aus. Ich mag dich wirklich verdammt gerne.<< Er kam mir ein paar Zentimeter näher. >>Ich wollte schon seit einer langen Zeit etwas ausprobieren.<< Er kam mir noch ein paar Zentimeter näher. Jetzt lagen vielleicht nur noch drei Zentimeter zwischen seinen und meinen Lippen. Und auch die überbrückte er. Ich schloss meine Augen, als seine Lippen meine berührten. Es kribbelte im Bauch. Meine Hoffnung keimte auf. Gänsehaut bereitet sich auf meiner Haut aus. Es war wie in einem Rausch. Ich dachte nur noch an seinen Lippen auf meinen. Es fühlte sich so lebendig an. Es war mir egal, dass meine Lügen jede Sekunde diesen Moment zerstören lassen könnten. Dieser Kuss unter dem Mistelzweig über uns, veränderte mein Leben, versiegelte die Liebe zwischen uns.
Tag der Veröffentlichung: 13.12.2015
Alle Rechte vorbehalten