Wie ein steinernes Grab tat der unterirdische Fluss seinen Schlund auf und trug zwei Boote in einer schnellen Strömung, tief in ein Labyrinth aus Wasserstraßen und Höhlen hinein. Beinahe geräuschlos zogen die Männer ihre Paddel durch das Wasser. Die Feuer ihrer Fackeln spendeten ein spärliches Licht, das über die Felswände, gleich Geistern aus dem Totenreich, zuckte.
Cuauthémoc, der Priester, hockte am Bug des Kanus. Aufmerksam beobachtete er den Verlauf der Strecke. Dabei blickte er misstrauisch zu allen Seiten, die sie passierten.
»Wie weit mag es noch sein?«, fragte einer der Krieger. Die Stimme klang fest, doch Cuauthémoc spürte die Beklemmung darin.
»Wir sind bereits ganz nahe. Die Götter des Himmels werden uns den Weg zeigen«, antwortete er entschieden. Cuauthémocs Hand ruhte auf seiner Axt, mit den Fingern zog er die geschärfte Klinge aus Obsidian nach. Bilder vergangener Schlachten stiegen in ihm hoch. Wie alt er geworden war! Er blickte zurück, um sich zu vergewissern, dass das zweite Kanu nicht zurückfiel. Im Schein der Feuer gewahrte er die entschlossenen Gesichter, das kampflustige Funkeln ihrer Augen. Es erfüllte ihn mit Stolz, dass diese Männer ihn begleiteten. Sie Federschmuck und farbenprächtige Kleidung abgelegt und gegen einfache Baumwollsachen ausgetauscht hatten, um ihm ins Ungewisse zu folgen. In die Unterwelt von Xibalbá.
Konnte er mit den wenigen Männern überhaupt einen Sieg erringen? Alle anderen Priester hatten ihn enttäuscht und sich dem Volk angeschlossen, das aus der Stadt flüchtete. Seine Hände ballten sich zu Fäusten bei dem Gedanken an ihre Kleingläubigkeit. Sie mussten doch wissen, dass die todbringenden Kreaturen der Unterwelt den Menschen nachfolgen würden. Der wasserführende Tunnel verbreiterte sich. Das felsige Ufer und die dahinterliegenden Gesteinsmassen boten mögliche Verstecke, die sie nicht einsehen konnten. Schemenhaft schälten sich bunte Bilder an den Wänden aus der Düsternis. Tonkrüge und Tierschädel lagen aufgebahrt in den Nischen und zeugten von einem spirituellen Leben an diesem unwirklichen Ort.
Die Stille strahlte etwas Bedrohliches aus, als warne sie die Eindringlinge, weiter in das verbotene Reich vorzudringen.
Die Kanus glitten um eine Kurve. Schatten erwachten hinter den Felsen. Der Priester gab ein Zeichen, mit dem Paddeln innezuhalten. Alle griffen zu ihren Waffen. Cuauthémocs Sinne schärften sich. Gebannt lauschte er dem Geräusch von knirschenden Steinen. Waren das Schritte? Ein Wächter brach aus der Dunkelheit hervor. Wie im Wahn stürzte er sich auf die schwankenden Boote. Der Anblick des muskelbepackten Körpers ließ die Krieger entsetzt aufstöhnen. Cuauthémoc spannte die Sehne seines Bogens. Zischend flog der Pfeil davon und traf den Angreifer in die Brust. Mit einem Klatschen fiel dieser ins Wasser, wo sein Blut in breiten Wolken auseinandertrieb.
Cuauthémoc sprang auf. »Seht! Weder Magie, noch Göttlichkeit liegt in diesen Kreaturen.«
Die Haltung der Krieger änderte sich schlagartig. Kampflustig rissen sie Äxte und Bögen in die Höhe. Die Strömung ergriff den Körper und trug ihn fort. Die Krieger flüsterten aufgebracht miteinander. Nie waren sie den Wesen begegnet, die die Unterwelt bewachten.
Cuauthémoc gab Befehl wieder zu den Paddeln zu greifen. Sie fuhren jetzt zügiger durch das Wasser, ohne Rücksicht auf irgendwelche Geräusche zu nehmen. Abzweigende Tunnel tauchten auf.
»Wir folgen der Strömung!«, befahl Cuauthémoc. Schmale Stollen, die sie immer enger zu umschlingen schienen, erweckten den Anschein, den falschen Weg eingeschlagen zu haben. Trotz seiner inneren Zweifel beharrte er darauf, dem Lauf des Wassers zu folgen. An manchen Stellen zogen sie die Köpfe ein, um nicht an die felsige Decke zu stoßen. Plötzlich wurde es heller und der Tunnel verbreiterte sich. Der Fluss mündete in einer von Licht erfüllten Halle. Eine bizarre Schönheit aus Stein und Kristall. In die Höhlenwände waren stuckverzierte Balkone, Reliefs und Muster eingearbeitet. Kristallfiguren in allen Größen, bis zu lebensechten Darstellungen von Tieren, waren in den Nischen der Wände platziert. Licht ging von ihnen aus, das die Farben der Wandbilder erleuchtete.
Cuauthémoc entdeckte den heiligen Gegenstand sofort. Er lag aufgebahrt auf einer Steinsäule in der Mitte der Halle. Ein Schädel aus Kristall, etwas größer, als der eines normalen Menschen und an der Hinterseite um das Doppelte verlängert. Aus den Augenhöhlen drangen rote Lichtstrahlen, die wiederum Kristallschädel anleuchteten. Sieben Stück reihten sich nebeneinander und lagen auf einem steinernen Tisch gegenüber. Schädel, die dem eines Menschen nachempfunden waren. Die Bewohner dieses Ortes schienen zu ahnen, worauf sie es abgesehen hatten und positionierten sich in die Nähe der Säule. Ein weiteres Dutzend wandte sich ihnen zu, bewaffnet mit Messern und Äxten.
Cuauthémoc sah ihren Anführer. Er war schlank und trug eine lederne, mit Edelsteinen besetzte Schürze. Aus honigfarbenen Augen funkelte er die Eindringlinge an und zog eine stabförmige Waffe aus dem Gürtel. Ein roter Lichtstrahl strahlte aus ihr. Wie die Strahlen der Sonne und die Klingen der Messer zerschnitt sie Raum und Fleisch. Fassungslos beobachtete Cuauthémoc, wie zwei seiner Krieger, die ihm seit ihrer Kindheit vertraut waren, die Gliedmaßen abgetrennt wurden. Blutüberströmt sackten sie in sich zusammen und schrien gequält. Cuauthémoc gewahrte, dass auch seine anderen Krieger strauchelten.
»Kämpft!«, brüllte Cuauthémoc und stürzte auf den fremdartig Bewaffneten zu. Geschickt wich er der seltsamen Waffe aus, indem er hinter einem Felsen in Deckung ging. Stein zerbarst unter dem feurigen Strahl der Waffe. Die Staubwolke tarnte Cuauthémocs Angriff. Nahe vor dem Feind kam er wieder zum Stehen. Die Augen des Unterweltbewohners schienen zu glühen und jeder Muskel war zum Zerreißen gespannt. Der Priester holte mit seiner Axt aus und traf den Arm seines Feindes. Ein gequältes Stöhnen entwich dessen Kehle. Der Feuerstab entglitt seiner Hand und fiel zu Boden. Cuauthémoc holte erneut aus. Mit dem zweiten Schlag traf er ihn an der Stirn. Die Klinge trieb tief hinein und spaltete den Schädel. Ohne weitere Gegenwehr fiel der Feind zu Boden. Cuauthémoc griff sich den Schild, den der Kämpfer bei sich getragen hatte, und stürmte sogleich in die Wogen des Kampfes.
Seine Krieger hatten sich in verschiedene Lager aufgeteilt. Die Bogenschützen standen hinter denen, die vergiftete Pfeile aus den meterlangen Blasrohren schossen. Auf beiden Seiten hatte es schwere Verluste gegeben. Ein unbeschreibliches Massaker, das er seit den Tagen des Krieges nicht mehr gesehen hatte. Blutlachen färbten das Gestein rot, die Kämpfenden stolperten inmitten der Leichen und abgetrennten Glieder. Niemand beachtete mehr den Kristallschädel. Cuauthémoc stürzte zur Säule. Er war bereits auf Armlänge herangekommen, als er meinte, den wachsamen Blick eines Wächters in seinem Rücken zu spüren. Er wirbelte herum, konnte aber nichts entdecken.
Er streckte die Hände nach dem unheimlich leuchtenden Schädel aus. Ein Bersten von Stein neben ihm ließ ihn zurückweichen. Einer der todbringenden Strahlen hatte ihn nur knapp verfehlt. Instinktiv riss Cuauthémoc den schweren silbernen Schild vor sich. Ein weiterer Lichtstrahl traf darauf, ohne, dass er etwas davon spürte. Der Strahl wurde zurückgeworfen. Eine mächtige Feuerwolke riss einen Krater in das Gestein, wo der Schütze gesessen haben musste. Hastig riss Cuauthémoc den Schädel von seinem Podest. Die roten Strahlen aus den Augäpfeln verschwanden und gleichzeitig nahm das Licht der Höhle zur Hälfte ab. Hastig stopfte er den Schädel in seine Tasche. Dann rannte er zurück in die Schlacht. Das Geschrei und Stöhnen der Kämpfenden erfüllte alles um ihn herum. Die Wächter hatten die Distanz zu den Kriegern verringern können. Die wenigen Übriggebliebenen waren gezwungen, mit der Axt zu kämpfen.
Cuauthémoc ging hinter einem Stein in die Hocke und legte das Blasrohr an. Er hatte nur noch diese eine Chance. Sollte er versagen, war ihr Kampf umsonst gewesen, das Leben vieler nutzlos geopfert worden. Seine Hände zitterten. Er griff in seinen Brustbeutel und schob den ersten vergifteten Pfeil in das Blasrohr. Jeder seiner Pfeile traf. Zusammensackende Körper bedeckten schon bald den Boden. Doch die Meute hatte ihr Angesicht auf ihn gerichtet, sein Schlupfloch entdeckt. Ihre glühenden Augen fixierten ihn. Sie setzten zum Angriff an. Zwischen ihm und den Wächtern stand nur noch ein Krieger. Er warf sich den Kreaturen entgegen und riss zwei in den Tod, bis auch er übermannt wurde. Mit bloßen Händen brachten sie ihn zu Tode, wie ein Rudel Wildtiere, das über ihr Opfer herfiel und es zerfleischte. Die übriggebliebenen Wächter stürzten sich auf Cuauthémocs Versteck. Die Giftpfeile bohrten sich in ihre Muskeln und ließen sie niedersinken. Ein Wächter blieb übrig. Er nahm Deckung hinter den Steinen und toten Körpern. Er kroch näher, bis nur noch ein geringer Abstand zwischen ihnen lag.
Cuauthémoc wich zurück und ließ das Blasrohr fallen. Die Entfernung war bereits zu gering, um ihn damit abzuwehren. Eine Masse aus Muskeln richtete sich auf und stürzte sich auf ihn. Cuauthémoc schleuderte die Axt. Ein dumpfes Geräusch entstand, als die Klinge in die Rippen getrieben wurde und sich tief in dessen Brust bohrte. Ein Blutstrom färbte die Gestalt rot, die taumelnd zu Boden fiel.
Schwer atmend schritt Cuauthémoc durch die toten Leiber. War noch jemand am Leben? Seine Augen blickten umher, doch er konnte nichts als grausame Vernichtung entdecken. Ein schwaches Stöhnen ließ ihn aufblicken. Einer seiner Krieger saß verletzt am Boden, angelehnt an einen Stein. Klaffende Wunden bedeckten seinen Körper.
»Wir haben gesiegt!«, hauchte er und verzog das Gesicht zu einem gequälten Grinsen.
Cuauthémoc ging neben ihm in die Hocke. »Ja, wir haben gesiegt«, antwortete er und legte die Hand auf seinen Kopf.
»Geh nur und bring es zu Ende. Ich werde zu den Göttern aufsteigen und dort auf dich warten.«
Der Priester nickte wortlos und bestieg dann eines der Kanus. Mit letzter Kraft steuerte er durch das unterirdische Labyrinth.
Als er die dunkle Welt hinter sich ließ und ins Freie trat, empfing ihn heiße, mit Feuchtigkeit geschwängerte Luft. Cuauthémoc schleppte sich durch den dicht bewachsenen Wald. Seine Kehle brannte vor Durst und seine Glieder schmerzten, als er den verlassenen Tempel erreichte. Steine waren an vielen Stellen aus den Mauern herausgebrochen und Pflanzen begannen, das Gebäude zu bezwingen. Hier hatte er mit seinen Kriegern einen alten Schacht freigelegt, der dazu gedient hatte, die darunterliegenden Gänge mit Luft zu versorgen. Ein Erdbeben hatte die unterirdische Anlage verschüttet, der richtige Ort, um den Kristallschädel für immer zu verbergen.
Cuauthémoc ließ den heiligen Gegenstand der Unterweltbewohner hineingleiten und verschloss den Schacht mit Steinen, Erde und Lehm, bis nichts mehr von einer Öffnung im Boden zu erkennen war.
Erschöpft sank er zu Boden. Niemand durfte je von diesem Ort erfahren. Niemand die Möglichkeit bekommen, ihn zu zwingen das Versteck zu verraten. Er schleppte sich wie in Trance durch den Dschungel, soweit ihn seine Füße trugen. Entkräftet blickte er noch einmal in den blauen Himmel und stürzte sich in sein Messer.
Die rotierenden Rotorblätter des Hubschraubers dröhnten über der grünen, undurchsichtigen Natur. Leif Boerson stand an der geöffneten Kabinentür eines SA 330 Puma, ein militärischer Transporthubschrauber, der Platz für eine kleine Eliteeinheit bot. Er starrte auf die Baumkronen, die undurchdringlich unter ihm vorbeizogen. Der Flugwind nahm der schwülen Hitze die Kraft und ließ ihn tief durchatmen. Noch etwa zehn Kilometer, dann würden die Männer ihren letzten Sprung in seiner Begleitung machen.
Er bildete im Auftrag eines reichen Mexikaners eine Gruppe Halbstarker und Krimineller im Fallschirmspringen aus. Spätestens als Boerson dem Sammelsurium von Kriegsgeräten und dem Mexikaner gegenübergestanden hatte, war ihm bewusst geworden, dass es sich um den Kopf eines Drogenkartells handelte, der dabei war, eine eigene kleine Armee aufzubauen. Doch diese Tatsache hatte ihn nicht davor zurückschrecken lassen, den Auftrag anzunehmen. Ihm war es egal, wer ihn bezahlte.
Heute war sein letzter Tag. Der Lohn, eine fünfstellige Summe, lag bereits auf dem Konto seiner Bank, sodass er sich wieder dem Studium der Parasitologie widmen konnte. Dieses Mal jedoch, ohne auf die Almosen seines Vaters spekulieren zu müssen.
Ein metallenes Glitzern auf einer Lichtung im Dschungel riss ihn aus seinen Überlegungen. Noch ehe er das Fernglas angesetzt hatte, gab es einen ohrenbetäubenden Knall.
»Ausweichen auf neun Uhr!«, brüllte Boerson dem Piloten zu, der versuchte, an Höhe zu gewinnen. Dieser schien keine Notiz von seinem Kommando zu nehmen. Ein weiteres Geschoss eines Granatwerfers zischte längsseits an ihnen vorbei und verfehlte den Hubschrauber nur um wenige Zentimeter. »Verdammt noch mal, zieh den Vogel nach links!« Sein Herz hämmerte hart gegen die Brust. Er entdeckte den Schützen hinter Büschen, der bereits zu einem erneuten Schuss ansetzte. Boerson war nicht bewaffnet. Er zog einen der Auszubildenden näher und deutete in Richtung des Schützen am Boden, doch die wenigen Schüsse, die sie noch erwidern konnten, verfehlten in der Hektik und dem Schwanken des Hubschraubers ihr Ziel.
Die nächste Granate erwischte sie voll und ganz. Der hintere Teil des Hubschraubers wurde unter ohrenbetäubendem Bersten weggerissen. Der Helikopter begann zu trudeln. Eine schwarze Rauchwolke stieß aus dem zerfetzten Heck. Boerson wusste, sie mussten springen. Wie ein Teppich lag der lückenlose Wald unter ihnen. Wenn sie jetzt sprangen, würden sie sich alle Knochen brechen. Die sonst so harten Männer drängten sich an der Kabinentür zusammen wie verängstigte Weiber. Boerson gab den Befehl sein Kommando abzuwarten. Ihr Protest und Fluchen hielt ihn nicht davon ab, den Absprung hinauszuzögern, um eine geringe Überlebenschance herauszuarbeiten.
Eine Fläche, die mit Buschwerk bewachsen war, tauchte in einiger Entfernung auf. Das Fluggerät taumelte in der Luft. Der Pilot gab sein Bestes. Ihm blieb nichts anderes übrig, denn er hatte keinen Fallschirm.
»Versuch uns dort hinzubringen!«, schrie Boerson und beugte sich zu dem Piloten vor.
Zwei der Männer, die panisch die näher kommenden Baumkronen betrachteten, verloren die Nerven und sprangen. Fluchend stürzte Boerson zur Tür, um weitere Narren davon abzuhalten, im Geäst der Urwaldriesen zu landen.
»Jetzt!« Boerson winkte einen nach dem anderen raus, bis auch er, nach einem kurzen Blick zum Piloten, heraussprang.
Schützend hielt er die Arme vor das Gesicht, als er inmitten von stacheligen Büschen zu Boden fiel. Dornen und Äste kratzten brennend an seinem Körper entlang. Ein Stich fuhr in seine linke Schulter. Der Schirm zerriss und die Leinen verfingen sich im Geäst, bis ein heftiger Ruck durch seine Glieder ging und der Fall plötzlich stoppte. Schmerzerfüllt stöhnte er auf. Sein Blick richtete sich nach unten. Nur noch drei Meter. Er schnitt die Gurte los und landete mit weiteren Verletzungen im Dickicht.
Ein dumpfer Knall in einiger Entfernung kündigte den Absturz des Helikopters an. Kurz tauchte das Bild des vor sich hinmurmelnden Piloten vor ihm auf.
Boerson zog ein langes Messer hervor und schlug sich zu den verteilt gelandeten Männern durch. Nach einer halben Stunde hatten sich alle gegenseitig aus den verfangenen Gurten und Schirmen befreit und hockten in einer scheinbar undurchdringlichen grünen Stachelhölle. Keiner der zehn Mann, die auf sein Absprungkommando gewartet hatten, war ums Leben gekommen, jedoch zum Teil schwer verletzt. Tiefe Schürf- und Schnittwunden überzogen ihre Körper. Blut sickerte aus verschiedenen Wunden. Der Versuch, die zwei Männer, die zu früh aus dem Helikopter gesprungen waren per Funk zu erreichen, scheiterte. Sie antworteten nicht. Nach ihnen zu suchen, verwarf Boerson, noch ehe er wirklich darüber nachgedacht hatte, denn ihre Standorte lagen zu weit voneinander entfernt und es war unwahrscheinlich, dass sie noch lebten.
Vor dem Sprung hatte er das Satellitentelefon retten können. Er wählte die Nummer von Ramirez, seinem Auftraggeber.
»Hört mir mal zu!«, unterbrach Boerson die Männer, die durcheinander spekulierten, wer auf sie geschossen haben könnte. »Laut Ramirez soll sich nur ein Kilometer von unseren jetzigen Koordinaten entfernt eine Höhle befinden. Dort werden wir morgen früh abgeholt.«
Unzufriedenes Raunen und Murren machten sich breit. »Wieso erst morgen früh?«, nörgelte Juan Cortez.
Boerson warf ihm einen abwertenden Blick zu. »Es wird bald dunkel.« Zu mehr Worten wollte er sich nicht herablassen. Er hasste dumme Fragen. Als ehemaliger Ausbilder in der schwedischen Armee war er es gewohnt, zu akzeptieren, wer in welcher Situation das Sagen hatte und am längeren Hebel saß und hier war es eindeutig Ramirez.
Boerson teilte die Gruppe auf, um die Verwundeten, die nicht mehr laufen konnten, zu tragen. Drei der Männer hatten Beinbrüche oder Schlimmeres. Jeweils zwei trugen einen Verletzten. Boerson ging mit Juan Cortez voran. Mit Messern schlugen sie sich durch das dicht gewachsene Grün, um den Weg von den störendsten Pflanzen zu befreien. Ihre Kleidung klebte am Leib, die sämtliche Moskitos aus der Umgebung anzuziehen schien. Das Surren der Viecher war so laut, dass Boerson unbeherrscht fluchte und immer wieder vergeblich nach ihnen schlug. Die feuchte, heiße Luft drang wie warme Watte in seine Lunge und trieb seinen Puls in die Höhe.
Nach einer knappen Stunde tat sich eine Lichtung auf. Schnaufend steckte er das Messer ein. Sie liefen über Quader, die am Boden lagen und eine glatte Oberfläche bildeten, ähnlich einer Straße. Alte knorrige Brotnussbäume säumten den Weg. Ein untrügliches Zeichen für eine ehemalige Maya-Stätte.
»Da vorne ist die Höhle!«, Juan zeigte in Richtung eines Felsmassivs. Ein mannshohes Loch von drei Metern tat sich darin auf.
»Wir sollten draußen unser Lager aufschlagen«, schlug einer der Schwerverletzten stöhnend vor. »Wer weiß, was für Viecher dort drinnen hausen.«
»In der Höhle wird es kühler sein.« Boerson nahm weitere Proteste, nur noch schemenhaft wahr. Selbst wenn es darin spukte, würde er die Kühle dem grünen Backofen jederzeit vorziehen. »Hier gibt es Wasser!«, rief er von drinnen und ließ sich etwas von dem frischen Nass über die aschblonden Haare laufen und trank einen Schluck. Das Wort Wasser, schien alle Bedenken der Männer vergessen lassen. Durstig hasteten sie in das Innere der Höhle und tauchten ihre Hände in das klare Rinnsal.
Boerson verfolgte interessiert den Lauf des Wassers, das unter einer Felswand verschwand und unterirdisch weiterfloss. Die Höhle wirkte unspektakulär. Es roch muffig und außer den nackten, löchrigen Kalksteinwänden und dem glatten Steinboden, gab es hier nichts zu entdecken. Erschöpft ließ er sich in der Nähe des Eingangs zu Boden sinken. »Ich halte die erste Wache. Wir sollten auf Feuer verzichten«, mahnte er, als er aus dem Augenwinkel bemerkte, dass jemand Holz zusammentrug.
Es dämmerte bereits, als einer der Männer plötzlich aufsprang. Er ruderte wild mit den Armen. Es hatte den Anschein, als ob er fantasierte. Er schrie erst, dann lachte er. Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht ließ er sich an der Felswand zu Boden gleiten und blieb dann mit geschlossenen Augen sitzen.
Boerson sprang auf. Im dämmrigen Licht leuchtete das Weiß, der entsetzt aufgerissenen Augenpaare der Männer auf. »Was ist los Enano?«, rief einer, blieb aber wie versteinert am Boden sitzen. Boerson wurde das Gefühl nicht los, dass die Männer abergläubisch waren und sich vor der Höhle fürchteten. Er ging neben Enano in die Hocke. Er war ein kleiner schmächtiger Mann, weshalb sie ihn übersetzt Zwerg nannten. Sein Jähzorn und Prahlen hatte jedoch nichts mit Zwergenhaftigkeit zu tun.
Vorsichtig tätschelte Boerson den bewusstlosen Mann. »Er scheint ohnmächtig zu sein«, murmelte er und fühlte daraufhin den Puls. Mit einer Taschenlampe, die nicht größer als eine Zigarette war, leuchtete er Enano in die Augen. Die Pupillen waren extrem geweitet, wie nach dem Konsum einer starken Droge. Ob er sich mit Kokain vollgedröhnt hatte? Ramirez würde das hart bestrafen, wenn dem so war. Etwas glitzerte plötzlich am Nacken des Mannes. Boerson leuchtete dorthin. Ungläubig starrte er auf ein panzerartiges Tier, das fest an Enanos Wirbel hing. Es reflektierte das Licht der Taschenlampe in allen Regenbogenfarben, wie das Innere der Perlmuttschicht einer Muschel. Fasziniert glitt Boerson mit seinen Fingern über den harten, chitinartigen Panzer.
»Was hat er denn?«, rief eine verunsicherte Stimme.
»Bloß Erschöpfung«, log Boerson, »aufgrund von Wassermangel und Hitze. Morgen ist er wieder fit.« Unauffällig schob er den Kragen des Hemdes hoch und verschloss diesen. Es schien sich, um ein Parasit zu handeln. Vielleicht eine bislang noch unentdeckte Art? Er musste es verheimlichen. Wenigstens bis morgen früh, um das Tier besser betrachten zu können. Er setzte sich zurück an den Höhleneingang. Seine Gedanken kreisten voller Ungeduld. Eine unentdeckte Art mit einem Namen zu benennen, wäre der Zenit seiner Forschungen. Er malte sich bereits das dumme Gesicht seines Vaters aus, der ihm immer nur Kopfschütteln und Abneigung entgegengebracht hatte, seit er den Dienst in der schwedischen Armee quittiert hatte. Er würde ihm in den Arsch kriechen, um von seinem Ruhm kosten zu dürfen, sinnierte er.
Ob es hier noch mehr dieser Tiere gab? Was wenn sie die anderen Männer in der Höhle ebenfalls befielen? Er verzog sarkastisch das Gesicht. Sie alle waren skrupellose Mörder, oder sie würden bald zu welchen werden. Unzugänglich, jähzornig und undiszipliniert. Was scherte es ihn, was mit ihnen geschah.
Leif Boerson blieb die ganze Nacht wach am Höhleneingang sitzen, auch als einer der Männer kam, um ihn abzulösen. Seine Ungeduld auf Tageslicht steigerte sich mit jeder Minute, in der er in die Dunkelheit starrte. Die Sterne am Nachthimmel pulsierten, als wäre das Firmament ein eigenständiger Organismus, der auf die Erde hinabstarrte.
Boerson war in der Nacht noch ein paar Mal bei dem ohnmächtigen Opfer gewesen, doch der Mann blieb weiterhin bewusstlos. Als es bereits dämmerte, kämpfte Boerson gegen seine müden Augen an. Sie brannten und ließen sich nur noch unter größter Anstrengung aufhalten. Als ein Schrei durch die Höhle hallte, zuckte er zusammen. Mit einem Satz sprang er auf und hastete nach drinnen.
»Was ist los?«
Die Männer saßen an der gleichen Stelle und blickten verstört zu einem ihrer Kollegen, der am Wasserlauf stand. Er rieb sich wie wild im Gesicht und schabte über seine Stoppeln am Kinn.
»Was ist denn los?«, schrie ihn Boerson an.
»Da war eine Gestalt aus der Unterwelt«, stammelte er. »Wir müssen hier sofort raus!«, schrie er und wollte sich panisch an Boerson vorbeidrücken, doch dieser hielt ihn am Arm fest.
»Immer mit der Ruhe. Was meinst du mit einer Gestalt aus der Unterwelt und wo ist Enano?«
Alle blickten verstört zu der Stelle, wo Enano gelegen hatte. Sie schienen erst jetzt zu registrieren, dass er nicht mehr da war.
»Es hat ihn mitgeschleift. Am Arm hat es ihn gepackt und in den Fels gezogen. Ein Monster. Eine widerwärtige Kreatur. Riesengroß und hässlich. Wir müssen hier sofort weg!« Seine Erklärung hatte sich von einem verschreckten Stammeln in ein Schreien verwandelt. Hektisch riss er sich von Boerson frei und stürmte hinaus.
Boerson musste nicht lange warten, bis auch der Rest der Mannschaft das Innere der Höhle verlassen hatte. Wachsam schlich Boerson etwas tiefer hinein. Bestimmt lauerte irgendwo ein wildes Tier, das Enano als Mahlzeit auserkoren hatte, ging es ihm durch den Kopf. Ein Knirschen ließ ihn herumfahren. Hinter ihm stand Juan und grinste breit. »Ich bin es nur. Obwohl ich auch schon als hässliche Kreatur bezeichnet worden bin.«
Sie untersuchten nun zusammen die Umgebung. Einige der Männer kehrten ebenfalls zurück. Aber nichts war zu sehen. Weder Hinterlassenschaften eines Tieres, noch eine Möglichkeit, die Höhle auf anderem Wege zu verlassen. Als Boerson im Hubschrauber saß, der die Mannschaft aus dem Dschungel abholen kam, fluchte er innerlich. Er hatte die Entdeckung seines Lebens gemacht und diese hatte sich einfach so in Luft aufgelöst. Er würde wiederkommen, denn er musste ein weiteres Exemplar ausfindig machen.
William Rosenberg saß am überfüllten Schreibtisch seiner ebenso vollgestopften Wohnung. Mit einem schlechten Gewissen beobachtete er, wie Yolanda ihre Schürze um die pummelige Taille band und ihren Blick über das Chaos schweifen ließ. Sie bedachte ihn zwar mit einem Lächeln, aber auch mit einem unverkennbar tadelnden Blick.
Yolanda arbeitete bereits seit zwölf Jahren für ihn als Haushälterin. Ihre bernsteinfarbenen Augen leuchteten schalkhaft aus ihrem pausbäckigem Gesicht und verliehen ihr eine Art Gutmütigkeit, wie man sie sich von einer guten Perle erhoffte. Sie trug ihr schwarzes Haar hochgesteckt und dazu ein farbenfrohes Baumwollkleid.
»Professor Rosenberg, wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, Sie müssen gesünder essen.«
Kopfschüttelnd sammelte sie die Packungen verschiedener Fast Food Ketten ein, die sich auf dem riesigen Schreibtisch zwischen alten Artefakten, Notizen und Büchern angesammelt hatten.
»Ich weiß meine Liebe, Sie haben ja recht.« Er schob sein schütteres, blassbraunes Haar in die linke Scheitelstellung, kniff die blauen Augen zusammen und reckte den Kopf leicht in die Höhe, um ein auffälliges Riechen anzudeuten.
Yolanda lachte. »Sie steht in der Küche. Ich mache Ihnen die Suppe gleich heiß.«
Rosenberg würde sie am liebsten bitten, jeden Tag zu kommen, denn sie brachte ihm immer etwas Ordentliches zum Essen mit. Geboren war er in einer Kleinstadt in den USA, hatte später Archäologie studiert und lebte bereits seit fünfundzwanzig Jahren in Mexiko. Die Kulturen, Wissenschaften und außergewöhnliche Architekturen der untergegangenen Zivilisationen dieses Kontinents beherrschten sein Leben. Seit vierzehn Jahren arbeitete er als Kurator im National Museum von Mexiko-Stadt. Vor einigen Wochen war ein sensationeller archäologischer Fund im Dschungel gemacht worden. Bei Ausgrabungen eines Tempels wurde in einem Schacht ein Kristallschädel entdeckt. Die Medien waren ganz verrückt danach gewesen und hatten zwei Wochen lang, nur darüber berichtet.
Seit einigen Tagen saß Rosenberg nun an dem Fundstück und machte verschiedene Untersuchungen, weshalb ihm die Zeit fürs Kochen völlig fehlte. Der Schädel wies optische Eigenschaften auf. An verschiedenen Stellen wurde Material so entfernt, dass ein Prisma entstand und das Licht gezielt umleitete. Das war natürlich nichts Neues. Kristallschädel mit optischen Eigenheiten gab es einige. Die meisten Fundstücke wurden jedoch meist als Fälschung abgetan, da man sich nicht erklären konnte, wie damalige, unterentwickelte Kulturen, ohne modernes Werkzeug solch eine Arbeit hätten vollbringen sollen.
Dieses neu entdeckte Artefakt wurde nach ersten Untersuchungsergebnissen in die Zeit der Maya eingeordnet und schien tatsächlich etwas Besonderes zu sein. Das Gewicht des Kristalls änderte sich stetig, was auf elektromagnetische Wellen, die er aussendete, zurückzuführen war. Mikroskopische Untersuchungen hatten keinerlei Schleifspuren an der Oberfläche aufzeigen können. Was ihn zusätzlich von bisherigen Funden unterschied, war die Form des Schädels. Er hatte nicht die typischen physiognomischen Eigenschaften eines Menschen. Die Schädelrückseite war um ein Vielfaches länger und der Schädel insgesamt größer.
Behutsam schob Rosenberg das Artefakt vor eine Lampe und ließ das Licht von unten hindurchstrahlen. Ein eingearbeitetes Prisma lenkte das Licht um, sodass es in zwei Bündel aufgeteilt aus den Augäpfeln wieder austrat. Beleuchtete er den Schädel von der Seite, trat das Licht gebündelt aus der Stirn aus.
»Um Himmels willen!«, rief Yolanda aufgebracht. »Entfernen Sie dieses Ding sofort aus Ihrem Haus, sonst kann ich nicht mehr zu Ihnen kommen. Es bringt Unglück, so etwas in seinem Heim aufzubewahren!« Mit einem sorgenvollen Gesichtsausdruck haftete Yolandas Blick auf dem Kristall, wobei sie einen Schritt rückwärts machte.
»Entschuldigen Sie. Ich mache es gleich wieder gut.« Lächelnd nahm er ein Küchentuch und verdeckte das Fundstück.
»Sie machen es gleich wieder gut? Was haben Sie angestellt?« Skeptisch stemmte sie die Hände in die Hüfte und kniff die Augen zusammen.
Rosenberg ließ sich lächelnd in den Ledersessel zurücksinken und deutete zum Buchregal. »Ich habe allen Unrat, wie Sie meine Notizen bezeichnet haben, und auch Sonstiges was nicht dorthin gehört aufgeräumt.« Er hoffte auf ein versöhnliches Lächeln, das er allerdings nur zögerlich erhielt.
»Da bin ich aber erleichtert. Denn ich mag es nicht, wenn mich bei der Arbeit Fratzen aus Holz oder Stein anstarren.« Misstrauisch schob sie das Regal einen Spalt weit auf und blickte in den kleinen Raum, der nur drei mal drei Meter maß. Er beherbergte die wertvollsten Stücke seiner Sammlung.
Ein plötzlicher Knall und das Splittern von Holz ließen beide zusammenfahren. Rosenberg sprang auf und drückte die verängstigte Yolanda in das Geheimzimmer und schob das Regal unter geflüstertem Protest seitens Yolandas zu.
*
Yolanda hämmerte das Herz in der Brust. Ihr ganzer Körper zitterte. Vorsichtig stellte sie sich auf die Zehenspitzen und blickte durch ein kleines Loch in der Bücherwand. Sie konnte nur wenig vom Nachbarzimmer überblicken, sah aber, dass zwei Männer auftauchten. Einer von ihnen hatte eine hässliche Narbe am Hals. Die Stimmen drangen gedämpft zu ihr ins Innere. Sie wollten den Schädel! Yolanda hatte Angst. Die Männer waren nicht vermummt. Würden sie Dr. Rosenberg am Leben lassen?
Zu ihrer Erleichterung versuchte Dr. Rosenberg nicht, den Schädel zu retten, sondern zog sogleich das Küchentuch vom Kristall, dessen Augen immer noch unheimlich glühten, obwohl das Licht dahinter ausgeschaltet war.
Einer der Unbekannten drehte das Artefakt in den Händen und verstaute es daraufhin in einem Rucksack. Dr. Rosenberg hob kapitulierend die Arme und sagte einige Worte, die Yolanda nicht verstand.
Es war wie in einem Albtraum, als sie mit ansah, wie sie Rosenberg vor sich her schubsten, dann von hinten niederschlugen und bewusstlos wegschleppten.
Marvins Blick ruhte auf der glatten Wasseroberfläche. Laub und Äste der Urwaldriesen spiegelten sich darin wider. Er wusste, es war gefährlich, alleine in die Tiefe der Cenote vorzudringen, doch der Forscherdrang eines Unterwasserarchäologen glühte in seinem Innern. Er griff sich das dick geschnürte Bündel mit Arbeitsgeräten, die er dort unten brauchte, und ließ es in das blaue funkelnde Wasserloch fallen.
Er atmete noch einmal tief die feuchtwarme Luft ein und setzte dann die Atemmaske auf. Vorsichtig kletterte er die Strickleiter hinunter, vorbei an der scharfkantigen Kalksteinwand. Die Erosion vergangener Jahrtausende hatte das Gestein löchrig gemacht und mit tiefen Furchen durchzogen. Die Öffnung maß gerade einmal das doppelte seines Umfangs, was es mit den Sauerstoffflaschen auf dem Rücken äußerst beschwerlich machte.
Kurz beschlich ihn das Gefühl, doch zu warten, bis sich seine zwei Kollegen, die nur wenige Meter entfernt in Zelten schliefen, von ihrem Magenvirus erholt hatten. Es ging beiden sehr schlecht. Sicher würde es eine Erleichterung für sie darstellen, wenn alles bereits vorbereitet war und die Mumie nur noch geborgen werden musste. Er würde kein unnötiges Risiko eingehen, sondern lediglich das Fundstück für den Transport bereitmachen. Das Geld ihrer Auftraggeber konnten sie gut gebrauchen - und das so schnell wie möglich.
Als er die Wasseroberfläche erreicht hatte, zog er die Schwimmflossen an und ließ sich in das klare Wasser gleiten. Diese Cenote war gigantisch und einzigartig. Direkt unter dem kleinen Einstieg, verbarg sich eine riesige Höhle. Die Strahlen der Sonne schienen ihn auf dem Weg in die Tiefe zu begleiten. Stalagmiten und Stalaktiten erschienen im Sonnenlicht wie ein erstarrter, fremder Organismus.
Marvin blickte hinauf. Er liebte dieses diffuse Bild der Welt da draußen, die nur noch schemenhaft und verschwommen zu erkennen war. Hier tauchte man hinein und ließ allen Ballast dort oben zurück. Sicherheitshalber zog er noch einmal an der Nylonschnur, die er am Einstieg befestigt hatte. Während seiner unzähligen Tauchgänge in der unterirdischen Höhlenwelt von Yucatán war es noch nie vorgekommen, dass er sich verirrt hatte, doch die Schnur wirkte trotzdem beruhigend. Ohne ständig auf die Orientierung achten zu müssen, konnte er sich drehen und wenden, um die Schönheiten im kristallklaren Wasser zu erforschen.
Marvin schaltete die Lampe ein. Ihr Schein gesellte sich zu den Sonnenstrahlen. Mit gleichmäßigen Flossenschlägen tauchte er tiefer hinab, bis nur noch ein kleiner, blauer Fleck vom Einstieg über ihm zeugte.
Vor zwei Tagen waren sie hier bereits zu dritt getaucht. Zielstrebig bewegte sich Marvin zwischen den langen, säulenartigen Stalaktiten hindurch, die das Licht der Lampe reflektierten. Die Höhlendecke wurde zunehmend niedriger. Luftblasen, die er ausstieß, sammelten sich am Gestein und erweckten den Anschein eines Ausgangs. Der schmale Tunnel wurde nun sichtbar. Mit bedächtigen Bewegungen tauchte er hinein. Es war nicht mehr weit. Eine Höhle in der Höhle. Sie lag trocken und würde eine große Sensation darstellen, wenn sie ihre Forschungsarbeit veröffentlicht und die Fundstücke präsentiert hatten.
Ein kleiner Fisch schwamm in der Nähe. Marvin versuchte vergeblich, ihn mit seinem Lichtstrahl zu erfassen. Behutsam drehte er sich um die eigene Achse, doch das Tier verschwand wendig aus dem erhellten Bereich. Marvin stutzte. Nur kurz hatte der Schein der Taschenlampe das Geschöpf erfasst. Es wies keinerlei Ähnlichkeit mit einem Fisch auf, eher mit einer riesigen Assel. Als er das Tier nicht mehr ausmachen konnte, konzentrierte er sich wieder auf den schmalen röhrenartigen Tunnel, der bereits anfing, senkrecht nach oben zu verlaufen.
Marvin leuchtete die Tauchstrecke aus, als plötzlich ein beißender, stechender Schmerz durch seinen Körper jagte. Tränen trieben ihm in die Augen und im linken Bein fehlte ihm plötzlich jedes Gefühl. Panisch fasste er sich ans Genick, wo der Schmerz, der ihn kaum atmen ließ, seinen Ursprung hatte. Er ertastete etwas. Es war hart wie Stein und klebte förmlich auf den Halswirbeln fest. Mit beiden Händen drückte, schob und zerrte er daran. Die Lampe entglitt ihm. Wie in Zeitlupe sank sie zu Boden. Mit den Händen am Fremdkörper tauchte er ziellos im Tunnel. Sediment wirbelte auf, der das Licht unter ihm zu einem milchigen kleinen Punkt verkümmern ließ. Er musste hier raus, doch der Schmerz lähmte all seine Glieder. Er begann zu schreien. Plötzlich fühlte er sich wie in einem Traum. Es wurde leicht und ruhig um ihn herum. Seine Muskeln entspannten sich, der Schmerz verschwand. Mit einem Glücksgefühl sah er den roten Flecken zu, die sich nun zu einem Bild zusammenfügten. Er schloss die Augen.
Carlos Zamardo, Einsatzleiter der mexikanischen Bundespolizei, war auf dem Weg zur Rechtsmedizin. Der Körper eines Deutschen wurde heute eingeliefert. Unter härtesten Bedingungen hatten ihn zwei seiner Kollegen aus dem Dschungel geschafft.
Carlos Hände schwitzten, was nicht allein an der schwülen Luft lag. Seine Gedanken kreisten um Muyal. Sie war seit zwanzig Jahren die leitende Rechtsmedizinerin vor Ort. Ledig wie er selbst und immer der Arbeit ergeben. Oft hatte er das Gefühl, dass sie ihn mochte, doch sobald er versuchte, ihre enge Freundschaft zu vertiefen, blockte Muyal ab. Manchmal fragte er sich, ob seine italienische Abstammung sie verunsicherte ... sein rötlich gewelltes Haar, das er von seinem Vater und Großvater geerbt hatte und in Mexiko eher unüblich war. Diese Vermutung überzeugte ihn aber nicht wirklich, denn an Damenbekanntschaften hatte es ihm nie gemangelt. Wahrscheinlich war genau das der Grund. Er war nie der Typ für eine dauerhafte Beziehung gewesen. Trotz seines Alters von Anfang fünfzig war er durchtrainiert und fit. Was Frauen am meisten an ihm bewunderten, waren neben der hohen Stellung bei der Bundespolizei, die graugrünen Augen, die schimmerten wie eine von der Sonne angestrahlte Cenote.
Muyals sinnliche Kurven nahmen vor seinem geistigen Auge Gestalt an. Sie raubte ihm den Atem, wenn sie vor ihm stand, ihr wallendes schwarzes Haar hochsteckte und ihn dann mit ihren nachtschwarzen Augen fixierte.
Drei Straßenmusikanten ließen Muyals Antlitz verblassen. Carlos überquerte den Zócalo von Mérida, der Platz, auf dem sich das Leben und Treiben der Menschen abspielte. Man bekam schnell den Eindruck, als sei man Besucher eines Theaterstücks, das auf einer Freilichtbühne spielte. Gerüche von allerlei Speisen lagen in der Luft, fliegende Händler schwirrten durch die Menge auf der Suche nach einem Käufer ihrer Waren. Tauben stoben auseinander und flüchteten sich in den Schatten der Kathedrale. Schützend und wachsam reckte sie ihre Türme gen Himmel. Der koloniale Charme beeindruckte Besucher genauso wie die Einheimischen.
Beim Anblick eines kleinen Restaurants wurde Carlos bewusst, dass er heute wieder nichts Ordentliches gegessen hatte.
Als Carlos die Gerichtsmedizin erreichte, lag der Tote bereits auf dem Seziertisch. Muyal schloss gerade eine schmutzige Kiste aus grauem Kunststoff, die am Boden lag.
»Guten Abend Muyal.« Carlos lächelte ihr kurz zu und täuschte ausschließliches Interesse an dem Leichnam vor, indem er seinen Blick auf ihn richtete.
Muyal schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln. »Wieso hat der Mann in der Kiste gesteckt?«, fragte sie in sich versunken.
»Er war als Unterwasserarchäologe tätig. Darin wollten er und seine beiden Kollegen eine Mumie aus einer unentdeckten Höhle bergen.«
»Eine Mumie?« Muyal blickte ungläubig hoch. »Hatten sie denn die Erlaubnis der Behörden für eine solche Bergung?«
»Ich glaube nicht. Aber seine Kameraden haben auf der Dienststelle darauf bestanden, dass ihnen ihre Auftraggeber eine vorgelegt hätten. Das werde ich noch überprüfen. Ich weiß nur, dass der Tote allein in eine Cenote getaucht ist, da seine Begleiter aufgrund eines Virus zu entkräftet waren und schliefen. Als sie ihn vermissten und die angebrachte Nylonschnur am Einstieg der Unterwasserhöhle entdeckten, tauchten sie hinein und konnten ihn nur noch tot bergen. Sie stehen ziemlich unter Schock. Armer Kerl, er war noch keine dreißig Jahre alt.«
Muyal schüttelte mitfühlend den Kopf und nahm ihr Diktiergerät in die Hand. »Ich werde dich anrufen und dir die Untersuchungsergebnisse übermitteln, wenn es dir nicht zu spät wird.«
Für einen Moment tauchte Carlos in Muyals Augen ein und nickte. »Gerne.« Carlos bemerkte Muyals blasse Haut und die dunklen Ränder unter ihren Augen.
»Du siehst heute nicht gut aus, ist alles in Ordnung?« Carlos presste die Lippen aufeinander, während er sie prüfend ansah.
Sie lachte. »Danke für die Blumen.«
Carlos schüttelte über seine Ungeschicktheit den Kopf. Er hatte es mal wieder vermasselt. Oder nicht? Dieses Leuchten, das sie ihm oft genug schenkte, um nicht die Hoffnung zu verlieren, dass aus ihnen beiden etwas werden könnte, lag auch heute wieder in ihren Augen.
»Ich habe mir diese Magensache eingefangen, die in ganz Mexiko grassiert, und nehme ein Antibiotikum ein. Das macht mir zu schaffen. So, jetzt lass mich arbeiten, bevor ich
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Birgit Gürtler
Cover: Birgit Gürtler
Tag der Veröffentlichung: 24.05.2020
ISBN: 978-3-7487-4294-4
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