Birgit Gürtler
Ritter Rudis Farbenzauber
Inhaltsverzeichnis
Titel
Rudis erste Rüstung
Der Höhlendrache
Die Goldvögel
Die fleischfressende Pflanze und der Kobold
Der König
Rudis erste Rüstung
Zwischen Wiesen und dichten Wäldern liegt ein winziges Dorf. Hier lebt Rudi bei Onkel Wilhelm und Tante Hermine. Rudi soll Ritter werden, doch viel lieber möchte er ein Maler sein. Wann immer es geht, versteckt der Junge Schwert und Schild und verkriecht sich in seinem Baumhaus.
Er liebt es hier oben zu sitzen, den Vögeln zu lauschen, den Waschbären beim Toben zuzusehen und zu malen. Alles hält er mit Pinsel und Farben auf Leinen oder Papier fest. An den Wänden hängen Bilder von Schmetterlingen, Blumen, Bäumen und den Tieren des Waldes, zum Beispiel vom Hirsch, wie der sein Geweih zur Schau stellt, vom Fuchs und vom Wildschwein. Mit zusammengepressten Lippen begutachtet Rudi das Bild einer Eule, die er gerade malt.
Er tunkt den Pinsel tief in braune Farbe, zieht hier einen Strich und tupft dort einen Punkt. Flügelschläge lassen Rudi innehalten. Ganz still sitzt er da und lauscht. Gisbert, der freche Rabe, hat ihn bemerkt.
Er hüpft auf dem Dach des Baumhauses herum, rennt stürmisch im Kreis, pickt mit seinem Schnabel und krächzt aus vollem Hals. Das tut er immer, wenn er Rudi hier oben entdeckt. Er weiß, dass die alte, knorrige Eiche Rudis Lieblingsplatz ist, und hat Spaß daran, ihn zu ärgern. Wütend schlägt Rudi gegen das dünne Bretterdach, doch der Rabe krächzt noch lauter, so laut, dass Onkel Wilhelm darauf aufmerksam wird.
"Junge! Malst du schon wieder? Komm runter und sieh dir die Rüstung an, die der Schmied für dich angefertigt hat", hört ihn Rudi mit seiner tiefen Stimme rufen und steckt den Kopf aus dem schiefen Fenster. Er erblickt den langen roten Bart, der im Wind wie der Schweif eines Pferdes wackelt, den dicken, runden Bauch und Schultern, breit wie die von einem Stier. Das ist Onkel Wilhelm, Ritter am Königshof.
Rudi seufzt, klettert den zerfurchten Baumstamm hinunter und schaut mit gerümpfter Nase auf das Kettenhemd, das in der Sonne glänzt und funkelt wie pures Silber.
"Junge, das ist deine erste Rüstung, jetzt bist du ein Mann und bald wirst du ein Ritter sein."
"Aber ich möchte überhaupt kein Ritter werden, sondern ein Maler", erklärt Rudi kleinlaut.
"Ein Maler", lacht Onkel Wilhelm und strubbelt seinem Neffen durch die Haare. "So ein Blödsinn. Jetzt komm endlich, wir wollen sehen, ob die Sachen richtig passen."
Rudi sieht ein, dass alles Reden nicht helfen würde, und folgt ihm mit hängenden Schultern.
Ein großer, runder Kupferkessel hängt über der Feuerstelle, die sich vor der Blockhütte befindet. Das brennende Holz knistert leise. Kleine Funken wirbeln durch die Luft und werden mit dem Wind weit in den Himmel getragen, bis sie erlöschen. Tante Hermine kocht heute zur Feier des Tages ihr bestes Gericht. Sie trägt ihr rotes Kleid, über das sie eine weiße Schürze gebunden hat. Ihre schwarzen, langen Haare sind zu einem Zopf geflochten. Sorgfältig rührt sie mit dem Kochlöffel im Topf und zwinkert Rudi zu. "Du wirst toll aussehen in deiner Rüstung."
Rudi hat Angst. Er weiß, dass niemand Ritter wird, nur weil er eine Rüstung anhat. Nein! Eine schwere Mutprobe liegt noch vor ihm.
Das Gefährlichste ist: das Ei eines Höhlendrachen zu stibitzen.
Das Kniffligste ist: die Feder eines Goldvogels zu finden.
Die Blüte einer fleischfressenden Pflanze zu pflücken, stellt sich Rudi am einfachsten vor.
Er würde sich gerne verstecken, doch sein Onkel wäre dann traurig. Rudi zieht die Unterlippe ein und nickt entschlossen.
Er setzt sich auf den Stumpf eines Baumstammes. Seine nackten Füße sind schmutzig und staubig. Ehe Tante Hermine protestieren kann, schlüpft er geschwind in die Lederstiefel, an denen ein Beinschutz aus Metall befestigt ist.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 15.12.2017
ISBN: 978-3-7438-4634-0
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