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Kapitel 1 - Begegnungen

Heute ist ein wichtiger Tag, denn eine lange Reise geht zu Ende. Schon von weitem kann ich die Oase der Dalrin ausmachen. – Inmitten einer Wüste ist sie auch kaum zu übersehen. Wir werden sie wohl noch im Laufe des Tages erreichen. Die Frage ist nur, ob wir empfangen werden – und vor allem wie dies geschehen wird. Diese Wilden befinden sich ständig im Krieg mit den hiesigen Nomaden, Verbrechern und anderem Gesocks, das in der Wüste lebt. Und unser Führer ist einer von ihnen… Ich werde ihn jetzt wegschicken und hoffen, dass er morgen wie vereinbart auf uns warten wird. Auch ohne ihn kann es meine kleine Reisegruppe das Leben kosten, auch nur in die Nähe des Lagers zu reiten. Doch unsere Pferde sind ebenso durstig wie ihre Reiter. Unsere Vorräte gehen zur Neige und in der Oase befindet sich die einzige Wasserquelle im Umkreis unendlich vieler tausender Schritte. Sei es drum. Ich muss tun, wozu mich mein Herr, unser aller König, ausgesandt hat. Unser aller Überleben könnte davon abhängen.

 

Endlich sind wir da. Ein wahres Paradies breitet sich vor uns aus. Wenn man direkt davor steht, scheint die Oase endlos zu sein und die Zelte zahllos. Die Sonne schickt sich schon an, unterzugehen. Mich beschleicht ein ungutes Gefühl. Es ist ein schlechtes Omen, wenn man eine Bitte am Ende eines Tages äußert. Und wenn man noch dazu von einer wilden Frau begrüßt wird.

 

„Halt! Keinen Schritt weiter! Erklärt Euch oder Ihr werdet auf der Stelle sterben!“, begrüßte Tan’ta’ri die Ankömmlinge. Die Menschen wurden auch immer dreister. Hoch zu Pferde kamen sie an und glaubten auch noch, dass ihnen Gastfreundschaft zu Teil wurde, nur weil sie durstig waren. Von mir aus kann dieses räuberische Volk in der Sonne vertrocknen, dachte sie mürrisch. Ein langer heißer Tag ging zu Ende und sie sehnte sich schon nach den Stunden der Ruhe. Aber nein, kurz vor Wachwechsel musste diese kleine Menschengruppe auftauchen – welche glücklicherweise zu klein war für einen Angriff…

 

„Mein Name ist Lanon. Ich bin ein Gesandter König Aldans, der das Reich Gorlons regiert. Dies sind meine Gefährten. Wir kommen von weit her in einer Sache von höchster Dringlichkeit. Gewährt uns Einlass, Weib!“ Ungeheuerlich, dass ich genötigt werde, eine Frau um etwas zu bitten. Noch ungeheuerlicher ist, dass sie Hosen trägt. „Eine Sache von höchster Dringlichkeit, hm? Höchstens für Eure Pferde, die mehr wert sind, als die gesamte Menschheit! Die lügen und stehlen wenigstens nicht. Ihr werdet unsere Oase nicht betreten. Verschwindet oder tragt die Konsequenzen!“ Ratlos sehe ich in die Gesichter meiner Begleiter, die genauso ratlos sind wie ich. Mit dieser Reaktion haben wir nicht gerechnet. Jeder weiß doch, wer Gorlon ist… Andererseits: Was will man von Wilden auch anderes erwarten? Angestrengt denke ich nach, wie ich dieses einfältige Weib dazu bringen kann, uns einzulassen.

 

„Hört mich an! König Aldan ist ein gerechter und gütiger König. Er achtet jeden Menschen, gleich ob Bediensteter oder Adliger. Er hat ein Reich des Friedens und Wohlstands geschaffen.“ „Dann hat er ja seine Zeit gut genutzt – für einen Menschen. Nur sehe ich noch immer keinen Grund, der Eure Anwesenheit rechtfertigen würde. TANTIR!“ Wie aus dem Nichts erscheinen dutzende lavendelfarbene Gestalten vor uns, welche dieselbe Tracht tragen wie die Frau. Im Nu haben sie uns umzingelt. Obwohl sie keine Waffen bei sich tragen, wird mir angst und bange. Ich bin nur ein Leibdiener, kein Soldat. Mein König vertraut mir. Ich muss Erfolg haben. Unter den gegebenen Umständen dürfte das allerdings schwierig werden.

 

Sie haben uns die Pferde weggenommen und in überraschend stabile Käfige gesperrt. Keiner von ihnen scheint meinen Beteuerungen zuzuhören, dass wir in friedlicher Absicht gekommen sind. Im Morgengrauen wird über uns befunden werden, sagt man uns. Jetzt warten wir. An Schlaf ist nicht zu denken.

 

 

 

Kapitel 2 - Die Bitte

Der Durst weckt mich und meine Begleiter. In einer seligen Stunde der Nacht, in der wir nicht gefroren hatten und wie durch ein Wunder weder hungrig noch durstig gewesen waren, muss sich der Schlaf über uns gelegt haben. Ich fühle mich eigenartig. Mir war, als hätte mir jemand im Schlaf etwas zugeflüstert, aber ich kann mich nicht entsinnen, was dies gewesen sein könnte. Eine Art Gesang vielleicht. Möglicherweise haben uns diese Wilden sogar schon verhext, wer weiß? Bei diesem Gedanken drängt sich mir eine Frage auf: Was hätten sie davon? Wir sind nur unbedeutende Diener eines bedeutenden Mannes, der am Ende seines Lebens steht… Meine Begleiter verlangen nach Wasser und ich verlange den Anführer der Oase zu sprechen, doch die Wächter bleiben stumm. Eine Gestalt nähert sich fast lautlos unseren Käfigen. Etwas Eigenartiges geht von ihr aus – fast, als würde ein Flüstern sie begleiten, doch ich täusche mich gewiss. Meine Sinne beginnen wohl, mir Streiche zu spielen.

 

An’ja’li stand vor den Käfigen und lauschte. Vielleicht. Vielleicht. Ja, vielleicht war der Zeitpunkt gekommen. Aber sie sollte noch genauer hinhören, noch tiefer hineinsehen. Der Mann, der als Einziger noch nicht nach Wasser verlangt hatte, mit ihm würde sie sprechen. „Sprecht. Äußert Eure Bitte.“, begann sie. „Eine Frau ist euer Anführer?“, frage ich ungläubig. „Ihr denkt doch nicht etwa, wir würden euch unbedeutendes Gesindel mit unserem Anführer sprechen lassen? Er ist viel zu beschäftigt für so etwas. Äußert Eure Bitte oder zieht unverrichteter Dinge ab.“ Das Gesicht der Sprechenden ist nicht zu erkennen, sie hat eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Aber ich meine, eben eine Art von Belustigung in ihrer Stimme zu vernommen zu haben.

 

Ich nehme meinen ganzen Mut und meine letzte Kraft zusammen und beginne zu erzählen. „Unser aller König Aldan zählt sechzig Winter und ist dem Ende nahe. Zwielichtige Thronschleicher belagern ihn und wir wissen nicht weiter. Seinen Vorgängern verdanken wir eine lange Ära des Krieges und anderer Dinge, welche verachtenswert sind. Aldan brachte uns Frieden und Wohlstand, doch er hinterlässt keine Erben. Er wollte mit seiner Gemahlin erst dann Kinder in die Welt setzen, wenn sie befriedet ist. Als sie dies war – zumindest innerhalb der Reichsgrenzen – war es zu spät, so scheint es. Vor kurzem sind ihm Gerüchte zu Ohren gekommen, dass in der Wüste ein Volk lebt, das einem Mann die besten Jahre wiedergeben kann. Wenn dies der Wahrheit entspricht und die Dalrin dieses Volk sind, bitte ich im Namen König Aldans und im Namen all dessen, was gut und gerecht ist, darum, dass –“ „Weitere Worte sind überflüssig. Nun ist gewiss, warum Ihr gekommen seid. Wenn eine Entscheidung getroffen wurde, werdet Ihr davon in Kenntnis gesetzt. – Gebt ihnen Wasser.“ Wir erhalten Wasser und die verhüllte Frau zieht von dannen.

 

Das Schicksal eines Volkes in den Händen von Wilden. Oh, wie tief müssen wir gesunken sein, um sogar Hexerei in Betracht zu ziehen? Es steht mir nicht zu, so zu denken. Ich bin nur ein einfacher Diener, der den Befehl seines Herrn befolgt. Alles Andere ist ohne Belang. Ach, meine geliebte Elsa, wie sehr sich mein Herz nach dir verzehrt. Wenn wir überleben, kann ich dich endlich ehelichen. Wie immer müssen wir geduldig sein, welche Pläne Gorlon mit uns hat. Ob nun Krieg oder Frieden, Leben oder Tod – Gorlon ist der Anfang und das Ende aller Schicksale. Wie wohl jenes meiner Begleiter und mir aussieht? Wir werden es wohl bald erfahren.

 

Kapitel 3 - Aufbruch

 „Und dein Urteil über ihr Ansinnen lautet?“ „Das Lied dieses Lanon… es klingt so… offen. Wenn sein Lied das Maß der Menschen dieser Zeit ist, dann können wir wohl beginnen, sie auf der gleichen geistigen Ebene zu sehen. Ist er jedoch eine Ausnahme, wäre es ein großer Fehler, ihnen zu helfen. Und dennoch… Wäre es nicht wunderbar, wenn wir hoffen könnten? Wenn wir ihnen helfen, könnte das der Beginn einer Ära des Friedens sein.“ „Oder der Beginn von erneutem Verrat. Ich verstehe, wie du darüber denkst. Auch ich und die anderen der Höchsten unserer Zunft haben gelauscht und kommen zum selben Urteil.“ An’se’ko und An’ja’li waren sich über Lanon einig, nicht jedoch über das Ansinnen seines Herrn. Lange wogen sie das Für und Wider ab, kamen jedoch nicht zu einem endgültigen Entschluss. Schließlich meinte An’se’ko: „Wir werden mit ihnen gehen und dem Liede Aldans lauschen. Sagt es uns zu, geben wir ihm, was er will.“ „Und verlangen etwas dafür.“ „Natürlich. Nur Freunden gibt man ein Geschenk.“ „Und unsere Freunde müssen diese Wasserdiebe erst noch werden.“ Beide Frauen sahen sich lächelnd an. Ein wenig Freude würde es ihnen schon bereiten, diese einfältigen Wesen auf die Probe zu stellen. – Wenn denn dieser König die erste Prüfung überhaupt bestehen würde.

 

Wieder nähert sich eine verhüllte Gestalt unseren Käfigen. Ist es jene von heute Morgen? Ich vermag es nicht zu sagen. Das Abendrot des Himmels verwandelt unsere Umgebung in ein Gemälde. Alles scheint so unwirklich und endlos. Seltsam. Ich fühle plötzlich eine angenehme Leere in mir. Die Wilde ist nun vor mir angelangt und augenblicklich werden wir freigelassen. Sie sagt nur wenige Worte. „Ihr werdet uns morgen verlassen. Und wir reisen mit euch.“ Und verlässt uns wieder. Keine Erklärung des „wir“. Keine Antwort auf das Gesuch Aldans. Unhöflichkeit scheint hier wohl üblich zu sein.

 

Die äußerst schweigsamen Wachen geleiten uns zu einem leeren Zelt und beziehen davor ihre neuen Posten. Offensichtlich die uns zugedachte Schlafstatt. Nach der anfänglichen Behandlung, die uns zuteil wurde, erscheint mir und meinen Begleitern die ganze Angelegenheit etwas zu einfach vonstatten gegangen zu sein – auch wenn wir nicht wirklich etwas erreicht haben. Noch nicht. Wir wissen es eigentlich nicht. Dennoch: In unserer Heimatstadt sind ein paar Wilde, die uns begleiten, nun wirklich keine Bedrohung. Höchstens ein exotischer Anblick mit ihrer lavendelfarbenen Haut und den gleichfarbigen Gewändern…

 

Unsere kleine Reisegesellschaft erwacht gleichzeitig. Wir fühlen uns alle seltsam frisch und erholt, fast fröhlich, so scheint mir. „Elende Hexerei!“, flucht einer und spricht unsere Gedanken aus. Im selben Moment betreten eben jene Hexen unser Zelt, zwei an ihrer Zahl. Sie nehmen ihre Kapuzen ab und mustern uns, scheinbar abwägend, was und ob sie uns überhaupt etwas sagen sollen. „Dies ist An’se’ko, ich werde An’ja’li genannt. Macht euch reisefertig. Wir sind es bereits.“, verkündet eine von ihnen. Ich erkenne ihre Stimme. Dieses Mal klingt sie anders… so… fern… Als wäre sie hier und doch wieder nicht. Schnell werfe ich diesen Eindruck fort, wie ein verschlissenes Wams. „Ihr habt es gehört. Es geht nach Hause!“ Jubelrufe wollen sich bei dieser meiner Verkündung nicht einstellen, aber was will man von Soldaten anderes erwarten? Die Heimreise bedeutet Entbehrung und Gefahren. Sind wir zu Hause, versehe ich wieder den Dienst eines Leibdieners. Meine Begleiter jedoch werden entweder an die Reichsgrenzen, in zwieträchtige Städte oder gar Dörfer beordert, um Recht und Ordnung aufrecht zu erhalten. Ein schweres Los. Für wahr, ich schätze mich glücklich, dass Gorlon mir ein leichteres zuteil werden ließ.

Kapitel 4 - Die Wüste

 Endlose Weiten. Dünen bis an den Horizont. Und eine gleicht der anderen. Natürlich ist von unserem Führer nichts zu sehen. Selbst wenn er die Vereinbarung eingehalten hat, kann man wohl nicht von ihm erwarten, dass er einen ganzen Tag vor dem Lager seiner Todfeinde unserer harrt. Zumal eben jene mit uns reisen. Was sich, zugegebenermaßen, als äußerst praktische Angelegenheit erweist. Sie kennen nicht nur den Weg – dies allein ist schon ein wahrer Glücksfall – nein, ihnen sind sämtliche Wasserstellen auf unserem Weg durch die Wüste bekannt. Wirklich erstaunlich. Wie können Frauen, schlicht und einfältig wie ihr Geschlecht doch ist, soviel bei sich behalten? Und, was noch ungeheuerlicher wenn nicht gar unsittlich ist, warum wagen sie eine Reise, allein mit fünf fremden Männern, die für sie doch nichts weiter als – Was war das noch gleich, was ich aufgeschnappt habe? – als Wasserdiebe sind? Dieses Volk ist höchst erstaunlich, wenn nicht gar abartig.

 

Wir reisen nur bei Nacht, bei Tagesanbruch suchen wir uns einen Rastplatz. Das haben unsere Begleiterinnen vorgeschlagen – zumindest behaupten sie dies, für mich klang es eher wie ein Befehl. Ich versuche mich von ihnen fern zu halten, denn sie sind mir nicht geheuer. Sie scheinen mich zu beobachten und tuscheln fortwährend miteinander. Und seit ich ihr unseliges Lager betrat, vernehme ich ein beständiges Summen, welches meine Sinne verwirrt. Meine Begleiter scheinen es nicht zu hören. Tagsüber vermag ich ob der Hitze nicht zu ruhen, nachts darf ich den Anschluss nicht verpassen. Wie sehr ich das Ende dieser Reise herbeisehne vermag ich gar nicht auszudrücken.

 

Allmählich wird der Boden grüner, vereinzelt sind sogar schon Sträucher zu sehen. Meine Augen erblicken vertraute Gefilde. Die Zeit in der Wüste scheint endlich vorbei zu sein. Eine Ewigkeit unter der Sonne geht zu Ende. Einmal hat mich diese An’ja’li sogar vor einem Skorpion gerettet. Wahrlich, ich bin froh, nicht länger von diesen Wilden abhängig zu sein. Doch es liegt noch ein langer Weg vor uns. Ich liebe meine Heimat, besonders im Frühling – ein enormer Gegensatz zu jenem Ort, von dem wir kommen. Das sehen auch unsere Begleiterinnen so, sie können das Leuchten ihrer Augen ob des Grüns der Wiesen nicht verbergen. Die Bäume haben eine fast magische Anziehungskraft auf sie. Es scheint sie Unmengen an Kraft zu kosten, nicht zu lächeln. Schon wieder – oder noch immer – tratschen sie in ihrer seltsamen Sprache, die klingt wie ein Fluss. Man kann nicht einmal einzelne Worte ausmachen, alles klingt ewig wie die Wüste, in der sie leben.

 

Es kostet mich zwar Überwindung, aber meine Neugier überwiegt. Ich reite zu den beiden Hexen und frage sie, warum sie denn in der Wüste leben, wenn es ihnen unsere Landschaft doch um so vieles besser gefällt. Lange und durchdringend starren die beiden mich an, als könnten sie auf den Grund meiner Seele blicken. Ich fühle mich plötzlich nackt und hilflos, habe das Bedürfnis, meinem Ross die Sporen zu geben, doch ich bin wie gelähmt. Mit einem Mal stellt mir An’ja’li eine Gegenfrage, wartet eine Antwort jedoch gar nicht erst ab und reitet mit ihrer Gefährtin zu den anderen, um von nun an zu schweigen.

 

Selbst jetzt, zehn Tage später, da wir am Hofe Aldans angekommen sind, geht mir ihre Frage nicht aus dem Kopf, welche wie ein Vorwurf, wie ein Flehen klang. „Würden Euresgleichen uns denn dulden?“ Ich weiß es nicht. Verfluchte Hexen, fast hätten sie es geschafft, mich… zu verhexen… Seit wann dulden Gorlons Anhänger denn Hexen? Niemals! Wir verfolgen sie bis in die hintersten Ecken seines Reiches, welches beständig wächst, dann werden sie gerichtet und verbrannt. Oh, wie ihre Schreie eine grauenvolle Symphonie zu Ehren Gorlons singen, es ist herrlich! Eigentlich müssten unsere… Gäste… ihr Schicksal teilen, doch wir benötigen ihre Hilfe. Ich beneide unseren Herrscher Aldan nicht darum, diese Wilden um etwas bitten zu müssen.

Kapitel 5 - Ein Handel

Gestern ist unsere kleine Reisegruppe angekommen. Heute gewährt unser geschwächter König den beiden Wilden eine Audienz. Als sein Leibdiener bin ich selbstverständlich zur Stelle um ihn zu stützen. In letzter Zeit benötigt er immer öfter meine Hilfe. Ich bin besorgt. Mir missfällt diese Sache zutiefst. Warum Hexerei? Kann er keinen verdienten Priester oder Heerführer zu seinem Nachfolger ernennen? Es steht mir nicht zu, Aldan anzuzweifeln. Dennoch erscheint es mir seltsam, dass der größte Gegner von heidnischen Sitten und Gebräuchen ausgerechnet in der Hexerei einen Ausweg sieht. Als einfacher Diener vermag ich wohl die Entscheidungen hoher Persönlichkeiten nicht zu verstehen.

 

„Nun, Menschenkönig, wie viele Sommer sollen es denn sein?“, fragte An’ja’li keck. Sie wollte ihn herausfordern, ihn dazu verlocken etwas von sich preiszugeben, das seine wahren Absichten offenbaren sollte, was auch immer diese seien. Es war ungeheuer wichtig. Um jeden Preis mussten sie herausfinden, warum und wozu er ihre Hilfe wirklich benötigte. Dieses Menschlein Aldan schien eingeschnappt zu sein. An’ja’li fand es immer wieder entzückend, wenn diese Schwächlinge verärgert waren. Indem sie ihre Entrüstung so offen zeigten, stellten sie auf geradezu obszöne Weise ihre Gefühle zur Schau und schwächten damit ihre Verhandlungsposition. Da er nicht antwortete, lenkte An’se’ko ein: „Ich vermute dreißig Sommer. Das dürfte den Zweck erfüllen, der ihm laut seinem Diener vorschwebt. Ist es nicht so?“ Ihre Stimme klang sehr geschäftig, sehr höflich, sehr zuvorkommend. Alles Teil des Spiels, Teil der Prüfungen.

 

Mühsam stützt sich unser aller König auf mich, um diesen unverschämten Hexen zu antworten. „Ja, ihr vermutet richtig… Ich brauche dreißig Winter… Dann werde ich wieder… Nachkommen in die Welt setzen können… Darf ich fragen… warum ihr… eure Zeit in Sommern… und nicht in Wintern zählt?“ Er muss immer wieder Luft holen, kann kaum einen Satz beenden. Es schmerzt mich zutiefst in meiner Seele, einen Mann so schwach zu sehen, der so vieles für unser Volk getan hat. „Euresgleichen messen die Zeit in Wintern, weil dies Euch die meisten Leben kostet. Unseresgleichen messen die Zeit in Sommern, weil dies uns die meisten Leben kostet. – Was würdet Ihr denn mit diesen dreißig Sommern anfangen, würden wir sie Euch geben?“, entgegnet An’ja’li. Das habe ich diesen einfältigen Wesen doch schon erzählt. Warum wollen sie es noch einmal hören?

 

„Ich muss… Nachkommen hinterlassen… sonst versinkt… mein Reich wieder in Chaos… und Krieg… Gebt mir, wonach ich verlange!“ Dieses lächerliche Gespräch erregt ihn viel zu sehr. Hoffentlich ist es bald vorüber. Sein Leben darf noch nicht zu Ende gehen. Nicht jetzt, wo alles auf Messers Schneide steht. „Und was gebt Ihr uns dafür?“ „Wie bitte?!“ Die vorlauten Worte der Hexe An’ja’li werden meinen Herren noch ins Grab bringen. Was soll das? Wieso wagen sie es, auch noch etwas für ihr Hexenwerk zu verlangen? Wir könnten sie augenblicklich für das hinrichten lassen, was sie sind. Ist ihnen das nicht klar? Unser aller König beruhigt sich wieder, sinniert über ihre Frage nach und meint schließlich: „Was würdet ihr denn dafür verlangen?“ „Wir geben Euch dreißig unserer Jahre. Alles, was wir dafür verlangen, ist ein gleichwertiges Gut. Daraus besteht ein ehrlicher Handel.“, vermittelt die andere Hexe mit ihrer beruhigenden Stimme. Sie ist nicht ganz so vorlaut wie An’ja’li, man könnte sie fast als höflich bezeichnen. „Und was wäre dieses Gleichwertige?“, will mein Herr schließlich missmutig wissen. Seinen Unmut verstehe ich nur zu gut. Warum stellen diese Wilden seine Geduld und die ihm verbliebenen Kräfte so hart auf die Probe? Er hat nicht mehr viel Zeit, also wozu diese… diese… diese Spielchen?

 

„Etwas Gleichwertiges… Was sind dreißig Jahre wert? Wenn sie fort gegeben werden, sind sie für uns für immer verloren. Was ist das Leben wert, Menschenkönig? Unsere Leben gehören uns nicht. Sie gehören ganz und gar unserem Volk, auf dass wir ihm dienen und zu seinem Fortbestehen beitragen. Wir können nicht frei über unsere Lebenskraft bestimmen. Wenn wir sie einsetzen, dann ist es uns nicht erlaubt, dies für Außenstehende ohne Gegenleistung zu tun. Die Menschen der Wüste und die Dalrin sind schon seit Generationen verfeindet, das hat Euch Euer Diener doch gewiss berichtet, nicht wahr? Unseresgleichen halten nicht sehr viel von den Menschen. Tatsächlich betrachten wir sie als unsere Feinde. Nun, was würdet Ihr an unserer Stelle für unbezahlbare, auf ewig verlorene Jahre verlangen, die eigentlich gar nicht Euch gehören?“ Die Stimme An’se’kos klingt wie ein Fluss. Der Gesang in meinem Kopf ist ein beruhigendes Summen. Was könnten wir ihnen denn für so eine großzügige Gabe anbieten? Was ist das? Ich kann mich kaum dagegen wehren. Es ist, als ob etwas ungeheuer Schweres auf meinen Willen lastet und ihn nicht mehr aufstehen lässt. Der Gesang ist nicht böse, er schadet mir nicht. Doch, tut er. Nein. Was geschieht hier?

 

Noch bevor ich endgültig in Verzweiflung versinke, bricht An’ja’li den Zauber An’se’kos. Mir ist nicht klar, warum sie das tut, aber ich bin dankbar dafür. Ihre ungehobelte Art ist mir daher willkommener als zuvor. „Es ist doch offensichtlich, was ein Leben wert ist: Ein Leben. Die Gleichung ist ein Leichtes: Ein Leben für ein Leben. Wenn wir nun für Euer Leben ein anderes verlangten, welches würdet Ihr uns anbieten?“ Mein Herr runzelt die Stirn, als ob er angestrengt nachdächte. Er zieht doch nicht etwa in Betracht… Doch er sieht mich an und sagt: „Nehmt diesen da… Er hat gewiss… noch die dreißig Sommer… die ich euch schulde. Gebt mir jetzt… was ich brauche… was mein Reich braucht… was ich verlange…“ Ich traue meinen Ohren nicht. Soeben wurde ich von dem Mann verraten, dem ich am meisten vertraut habe. Wie konnte dies geschehen?

 

Kapitel 6 - Das Lied der Antai

An’ja’li und An’se’ko wechseln einen Blick. Der nichts bedeuten kann und doch wieder alles. Ich weiß es nicht. Das Singen in meinem Kopf ist verstummt. (Singen? Wie komme ich auf Gesang? Es war doch ein… ein Summen?) Eigentlich sollte mich das beruhigen. Doch das tut es nicht. Im Gegenteil. Wenn ich vorhin schon wegen jener Geräusche besorgt war, die scheinbar nur ich vernahm, so überkommt mich jetzt Todesangst. „Nicht bestanden.“, zischen sie plötzlich im Chor. Und wenn ich soeben nicht glauben wollte, was mein König von sich gab, so könnte man meinen, dass mich diese Worte der Hexen nicht weiter überraschen. Doch das tun sie. Auf angenehme Art und Weise. Auf seltsame Art und Weise. Bin ich verhext?

 

Aldan röchelt aufgeregt und fasst sich an die Brust, bekommt kaum Luft. Meine Gedanken sind wieder klar. (Oder nicht? Es ist nicht wichtig.) Als es unser aller König gelingt, einen Ausruf zu tun, treten ihm vor – gerechtem, wie ich meine – Zorn die Augen aus den Höhlen: „Was soll dieser Unsinn bedeuten: Nicht bestanden? Erklärt euch!“ Der Ausbruch meines Herren scheint sie nicht zu beeindrucken. Sie lächeln spöttisch und An’ja’li gibt frech die gewünschte Erklärung ab: „Prüfung nicht bestanden. Ihr seid es schlicht und einfach nicht wert, dass wir Euch auch nur einen Wimpernschlag unserer Sommer abgeben. Ein wahrer König opfert sich lieber selbst als seine Diener. Schließlich ist er für ihr Wohl verantwortlich. Hättet Ihr Euch selbst vorgeschlagen, nachdem Ihr etwa Euren gewünschten Nachkommen gezeugt habt – so lange dauert das wohl nicht – hätten wir Euch die Sommer gegeben, die Ihr zuvor so unwirsch verlangt habt. So aber werden wir Euch wieder verlassen. Gehabt Euch wohl – solange Ihr das noch könnt.“

 

Zornesröte ziert das königliche Gesicht. Schon fürchte ich, dass es um ihn geschehen ist. Doch er fasst sich wieder, Gorlon sei Dank, und befiehlt das, was nun einmal allen Hexen in unserem Reich widerfährt: „Morgen Mittag werden am Scheiterhaufen brennen. Abführen!“ An’ja’li sieht erschrocken aus, An’se’ko unbeeindruckt. Vielleicht ist An’ja’li jünger? Was sollen diese unbedeutenden Überlegungen? Sie führen doch zu nichts. Ich sollte zu meiner Verlobten gehen und dafür sorgen, dass die Hochzeitsvorbereitungen getroffen werden, wie wir uns es schon so lange wünschen. Dennoch: Irgendetwas ist mit mir draußen in der Wüste geschehen und deshalb zögere ich, zu Elsa zu gehen. Das Summen… Nein, der Gesang(!) hat wieder begonnen. Und dieses Mal klingt er sehr bedrohlich… So schrill… Wieso kann ich niemandem davon berichten?

 

Zusammengekauert zittert An’ja’li in einer Ecke der Zelle. Ihre Begleiterin beobachtet sie besorgt. Es war so offensichtlich. Aus politischen Gründen, weil sie die Tochter des Mantars war, hatte man sie zu früh in die Pflicht genommen. Nicht, dass ihre Ausbildung unvollkommen gewesen wäre. Nein, das war es nicht. Nichtsdestotrotz war sie jedoch noch nicht bereit gewesen und das machte den wesentlichen Teil der Pflicht aus. Man musste bereit sein, alles zu geben. Man musste bereit sein, zu vertrauen. Man musste bereit sein, an die Macht seiner Zunft zu glauben. Zweifel waren tödlich. Und genau eben jene Zweifel beschlichen An’ja’li nun. An’se’ko war sich nicht sicher, ob sie diese Zweifel rechtzeitig aus dem Weg räumen konnte. Zeit war nun entscheidend, wenn sie es schaffen wollten, lebend nach Hause zu kommen. Und das würden sie auch, wenn An’ja’li unbeirrt glaubte.

 

Mühselig, weil sie wegen An’ja’li auf sich allein gestellt war, suchte sie nach bekannten Liedern in der Nähe. Sie wusste, dass sie da waren. Sie musste sie nur finden. Sollten diese Wasser- und jetzt auch noch Lebensdiebe wirklich gedacht haben, sie beide würden allein mit ihnen in die Fremde ziehen, so waren diese noch dümmer als die Dalrin bisher immer geglaubt hatten. Antai Seliena vom Clan der Kotar begann zu singen. Sie hatte die Tantir in der Stadt gefunden. Antai Jalena vom Clan der Linar vernahm es und stimmte mit ein, als hätte sie nie gezweifelt. Niemand außer Lanon konnte sie hören, denn ihr Lied war das des Blutes. Und es war ihr Blut, das sang. Gewiss, morgen Mittag würde es Tote geben. Doch weder An’se’ko noch An’ja’li würden unter ihnen sein.

Kapitel 7 - Hinrichtung

Die Menge tobt und ich tobte mit ihnen, wenn ich unseren König nicht stützen müsste. Endlich geht es diesen verfluchten Hexen an den Kragen. Ihr Gesang raubt mir den Verstand, sie verspotten unseren König und sie betreiben Magie. Es wird höchste Zeit, diesem Gorlon ungefälligen Treiben ein Ende zu setzen. Wie konnten sie es nur wagen, Aldan so zu foppen? Prüfung nicht bestanden? Was haben sich diese Wilden eigentlich dabei gedacht – sofern sie überhaupt denken?

 

In einem Käfig schafft man sie herbei, die Scheiterhaufen sind schon bereit. Mit Ketten bindet man sie an die Pfähle. Ich kann es kaum erwarten, sie brennen zu sehen. Ein Teil von mir, ein ganz kleiner, empfindet Bedauern, diese Frauen dem Feuer zu opfern. Der Gorlon ungefällige Teil. Sie sollen brennen, brennen! Und gleich, ja gleich, werden sie das auch!

 

Gelassen blickte An’ja’li über die Menge hinweg. Wie primitiv es doch war, etwas auslöschen zu wollen, nur weil man es weder kannte noch verstand. Und wie hoch der Preis für diese Primitivität sein würde. Der Mensch Aldan würde den höchsten Preis zahlen, da waren sie und An’se’ko sich einig. Wofür hielten sich diese tumben Kreaturen eigentlich, nur weil sie in Häusern aus Stein lebten? Ihr Geist war eingesperrt im Denken und ihre Herzen leer. Es gab nur wenige Ausnahmen… Sie spürte das Lied An’se’kos an ihrem Geist entlang streifen. Es wurde höchste Zeit, dem Treiben der Wasserdiebe Einhalt zu gebieten.

 

Der König an meiner Seite wird plötzlich schwerer. Er keucht, fasst sich an die Brust. Wie ist der Pfeil hinein gekommen? Und wann? Ein weiterer Pfeil surrt an meinen Augen vorbei. Was geschieht hier? Alles ist auf einmal so langsam. Ein Pfeilhagel stürzt auf die Menge, die sich mit einem Mal in alle Richtungen teilt. So viele Pfeile, so viele Schreie… Und der tote König in meinen Armen. Jener Pfeil, der mich um Haaresbreite verfehlte… traf ihn… Obgleich ich nicht seine Leibwache war, fühle ich mich verantwortlich für seinen Tod. Die Umgebung verschwimmt vor meinen Augen. Ich vernehme wieder diesen seltsamen Gesang. Vielleicht verliere ich meinen Verstand.

 

Eine Stimme aus der Ferne. Sie klingt besorgt. So sanft. Ist das Elsa? Meine liebste Elsa, wie sehr habe ich dich vermisst… Nur mühsam kann ich meine Augen öffnen. Lavendelfarbene Ewigkeit blickt mir entgegen. Es sind die Augen An’ja’lis. Was tut diese Hexe hier? Sie sollte doch auf dem Scheiterhaufen brennen! „Was ist geschehen?“ Nur flüsternd verlassen diese Worte meinen Mund, er fühlt sich so trocken an. Alles um mich herum fühlt sich so… so warm an. Die Hexe hilft mir, mich aufzurichten, aufzustehen und zeigt in eine Richtung.

 

Mir ist unbehaglich zumute. Ich sollte nicht in diese Richtung schauen. Und doch tue ich es. Etwas in meinem Herzen verbrennt, so wie die Stadt vor meinen Augen. Die Hauptstadt von Aldans Reich. „Was… Was habt ihr getan?! Ihr Wilden! Ihr Mörder! Warum habt ihr das getan? Dazu hattet ihr kein Recht!“ „Wir haben getan, was wir schon lange hätten tun sollen. Und es war unser Recht, uns dafür zu rächen, dass ihr uns wegen einer Weigerung töten wolltet. Denn dazu hattet ihr kein Recht.“ „Warum lebe ich dann noch?“ Der ernste Ausdruck weicht aus ihrem Gesicht und macht einem sanften Lächeln Platz. „Wir töten nicht Unseresgleichen.“ Nun weiß ich, warum nur ich ihren Gesang hören konnte – und warum ich ihn noch immer höre.

Kapitel 8 - Gewissheit

Ein Albtraum ist für mich wahr geworden und ich will ihn nicht wahr haben. „Wir vermischen uns nicht mit gottlosen Wilden!“, rufe ich hasserfüllt aus. „Nein, tut ihr nicht – nicht mehr, um genau zu sein. Uns ist jedoch bekannt, dass es früher Frieden gab zwischen unseren Völkern. Aber die Menschen haben uns verraten – wie von Primitiven nicht anders zu erwarten war. Seither prüfen wir Deinesgleichen, wenn sie den Wunsch haben, Geschäfte mit uns zu machen. Mit Fremden macht man Geschäfte. Und Fremde seid ihr für uns – feindselige Fremde, um genau zu sein. Nur Freunden gibt man ein Geschenk. Und unsere Freunde seid ihr Menschen schon lange nicht mehr. Nun, ich selbst bezweifle, dass ihr es je gewesen seid. Der König der Wasserdiebe hat die Prüfung nicht bestanden und auf eine sehr schändliche, hinterhältige Art und Weise unser Leben bedroht. So etwas mögen wir ganz und gar nicht…“ An’se’kos Worte klingen so kalt und unnahbar, als ob sie mit sich selbst spräche. Sie starrt mich an, als wäre ich ein Tier, das in der Falle sitzt. Irgendwie habe ich den Verdacht, dass ich es nur An’ja’li zu verdanken habe, dass ich noch lebe. Aber warum sollte sie einer entfernten Verwandtschaft wegen mein Leben verschonen?

 

Vor mir stehen hunderte, wenn nicht tausende lila Leiber, in Kleider derselben Farbe gehüllt. Ein Jeder von ihnen trägt einen seltsam gebogenen Dolch an der Seite, Bogen und Köcher am Rücken. Es überrascht mich, dass ihre Sehnen nicht gespannt und ihre Pfeile nicht auf mich gerichtet sind. Die Hexen sind nicht allein hierher gekommen. Ich habe hinter mich geblickt. Auch eine Richtung, die ich besser hätte meiden sollen. Unglücklicherweise scheine ich heute keine große Wahl zu haben, was die Aussicht betrifft.

 

„Wir werden jetzt nach Hause gehen. Du wirst uns begleiten. Versuchst du zu fliehen, wirst du sterben.“, sagt An’ja’li zu mir. Ihre Worte sind hart, doch ihre Stimme klingt so sanft, so einfühlsam. Wie ein plätschernder Bach. Irgendwie fühlen sich ihre Worte an wie eine Decke, die man einem frierenden Kind nachts um die Schultern legt, wenn es kalt ist in der Wüste… Langsam empfinde ich für sie wie für die Schwester, die ich nie hatte… Verfluchte Hexerei, fast hätte sie mich gehabt! Ihr Einfluss scheint von Mal zu Mal stärker zu werden. Wie macht sie das? Der Gesang, den ich ständig in ihrer Nähe vernehme! Es ist ihr Gesang! Verflucht soll sie sein, verflucht seien sie alle.

 

Wenn Gorlon mir nicht die Gnade gewährt, bald einen schnellen Tod zu erleiden, werden sie wohl einen willenlosen Sklaven aus mir machen. Meine Situation ist aussichtslos. Verzweiflung breitet sich in mir aus. Schleichend. Schnell. Unaufhaltsam. Wie eine tödliche Krankheit. Selbst die Pest könnte nicht schlimmer sein als das hier. Verzweifelte Worte entringen sich meiner Kehle. „Warum nehmt ihr mich überhaupt mit?“ Anfangs ernte ich nur verwunderte Blicke. „Ist das nicht offensichtlich?“, fragt An’ja’li. „Du kannst uns hören.“, sagt An’se’ko. „Du könntest Deinesgleichen vor uns warnen.“, ergänzt An’ja’li. „Wir sind mehr als Wilde.“ „Wir sind mächtig.“ „Und wenn wir wollen, können wir euch vernichten.“ „Und wenn wir das müssen, tun wir das auch.“

 

Sie wechseln sich mit den Antworten ab und schleichen mit jedem Wort ein kleines Stück näher an mich heran. Ihre Worte klingen so… So wahr. So richtig. So endgültig. Sie singen. Und wir Diener folgen. So ist es immer schon gewesen. So wird es immer sein. Für das Überleben der Kolonie. Nein… Nein… Das denke ich nicht, das bin ich nicht, das werde ich niemals sein! „Er wehrt sich.“, schnaubte Seliena verächtlich. „Erfolgreich.“, stimmte Jalena zu. Die andere Antai presste die Lippen zusammen, versuchte ihren Ärger zu verbergen, was ihr nicht gelingen wollte. „Nicht mehr lange.“, zischte sie, „Nicht mehr lange!“

 

Kapitel 9 - Der Anfang vom Ende

 Die Reise zur Oase der Dalrin geht an mir vorüber wie ein Traum. Selbst die Hitze ist für mich kaum zu spüren. Bin ich bereits vollständig in ihrem Bann oder überschattet meine Verzweiflung alles Andere? Möglich ist beides. Immer noch frage ich mich, was diese Scharade überhaupt soll. Wozu brauchen sie mich? Sie hätten mich genauso gut töten können, welchen Unterschied hätte das schon für sie gemacht? Schließlich halten sie nichts von Meinesgleichen und das Dalrinblut in mir ist gewiss schon dermaßen verwässert, dass sie mich sicherlich nicht als Ihresgleichen ansehen – auch wenn sie anderes behauptet haben. Nach all ihren Andeutungen über mein zukünftiges Schicksal wäre ich lieber tot als am Leben, doch wie so oft schon hatte und werde ich gar keine Gelegenheit erhalten, selbst diese Entscheidung zu treffen.

 

Gleich nach unserer Ankunft werde ich in ein Zelt geschleift und unter Bewachung gestellt. Es war immer schwer für mich ein Diener zu sein, aber es war erträglich. Was mich erwartet, ist es bei Gorlon nicht, aber ich scheine seiner Hilfe nicht würdig zu sein. An’ja’li tritt ein, die andere Hexe fehlt. „Immer noch diese unsinnigen Gedanken an einen Gott, der nicht kommt, Lanon? Dich davon zu überzeugen, dass dein Glaube fehlgeleitet ist, wird eine leichte Aufgabe sein.“ Sie lächelt bei ihren Worten. Gütig und verständnisvoll, wie eine Mutter. Vergebens versuche ich Selbstzufriedenheit oder irgendeine Form von Gehässigkeit in ihrer Stimme zu erkennen. Wahrlich, wenn ich in den Worten einer Gorlon verdammten Hexe keine Bösartigkeit mehr erkennen kann, dann bin ich wirklich verdammt.

 

An’se’ko war verärgert darüber, dass sie diesen einen Spross der Wasserdiebe am Leben gelassen hatten und teilte dies auch den Rat der Antai mit. Die Anwesenheit von Jalenas Vater Man’do’lin, Mantar Dorien vom Clan der Linar, steigerte ihren Zorn noch mehr. Eigentlich sollte er nicht hier sein. Selbst wenn sie ihren Bericht mit noch so vielen Gesängen belegte, er würde nicht zulassen, dass man schlecht von seiner Tochter sprach. Seine Tochter, die man viel zu früh zur Antai gemacht hatte, um Einfluss auf ihn ausüben zu können. Die Menschen würden in einem solchen Fall wohl sagen, dass die Rechnung nicht aufgegangen ist, dachte Seliena unzufrieden. Der Rat teilte ihre Zweifel, dennoch erklärte er sich bereit, das Risiko einzugehen, der Mensch schien empfänglich genug um unterworfen zu werden und zu willensschwach um sich auflehnen zu können. Wäre der Mantar nicht anwesend gewesen, wäre die Entscheidung gewiss um einiges weiser (und ihren Wünschen entsprechend) gefällt worden, aber es ließ sich nun nicht mehr ändern. Nun musste sie die Neuigkeit Jalena auch noch überbringen… Die Antai verließ den Rat noch wütender als sie ihn aufgesucht hatte.

 

„Freu dich, Mensch, du darfst weiterleben.“, zischte An’se’ko, als sie das Zelt betrat. „Ich fürchte, dass ich ihn noch nicht davon überzeugen konnte, sich darüber zu freuen. Vermutlich benötige ich deine Unterstützung.“, antwortete An’ja’li anstelle von Lanon. „Und ich werde dich unterstützen. Immerhin müssen wir bei unserem Vorhaben jegliche Gefahr im Vorhinein ausmerzen.“, meinte An’se’ko mürrisch. Es war doch immer dasselbe: Jalena schaffte nichts allein und sie, Seliena, musste ihr bei Dingen helfen, die jeder anderen Antai auch allein gelingen würden.

 

Politik hätte in ihrem Orden nie eine Rolle spielen dürfen. Im Stillen verfluchte Seliena den Tag, an dem die Kolonie gegründet wurde. Damit hatte alles angefangen. Jeder Verlust unter den Dalrin hätte von Anfang an vermieden werden können. Sie hätten die Menschen sofort auslöschen sollen, jetzt wurde es mit jedem Tag schwieriger. Und nun brauchten sie einen Spion unter den Wasserdieben, um ihr Überleben zu sichern. Wie tief waren die Dalrin gesunken? Fast so tief wie die Menschen, dachte sie verbittert und versuchte dennoch, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Etwas Anderes blieb ihr auch gar nicht übrig. Genau so würde es diesem Lanon ergehen. Er würde gar keine andere Wahl haben, wenn sie mit ihm fertig waren. Er würde Seinesgleichen auskundschaften. Er würde Seinesgleichen verraten. Für das Überleben der Kolonie, alles für das Überleben der Kolonie…

Kapitel 10 - Nebel

Unbarmherzig brennt die Sonne hernieder. Ich blicke zu Boden und betrachte meine Kriegerkluft, vom Blut meiner Vorfahren violett gefärbt. In meinen Händen ruhen gebogene Dolche. Mit zusammengekniffenen Augen hebe ich den Blick und sehe mich um. Viele der anderen Tantir sind älter als ich, das kann ich an ihrer lila gebleichten Kleidung erkennen. Auch sie haben ihre Augen zu Schlitzen verengt, um in der sengenden Hitze etwas zu erkennen. Eigentlich ist das alles Wahnsinn. Zuerst verjagen sie uns aus ihren Dörfern, dann treiben sie uns vor sich her wie Tiere und schließlich greifen sie uns an – in der Wüste um die Mittagszeit, wo die Sonne am höchsten steht und der Kampf für beide Seiten höchst mühselig. Und dies alles im Namen irgendwelcher Götter, an die wir nicht glauben können oder wollen… Wahnsinnig… Diese Menschen sind alle wahnsinnig… Obwohl ich noch ein Kind war, als wir aus unserer Heimat fliehen mussten, bin ich dieser Welt längst überdrüssig. Leiser Gesang dringt an mein Ohr.

 

Die Szenerie verschwimmt und ich beginne in meinem Inneren zu singen. Mit vielen anderen Antai stärke ich die Tantir durch meine Gesänge und ängstige unsere Feinde. Ich vermisse die Zeit, als meine Zunft nur Kranke und Verwundete heilte und die Chroniken bewahrte. Aber diese neue Welt, unsere letzte Zuflucht, hat uns allen große Opfer abverlangt. Großes Bedauern überkommt mich. Einst waren wir nur eins von vielen Schiffen, das vor einem Krieg floh, den wir nicht gewinnen konnten. Nun sind wir gestrandet und allein. Dazu verdammt, eine Kolonie zu gründen oder auszusterben. Der Gesang wird lauter, bis er zu einem ohrenbetörenden Getöse wird. Mir ist, als würde ich dadurch zerfetzt und überlebte dennoch. Dann wird es dunkel und kalt.

 

Nur langsam komme ich zu mir. Ich kann mich kaum bewegen und erkenne langsam den Grund dafür: Man hat mich an einen Pfahl gebunden. Ein Scheiterhaufen ist um mich herum aufgebaut worden. Langsam kehrt die Erinnerung zurück. Man hat mir auf den Kopf geschlagen. Alles, was ich getan habe, war, Menschen zu heilen. Schon viele Menschen heilte ich, mit einem von ihnen bin ich sogar vermählt, auf das unsere Verbindung als Symbol des Friedens dienen würde. Eine Menschenfrau beschuldigt mich seit längerem, eine Hexe zu sein, die Kinder einem bösen Wesen der Unterwelt namens Teufel weiht - doch von diesem Geschöpf weiß ich nichts und ich würde Menschenkinder niemals weihen, das ist nur für Unseresgleichen vorgesehen… Dennoch, obwohl ich nur die Wahrheit sprach, meine Worte haben mich nicht retten können. Eine der Stadtwachen entzündet das Holz. Nun werde ich sterben und ein friedliches Miteinander wird nicht mehr möglich sein. „Ihr armen Menschen.“, murmele ich, hustend, „Ihr dummen armen Menschen…“

 

Ein Tantir beobachtet die Hinrichtung von einem Dach aus. Da er allein ist, kann er nichts Anderes tun, als zuzusehen und sich diese Untat so genau wie möglich einzuprägen. Mit einem Mal bin ich dieser Tantir und kalte Wut breitet sich in mir aus. Der Gemahl steht mitten in der Menge und tut nichts… - Nein, das ist nicht ganz richtig: Er schreit mit „Hexe, Hexe! Verbrennen soll die Hexe!“ und hebt die Faust, aus Angst und Feigheit, der Nächste zu sein. Als die Antai schreit, weil der Schmerz ihr zu viel wird, überwältigt mich die Kälte. Alle Menschen auf dem Platz grölen vor Vergnügen. Ich bestehe nur noch aus Eis, aus kaltem, tödlichem Eis. Plötzlich vernehme ich Schreie unter ihnen und sehe gerade noch, wie ein Mann zu Boden geht. Erst jetzt bemerke ich den Bogen in meiner Hand. Mir war entgangen, dass ich ihn aus dem Köcher genommen und gespannt hatte. Mir war auch entgangen, dass ich auf den Mann der Antai gezielt hatte. Und mir war entgangen, dass die Kälte nicht von mir gekommen war. Mit ihrem letzten Atemzug sieht sie lächelnd zu mir herüber. Durch den Rauch kann ich ihren Blick nicht erkennen, aber ich spüre ihn auf mir, wie eine sanfte Umarmung – und gleichzeitig kalt und erbarmungslos. Sie war es gewesen. Sie hatte ihren eigenen Mann durch meine Hände getötet. Sie hatte mich benutzt. Im Moment ihres Dahinscheidens war ich zum Werkzeug ihrer Rache geworden. Furcht durchzuckt mich. Noch während meiner Flucht nach Hause bahnen sich gefährliche Gedanken ihren Weg. Was hat diese Welt nur aus uns gemacht? Was wird sie noch aus uns machen? Werden wir zu Sklaven unserer Wut? Werden wir zu Sklaven unserer Angst? Werden wir zu Sklaven der Antai? – Sei es wie es sei, zu Sklaven werden wir auf jeden Fall.

 

Schreie des Entsetzens wecken mich. Ich benötige einen Moment, um zu bemerken, dass es meine eigenen sind und verstumme. Meine Erinnerungen sind vage… Wer bin ich? Bilder meiner Träume beherrschen meinen Geist, durchdringen ihn wie Nebel. Zuerst scheint mich dieser Nebel verschlingen zu wollen, doch dann lichtet er sich… Wie lautet mein Name? Langsam und leise formen meine Gedanken ein Wort, doch es bedeutet mir nichts. Lanon. Laut spreche ich es aus: „Lanon.“ Doch sein Sinn bleibt mir verborgen. Langsam erhebe ich mich von meinem Lager und sehe mich um. Augenscheinlich habe ich in einem Zelt geschlafen. Gut. Es wäre tödlich, inmitten einer Menschensiedlung von Albträumen geweckt zu werden. Dennoch scheinen meine Schreie niemanden gestört zu haben, sonst wäre ich nicht mehr allein. Eigenartig. Mir will mein Name nicht einfallen. Sonderbar. Kopfschmerzen machen sich bemerkbar und ich massiere meine Schläfen, um sie zu mildern. Noch immer versuche ich angestrengt, mich zu erinnern. Mich an etwas Anderes zu erinnern, als diese Träume.

 

Wer bin ich? Wieder kommt mir dieses Wort in den Sinn: Lanon. Ist das mein Name? Ich weiß es nicht. Warum sagt er mir nichts? Weil du dich nicht erinnern willst, klingt eine vertraute Stimme in meinem Kopf, doch es ist nicht meine eigene. Will ich mich wirklich nicht erinnern? Ich weiß es nicht. Ekel erfasst mich, als ich mich entsinne, ein Mensch zu sein. Sind das meine eigenen Gefühle? Ich weiß es nicht. Meine Gedanken formen weitere Worte, die nicht die meinen sind. Doch dieses Mal bleiben sie nicht leise. Sie werden immer lauter, bis ich versuche, sie mit meinen Schreien zu übertönen und zwar mit dem einzigen Wort, das für mich noch Sinn ergibt: „NEIN!“ Ich brülle es immer lauter, doch die andere Stimme in meinem Geist will einfach nicht verstummen. Sie wird wieder zum Nebel, der mich verschlingen will.

Kapitel 11 - Verdammnis

Zitternd versuche ich mir Mut zuzusprechen. "Gorlon, als dein treuer Diener erbitte ich deine Hilfe. Bitte bewahre mich vor diesen Ungläubigen. Lass meinen Geist nicht wanken ob ihrer Hexerei. Meine Seele soll dir gehören und nur dir allein. Gorlon, stolzer Krieger der Rechtschaffenheit, segne mich, auf dass ich deine Feinde erschlage und deinen Namen in der Welt verkünde. Gorlon, als dein treuer Diener erbitte ich deine Hilfe..."

 

"Betest du wieder zu deinem Gott, der nicht kommt?" An'ja'li sieht traurig aus. - Was kümmert mich das eigentlich? - Doch nun berührt ihr Gesang meine Seele, hebt sie empor und mit einem Mal kann ich nicht mehr ich sein. Und ich beginne zu zweifeln. Gorlon wird mich nicht retten. Ich bin seiner Hilfe nicht würdig. So ein Unsinn. Er wird nur nicht kommen. Es gibt ihn nicht. Aber uns gibt es. Und wir werden nicht aufgeben. Du wirst zu uns gehören. Und du wirst uns helfen, zu schützen was uns gehört. "Lass das! Du kannst mich nicht in Versuchung führen, du elendes Teufelsweib!" "Teufel... Ihr Menschen benutzt dieses Wort öfter, wenn ihr über uns sprecht. Doch wir kennen seine Bedeutung nicht. Nennt ihr so alles Fremde, das ihr fürchtet?" An'ja'li wirkt nicht gekränkt, wie ich es eigentlich erwartet habe. Eher nachdenklich... - Was kümmert es mich, was eine Hexe fühlt? Eine Hexe, die darüber hinaus noch nicht einmal ein Mensch ist? Bist du denn ein Mensch? Ihre Gedankenbotschaften werden mir allmählich lästig. Es wäre mir um einiges lieber, wenn sie die Worte laut aussprechen würde. "Als ob du dann zuhören würdest." "Was?" Dass sie plötzlich wieder spricht, verwirrt mich. Vielleicht ist das ihre Absicht.

 

"Menschlein, glaube mir, wenn ich dir sage, dass wir nicht die Absicht haben, dich zu verwirren. Wir wollen dich versklaven." An'se'ko war leise eingetreten, während ich in An'ja'lis Augen versunken war. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich sie angestarrt hatte. Nun tauschen die beiden Frauen feindselige Blicke miteinander aus. Bei Gorlon, sind sie sich denn noch nicht einig, wie sie mich am besten um Verstand oder Leben bringen? Habe ich den überhaupt noch? Seit ich diesen lavendelfarbenen Wilden das erste Mal begegnet bin, habe ich immer mehr Fragen und immer weniger Antworten. Ich wünschte, ich wäre ihnen nie begegnet. "Wir wünschten auch, du wärst nie zu uns gekommen. Das ist bis jetzt das Einzige, worin wir mit einem Menschen je einer Meinung waren. - Zumindest, was mich angeht." Mit einem bösartigen Grinsen wendet sich An'se'ko mir zu. Sie sieht mich an, als wolle sie sich auf mich stürzen und in Stücke reißen. Instinktiv schlucke ich die Angst hinunter. Als ob das helfen würde. Warum widerfährt das keinem kampferprobten hart gesottenen Soldaten Gorlons, sondern mir, einem bescheidenen Leibdiener?

 

"Mit diesem Gejammer werde ich mich nicht länger befassen. Er ist nicht nur im Fleische sondern auch im Geiste schwach. Wir hätten ihn mit den anderen töten sollen. Bisher sind wir auch ohne menschliche Spione ausgekommen. Du willst ihn für unsere Sache gewinnen? Sein Leben verschonen? Wie du willst! Dann verantworte dich vor den Höchsten unserer Zunft und zwar allein!" An'se'ko tobte, als ob es kein Morgen gäbe. Sie hatte genug. Endgültig. Sollte Jalena doch beweisen, was sie konnte. Wenn sie Erfolg hätte, würde das beweisen, dass sie eine vollkommene Antai war, die keine weitere Unterweisung benötigte. Und wenn sie scheiterte – und das würde sie – dann konnte sie, Seliena, die Höchsten endlich davon überzeugen, Jalena aus der Pflicht zu nehmen. Sie war einfach noch nicht so weit. Ihrer Meinung nach war sie schlichtweg zu jung und zu unbedarft. Die Höchsten würden das erkennen. Und endlich, ja endlich, würde dieses... dieses Kind nicht mehr bevorzugt behandelt werden!

 

An'ja'li sah ihrer Zunftgenossin nach, wie diese aus dem Zelt stapfte. Mit ausdrucksloser Miene starrte sie eine Weile vor sich hin, bis auch sie von dannen ging. Ihr Weg führte sie zu den äußersten Zelten der Tantir, wo jene lebten, deren Lebenskraft fast versiegt war. Vor jedem äußeren Zelt schloss sie die Augen und lauschte. Es war totenstill, weil alle außer der Wache ruhten. Nur für Antai gab es am Tage etwas zu hören. Und Antai Jalena vom Clan der Linar hörte sehr genau hin, bevor sie schließlich ein Zelt betrat und seinen Bewohner weckte. "Tan'la'ku, wärt Ihr bereit für Euer Volk ein großes Opfer zu bringen?" "Was kann das noch sein? Ich sterbe bald – entweder ob meines Alters oder in meinem nächsten Kampf." "Nein, Euer Körper stirbt bald." "Und mein Lied wird sich mit jenen der anderen Toten vermischen. Erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß, Kind, oder lass mich schlafen." "Wie Ihr wünscht..."... Was sie vorhatte, war schon seit Generationen nicht mehr gemacht worden, aber es war nicht verboten. Und das war schließlich das Argument, das den alten Krieger überzeugte. Obwohl die Antai behaupteten, nichts mit dem Teufel der Menschen zu tun zu haben, konnten sie dennoch wahrhaft teuflische Pläne schmieden. 

Kapitel 12 - Nacht

Mich friert. Nachts verflüchtigt sich die Wärme der Wüstensonne rasch. Die Hexen haben aufgehört, sich in meine Gedanken zu schleichen und ihr Gesang klingt wie aus weiter Ferne. – Ist dies ein gutes Zeichen oder ein schlechtes? Schon seit Stunden bin ich allein und warte auf das Ende. Ob nun auf das Ende meines Lebens oder nur auf das Ende der Ungewissheit über mein Schicksal… Das spielt keine Rolle mehr. Ich will endlich die lavendelfarbene Brut des Teufels nicht mehr sehen und den Hexengesang nicht mehr hören. Gorlon, warum hast du mich verlassen?

 

„Wie kommst du darauf, dass er je bei dir war?“ Das ist An’ja’lis Stimme. Wie schon viele Male zuvor ist sie unbemerkt ins Zelt geschlichen. Genauso wie ihre beständigen Zweifel an meinem Gott wird mir ihr lautloses Kommen und Gehen allmählich lästig. Leise aber vernehmlich verfluche ich ihre Worte, während ich den Blick hebe. „Gorlon wird dich für deine Blasphemie strafen, Hexe!“ Kichernd schleudert sie mir eine weitere Gotteslästerung entgegen. „Nein, ich denke nicht, dass er das tun wird. – Kommt herein, Tan’la’ku.“ Hinter ihr erscheint ein alter Mann, der sich kaum noch auf den Beinen halten kann. Eigenartigerweise fühle ich mich an den Tag erinnert, an dem die Hexen an den Hofe Aldans kamen. Abartig.

 

Flüsternd unterhalten sich die beiden miteinander, dann tritt die Hexe ganz nah an mich heran. Lavendelfarbene Ewigkeit durchdringt meine Seele. Ich kann mich ihren Augen nicht entziehen. „Unterwirf dich den Dalrin.“ Ein schwaches Nein entringt sich meiner Kehle, aber es ist und bleibt ein Nein. Endlich wendet sie den Blick ab. Welch Erleichterung! Für einen kurzen Moment wollte ich Ja sagen, damit der Wahnsinn endlich endet, der in mein Leben Einzug gehalten hat.

 

„Dein Leben endet jetzt, Lanon.“, murmelt die Hexe leise vor sich hin und zückt einen gebogenen Dolch. „Ich bin bereit, für Gorlon zu sterben.“ Wieder kichert die Hexe. „Von Sterben hat hier keiner etwas gesagt.“ Der alte Mann, den sie Tan’la’ku nannte, hält ihr die rechte Handfläche hin. An‘ja’li schneidet sie auf, so dass violettes Blut zu Boden tropft. Unnatürliche Kälte erfüllt das Zelt. Ein Flüstern erhebt sich in der Luft und bewegt sich auf mich zu. Tan’la’ku bricht zusammen und bleibt reglos liegen. Mir ist, als würde mich jemand berühren. Das Flüstern wird zu einem ohrenbetäubenden Brüllen. Mein Kopf schmerzt. Mit einem Mal fühlt sich alles so schwer an. Ein Schmerz durchzuckt meine rechte Hand. Ich versuche sie zu heben, doch es gelingt mir nicht. Ich versuche zu sprechen, doch auch dies misslingt mir.

 

Wieder nähert sich mir die Hexe und wieder durchdringt sie mein Innerstes mit ihrem Blick. Wieder stellt sie mir dieselbe Forderung. „Unterwirf dich den Dalrin.“ Mein Geist schreit Nein, doch meine Stimme sagt etwas Anderes. „Ich, Tan’la’ku, werde den Dalrin dienen, so lange ich lebe. Egal, in welchem Körper.“ Ich traue meinen Ohren nicht. Wieder friert mich. Diese Nacht scheint immer kälter zu werden.

 

Jalena lächelte. Sie hatte es geschafft. Niemand würde mehr an ihr zweifeln. Schon gar nicht diese Schlange Seliena. Sie würde den Höchsten der Antai von ihrem Erfolg berichten. Doch zuerst musste sie noch etwas erledigen. „Ihr habt ihn doch unter Kontrolle?“ „Ja, der Wille des Wasserdiebs ist schwach. Die Antai haben einen gehorsamen Diener.“ „Du meinst die Dalrin haben einen gehorsamen Diener.“ „Ist das nicht Dasselbe?“ „Vielleicht…“, antwortete Jalena, „Vielleicht.“

 

Tan’la’ku sieht mit meinen Augen, spricht mit meiner Stimme, lächelt mit meinem Mund und geht mit meinen Beinen. Ich bin zur Marionette von Hexen geworden. Die Nacht umhüllt mich mit ihrer Kälte. Sie scheint nicht enden zu wollen. Gorlon schenke mir einen schnellen Tod. Nur er kann wissen, wie lange ich es ertragen kann, in meinem eigenen Körper eingesperrt zu sein.

Kapitel 13 - Morgengrauen

 Meine große Reise begann in der Wüste und sie endet in der Wüste. Dreißig Winter habe ich für die Dalrin spioniert und getötet. Dreißig Winter lang bin ich nun schon versklavt. – Nein, das ist nicht ganz richtig. Mein Körper ist versklavt, mein Geist dient ihnen jedoch nicht. Selbst nach all dieser Zeit nicht. Ach komm, Lanon, jetzt belügst du dich aber selbst. Meine Zwiegespräche mit Tan’la’ku enden wohl erst mit meinem Tod. Also bald. Es geht mit mir zu Ende, ich kann es spüren. Der Tod ist nichts, was man fürchten muss. Ich hab mein Leben gelebt. Schon bevor ich dich traf. Ebendies – mein Leben zu leben – ist mir von den Antai verwehrt worden. Alles, was mir vergönnt war, war Tan’la’ku dabei zuzusehen, wie er meinen Körper benutzte. Der Weg zur Oase ist nicht mehr weit. Wenn ich sie doch nur nie betreten hätte…

 

Eine Gestalt winkt mir in der Morgendämmerung zu. Tan’la’ku bemüht sich mit meinem alten Körper schneller bei ihr zu sein. Sie umarmt mich. Das kommt überraschend. „Ich bin froh, dass ihr beide es noch rechtzeitig geschafft habt.“, sagt An’ja’li. „Rechtzeitig wofür?“ Ich bin verwirrt und mein Begleiter ebenso, sonst hätte er nicht gefragt. So ist es. „Dafür, Lebewohl zu sagen.“ Abwartend sieht sie mich an. Tan’la’ku erwidert den Blick. Schweigen breitet sich über uns aus wie ein Leichentuch. Wie passend.

 

Nach einer Weile verlor Jalena die Geduld. „Ihr habt euch ja immer noch nicht voneinander verabschiedet. Das ist eure letzte Gelegenheit miteinander zu sprechen. Worauf wartet ihr? Soll ich euch etwa darum bitten?“, machte sie ihrer Entrüstung Luft. „Willst du uns jetzt etwa töten? Die Mühe kannst du dir sparen, Kind.“, entgegnet Tan’la’ku ungehalten. „Verabschiedet Euch von Lanon, Krieger. Das ist ein Befehl.“ „Eine Antai hat einem Tantir nichts zu befehlen.“ „Wie Ihr wollt!“

 

Ein Flüstern erhebt sich in der Luft und bewegt sich auf mich zu. Das habe ich doch schon einmal erlebt… Vor dreißig Wintern… Mir ist, als würde mich jemand verlassen. Das Flüstern wird zu einem ohrenbetäubenden Brüllen. Mein Kopf schmerzt. Mit einem Mal fühlt sich alles leichter an. Erleichterung durchflutet meinen ganzen Körper. Ich versuche mich zu bewegen und es gelingt mir! Ich versuche zu sprechen und auch dies gelingt mir! „Warum schenkst du mir jetzt die Freiheit?! Damit ich allein sterben kann?!“ Bitterkeit schwingt in meinen Worten mit und das zu Recht, wie ich meine. „Ihr habt mir dreißig Winter gestohlen!“ Wieder umarmt sie mich. Wieder bin ich überrascht.

 

Als An’ja’li sich wieder von Lanon löste, verstand er anfangs nicht, was soeben geschehen war. Verwundert blickte er die etwas gealterte Antai an, besah sich seine jugendlichen Hände. Schließlich fand er seine Stimme wieder und stellte die einzige Frage, die für ihn noch einen Sinn ergab: „Warum?“ Sie kicherte und antwortete, als wäre es die größte Selbstverständlichkeit der Welt: „Weil wir keine Diebe sind. Wir haben uns deine dreißig Sommer nur geborgt. Jetzt hast du sie wieder. Und bist frei.“ Er konnte oder wollte es nicht fassen. Es war vorbei? Das war zu schön, um wahr zu sein. „Ihr… Ihr lasst mich einfach gehen?“ „Natürlich. Du hast uns gedient. Und du hast uns gut gedient. Dein Lied ist in Ordnung. Die Lieder der anderen Menschen müssen sich noch ändern, damit wir mit ihnen in Frieden leben können… Geh. Du bist frei.“ Nach all der Zeit, die seit ihrer ersten Begegnung vergangen war und nach allem, was ihm seither widerfahren war, fiel es ihm überraschend schwer, ihr den Rücken zuzukehren und fortzugehen. Aber er tat es. Langsam und stetig seinem neuen Leben entgegen. Und der Sonne, welche sich inzwischen am Horizont erhoben hatte.

 

Seliena trat hinter den Zelten hervor und sah sie missbilligend an. „Du warst viel zu nett zu ihm.“ „Ich habe ihm lediglich zurückgegeben, was ihm gehört.“ „Und hast ihn gehen lassen.“ „Ja.“ „Er wird uns verraten. Er wird seinen Artgenossen erzählen, was er über uns weiß.“ „Ich denke nicht, dass er das tun wird.“ „Und warum nicht?“ „Weil er es nicht will.“ An’se’ko betrachtete ihre Zunftgenossin etwas genauer. Sah die Alterung. Es war normal, dass man alterte, wenn man jemandem Lebenskraft gab. Aber sie war um ein wenig mehr als dreißig Sommer gealtert. „Was hast du getan, Jalena?“ „Ich habe sein Lied verändert. Kein Wort wird er über uns sagen oder auf Pergament bringen. Er wird dieses Wissen mit ins Grab nehmen und nirgendwohin sonst.“ „Du hättest ihm mit einer Seuche zu den Menschen schicken können.“ „Hätte ich.“ „Du warst viel zu nett zu ihm.“

 

Mit jedem Schritt wird ihr Gesang leiser. Mit jedem Schritt vermisse ich ihn mehr. Ihr Gesang, der durch Mark und Bein dringt. Ihr Gesang, der die tiefsten Tiefen von Körper und Geist erreicht. Ihr im wahrsten Sinne des Wortes bezaubernder Gesang. Nun, da er mich verlässt, erkenne ich erst, wie schön er ist.

 

ENDE

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 10.02.2016

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