Cover


Originalausgabe
März 2012
NOEL-VERLAG
Hans-Stephan Link
Achstraße 28
D-82386 Oberhausen/Oberbayern

www. noel-verlag.net
info@noel-verlag.de
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, Frankfurt; ebenso in der Bayerischen Staatsbibliothek in München.
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Das gilt besonders für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.
Die Autorin übernimmt die Verantwortung für den Inhalt des Werkes. Handlung und Namen dieser Geschichte sind frei erfunden.
Namensgleichheiten und andere Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstor-benen Personen sind zufällig und stellen keine Diffamierung oder Beschuldigung dar.

Autorin: Iris Heerdegen
Umschlaggestaltung: Gabriele Benz


1. Auflage
Printed in Germany
ISBN 978-3-942802-47-5

Vorableseprobe


Gehe hinaus aus der Tür
Die Augen voller Tränen

Oder bleib und konfrontiere mich
Stell dich all deinen Ängsten

Verweile ins Stille, weder fern noch nah
Nichts wird die Dinge ändern

Das Bild ist gemalt,Die Farben sind klar
Eines für jede Zeit im Leben nehme ich an

Es ist nichts länger Wichtig
Die Geschichte ist erzählt
Nichts wird die Dinge ändern

© Bruce Guthro & Malcolm Jones




On an April morning
I heard no longer birdsongs
Or the lowing of cattle on the moor
I hear the noise of the sheep
And the English language
Dogs barking and frightening the deer




Dieses Buch widme ich den unbekannten Männern, Frauen und Kindern, die im Strath Duror einst lebten, litten und starben.

Die ihre Heimat verließen, freiwillig oder unter Zwang und in der Fremdeein neues Leben aufbauten.

Ich bin über ihre nun Farn überwucherten Felder gelaufen, habe die Ruinen ihrer Häuser gesehen und ich weiß, dass man sie nicht vergisst.

Die Erinnerung an sie lebt in den Großstädten der amerikanischen Ostküste, in North Carolina, in Kalifornien, auf den Prärien Kanadas und in Quebec, Nova Scotia, Cape Breton und Prince Edward Island.




Vorwort




Wenn man von Glasgow nach Fort William fährt, das Rannoch Moor hinter sich gelassen hat und den großen Wächter – den Buchaille Etive More – vor sich sieht, betritt man geschichtsträchtigen Grund.
Man erreicht das Glen Coe - das Tal der Tränen - wo einst die Campbells die MacDonalds ermordeten, an einem Februar morgen im Jahre 1692.

Es ist eine der vielen blutigen Geschichten, die in den schottischen Highlands erzählt werden und heute Touristen anlocken.
Das Tal, das auf jeden Fall einen Halt wert ist, mündet in eine Bucht, einen der vielen Meeresarme, die der Atlantik hier bildet. Wunder-schöne Ausblicke tun sich auf, wenn die Sonne scheint oder auch wenn die Wolken niedrig an den Bergen hängen.

Doch dieses schöne Fleckchen Erde war vor über zweihundert Jahren der Schauplatz eines Kriminalfalles, der in die Geschichte einging.
Der fatale Schuss an einem Berghang oberhalb der Bucht von Leven, der einen königlichen Beamten tötete, sendete Schockwellen bis ins ferne London. Dort glaubten der Premierminister und der König, es würde das Signal zu einem neuen Aufstand in den Highlands sein.
Mit eiserner Faust versuchte man den Fall aufzuklären.

Ein Mann wurde unschuldig gehängt, für den das Wohl des Clans über seinem eigenen stand und auf einen weiteren wurde die Jagd eröffnet, eine Jagd, die das ganze Königreich von Großbritanien erfasste.

Doch bis heute ist ungeklärt, wer Colin Campbell of Glenure im Gebiet der Appiner Stewarts ermordete. Es ist und bleibt ein Geheimnis.

… es ist nichts länger wichtig,
die Geschichte ist erzählt
nichts wird die Dinge ändern


Spurlos



Connel Airfield 13.April 1986


Der Fluglotse, der Dienst auf dem Connel Airfield hatte, sah ge-langweilt aus dem Fenster des Tower, einer Wellblechkonstruktion über einem flachen Baracken ähnlichen Gebäude.
Es war ein strahlender Frühlingstag, wenn auch ein steifer Nordwind die Kraft der Sonne schwächte.
Ein Flugzeug, meldete sich und tauchte auf dem Radar als blinkender Punkt auf.
»Hier Piper GB YG 226, bitte um Landerlaubnis Connel Tower. Over.«, ertönte es.
»Hier Connel Airfield, sie haben Landeerlaubnis auf Landebahn eins, fliegen sie eine Schleife in Richtung Süden und drehen sie dann auf Norden. Winde aus nordwestlicher Richtung mit zwanzig Meilen die Stunde, böig. Over.«, antwortete der Lotse mit professioneller Ruhe.
Er sah weiter auf das Radar und bemerkte, dass die Piper entgegen seiner Anweisungen in westliche Richtung flog. Der Lotse schüttelte verärgert den Kopf und nahm das Funkgerät wieder in die Hand.
»Piper GB YG 226, sie driften westlich ab, drehen sie auf Süden und dann auf Norden. Over.«, wies er an und starrte weiter auf den Bild-schirm des Radargerätes. Nichts geschah …
Gerade als der Lotse, erneut das Funkgerät bedienen wollte, um den Piloten zu ermahnen, begann der Bildschirm zu flackern. Über die Kopfhörer hörte er ein seltsames Geräusch, erst ein Knacken, wie von atmosphärischen Störungen, gefolgt von Tönen, die dem Mann die Haare zu Berge stehen ließen.
Er riss sich die Kopfhörer von den Ohren und starrte erschrocken auf das Radar, das aufleuchtete, ausfiel und schließlich wieder anging. Der blinkende Punkt, der das Flugzeug darstellte, war verschwunden.
»Was zur Hölle war das denn …?«, entfuhr es dem Lotsen.
Er drehte an ein paar Knöpfen am Radar, setzte sich die Kopfhörer wieder auf und schaltete das Funkgerät ein.
»Piper GB YG 226, bitte melden … Over …«, er lauschte angestrengt. Er bekam keine Antwort … Nichts, absolut nichts war zu hören.
Der Lotse versuchte es noch mehrere Male, dann griff er zum Telefon und wählte die Nummer des Seenotrettungsdienstes.
Zu gleicher Zeit lag ein Fischerboot vor der Insel Kerrera in Firth of Lorn; der böige Nordwind ließ es auf den Wellen schaukeln. Ein alter Fischer zog mit einem Bootshaken eine Boje heran und angelte langsam und beschaulich Hummerkörbe herauf.
Aus Richtung Osten näherte sich ein kleines Flugzeug und für einen Moment unterbrach der Fischer seine Arbeit und schaute nach oben.
Das Flugzeug, eine kleine einmotorige Maschine, gelb mit rotem Streifen, kam ihm bekannt vor.
Mit einem tiefen Atemzug setzte der alte Mann seine Arbeit fort. Doch mit einem Mal war ein seltsames Geräusch zu hören. Es war ein ohrenbetäubendes Quietschen, das körperlich weh tat und schier uner-träglich war.
Der Fischer ließ den Hummerkorb fallen und starrte zu dem Flugzeug, das sich vor seinen Augen aufzulösen schien … in allen Farben des Regenbogens schimmerte und schließlich gänzlich verschwand …

Eine Woche später saß Ian Wilson gemütlich am Küchentisch. Es war Sonntag und so sehr er das Frühstück mit seiner Familie genoss, umso glücklicher war er, als seine ständig zankenden Töchter Fiona und Marsali, beide Teenager, endlich die Küche verlassen hatten und er sich der Sonntagszeitung widmen konnte. Er hatte sie sich am Morgen in dem kleinen Laden in der Renfrew Road geholt, zusammen mit einer Packung Zigaretten und er genoss es nun, die Zeitung zu lesen und dabei genüsslich zu rauchen.
Wochenenden wie dieses waren rar für Ian Wilson. Er arbeitete als Automechaniker in einer kleinen Werkstatt am Rande seines Viertels. Einen Nebenjob als Mechaniker hatte er auf dem Flugplatz von Prest-wick, in der Nähe von Ayr, wo er die Maschinen der Privatpiloten checkte und reparierte. Die gutbetuchten Piloten ließen jede Menge Trinkgeld springen und gelegentlich fuhr er sogar auf Wunsch einzelner Kunden nach Feierabend nach Prestwick, um ein Flugzeug zu repa-rieren.
Das war eine Sache, die seiner Frau nicht unbedingt gefiel und umso mehr missfiel ihr jetzt, dass er hinter der voluminösen Zeitung ver-schwand und nur noch aufsteigende Rauchschwaden seine Anwesen-heit verrieten.
Als Ian mit dem Sportteil fertig war, warf er noch einen kurzen Blick auf die Lokalseite, wo ein Artikel der Polizei seine Neugier er-weckte.
»Rätselhaftes Verschwinden eines Kleinflugzeuges. Ein Rätsel gibt das Verschwinden einer einmotorigen Maschine vom Typ Piper 19 am 13. April, der Royal Airforce und der Strathclyde Police auf. Das Flugzeug, welches sich auf dem Flug von Prestwick nach Connel befand, verschwand plötzlich vom Radar. Die sofort eingeleitete Suche nach der Maschine und den beiden Insassen verlief ergebnislos. Bisher wurden keinerlei Wrackteile, die auf einen Absturz hinweisen, gefunden. Da die Identität der beiden Insassen noch teilweise ungeklärt ist, bittet das Vermissten-Dezernat der Strathclyde Police um die Mithilfe der Bevölkerung. Wer kann An-gaben über die Insassen oder das vermisste Flugzeug mit dem Kennzeichen GB - YG 226 machen. Sachdienliche Hinweise nimmt jede Polizeistation entgegen.«.
Grübelnd sah er hinaus in den Garten seines Häuschens und warf einen kurzen Blick auf seine Frau, die in der Küche mit dem Geschirr klapperte. Er erinnerte sich an jenen Sonntag, an dem er die Piper der Strathclyde Universität hatte starten sehen, mit den fraglichen Insassen, deren Identität ihm nicht unbekannt war. Was war da geschehen, fragte er sich. Für einen Moment war Ian unschlüssig, doch ein Gespräch mit seiner Frau ließ ihn schließlich einen Entschluss fassen.
Am Montag ging er dann in der Mittagspause zu seiner örtlichen Polizeistation, die sich ganz in der Nähe, in der Millstreet, befand. Der Beamte am Tresen nahm seine Aussage mit dem lapidaren Kommentar entgegen: »Vielen Dank Mister Wilson, das Vermissten-Dezernat der A Division wird sich mit ihnen in Verbindung setzen.«
Ian Wilson war enttäuscht, war das Schicksal zweier junger Leute nicht mehr wert oder irgendwie von Bedeutung?
Es dauerte auch noch eine geschlagene Woche, bis endlich ein Brief eintrudelte mit der Vorladung zur Zeugenaussage im Polizeihauptquar-tier für Glasgows Stadtzentrum, in der Stewart Street.
Ian Wilson fuhr mit der Bahn ins Stadtzentrum, da der Verkehr um vier Uhr nachmittags, mitten in der beginnenden Rushhour, mit einem Auto nicht zu schaffen war. Er hätte Stunden gebraucht um über die Clyde-brücken zu kommen.
Es dauerte eine Weile bis Ian das Gebäude gefunden hatte, einen dreistöckigen neomodernen Bau, den man eigentlich als blau verglasten Betonkasten bezeichnen konnte.
Ziemlich unschlüssig stand er mit seiner Vorladung in der Hand am Empfangstresen, der unbesetzt war. Durch die Milchglasfenster da-hinter sah er schemenhaft Uniformierte, doch niemand schien sich so recht zu interessieren was in dem Vorraum vor sich ging.
Nach einer Weile kam ein weiterer Besucher durch die Pendeltür von der Straße herein, offensichtlich in großer Eile. »Hi Ian, was suchst du denn hier?«, sprach dieser ihn an. Es war Dan Callaghan, ein Student der Strathclyde University.
»Dasselbe frage ich mich auch, aber ich kann mir eigentlich denken, warum du hier bist. Es geht um das Verschwinden der Piper und deines Freundes Neil Sutherland, nicht wahr?«, erwiderte der Mechaniker und musterte den Studenten aufmerksam.
Dan Callaghan war Ende Zwanzig, etwas klein und gedrungen, hatte eine nicht gerade mehr zeitgemäße Frisur. Das hieß, dass er seine dün-nen, roten, etwas gelockten, recht langen Haare offen trug und dazu einen ungepflegten Vollbart hatte. Er passte eher in das Studentenimage der Siebziger, etwas, was Ian nicht sonderlich gefiel. Auch seine Kleidung war in dem Stil, zerschlissenen Jeans und Anorak.
»Dann bist du also der geheimnisvolle Zeuge, von dem Kerr geredet hat, als er mich vor zwei Tagen anrief?«, mit diesen Worten senkte der Student den Blick, denn er hatte gemerkt wie Ian Wilson ihn begut-achtete.
»Schlimme Sache mit Neil, du wirst sicher jede Menge Ärger am Halse haben wegen der verschwundene Piper?«, fragte Ian, während sie gemeinsam warteten, dass sich hinter dem Tresen etwas tat.
»Schlimm ist gar kein Ausdruck. Wir sind ja bei einem Unfall versichert, aber bisher hat ja noch niemand Trümmer oder Wrackteile gefunden, ganz davon zu schweigen, dass unsere ganzen Forschungsaufzeichnun-gen damit hinüber sind, verloren für immer und ewig! Ich habe es nach diesen vier Wochen aufgegeben, noch irgendwelche Hoffnungen zu haben, Neil oder die Piper jemals wiederzusehen, jedenfalls in einem Stück! Ich weiß nicht, was ihn dazu getrieben hat, ausgerechnet am Sonntag Experimente durchzuführen. Ich vermute, dass dabei die Piper abgestürzt ist.«
Ian sah Dan Callaghan erschrocken an. »Was für Experimente? Er wollte einen Ausflug in die High-lands machen.«, gab der Mechaniker zu bedenken. Er fing einen erstaunten Blick des Studenten auf, der ihn stutzig machte.
»Schön wäre es, aber Neil hat sich auf dem Flugfeld von North Connel angemeldet und ist dann keine zwei Minuten später aus dem Radar verschwunden. Einfach so!«, berichtet Dan Callaghan schließlich sicht-lich niedergeschlagen und wich Ians Blick aus.
»Ist das deine Aussage zu der Anzeige in der Zeitung?«, fragte Ian daraufhin.
»Nein, ich habe Kerr dazu genötigt. Ich habe Neil als vermisst gemeldet und das ungute Gefühl, ihn nie wiederzusehen.«, antwortete Dan.
Endlich wurde es hinter den Milchglasscheiben lebendig und ein uniformierter Sergeant kam aus dem Raum dahinter, in dem es recht geschäftig zuging. Ian reichte ihm seine Vorladung und auch Dan brachte vor, von Detective Inspector Alan Kerr erwartet zu werden.
Der Uniformierte tätigte kurz einen Anruf, drückte dann einen Knopf, der den eigentlichen Zugang zum Gebäude öffnete.
»Zweiter Stock, Zimmer 230. Sie werden beide schon erwartete!«
Es dauerte eine Weile, bis sie das Zimmer erreicht hatten. Zögernd klopfte Ian Wilson und trat nach einem lauten »Herein!« gemeinsam mit dem Studenten ein.
An einem Schreibtisch voller Akten saß ein junger Mann, Anfang Dreißig, dunkles kurzes Haar und im Gegensatz dazu stechend blaue Augen. »Kann ich ihnen helfen Sir?«, fragte er freundlich Ian Wilson.
»Ja, ich glaube schon. Ich habe eine Vorladung zu einer Zeugenaussage bei Detective Inspector Kerr! Man hat mich hierher geschickt.«, ant-wortete der Angesprochene etwas verwirrt.
»Oh, da sind sie richtig, Mister Wilson, nicht wahr?«, mit einer Geste bat der Polizist, der recht leger mit einem grell bedruckten T-Shirt und ausgewaschenen Jeans bekleidet war, den Mechaniker Platz zu nehmen. Erst jetzt schien er Dan Callaghan zu bemerken.
»Ach, Mister Callaghan, sie sind auch schon da. Detective Inspector Kerr wird gleich hier sein. Setzen sie sich ebenfalls!« Mit diesen Worten stand er auf und rückte einen weiteren Stuhl vor den Schreibtisch. Dann spannte er einen Vordruck in die Schreibmaschine ein.
»Verzeihen sie bitte, ich habe ganz vergessen mich vorzustellen, Mister Wilson. Ich bin Detective Sergeant Munro, Lachlan Munro! Darf ich in der Zwischenzeit ihre Personalien aufnehmen?«, fuhr er schließlich freundlich fort.
Gerade als er fertig war, öffnete sich die Tür und Detective Inspector Alan Kerr trat ein. Der Mann war das ganze Gegenteil zu seinem jüngeren Kollegen. Er war Ende Fünfzig, sein spärliches Haar war er-graut und sein Anzug samt Krawatte saß vorbildlich, nicht ein Knopf war offen.
»Sie sind spät Mister Wilson«, kam es als Erstes von ihm.
»Entschuldigen sie Detective, auch mit der Bahn ist man nicht immer pünktlich. Es war Rushhour!«, antwortete Ian Wilson sichtlich erschüt-tert über den barschen Ton des Polizeioffiziers.
»Detective Inspector bitte Mister Wilson, soviel Zeit muss sein!« Nach diesem Satz schwieg der Mechaniker.
»Und bei ihnen war wohl Rushhour in der Universität, Mister Callaghan?«, bekam nun Dan auch sein Fett weg.
»Nein, Detective Inspektor Kerr, ich wohne draußen in Duntochter, es dauert eine ganze Weile, bis man mit dem Bus hier in die Stadt kommt.«, antwortete der Student mit zynischem Unterton.
Alan Kerr warf einen Blick auf das eingespannte Blatt Papier in der Schreibmaschine und schlug einen Aktenordner vor sich auf. »Nun Mister Callaghan, ein Stück sind wir ja in der Sache schon weiter gekommen. Dank Mister Wilson werden wir jetzt wohl das Geheimnis lüften, wer denn wirklich in dem Flugzeug saß. Denn ihr Kommilitone Alexander Cunningham hat sich ja mittlerweile eingefunden.«, begann er dann in jenem sarkastischen Ton, der Ian Wilson immer mehr ver-wirrte, fortzufahren.
»Mister Wilson arbeitet als Mechaniker aushilfsweise in Prestwick und hat die Piper am Sonntag, dem 13. April, starten sehen.«, fuhr er schließlich sachlich fort.
»Ich kenne Ian Wilson, Detective Inspector. Er hat mit mir das Flug-zeug durchgesehen am Sonnabend vor Neils Verschwinden, weil wir am Montag einen Messflug machen wollten.«, warf Dan darauf hin ein und fing einen finsteren Blick des Polizeioffiziers auf.
»Mister Wilson hat vor zwei Wochen auf der Polizeistation in der Millstreet, in Prestwick zu Protokoll gegeben, dass Neil Sutherland in Begleitung einer jungen Frau auf das Gelände des Flugplatzes kam. Sie war Anfang Zwanzig, etwa 1.60 groß, hatte dunkelbraune Haare und grüne Augen. Mister Wilson meinte, sie wäre Deutsche gewesen.«, be-richtete Kerr daraufhin und warf Dan einen lauernden Blick zu.
Der Student war noch blasser geworden, als er ohnehin war, sein Blick schien ins Leere zu gehen.
»Kennen sie die junge Frau, Mister Callaghan?«, fragte Kerr dessen ungeachtet weiter.
Dan Callaghan senkte den Blick, barg für einen Moment das Gesicht in den Händen und seufzte. »Ja, ich kenne sie!«, sagte er nach einer Minute peinlicher Stille und hob wieder den Kopf. »Sie heißt Andrea Schwarz und ist Neil Sutherlands Verlobte. Ian hat recht, sie ist Deutsche.«, fügte er noch erklärend hinzu.
Alan Kerr warf einen Blick auf den Bogen in der Schreibmaschine.
DS Munro hatte fleißig mit getippt, obwohl er nur die Zwei-Finger- Technik beherrschte. Offensichtlich war er zufrieden mit dessen Arbeit, denn er wandte sich Dan Callaghan erneut zu. »Andrea Schwarz heißt sie also? Wissen sie zufällig, wo sie wohnt, oder war sie nur zu Besuch bei Mister Sutherland?«, fragte er förmlich weiter.
»Die genaue Adresse habe ich nicht, aber sie wohnt in einem der Hochhäuser in den Gorbals, in der Nähe der Norfolk Street.«, antwortete der Student darauf.
»Sie hatte also eine eigene Wohnung und sicher auch Arbeit, wissen sie vielleicht wo, Mister Callaghan?«, setzte Kerr das seltsame Verhör fort, während sich Ian Wilson sehr deplatziert vorkam.
»In der Royal Infirmary, in der Notaufnahme.«, erwiderte Dan präzise, aber leise.
Die beiden Polizisten musterten den Studenten mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. Irgendetwas schien ihnen zu missfallen.
»Haben sie alles, Lachie!«, herrschte Alan Kerr seinen Kollegen an.
Der blickte erschrocken auf und nickte stumm, das Blatt Papier in der Schreibmaschine nochmals studierend.
»Mister Callaghan, sie sagten vorige Woche aus, dass sie vermuten, dass Mister Sutherland über dem Firth of Lorne oder Argyll physikalische Versuche machte, was eine Notlandung oder einen Absturz verur-sachen konnte. Sind sie immer noch derselben Ansicht. Glauben sie, ihr Freund hätte seine Verlobte auf solch einen Flug mitgenommen? Das ist doch wohl eher ungewöhnlich oder war sie so an Technik interes-siert?«, fragte er schließlich weiter.
Dan Callaghan runzelte bedenklich die Stirn. »Interessiert war sie schon, sie wollte wissen, was Neil so tut und sie war auch schon einige Male mit auf dem Flugplatz.«, antwortet er jedoch vorsichtig.
»Wie bewirkt denn so ein Versuchsflug eine Notlandung oder gar einen Absturz?«, fragte plötzlich Munro.
Sein Vorgesetzter warf ihm einen finsteren Blick zu und Dan Callaghan wechselte erneut seine Gesichtsfarbe.
»Das ist den Jungs schon öfters passiert, eh’ ich meine, dass sie nach den Versuchsflügen Probleme hatten. So mit der Batterie oder mit einer verstopften Benzinleitung. Das liegt an der vielen Elektronik in der Piper, die verbrauchte ganz schön viel Saft.«, warf nun Ian Wilson ein.
Alle starrten auf den Mechaniker, dessen Anwesenheit wohl jedermann bei dem ›Verhör‹ vergessen zu haben schienen.
»Nun ja, das bringt uns an dieser Stelle auch nicht viel weiter. Solange wir keine Spur von der Piper haben, müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen. Bis jetzt hat die RAF-Rettungsstaffel nichts gefunden. Das ist nach vier Wochen sehr bedenklich.«, meinte Kerr und runzelte die Stirn.
»So, nun zu ihnen Mister Wilson, ich habe da noch einige Fragen an sie. Deshalb habe ich sie ja vorladen lassen.«, mit diesen Worten wandte er sich an den Mechaniker, der ihn erschrocken ansah.
Ian erwartete fast schon dasselbe Verhör und irgendetwas sagte ihm, dass es nicht mit rechten Dingen bei dem Verschwinden der Piper zu-gegangen sein musste.
»Ist ihnen etwas seltsam vorgekommen an diesem Tag, am 13. April. Haben sich Mister Sutherland oder seine Freundin anders verhalten als sonst?«
Ian überlegte einen Moment, Neil war eigentlich wie immer gewesen und das Mädchen hatte er ja das erste Mal gesehen. »Na ja, das einzige seltsame war, das Neil darauf bestand, dass ich die Piper nochmals checke, obwohl ich es mit Dan am Tag zuvor schon getan hatte«, antwortete der Mechaniker schließlich und sah den Polizisten abwar-tend an. »Das Mädchen kam mir allerdings etwas nervös vor.«, fügte er schließlich noch hinzu.
»Hatten die beiden Gepäck mit?«, fuhr Kerr fort zu fragen.
»Tut mir leid, da habe ich nicht so darauf geachtet. Ich glaube, sie hatten einen Trekkingrucksack im Flugzeug oder so was Ähnliches. Neil sagte, dass er eine Runde über den Highlands drehen wollte.«
Verwunderung spiegelte sich in dem Gesicht der Polizisten wider, während Dan mit keiner Wimper zuckte.
»War so etwas üblich bei ihnen, Mister Callaghan. Bezahlt die Strathclyde Universität derartige Ausflüge ihrer Studenten?«, kam es auch flugs von DS Munro, den Kerr dieses Mal gewähren ließ.
»Normalerweise ist so etwas nicht üblich. Solcherlei Extratouren haben wir nie gemacht. Es war alles genau besprochen. Weshalb glauben sie, hätte ich sonst so einen Aufriss wegen Neils Verschwinden gemacht, nach nur drei Tagen. Glauben sie dieser Forschungsauftrag war unser privates Vergnügen!«, antwortete Dan recht aufgebracht.
»Regen sie sich nicht so auf, junger Mann!«, warf nun Kerr ein.
»Sie tun gerade so, als würde ich sie an der Nase herumführen.«, entgegnete der Student schon ruhiger.
»Das ist schon möglich, Mister Callaghan! Was für Experimente sind das, die ein Flugzeug schlagartig aus dem Radar verschwinden lassen? Die RAF hat das ganze Gebiet sofort danach absuchen lassen und bis zum heutigen Tag nicht einmal eine Öllache gefunden. Wenn das nicht seltsam ist?«, fuhr der Detective Inspector wieder recht aggressiv fort.
»Was wollen sie mir denn nun schon wieder in die Schuhe schieben. Ich würde meinen Freund Neil und seine Verlobte gern lebend wieder-sehen. Darum sollten sie sich kümmern und nicht um unsere Experi-mente! « Mit diesen Worten sprang Dan Callaghan wütend auf.
»Beruhigen sie sich wieder, Mann. Deshalb stelle ich ja hier solche Fragen. Für das Verschwinden eines jeden Vermissten gibt es eine Erklärung. Die einen verschwinden, weil sie Schulden haben und keinen Ausweg mehr sehen oder sie haben Probleme mit dem Partner oder Liebeskummer, was aber eher bei Teenagern vorkommt. Andere wollen einfach ein neues Leben anfangen oder werden Opfer eines Unfalls oder gar eines Verbrechens. Wir sind hier dafür da, das herauszufinden, Mister Callaghan. Solange wir nicht mehr wissen, müssen wir damit rechnen, dass ihr Freund und seine Verlobte Opfer eines Flug-zeugabsturzes wurden oder glauben sie etwa, dass man Neil Sutherland eine Bombe untergejubelt hat, dass die IRA ihre Finger im Spiel hatte oder so etwas«, versuchte Kerr den Studenten zu beruhigen. Doch genau das Gegenteil bewirkte er. Dan Callaghan warf ihm einen wüten-den Blick zu. »Sie übertreiben gewaltig, Detective Inspektor Kerr. Bei allem Respekt, sie spinnen!«, mit diesen Worten sprang er auf und verließ, ohne sich zu verabschieden, das Büro.
Die Polizisten sahen ihm erschrocken hinterher und zuckten zusam-men, als die Tür mit einem Knall ins Schloss fiel.
»Entschuldigen sie bitte diesen Auftritt, Mister Wilson. Ich habe keine weiteren Fragen an sie. Wenn sie bitte ihre Aussage nochmals durchlesen würden und hier unterschreiben«, mit diesen Worten wandte Kerr sich wieder dem Mechaniker zu und riss dem Detective Sergeant förm-lich das Blatt aus der Hand.
Ian Wilson hatte es danach ebenfalls ziemlich eilig aus dem Gebäude zu kommen. Er wollte unbedingt noch mit Dan Callaghan reden. Am Busbahnhof hatte er ihn schließlich eingeholt. Dort saß der Student mit finsterem Gesichtsausdruck auf einer Bank und wartete auf seinen Bus.
Der Mechaniker setzte sich neben ihn und Dan fuhr erschrocken herum.
»Das war ein gewagter Abgang Dan. Du kannst den Inspector wohl nicht ausstehen?«, begann Ian ruhig.
»Ach, Kerr macht nur seine Arbeit und er scheint seinen Job sehr ernst zu nehmen. Er kann so richtig penetrant werden, wenn er fragt. Die ganze Sache geht mir nur ziemlich an die Nieren. Wie konnte Neil so leichtsinnig sein und seine Freundin zu einem Wochenendausflug mit der Piper mitnehmen?«, erwiderte Dan Callaghan schon etwas gefasster.
»So etwas habt ihr eigentlich nie gemacht, die Uni erlaubt das sicher auch nicht. Aber denkst du, dass er wirklich Versuche gemacht hat und dabei abgestürzt ist?«, kam es nun von dem Mechaniker.
Dan sah ihn nachdenklich an. »Die Versuche sind die einzige Erklärung für einen Absturz, vor allen Dingen, da ja alles in Ordnung war beim Checken. Aber ich kann mir das einfach nicht erklären. Warum sollte Neil die Versuchsanordnung eingeschaltet haben. Das ergibt keinen Sinn, jedenfalls nicht mit seiner Verlobten im Flugzeug.«, gab der Student schließlich zu bedenken.
»Immer wieder diese Experimente, Dan, da stimmt doch etwas nicht. Der Inspektor und sein Sergeant waren da auch sehr skeptisch.«
Erschrecken spiegelte sich in Dan Callaghans Gesicht wider, nach diesem Satz von Ian.
»Wie kommst du auf so etwas? Du weißt, dass wir Atmosphärenmessungen durchgeführt haben.«, erwiderte der Student daraufhin.
»Na, ich weiß nicht. Es ist doch wirklich seltsam, dass die Piper so schlagartig aus dem Radar verschwunden ist. Niemand hat Trümmerteile gefunden. Nur eine Explosion oder ein Zusammenstoß verursachen normalerweise so etwas.«, gab der Mechaniker zu bedenken.
»Du redest Unsinn Ian! Es gab kein zweites Flugzeug im Anflug auf das Connel Airfield. Aber vielleicht sind sie unter Radar geflogen wegen einer Schlechtwetterfront. Vielleicht wollte Neil nach Sicht fliegen.«, versuchte Dan die Zweifel Ians zu zerstreuen.
»Du redest genauso viel Unsinn Dan. Neil war ein guter Pilot und er wusste, wie gefährlich es war über dem Firth of Lorne nach Sicht zu fliegen und so tief, dass er aus dem Radar verschwand.«, kam nun die keineswegs ruhige Erwiderung des Mechanikers.
Mit sichtlichem Argwohn betrachtete er den Studenten. »Ich glaube es stimmt eine ganze Menge nicht mit Neil Sutherlands Verschwinden am 13. April.«, fügte er noch hinzu.
Dan Callaghans Gesicht verfinsterte sich zusehends. »Weißt du, Ian, wenn ich dich nicht so gut kennen würde, müsste ich dir ernstlich böse sein. Aber weil du ein guter Freund bist, gebe ich dir einmal den Rat, deine Nase nicht zu tief in die Angelegenheiten anderer Leute zu stecken. Du könntest Schwierigkeiten bekommen!«, sagte er in recht scharfem Tonfall zu dem Mechaniker.
»Aha, weht der Wind aus dieser Richtung?«, Ian musterte den Studenten mit einem seltsamen Blick. »Ihr habt euch wohl mit dem Verteidigungsministerium zusammengetan. Deshalb hat die RAF stehenden Fußes nach dem Flugzeug gesucht.«, fügte er noch triumphierend hinzu.
»Das hast du gesagt Ian, aber ich würde das hier nicht so laut hinausposaunen, sonst hast du den Militärischen Geheimdienst oder den SI5 auf dem Hals.« Mit dieser unmissverständlichen Drohung stand Dan Callaghan auf und ging, ohne sich von Ian zu verabschieden, zu dem Bus, der gerade angekommen war.
Der Mechaniker sah ihm verwundert und erschrocken zugleich nach. Er wusste schon nicht mehr was er von der Sache halten sollte. Hatte der Student sich einen Spaß gemacht oder meinte er es ernst. Mit den Geheimdiensten seiner Majestät war nicht zu spaßen. Den SI5 wollte er nicht auf dem Hals haben. Ian beschloss seine Nase lieber nicht weiter in diese Angelegenheit zu stecken, so sehr ihn die Neugier auch plagte. Schließlich machte auch er sich auf den Weg zur Central Station, um nach Hause zu fahren.

Nachdenklich saß Dan Callaghan in dem Bus, der ihn nach Dun-tochter, einem Vorort Glasgows brachte. Er wohnte dort bei seinen Eltern, die ein kleines Reihenhaus besaßen. Er kam immer noch nicht darüber hinweg, dass Neil einfach so mit der Piper der Uni verschwunden war und noch dazu seine Freundin mitgenommen hatte. Doch wie recht Ian Wilson mit seinen Vermutungen hatte, dass etwas mit diesem Flug nicht stimmte, konnte sich der Mechaniker nicht in seinen kühnsten Träumen vorstellen. Neil Sutherland hatte ein anderes Ziel als Con-nel, doch welches und zu welcher Zeit?
Obwohl Dans Blick ins Leere zu gehen schien, bemerkte er noch recht-zeitig, dass er die Great Western Road erreicht hatte und drückte die Klingel, um den Bus anzuhalten.
Müde und verdrossen kam er zuhause an und verschwand nach dem Abendessen in seinem Zimmer im Obergeschoss des Hauses. Er legte sich auf sein Bett und starrte an die Decke. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Weder Ian Wilson, noch DI Kerr, oder der übereifrige DS Munro, ahnten wie geheimnisvoll der Flug der Piper der Strathclyde Universität am 13. April war. Und selbst Dan wollte es nicht wahr haben, er konnte nicht glauben, dass Neil diesen Wahnsinn verbrochen hatte, denn es gab nur eine Erklärung für das alles!
Neil Sutherland, Alec Cunningham und Dan Callaghan hatten etwas entdeckt, was jeder Physiker für unmöglich hielt, einen Weg durch die Zeit zu reisen. Nicht nur in die Zukunft, was ja nach Einsteins Relativi-tätstheorie möglich war, sondern auch in die Vergangenheit und wieder zurück. Aber diese Art des Reisens war gefährlich und unsicher zu-gleich. Wie konnte Neil so etwas tun und noch dazu mit seiner Ver-lobten? Wo war er, in welcher Zeit war er, an welchem Ort?
Mit Sicherheit war etwas passiert und er war gefangen in der Vergangenheit oder vielleicht in der Zukunft.
Vier Wochen war Neil nun schon verschwunden und er hatte sich für eine Woche abgemeldet. Hätte er zurückkommen können, wäre er schon längst wieder hier. Doch die Piper mit ihm und der unglück-seligen Andrea war über dem Firth of Lorne verschwunden, wohin auch immer.
Wo sollten sie zu suchen anfangen? Seit Wochen zermarterte er sich das Hirn.
Zum Glück hatte sich Alec wieder eingefunden.
Seine jüngere Schwester war bei einem Autounfall ums Leben gekom-men und er war an jenem verhängnisvollen Wochenende bei seinen Eltern im Glen Coe gewesen. In seiner Verzweiflung und Trauer hatte er niemanden benachrichtigt, er war einfach unfähig überhaupt einen Telefonhörer abzunehmen. Er brauchte zwei volle Wochen um sich halbwegs zu fassen. Deshalb war er letztendlich nicht am 14.April zur vereinbarten Zeit in Prestwick erschienen.
Doch so sehr sich Dan auch den Kopf zerbrach, er fand keine Antwort auf seine Fragen. Draußen trommelte ein erneuter Regenschauer auf das moosüberwucherte Schieferdach des kleinen Hauses. Dieses Ge-räusch und die einbrechende Dunkelheit ließen den Studenten schließlich einschlafen.
Gegen acht Uhr abends klopfte es plötzlich und Dan schreckte aus dem Schlaf. Etwas verwirrt schaltete er das Licht ein und schwankte zur Tür.
Draußen stand ein junger Mann, etwa in seinem Alter, hoch gewachsen, strohblonde, kurze Haare und ein Gesicht voller Sommersprossen, aus dem ihm sanfte dunkelbraune Augen entgegenblickten. Es war sein Freund und Kommilitone Alec, der eigentlich Alexander Cunningham hieß. Über zwei Stunden sprachen sie über ihre Vermutungen, dass Neil Sutherland mit der Piper ein Experiment gewagt hatte, welches ihn in eine Welt gebracht hatte, aus der es keine Wiederkehr gab. Etwas, was sie absolut nicht verstehen konnten. Alec hatte von einem Fluglotsen des Connel Airfields die Information, dass dieser zum Zeitpunkt des Verschwindens des Flugzeugs einen verstümmelten Notruf aufgefangen hatte. Das war etwas, was den beiden sehr bekannt vorkam, genauso wie die Beschreibung, dass der Radar kurz ausgefallen sei. Ein Funkamateur aus Motherwell hatte den Notruf aufgezeichnet und wollte ihnen die Kassette zuschicken. Dan machte sich große Sorgen, dass die Polizei auf ihre Experimente aufmerksam werden würde und das nicht ohne Grund.

Detective Inspector Kerr und sein Detective Sergeant machten sich ebenfalls ihre Gedanken, Gedanken, die Dan mit Sicherheit nicht ge-fielen.
»Mit diesen Versuchsflügen stimmt etwas nicht, Alan!«, meinte Munro, als Ian Wilson das Büro verlassen hatte.
»Hm ... ja.«, begann Kerr etwas zerstreut wirkend. Er las gerade das Blatt mit Wilsons Aussage durch. »Callaghan war ja vollkommen außer sich. Ich glaube fast, dass er gar nicht will, dass wir in diese Richtung weiter ermitteln.«, fügte er schließlich noch hinzu.
Nachdenklich legte er das Blatt Papier auf den Tisch.
»Lachie, sie rufen in der Royal Infirmary an und machen einen Termin dort für Montagvormittag. Ich werde den Professor von Callaghan und Sutherland anrufen und ihn über dieses Forschungsprojekt befragen, dann einen Freund, der Pilot ist und auch eine Piper geflogen hat.«, meinte Detective Inspector Kerr schließlich entschlossen.
So setzten sich beide Polizisten an ihren Schreibtisch und telefonierten fleißig, bemüht den anderen nicht zu stören.
Munro hatte recht schnell einen Termin in der Notaufnahme des Royal Infirmary bekommen. Die Schwester, mit der er sprach, schien sehr besorgt zu sein, denn die junge Deutsche wurde dort seit gut vier Wochen vermisst.
Anders ging es Kerr. Der Professor konnte ihm erst einen Termin in vier Tagen geben und wollte am Telefon gar nichts zu den Versuchen seiner drei Studenten sagen. Sein Freund war ebenfalls persönlich nicht zu erreichen, so dass er sicher noch einmal am späten Abend anrufen musste oder sogar bei ihm vorbeischauen. Etwas zerknirscht berichtete er das seinem Kollegen. Sie mussten die Sache nun erst einmal auf sich beruhen lassen.

Am Montag machten sie sich zur Notaufnahme der Royal Infirmary auf. DS Munro verfluchte sich selbst mit dem Auto gefahren zu sein, wo sie auch hätten laufen können, zumal das Wetter an diesem 19. Mai recht mild und sonnig war. Fast eine geschlagene Stunde brauchten sie, um durch den dichten Berufsverkehr zum Krankenhaus zu kommen, einem Gebäude aus der Victorianischen Zeit, das schon etwas schäbig wirkte. Vor dem Gebäudekomplex befand sich die Einfahrt zu einem Flachbau, an dem ein rotes Schild ›A&E - Accident and Emergency‹ prangte, die Notaufnahme der Royal Infirmary.
Autos der Polizei standen vor der Tür und einige Uniformierte lungerten vor dem Eingang herum. Sie grüßten freundlich, als sie Detective Inspector Kerr sahen. Drinnen wurden sie sofort von einer jungen Schwester, mit schwarzen kurzen Haaren, in Empfang genommen, die gerade dabei war, einen Patienten aus dem recht leer wirkenden Wartezimmer aufzurufen.
Sie stellten sich gegenseitig vor und DS Munro erfuhr, dass es eben jene Schwester war, mit der er telefoniert hatte, eine gewisse Katie Brand. Sie bat die beiden Polizisten in den Aufenthaltsraum und ließ den leitenden Arzt rufen.
Das Gespräch brachte am Ende jedoch nicht allzu viel. Andrea Schwarz wurde vermisst und man glaubte zuerst, die Polizisten seien deswegen gekommen. Es herrschte allgemeines Entsetzen, als Kerr erzählte, dass sie mit ihrem Verlobten und dem Flugzeug der Strath-clyde-Universität verschwunden sei.
Auch der zuständigen Personalleiter, Derek Nelson, konnte ihnen nicht viel helfen. Es stellte sich heraus, dass er ebenfalls vor gut einer Woche eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatte, allerdings bei einer anderen Abteilung der Strathclyde Police. So konnten Kerr und Munro nichts davon wissen. Derek Nelson gab ihnen die Adresse und die Personalunterlagen der jungen Frau. Dann fuhren beide zurück in die Stewart Street, in ihr Hauptquartier. Erst am späten Nachmittag hatte Detective Inspector Kerr schließlich einen Durchsuchungsbefehl für die Wohnung der jungen Deutschen.
Erneut gerieten sie in den dicksten Berufsverkehr und brauchten sehr lange, um auf die andere Seite des Clyde zu kommen.
Die junge Deutsche wohnte in der South Portland Street, den ehe-maligen Gorbals, den schlimmsten Slums Europas bis in die siebziger Jahre hinein. Damals hatte man begonnen die alten Mietskasernen aus der Zeit Königin Victorias abzureißen und an derselben Stelle Hoch-häuser mit bis zu 16 Stockwerken zu bauen. Preiswerte Wohnungen auf möglichst wenig Raum, eine Sache, die sich leider für die Stadtväter von Glasgow als Bumerang erwies. Mit dem Bau der modernen Häuser verschwanden nicht die Probleme. Wer hier wohnte, war zumeist auf Sozialhilfe oder ähnliches angewiesen. Dass Andrea Schwarz hier eine Wohnung hatte, erstaunte Detective Inspector Kerr zwar, aber anderer-seits war es nicht leicht eine billige Unterkunft im Stadtzentrum zu finden.
DS Munro parkte auf dem recht schmutzigen Parkplatz, über den der böige Wind Papier und anderen Unrat wehte, der sich wohl aus den Plastiktüten, die neben den Mülltonnen lagen, gelöst hatte. Die Scheibe der Eingangstür des Hochhauses, in dem Andrea Schwarz wohnte, war zerborsten und provisorisch mit einer Sperrholzplatte repariert. Graffitis zierten den gesamten Eingangsbereich und mehrere Klingeln waren defekt. Da es sowieso sinnlos war die Wohnungsnummer der jungen Deutschen zu suchen, klingelten die beiden Polizisten beim Hausverwalter. Der Mann war nicht gerade begeistert die Polizei zu sehen. Er machte samt seiner Wohnung einen genauso verwahrlosten Eindruck wie das Haus, für das er zuständig war.
»’Is’ mal wieder kaputt, der Fahrstuhl.«, brabbelte der Hausverwalter. Mürrisch führte er sie in den 8. Stock. Sie mussten die Treppe nehmen.
Er blieb, nachdem er die Wohnung aufgeschlossen hatte, neugierig im Flur stehen, bis DS Munro ihn höflich darauf hinwies, dass er verschwinden solle.
Andrea Schwarz bewohnte ein kleines Appartement, nicht mehr als ein kleines Wohnzimmer, eine Kochnische und ein Bad.
Kerr war etwas außer Atem vom Treppensteigen. Während Munro die Gardinen aufzog und das Fenster kippte, um etwas frische Luft herein-zulassen, setzte sein Vorgesetzter sich auf die Couch und ließ den Blick schweifen. Detective Inspector Kerr hatte schon viele Wohnungen gesehen und kaum eine war so ordentlich, besonders angesichts der ungewöhnlichen Umgebung. Poster von den Highlands zierten die Wände mit der etwas heruntergekommenen Tapete. Auf dem Tisch stand einen kleine Wanne mit den Grünpflanzen, von denen einige jedoch schon sehr welk waren. Alles schien offensichtlich für einen kleinen Urlaub vorbereitet gewesen zu sein.
DS Munro hatte in der Küche schmutziges Frühstücksgeschirr von zwei Personen gefunden, der Kühlschrank war relativ leer und ein Aschenbecher mit einigen Zigarettenstummeln wies darauf hin, dass wohl Neil Sutherland die Nacht hier verbracht hatte, denn sie wussten, dass der Student ein starker Raucher war.
Bei der Suche nach einem brauchbaren Foto stellten sie dann schließlich fest, dass die junge Deutsche sämtliche Ausweispapiere mitgenom-men hatte, sie fanden weder ihren Personalausweis, noch den Reise-pass. Lediglich das eingeschweißte Kärtchen mit Foto, das sie wohl als Schwester in der Notaufnahme trug, war vorhanden.
Allzu viel brachte diese Wohnungsdurchsuchung nicht. Es war genauso wie im Krankenhaus, alles wies wohl auf einen tragischen Unglücksfall hin. Doch noch immer war das Flugzeug nicht gefunden und keine Leichen. Es blieb Kerr und Munro nichts weiter übrig, als dem rätsel-haften Verschwinden der Maschine in der Nähe von Oban nachzu-gehen. Sie hofften durch das Gespräch mit dem Professor der drei Studenten, etwas über dieses mysteriöse Forschungsprojekt herauszu-finden.
Dan Callaghan fühlte sich am nächsten Morgen auch nicht viel besser. Das Wochenende über zermarterte er sich den Kopf, warum Neil diesen Irrsinn begangen hatte. Am Sonntagabend besuchte ihn Alec wieder. Er hatte über seinen Freund Jeff Kontakt mit dem Funker aufgenommen, der ihnen eine Kassette mit dem aufgezeichneten Funk-spruch zuschicken wollte. Er sagte aber auch gleich, dass die Qualität sehr schlecht sei, da er nur mit einem Diktiergerät aufgenommen hatte und der ganze Funkspruch durch seltsame atmosphärische Störungen unterlegt war. So wurden sie noch ein paar Tage länger auf die Folter gespannt.
Auch die neue Woche brachte nicht viel Erfreuliches. Zuerst rannte Dan auf dem Weg zum Verwaltungsgebäude der Uni den beiden Polizisten über den Weg, die zu seinem Professor wollten. Er hatte ein reichlich unerfreuliches Gespräch mit DI Kerr und seinem Sergeanten.
Im Sekretariat traf Dan auf Alec Cunningham, der sich auch zur Prüfung anmelden wollte. Der war ebenfalls sichtlich erschrocken, als er ihm von dem bevorstehenden Gespräch der Polizisten mit ihrem Professor berichtete. Allerdings konnten sie sich dort nicht ungestört unterhalten.
Nachdem sie sich angemeldet hatten, verschwanden sie sofort in den Sportclub der Uni. Es waren so früh am Nachmittag kaum Leute da, so konnten sie sich in der angegliederten kleinen Bar endlich ungestört un-terhalten.
»Der Professor wird ihnen sicher erklären, dass Atmosphärenmessun-gen wohl kaum eine Piper abstürzen lassen oder dass sie gar vollkommen verschwindet.«, meinte Dan Callaghan erregt und nahm einen Schluck Cola.
»Glaubst du, dass Kerr oder Munro Spezialisten in punkto Flugzeuge sind?«, versuchte Alec die Bedenken seines Freundes zu zerstreuen.
»Spezialisten kann man befragen und wenn erst Neils Eltern auftauchen, dann können wir uns auf was gefasst machen!«
Alec Cunningham sah Dan erstaunt an. »Was ist mit Neils Eltern, er hat sie nie erwähnt. Ich habe immer gedacht, er habe keine oder sie seien mittellos.«, fragte er deshalb.
»Mittellos! Sein Alter ist ein Cousin des Earls of Sutherland und Oberhausmitglied! Allerdings war Neil mittellos, weil der ihn nämlich enterbt hat. Er sollte Anwalt werden und nicht ewiger Physikstudent.«, antwortete dieser darauf.
»Und du meinst, dass Neils Eltern unbedingt wissen wollen, wo er abgeblieben ist?«, fragte Alec weiter.
»Da kannst du Gift darauf nehmen, besonders wenn die Umstände seines Verschwindens so mysteriös bleiben wie bisher. Bei Kerr und Munro schrillen die Alarmsirenen, glaube ich, sonst würden sie nicht so stochern und sogar … «, plötzlich schwieg Dan abrupt und wurde bleich.
»Wo hat Neil seine Unterlagen über unser Projekt?«, fragte er dann mit heiserer Stimme.
»In seinem Zimmer im Studentenwohnheim.«, antwortete sein Freund darauf erstaunt.
»In seinem Zimmer … das werden sie sicher als nächstes durchsuchen. Wir müssen ihnen zuvorkommen Alec, sonst ist alles aus.«, fuhr Dan fort, noch immer leichenblass.
Alec starrte ihn an, als hätte er ein Gespenst gesehen. Er schwieg jedoch eine ganze Weile, während Dan krampfhaft zu überlegen schien.
»Du hast den Schlüssel zu dem kleinen Safe, Dan, und wir wissen beide das Passwort zu dem Programm auf seinem Computer. Das einzige Problem wird wohl sein, in sein Zimmer zu kommen, ohne dass uns jemand sieht. Das Haus ist neu, da kann man nicht einfach rein marschieren und den Schlüssel vom Brett nehmen, wie in dem Wohn-heim draußen auf dem Jordanhill Campus, wo ich wohne.«, sagte Alec schließlich.
Dan Callaghan sah ihn nachdenklich an. »Wir müssen es irgendwie versuchen, es darf kein anderer die Sachen in die Hände bekommen. Das ist zu gefährlich, du weißt, welche Bedenken Neil hatte!«, sagte er schließlich.
»Bedenken …, er hatte allerdings keine Bedenken diese heikle Sache als Wochenendausflug in die Vergangenheit zu missbrauchen!«, kam es darauf recht aufgebracht von Alec.
Erschrocken fasste Dan nach der Hand seines Freundes. »Ein wenig leiser, wenn es möglich wäre.«, sagte er dabei, denn ein anderer Student, der die Bar gerade betrat, sah sie neugierig an.
Alec seufzte und stand auf. »Komm, lass uns die Sache mal checken.«, meinte er nur.
Sie verließen daraufhin den Sportclub und gingen zu Fuß zu dem neu gebauten Wohnheimkomplex der Universität, der sich nur zwei Quer-straßen weiter befand.
Ohne bemerkt zu werden, gelangten sie zur Rezeption des Hauses, in dem Neil sein Zimmer hatte. Dort stand eine Menschentraube und es wurde lautstark diskutiert.
»Ich glaube wir haben Glück Dan!«, begann Alec Cunningham triumphierend. »Erstens ist dieser Menschenauflauf bestens und zweitens kenne ich das Mädchen, das heute Schlüsseldienst hat. Es ist Joan Cameron, sie versucht schon seit zwei Wochen mit mir auszugehen. Ich werde ihr mal unter die Arme greifen, als Retter in der Not.«, fügte er noch hinzu.
Sie beratschlagten kurz ihr Vorgehen, dann drängte sich Alec in die Menge. »Hi Joan, was ist denn hier los?«, hörte Dan ihn lautstark trompeten.
Während der bärtige Student sich unter die Diskutierenden mischte, half Alec seiner vermeintlichen Flamme die Wogen etwas zu glätten und nebenbei Schlüssel an die Wartenden zu verteilen, so auch den von Neils Zimmer an Dan, der daraufhin schnell nach oben verschwand.
Dan war nervös, denn er hatte Angst, dass Kerr und Munro auf dieselbe Idee kommen konnten, das Zimmer zu durchsuchen. Er hatte gerade den Flur in zweiten Stock erreicht, als er hinter sich eilige Schritte hörte. Instinktiv verbarg er sich hinter dem Treppenaufgang zum Dachgeschoss.
Aber es war nur sein Freund Alec, der ihm eilig gefolgt war, nachdem der erste Teil ihres Planes erfolgreich verlaufen war.
Als Dan die Zimmertür öffnete, bot sich ihnen Neils übliche Unordnung, sein keltisches Erbe, wie er es immer genannt hatte. Das war etwas, was seine Freundin nicht abkonnte. Deswegen hatten sie ja auch getrennte Wohnungen.
Auf dem Schreibtisch lagen Unmengen von Heftern, einige Bücher dazwischen. Eine Pinnwand darüber war mit vielen bunten Zetteln ge-spickt, Zeitungsausschnitten und Diagrammen.
Neben dem Computer stapelten sich Disketten, das Bett war nicht gemacht, die Vorhänge zugezogen und ein Haufen schmutziger Wäsche lag vor der Tür zum Bad. Es roch fürchterlich nach kaltem Rauch und der Aschbecher auf dem Schreibtisch quoll fast über.
Vorsichtig machte Alec die kleine Arbeitsleuchte am Computer an. Sie wussten beide, dass Neil keinerlei Unterlagen von ihrem Projekt offen herumliegen hatte. Die Disketten waren in einem kleinen Safe, den er im Bücherregal verborgen hatte, auch die anderen brisanten Unterlagen. Was davon auf dem Computer war, hatte er durch ein Passwort geschützt.
»Gott stinkt das hier Dan, ich mache mal das Fenster auf«, entfuhr es Alec, als er den Computer eingeschaltet hatte.
Doch sein Freund war anderer Meinung und hielt ihn durch eine Hand-bewegung davon ab. »Besser, wir lassen alles so wie es ist. Kerr wird schon etwas über Neils Gepflogenheiten herausgefunden haben. Es sollte nichts darauf hinweisen, das Jemand vor ihnen hier war.«, meinte er und Alec nickte stumm.
Es dauerte eine Weile bis sie den gesicherten Ordner mit den Daten für ihr Projekt gefunden hatten. Sie kannten zum Glück das Passwort und hatten auch Zugriff auf alle Dateien. Doch als Erstes waren sie über-rascht, als sich plötzlich ein Fenster öffnete.
»Hi, ihr Gurken! Offensichtlich ist bei meinem ›Ausflug‹ ohne eure Erlaubnis und euer Wissen etwas schief gegangen, denn sonst würde dieses Fenster nicht aufgehen. Ich habe eine doppelte Passwortabfrage eingebaut, damit nicht irgendjemand per Zufall das erste knacken kann. Zuerst will ich aber noch sagen, dass es mir leid tut, euch irgendwelche Sorgen zu bereiten. Aber ich musste Nägel mit Köpfen machen. Im Safe findet ihr Hinweise auf die Zeit, in die ich entschwunden bin. Einen neuen Versuchsaufbau wird man euch sicher nicht genehmigen, das tut mir am meisten leid. Sucht nicht nach mir, denn ich versuche keine Spuren zu hinterlassen … ihr wisst schon wegen der Chaostheorie oder wegen irgendwelchem Zeitparadoxon. Auch wenn ihr jetzt stinksauer auf mich seid, vernichtet bitte diesen Ordner! Das zweite Passwort, um reinzukommen und zu löschen heißt, Circle of Time, Grüße aus der Vergangenheit, Neil.«, las Alec sichtlich geschockt vor.
»Tut ihm leid … dieser Idiot, von wegen Nägel mit Köpfen!«, entfuhr es Dan wütend. Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch, sodass ein ganzer Stapel Disketten auf den Boden rutschte.
»Beruhige dich wieder Dan.«, begann Alec mit heiserer Stimme. »Suche den Safe, ich lösche inzwischen den Ordner und zwar so, dass er nicht wiederhergestellt werden kann, das dauert einen Moment und ich brauche Ruhe dazu.«, fügte er noch hinzu.
Dan holte tief Luft und hob die Disketten wieder auf. Dabei hatte er plötzlich ein Foto in der Hand. Es war eines dieser Sofortbildschnapp-schüsse. Es zeigte Neil und Andrea in historischen Kostümen. Wütend zerriss er es, ohne es genauer betrachtet zu haben.
Es dauerte auch ein Weile bis Dan den kleinen Safe hinter den Büchern gefunden hatte. Der Inhalt sah zuerst nicht besonders interessant aus. Es war eine Sicherheitsdiskette und die schriftlichen Unterlagen ihres Projektes. In einem kleineren grauen Briefumschlag fand Dan schließ-lich einen Stapel Rechnungen und die Kopie eines historischen Reise-berichtes von einem gewissen Samuel Johnson, vom Ende des 18. Jahnhunderts. Darauf klebte ein Zettel mit der Jahreszahl 1752. Unter den Rechnungen waren eine von einem Kostümverleih und eine weite-re von einem Münzkontor.
»Er muss komplett übergeschnappt sein, einen solchen großen Sprung gewagt zu haben. Das ist eine enorme Belastung für den Kristallschwinger gewesen, da ist ein Absturz vorprogrammiert!«, entfuhr es den Studenten.
»Welche Zeit?«, fragte Alec leise und drehte sich kurz um. Er war besorgt, als er das kreidebleiche Gesicht seines Freundes sah.
»1752, Alec, das ist der blanke Wahnsinn.«, antwortete Dan tonlos.
Der junge Mann am Computer seufzte und starrte auf den blauen Bildschirm. »Komm lass uns das hier fertig machen und verschwinden. Ich habe gleich alles gelöscht und die Spuren auf der Festplatte ver-wischt. Packe du die Papiere in deinen Rucksack und bring den Safe zurück an die Stelle, an der du ihn gefunden has.«, sagte er schließlich.
Sie verließen das Zimmer, ihrer Meinung nach genauso unordentlich, wie sie es vorgefunden hatten. Noch immer herrschte an der Rezeption große Aufregung, so dass es Alec erneut unauffällig gelang, den Schlüssel wieder zurückzulegen.
Ziemlich geschockt und geschafft fuhren sie mit dem Bus zu Dans Elternhaus, denn nur hier hatten sie die nötige Ruhe, alles nochmals zu besprechen.
Als sie dort ankamen wartete eine weitere Überraschung auf sie. Die Kassette mit der Aufzeichnung des Notrufes war angekommen. Dans Mutter gab sie gleich ihrem Sohn, als die beiden jungen Männer in der Küche Tee tranken.
Als sie dann endlich in Dans Zimmer das Band auf dem Kassettenrekorder anhören konnten, waren sie überrascht und zugleich ge-schockt. Es war eine denkbar schlechte Aufnahme, fürchterlich verzerrt durch Rauschen und Pfeifen und heftigste atmosphärische Störungen. Dieser Notruf war anders als der, den sie damals bei ihrem ersten ge-steuerten Versuch, sich in der Zeit zurück zu versetzen, gemacht hatten. Das Einzige, was passte, waren jene seltsamen atmosphärischen Störungen. Doch die Stimme oder das, was davon herüber kam, war beängstigend, schiere Verzweiflung lag darin.
»Das ist Andrea, soweit ich das beurteilen kann und sie hat diesen Funkspruch in höchster Not abgesetzt. Da muss etwas Ernstes passiert sein und das sicher noch vor dem Zeitsprung.«, sagte Dan betroffen, als sie das Band schon zum dritten Mal anhörten.
Schweigen herrschte in dem Zimmer des Studenten. Draußen leuchtete die Stadt in der Dunkelheit, die mittlerweile herrschte.
Dan Callaghan starrte durch die Scheibe, sah sein eigenes Spiegelbild vor der Lichterkulisse. »Wo ist Neil und wo ist seine Freundin jetzt? 1752, was war das für eine Zeit?«, meinte er schließlich abwesend wir-kend.
»Keine sehr gemütliche, Dan. Mal abgesehen von fehlendem Strom, fließendem warmen und kalten Wasser, Autos und dergleichen, war es sechs Jahre nach dem letzten Stuart-Aufstand sehr ungemütlich in Schottland, besonders in den Highlands. Es war damals genauso ge-fährlich, wie heutzutage im tiefsten Amazonasdschungel, und man hielt die Leute dort für ausgesprochene Barbaren und Wilde.«, entgegnete Alec ihm darauf.
»Umso weniger kann ich verstehen, warum Neil diesen Wahnsinn getan hat. So ein Zeitsprung muss gut vorbereitet sein und jede Eventualität eingeplant werden!«, Dan wirkte verzweifelt und wütend, wie schon am Nachmittag in Neils Zimmer.
»Ich habe mir mal die Sachen aus dem Safe angesehen, Dan, er hat sich gut vorbereitet, besser hätten wir es auch nicht tun können. Doch das große ›Aber‹ ist die Frage, was geschehen ist. Sind sie überhaupt in der Zeit angekommen oder hat sich die Piper beim Versuch pulverisiert. Komm lass uns das Band noch mal anhören. Ich versuche es dabei aufzuschreiben. Vielleicht gibt es einen Hinweis.«, versuchte Alec Cun-ningham die Wogen zu glätten.
Erneut spielten sie das Band ab und Dan kam es vor, als wäre es ein Hilferuf aus den Tiefen der Zeit, unvorstellbar weit her, und doch so nah.
Nach einen Gewirr von Rauschen, Knacken und Fiepen war recht deutlich: ...ay day...m. d... may day..., zu verstehen, was wohl den Funkamateur aufmerksam gemacht hatte. Dann folgte mit den schon bekannten Unterbrechungen. …ir… per… G…YC 2 … 6, also die Kennung der Piper der Strathclyde University. Von den restlichen Sätzen waren nur zwei Worte deutlich zu verstehen. ›Pilot und Landung‹, alles anderer waren unverständliche Wortfetzen und Laute.
»Ich weiß nicht, wo wir da anfangen sollen, Alec. Das Einzige, was wir mit Gewissheit sagen können, ist, dass es ein Notruf der Piper war. Die Ursache, den Ort, ganz zu schweigen von der Zeit, in der wir suchen sollten, nicht eine Silbe dazu …«, kam es von Dan nach einer Weile.
»Was erwartest du denn, dieser Notruf war ein verzweifelter Versuch Hilfe zu bekommen. Was auch immer geschehen ist, es liegt in diesem kaum verständlichen Funkspruch hier verborgen.« Erneut ließ Alec das Band zurückspulen und hörte sich das Ganze an. »…ay day… m… d… may day …ir …per …G …Y C… 2… 6… at … landung …ord… ich…o…an … chen …rend …fe …Pilot … er… er … tz ver…«
Auch die restlichen Silben und Wortfetzen schrieb Alec auf den Zettel vor sich. Wie gebannt starrten sie darauf.
Sie diskutierten noch eine Weile über alle möglichen Varianten und es erschöpfte die beiden Studenten.
»Ich weiß nicht mehr weiter, Alec! Dieser Funkspruch könnte des Rätsels Lösung sein, oder auch nicht. Am Ende bedeutet es nur, dass Andrea und Neil für immer verschollen bleiben werden, ob das Flugzeug nun beim Einschalten der Zeitmaschine explodiert ist oder ob sie irgendwo im 18. Jahrhundert umgekommen sind. Wir werden sie wohl nie wiedersehen.«, sagte Dan Callaghan schließlich recht niederge-schmettert.
Alec beobachtete seinen Freund einen Moment aufmerksam. Er machte sich Sorgen um ihn. Dan schien die ganze Sache sehr mitzu-nehmen. Auch an ihm ging das nicht spurlos vorbei. Er hatte erst vor kurzem seine Schwester verloren und der Gedanke, dass Neil auch tot sein sollte, zog ihn wieder in ein dunkles Loch, eines, aus dem er gerade erst aufgetaucht war.
»Es bringt nichts, wenn wir uns das Hirn zermartern, Dan. Entweder findet die Polizei etwas, was nur wir verstehen oder es wird für DI Kerr und DS Munro eine X-Akte, einer von den ungelösten Fällen, die im Archiv verschwinden. Wir können jetzt nur warten«, versuchte er Dan und damit auch sich selbst etwas aufzumuntern.
Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile, bis Alec schließlich in sein Wohnheim aufbrach. Er ließ Dan Callaghan mit all seinen brennenden Fragen und bösen Alpträume zurück.

Der Fall entwickelte sich für Detective Inspektor Kerr allmählich ebenfalls zum Alptraum. Am Freitag, dem 23. Mai erschien eine sehr teuer gekleidete, etwa fünfzigjährige Dame im Hauptquartier in der Stewart Street. Sie stellte sich als Barbara Sutherland vor, sie war Neil Sutherlands Mutter. Sehr forsch und fordernd löcherte sie den Polizisten mit Fragen. Fragen, auf die er kaum eine Antwort hatte. Am Ende hagelte es dann von der Lady eine Beschwerde an den Chief Super-intendenten, seinen obersten Vorgesetzten.
Zerknirscht kam Detective Inspector Kerr schließlich am folgenden Mittwoch aus der Besprechung mit seinem Chef. Der hatte mittlerweile von der Beschwerde erfahren und nicht nur die Lady, sondern auch deren Ehemann, einen Abgeordneten des Londoner Oberhauses auf dem Hals, der eine lückenlose Aufklärung des seltsamen Ver-schwindens seines Sohnes verlangte.
»Was zur Hölle soll ich denn noch tun, Lachie, diese Sutherlands denken, wir sind vom FBI oder vom SI5 und können alles heraus-finden! «, sagte er recht aufgebracht zu seinem Detective Sergeant.
»Ich sage es ihnen ja die ganze Zeit, diese Experimente sind des Pudels Kern.«, erwiderte der daraufhin.
»Hören sie auf damit, Lachie! Sie haben doch gehört, was der Professor der beiden gesagt hat. Sie haben Atmosphärenmessungen mit dem Flugzeug gemacht. So etwas kann höchstens bei einem technischen De-fekt einen Absturz verursachen, aber die Maschine war nach Aussage dieses Mechanikers tipp-topp in Ordnung. Außerdem ist auch diese Ecke Schottlands nicht der brasilianische Urwald und die RAF hat keine Wrackteile gefunden.«, kam es von Kerr nun zurück.
Er fand diese fixe Idee seines Detective Sergeanten nicht so gut. Er hatte zwar auch seine Zweifel an der ganzen Angelegenheit, aber nach einem Gespräch mit seinem Bekannten, der selbst eine solche kleine einmotorige Piper flog, war er sich sicher, dass die Elektronik in dem Flugzeug durchaus einen Absturz verursacht haben konnte. Allerdings erklärte das immer noch nicht, wo das Wrack abgeblieben war.
»Es ist zum Verzweifeln, Lachie! Wo bekomme ich noch weitere Informationen her?«, fügte er schließlich noch hinzu.
Es herrschte betretenes Schweigen. Munro kaute verlegen auf einem Bleistift herum und starrte auf das Foto Neil Sutherlands, das vor ihm lag.
»Wir haben uns noch gar nicht Sutherlands Zimmer im Studentenwohnheim angesehen. Vielleicht bringt das etwas?«, kam es schließlich von ihm.
Kerr fand den Vorschlag gut und mit einem Durchsuchungsbefehl standen sie dann schließlich am späten Nachmittag am Empfangstresen des Studentenwohnheimes in der Taylor Street. Der Student, der Schlüsseldienst hatte, war nicht sehr kooperativ. Er mochte die Polizei wohl nicht, begleitete sie nicht einmal nach oben, sondern wies ihnen nur mürrisch den Weg.
Kerr war jedoch sichtlich geschockt, als er das Zimmer des Studenten öffnete. Es war das ganze Gegenteil von der Wohnung seiner Freundin. Alles war durcheinander, Chaos herrschte auf dem Schreibtisch und in den Bücherregalen. Wäsche lag auf dem Fußboden herum und der Geruch von kaltem Rauch erfüllte den Raum. DS Munro riss als Erstes das Fenster auf.
»Mein Gott, jetzt wundert es mich nicht mehr, dass seine Verlobte lieber in der Wohnung in den Gorbals allein hauste. Den Jungen möchte ich nicht geschenkt haben.«, meinte er.
Sein Vorgesetzter erwiderte nichts darauf. Er lief langsam durch das Zimmer und sah sich alles an. Vor dem Bücherregal blieb er stehen.
Der Detective Sergeant machte es sich derweilen am Computer bequem und schaltete ihn ein. Neugierig durchsuchte er die Dateien, auf die er Zugriff hatte. Kerr sah ihm einen Augenblick zu und studierte erneut die Bücher. Als er schließlich eines herausnahm, entdeckte er eine kleine Stahlkassette. »Was wird denn da drin sein?«, meinte er und stellte sich wieder hinter seinen Detective Sergeanten, der konzentriert auf den Computer starrte.
»Wir können sie ja öffnen lassen.«, meinte dieser abgehackt dazu, nachdem er sich kurz umgedreht hatte.
»Haben sie etwas gefunden, Lachie? Diese Dinger sind für mich immer noch ein Buch mit sieben Siegeln.«
»Na ja, eigentlich nichts Besonderes. Er hat einige ziemlich komplizierte Rechenprogramme hier, aber alles vollkommen normal für einen Physiker. Hier – diese Datei ist interessant, eine Abhandlung über Wurmlöcher und Antimaterie und noch ein paar Artikel über Raum und Zeitanomalien.«, erwiderte der DS darauf. Er drehte sich um und sah das verdutzte Gesicht seines Vorgesetzten.
»Kompliziertes Zeug eben, aber keine Zeile über diese Atmosphärenmessungen, was doch irgendwie seltsam ist.«, fügte er noch hinzu, um sich sofort wieder dem blau schimmernden Bildschirm zuzuwenden.
»Tja, vielleicht ist er doch nicht so begeistert von der modernen Technik oder vertraut ihr nicht. Hier stehen zwei Ordner, die entsprechend beschriftet sind.« Kerr klopfte seinem Kollegen freundlich auf die Schulter.
»Vielleicht fährt er auch zweigleisig. Ich werde mir noch mal seine Disketten ansehen«, mit diesen Worten griff Munro nach dem Stapel in Papierhüllen verstauter Disketten. Die rutschten jedoch auseinander und Kerr fast vor die Füße. Der bückte sich, um sie aufzuheben und stutzte. Halb unter dem Schreibtisch und den heruntergestürzten Disketten entdeckte er Schnipsel eines zerrissenen Fotos.
»Na, was haben wir denn da?«, meinte er in seltsamem Tonfall.
Etwas mühevoll sammelte der Polizist die Papierstücke auf, um sie auf dem Schreibtisch wieder zusammenzusetzen.
»War Neil Sutherland in irgend so einem Traditionalisten-Verein?«, kam es von DS Munro, als er das Foto sah.
»Könnte sein, aber davon weiß ich nichts und ich glaube, dass Stu-denten heutzutage nicht auf so etwas stehen. Aber etwas anderes inte-ressiert mich hier. Warum ist das Foto zerrissen worden. Hatten die beiden Streit oder ist uns hier Jemand zuvorgekommen?«, meinte Detective Inspector Kerr dazu, der hinter ihm stehend das Foto ebenfalls betrachtete.
Munro überlegte eine Weile und tippte noch mehrmals auf der Tastatur des Computers herum. »Ich kann es nicht beweisen, aber ich glaube, hier hat jemand gründlich aufgeräumt. Ich finde hier ein oder zwei Passwort geschützte Dateien nicht mehr, und einige Ordner sind leer. Wir sollten vielleicht doch einmal Alec Cunningham und Dan Callaghan fragen. Sie wissen da sicher mehr.«, kam es dann von ihm.
Kerr lachte bitter. »Glauben sie allen Ernstes, Lachie, dass sie Antwor-ten von den beiden bekommen?«
Um keinen Deut schlauer und noch zerknirschter als am Morgen machten sich die beiden Polizisten dann wieder auf den Weg in die Stewart Street. Die Untersuchung der Kassette brachte auch nichts. Außer Neils Pass, etwas Geld und Rechnungen, die wohl schon lange fällig waren, befand sich nichts Aufregendes darin.
So saßen die beiden Polizisten wieder in ihrem Büro und grübelten.
Der Detective Sergeant sah einen Augenblick zu dem winzigen Fenster hinaus. Es regnete in Strömen, das richtige Wetter für Glasgow, um es grau und schmutzig erscheinen zu lassen.
Schließlich hatte Munro eine Idee. Er schlug seinem Vorgesetzten eine Fernsehsendung vor, die sich mit ungelösten Fällen befasste.
Detective Inspector Kerr sah seinen Kollegen sehr skeptisch an. Er hielt nichts von diesen neumodischen Methoden. Aber er musste zugeben, dass ja auch dieses Zeitungsinserat etwas gebracht hatte.
So schloss er sich mit seinem Chef kurz und bat das Fernsehen um Mithilfe. Drei Wochen später wurde die Sendung ausgestrahlt. Man hatte Schauspieler engagiert, die Andrea Schwarz und Neil Sutherland ähnlich sahen und sogar ein Flugzeug, wie das der Strathclyde University. Allerdings ließ der Erfolg auf sich warten. Unmittelbar nach der Sendung meldeten sich nur irgendwelche geltungssüchtige Leute, die eigentlich nicht wirklich etwas gesehen hatten.
Aber als die beiden Polizisten die Akte schon fast schließen wollten, es war mittlerweile schon Juli, kam ein Anruf aus Oban. Dort hatte sich ein Fischer gemeldet, der den Landeanflug des Flugzeuges über den Firth of Lorne beobachtet hatte.
Der Polizist, der anrief, drückte sich etwas seltsam aus, so dass Detective Inspector Kerr fast schon wieder einen Spinner vermutete. Aber noch immer machten Neil Sutherlands Eltern und mittlerweile auch der Deutsche Generalkonsul in Edinburgh Druck. Sie wollten Ergebnisse. Keiner konnte verstehen, dass ein Flugzeug ohne Spuren zu hinter-lassen verschwindet, mitten im hoch technisierten und dicht besiedelten Europa.
Auch wenn der Polizist nicht unbedingt dieser Meinung war, denn für ihn waren die Highlands ein Stück Wildnis … auch im 20. Jahrhundert, ließ ihn sein detektivischer Spürsinn nicht ruhen.
Immer wieder hatte er Dan Callaghan und Alec Cunningham aufgesucht oder aufs Revier bestellt, denn die Durchsuchung der Wohnung von Neil Sutherland hatte ja auch nichts gebracht. Aber alles schien fruchtlos zu sein, deshalb klammerte er sich an diesen einzigen Hinweis.
So fuhren DS Munro und DI Kerr nach Oban, um mit dem Mann zu reden. Der Wettergott hatte an dem Tag Gnade mit ihnen, denn der Sommer war bisher total verregnet und sie erreichten das kleine Küs-tenstädtchen in Argyll am späten Nachmittag, bei strahlendem Son-nenschein.
Allerdings hatte das den Nachteil, dass wohl sämtliche Touristen den Tag für einen Ausflug ausgesucht hatten und DS Munro eine ge-schlagene halbe Stunde einen Parkplatz suchte und sie dann am Ende eine ziemlich lange Strecke zur Polizeistation zu Fuß zurücklegen muss-ten.
Auch auf der Polizeistation ging es nicht ohne Komplikationen ab. Der diensthabende Polizist wusste nicht, wo sich der Fischer aufhielt. Erst nach dutzenden Anrufen konnte er sie zum Pier hinunterschicken, wo das Boot des Fischers lag, der Ian MacDougal hieß.
Am Pier, an dem sich auch die Anlegestelle der Fähre zur Insel Mull befand, ging es recht lebhaft zu. Ströme von Touristen wurden aus dem Bauch der Fähre, die gerade angelegt hatte, ausgespuckt, und die beiden Polizisten kamen sich in dem Gewimmel doch etwas verloren vor.
Nur wenige Fischerboote lagen an dem modernen Pier. Neugierig beugte sich Alan Kerr über die Hafenmauer, um irgendjemanden auf den Booten auszumachen oder wenigstens deren Namen oder Kenn-nummern. Er verglich sie mehrmals mit dem Zettel, den ihn sein Kol-lege aus Oban mitgegeben hatte. Das Boot des Fischers war ein ziem-lich heruntergekommener Kahn, aus dessen Kajüte lautstarke Musik tönte.
»Runrig!«, meinte DS Munro mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Er wusste, dass sein Vorgesetzter auf solche Art moderne Musik nicht stand. Alles zu laut für ihn, und was da aus der Kajüte tönte, war wirklich laut und noch dazu Gälisch.
Detective Inspektor Kerr warf dem jungen Polizisten einen vielsagenden Blick zu.
»Ja – und verdammt laut, da hört uns sicher keiner. Sind sie sportlich Lachie und kommen sie da runter?«, kam es nun von ihm.
Der Angesprochene runzelte die Stirn und zuckte mit den Schultern, angesichts der in den Beton eingelassenen Stahlklammern, die als Leiter dienten.
Mühevoll kraxelten erst Munro und dann Kerr selber hinunter. Unten angekommen taumelten sie über das in der sanften Dünung leicht schaukelnde Boot zur Kajüte, wo die Lautstärke der Musik nur noch von dem recht falschen Mitsingen eines jungen Mannes, der am Motor des Kutters werkelte, übertroffen wurde. Er schien sie nicht zu bemerken und klopfte den Takt mit einem Schraubenschlüssel mit.
Mit einem breiten Grinsen im Gesicht tippte DS Munro auf die Stopptaste des Kassettenrekorders vor ihm. Der junge Mann schnippte erschrocken herum, den Schraubenschlüssel wurfbereit in der Hand und einen gälischen Fluch auf den Lippen.
»Langsam, langsam Mann!«, konnte Kerr ihn gerade noch bremsen. Er hielt dem Fischer seinen Ausweis vor die Nase und der Schrauben-schlüssel landete klirrend vor seinen Füßen.
»Auch wenn sie von der Polizei sind, he, können sie hier nicht so einfach auf dem Boot herumturnen. Was wollen sie denn?«, kam die reichlich freche Frage des jungen Mannes, der sich mit seinen ölver-schmierten Händen einige widerspenstige dunkelbraune Locken aus dem Gesicht strich.
»Sind sie Ian MacDougal?«, kam statt einer Antwort die Frage von DS Munro, der dem Mann ebenfalls seinen Identitätsnachweis vor die Nase hielt, welchen dieser aufmerksam studierte.
»Nee, bin ich nich’, Ian ist mein Vater, ich bin Rory MacDougal. Was will denn die Strathclyde Police von ihm?«, fragte der junge Mann mit einem eigenartigen Grinsen auf seinem sonnengebräunten Gesicht.
»Wir sind vom Vermisstendezernat, Mister MacDougal, wir untersuchen das Verschwinden eines Studenten aus Glasgow und seiner Freundin, die mit einer Piper Anfang April das Connel Airfield an-flogen.«, antwortete Kerr nun immer noch ruhig, obwohl ihn die Art und das Auftreten des jungen Mannes doch etwas reizten.
»Ach, wegen dem sind sie hier, wegen des Hirngespinstes meines Vaters.«, erneut erschien jenes freche Grinsen auf dem Gesicht des Fischers.
»Das ist kein Hirngespinst, Roderick MacDougal und nenne deinen Vater keinen Spinner! Ich weiß, was ich gesehen habe.«, kam es nun mit lauter, tiefer Stimme von hinten. In der Eingangstür zur Kajüte stand ein großer, grauhaariger Mann, um die Sechzig, wohl der Vater des jungen MacDougal und der Mann, den die Polizisten eigentlich such-ten.
Erschrocken fuhren die beiden Beamten herum und starrten den Mann an wie ein Gespenst.
»Kommen sie, wir sollten uns einen ruhigeren Ort suchen, um zu reden.«, sprach dieser die Polizisten an und bat sie wieder auf die Mole hinaufzusteigen.
»Kümmere dich um den Diesel Rory, wir wollen morgen früh wieder rausfahren!«, herrschte er noch seinen Sohn an, bevor er den Polizisten folgte.
Oben angekommen hörten sie wieder die laute Musik und der alte Mann schüttelte den Kopf.
»Diese jungen Leute heutzutage.«, begann er. »Sie kommen aus Glasgow? Das ist ein verdammt weiter Weg, nur wegen dieses Flugzeuges.«, fuhr er schließlich im weichen Singsang der Leute von den Inseln fort, die in ihrer Kindheit noch ausschließlich Gälisch gesprochen hatten.
»Wohl eher ein weiter Weg wegen eines Hirngespinstes, was hat ihr Sohn damit gemeint?«, kam es, trotz der Freundlichkeit des alten Fischers, etwas gereizt von Detective Inspector Kerr.
»Warten sie es ab. Hier auf der Mole will ich das nicht unbedingt zum Besten geben.«, mit diesen Worten und einem finsteren Gesichtsausdruck führte sie der alte Mann in eine Nebenstraße, in eines der See-mannsheime. Dort angekommen suchte er eine ruhige Ecke und bestellte sich ein Bier.
»Sie wollen also etwas über dieses Flugzeug wissen Inspektor?«, begann er schließlich und Alan Kerr unterbrach ihn dieses Mal nicht einmal wegen seines korrekten Titels.
»So ist es Mister MacDougal, sie haben sich ja nach der Fernsehsendung deswegen bei der Polizei hier gemeldet.«, antwortete er nur ruhig, während ihnen Munro etwas zu Essen und Tee holte.
»So ist es«, kam allerdings nur eine kurze Erwiderung darauf.
»Was meinte ihr Sohn mit Hirngespinsten vorhin, hat er dasselbe gesehen wie sie?«, warf nun Munro ein, als er zurückgekommen war, und Kerr sich an einem Sandwich gütlich tat.
»Das ist es ja, er hat nichts gesehen oder fast nichts, als er an Deck kam, war der Spuk schon vorbei. Ich habe verdammt lange gebraucht, um zur Polizei deswegen zu gehen. Wir haben hier ja alle mitbekommen, wie die RAF nach dem Flugzeug gesucht hat. Aber nach der Fernsehsendung habe ich gedacht, dass es vielleicht doch wichtig ist.«, begann der alte Fischer schließlich.
»Nun, dann erzählen sie mal genauer, was sie gesehen haben.«, forderte ihn nun Alan Kerr auf.
»Nun gut, Inspektor, aber halten sie mich nicht für altersschwach, irre oder besoffen, das ist übrigens mein erstes Bier heute.«, mit diesen Worten hob er sein Bierglas und prostete ihnen zu.
»Es war im Frühjahr, Mitte April, an das genaue Datum kann ich mich nicht erinnern, aber es war der Tag, an dem die RAF nach einem vermissten Flugzeug suchte. Ich war stocknüchtern, Inspektor, an dem Tag, das können sie mir glauben! Wir wollten Hummerkörbe kontrollieren draußen vor Lismore. Gerade als wir auf Höhe der Ardnamucknish Bay waren, sah ich ein Flugzeug, eine Piper. Sie müssen wissen, das mein Ältester mal eine solche Maschine für die Forestry-Commision geflogen ist, deshalb kenne ich den Typ so genau.«, der Fischer machte eine Pause und nahm einen Schluck Bier, als müsse er sich seine Kehle anfeuchten.
»Ich stand am Heck des Bootes und sah hinüber zum Festland. Die Maschine kam aus Richtung Westen und flog eine leichte Schleife nach Norden. Plötzlich änderte sie den Kurs und flog wieder westlich auf die Bucht zu. Das Merkwürdige dabei war, dass sie auf einmal zu leuchten begann. Zuerst ganz weiß und gleißend und das änderte sich schließlich zu einem Regenbogen, ich meine dieselben Farben wie einer. Als das Leuchten begann, habe ich den Motor noch deutlich gehört, doch dann gab es plötzlich einen sehr hohen Ton, ein Geräusch, als ob ein Zug abbremst, so laut und durchdringend, dass ich mir die Ohren zuhalten musste. Mein Sohn und mein Schwager kamen aus der Kajüte gestürzt, weil sie dachten, ein Jet der RAF schmiert ab. Aber alles, was man noch am Himmel sah, war eine schillernde Wolke … Deshalb glaubt mein Sohn an ein Hirngespinst.« Der Fischer schwieg nach diesem Bericht und nahm erneut einen großen Schluck aus seinem Bierglas.
DS Munro und Detective Inspector Kerr sahen sich betroffen an. Sie wussten nicht, was sie davon halten sollten.
»Sie denken also auch, dass ich eine Meise habe, Inspektor, und glauben mir nicht.«, kam es von dem alten Mann, der ihren Blickwechsel beob-achtet hatte.
»Nun ja, Mister MacDougal, das klingt doch alles sehr phantastisch. Ein Flugzeug, dass in einer Wolke verschwindet … das klingt doch sehr nach science fiction oder?«, erwiderte DS Munro darauf Stirn runzelnd.
»Science … was? Inspektor, ich bin Fischer, ich stehe mit beiden Beinen fest auf dem Boden meines Kutters. Ich bin kein Spinner, ich habe gesehen, was ich ihnen erzähle. Wenn ich es auch seltsam be-schrieben habe, Tatsache ist, dass diese Piper vor meinen Augen im Nichts verschwunden ist … sie ist nicht explodiert, nicht abgestürzt … einfach nur aufgelöst hat sie sich.« Nun schien es mit der Ruhe des alten Mannes vorbei zu sein. Er sprang wütend auf und warf dabei fast sein Bierglas um. Der Detective Sergeant fing es gerade so noch auf und sah erschrocken in das wettergegerbte Gesicht des Fischers.
»Langsam, langsam, Mister MacDougal!«, versuchte unterdessen Kerr den Mann zu beruhigen. »Können sie das Flugzeug beschreiben? «
Der alte Mann setzte sich wieder mit einem finstern Gesichtsausdruck. »Natürlich Inspektor! Es ist, als hätte ich es fotografiert. Genauso wie im Fernsehen sah sie aus, die Piper war gelb, jedenfalls von unten. An den Tragflächen und am Rupf hatte sie rote Streifen und das Kennzeichen konnte ich auch erkennen, GB-YG 226«, antwortete er schließlich.
»Nun, ich danke ihnen, Mister MacDougal. Sie sind der einzige Zeuge, der die Piper beim Landeanflug hat verschwinden sehen. Wir danken ihnen, es hat uns doch ein wenig weiter geholfen.«, bedankte sich der Inspektor höflich und sah auf seine Uhr.
»Entschuldigen sie uns Mister MacDougal, wir müssen aufbrechen, wenn wir noch vor Einbruch der Nacht in Glasgow sein wollen.«, mit diesen Worten drängelte Alan Kerr den Detective Sergeant zum Auf-bruch. Als sie das Seemannsheim wieder verließen, sah ihnen der Fischer mit finsteren Blicken nach.
Die beiden Polizisten redeten kein Wort miteinander bis zum Parkplatz ihres Autos. Als sie schließlich wieder in ihrem Wagen saßen, meinte der Detective Inspector stirnrunzelnd zu seinem Kollegen, der gerade den Wagen starten wollte. »Das klingt alles wirklich nach einem Hirn-gespinst, was der alte MacDougal uns da erzählt hat. Was halten sie davon, Lachie?«
Der Angesprochenen ließ den Schlüssel, den er gerade drehen wollte los und seufzte. »Ich weiß nicht so recht, Alan, was ich von der ganzen Sache halten soll. Was der Mann da gesehen hat, ergibt keinen Sinn. Vielleicht sollten wir noch einmal mit seinem Sohn sprechen, vielleicht kann der sich an weitere Details erinnern oder wenigstens bestätigen, was sein Vater da behauptet gesehen zu haben.«, sagte er schließlich überlegend.
»Ich weiß nicht, ob das etwas bringt, Lachie. Der Junge schien mir nicht sehr kooperativ und er glaubt, dass sein Vater Hirngespinste gesehen hat. Aber einen Versuch wäre es wert.«
Alan Kerr machte eine Pause, sah hinunter auf den Hafen, den man durch die Häuserreihen erkennen konnte. »Gehen sie besser allein Lachie. Erstens verstehen sie sich mit jungen Leuten gut und außerdem sind sie besser zu Fuß als ich. Ich warte hier auf sie.«, fügte er schließlich noch hinzu und holte tief Luft.
So machte sich DS Munro erneut auf den Weg zum Hafen hinunter. Mittlerweile hatte der Besucherstrom an der Fähre abgenommen und es war fast so etwas wie Ruhe eingetreten. Kreischend flogen Möwen über die Bucht, und als der Polizist hinunter auf den Kutter der MacDougals schaute, sah er, dass das Wasser sogar im Hafenbecken so klar war, dass er auf den Grund sehen konnte.
Langsam stieg er die Leiter hinunter zum Boot. Noch immer dudelte der Kassettenrekorder, doch der junge Mann sang nicht mehr. Er war bis zur Hüfte im Motorraum verschwunden und tauchte dann und wann ganz unter. Er brummelte und schimpfte dabei auf Gälisch.
Munro beobachtete ihn eine Weile bis Rory MacDougal schließlich seine Anwesenheit bemerkte. »Sie schon wieder. Wo haben sie denn ihren Chef verloren, im Seemannsheim wohl. Spinnt er dort Seemanns-garn mit dem Alten?«, kam es erneut recht provokant von dem jungen Mann.
»Ist wohl ‚ne harte Nuss‘ der Motor?«, fragte der Polizist, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen.
»Verstehen sie was von Motoren, Detective Sergeant?«, kam es statt einer Antwort mit einem frechen Grinsen im Gesicht von dem Fischer.
»Nein, tut mir leid. Ich bin ein technischer Idiot. Ich habe schon Pro-bleme einen Nagel in die Wand zu bekommen ohne mich dabei selbst zu verstümmeln.«, erwiderte der Polizist schmunzelnd.
»Na, Hauptsache auf‘s Ganovenfangen verstehen sie sich, sonst wäre es schlecht um unsere Polizei bestellt.«, fuhr der junge Mann fort, kam aus der Luke gekrochen und wischte sich seine ölverschmierten Hände an einem alten Lappen ab. Er setzte sich auf eine Bank, bat den Polizisten sich ebenfalls zu setzen und zündete sich eine Zigarette an.
»Ich jage keine Ganoven Mister MacDougal. Es sind zwar manchmal zwielichtige Leute dabei, aber es geht bei mir meistens um Menschen, die vermisst werden, so wie die beiden Insassen des Flugzeuges, das ihr Vater Mitte April gesehen hat«, setzte DS Munro das Gespräch ruhig fort.
»Ich kann ihnen da nicht weiterhelfen, ich habe diesen Studenten und seine Freundin nie gesehen, ganz zu schweigen etwas von dem Flug-zeug zu wissen. Ich war an dem Tag unter Deck. Das verflixte Echolot funktionierte nicht richtig und auch das Radar hat gesponnen.«, meinte der junge Mann darauf und bot dem Polizisten eine Zigarette an.
Der nahm dankend an, obwohl er sich schon seit Wochen vorgenom-men hatte nicht mehr zu rauchen.
»Das Radar hat gesponnen? Kommt so etwas öfters vor?«, fragte er nun weiter.
»Eigentlich nicht. Das Gerät ist relativ neu und als wir raus fuhren funktionierte es einwandfrei. Erst als wir auf der Höhe von Ardnamucknish Bay angekommen waren, ging es los. Der Schirm hat ge-flackert und dann plötzlich grell aufgeleuchtet. Ich dachte, das Ding fliegt mir um die Ohren.«, ergänzte der junge Mann ruhig und sachlich. Munro schien ihn wohl auf der richtigen Wellenlänge getroffen zu haben. Aber seine Antwort machte ihn nachdenklich. Auch der Fluglotse vom Connel Airfield hatte dieses Flackern und Leuchten beschrieben.
»War das zur gleichen Zeit, als sie dieses seltsame Geräusch gehört haben?«, fragte er deshalb weiter.
Rory MacDougal sah den Polizisten mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an. Es war, als würde er auf einmal etwas klarer sehen.
»Es war also doch kein Hirngespinst, was mein Vater da gesehen hat.«, begann er und zog nervös an seiner Zigarette. »Jetzt, wo sie es sagen, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Der Radarschirm leuchtete grell auf und in dem Moment kam dieses Geräusch … das Blut wäre ihnen in den Adern gefroren, wenn sie das gehört hätten, als ob direkt auf uns ein Jet der RAF abstürzt. Wissen sie, die machen ja immer Tiefflugübungen über den Highlands. Egal, wo sie sind, ständig taucht so ein verfluchter schwarzer Vogel aus dem Nichts auf und erschreckt sie zu Tode.«, erzählte er schließlich.
»Sie haben nur dieses Geräusch gehört und nichts weiter gesehen?«, fragte DS Munro vorsichtig weiter.
»Ich habe keinen Jet gesehen, der dabei war über unseren Köpfen abzuschmieren, Mann. Ich bin mit meinem Onkel gleich an Deck und das Einzige, was wir sahen, war eine bunte, schillernde Wolke über uns und mein Vater behauptete, das wäre ein Flugzeug gewesen.«, berichtete der junge Mann und drehte die Kassette um, da die Musik aufgehört hatte und die Stille ihm wohl unerträglich erschien.
»Mir hat das an dem Tag gereicht und dann sind noch die Hub-schrauber der RAF tagelang herumgeflogen. James Mac Coll war auch den ganzen Tag mit dem Seenotrettungsboot draußen. Aber keiner hat auch nur eine Spur gefunden.«, fügte er schließlich noch hinzu.
»Das ist ja unser Problem, Rory, die beiden jungen Leute und das Flugzeug haben sich, wie ihr Vater so trefflich sagte, in Nichts aufge-löst. Aber trotzdem vielen Dank für das Gespräch und die Zigarette.« Mit diesen Worten stand der Polizist auf und reichte dem jungen Mann die Hand zum Abschied. »Übrigens ist das eine gute Kassette. Heartland, nicht wahr?«, fügte er noch hinzu.
Ein breites Grinsen erschien in Rory MacDougals Gesicht. »Ein Polizist mit Musikgeschmack.«, meinte er. »Ich wünsche ihnen trotzdem viel Glück bei ihrer Suche nach den jungen Leuten, Detective Sergeant. Aber besser, sie wischen sich ihre Hand wieder ab.«, fügte er noch hinzu, reichte Munro einen Putzlumpen und verschwand wieder im Motorraum.
Glück konnten sie wirklich gebrauchen, dachte DS Munro, als er zurück zum Parkplatz lief. Kerr war auf seinem Sitz eingenickt und schreckte erst hoch, als er die Autotür öffnete.
»Na, was haben sie erreicht, Lachie?«, fragte er, während er ausstieg und sich geräuschvoll streckte.
»Nun, Rory, MacDougal hat die Aussage seines Vaters bestätigt, ich meine das mit dem Geräusch und dieser Wolke. Aber er hat auch etwas anderes erwähnt, etwas, was ihnen sicher bekannt vorkommt, Alan.«, begann der Detective Sergeant geheimnisvoll.
»Spannen sie mich nicht auf die Folter, Lachie, heraus mit der Sprache. Was hat er noch gesehen?«, entfuhr es Kerr.
»Sie hatten Probleme mit dem Radar, als sie in Höhe der Ardnamucknish Bay waren. Gerade in dem Moment als sein Vater das Flugzeug hat verschwinden sehen und dieses Geräusch entstand, da hat der Radarschirm hell aufgeleuchtet.«, antwortete der junge Polizist.
»Genauso wie bei dem Fluglotsen vom Connel Airfield.«, meinte der Detective Inspector daraufhin nachdenklich.
»Es kommt immer aufs Selbe heraus, irgendetwas ist seltsam mit diesen Versuchsflügen. Da stimmt etwas nicht!«, meinte Munro dazu und setzte sich in das Auto. Auch Kerr stieg ein, nachdem er seine Anzug-jacke im Fond verstaut hatte.
»Tja, Lachie. Diese Versuchsflüge werden wohl des Pudels Kern sein, aber ich wette, dass wir wohl nie herausfinden, um was es da wirklich geht. Cunningham und Callaghan schweigen wie ein Grab.«
Nach diesen Worten startete DS Munro das Auto und sie fuhren zurück nach Glasgow.
Dieser Ausflug hatte nichts, fast nichts gebracht, was half diesen Fall aufzuklären. Keine Spur der Vermissten war zu finden, nicht eine. So mussten sie die Akte schließlich Ende Juli schließen. Wieder eine Akte, die zu den ungelösten Fällen zählte. Die Eltern von Neil Sutherland und von Andrea Schwarz mussten nun zwei Jahre warten, bis ihre Kinder für tot erklärt wurden. Sie hatten nicht einmal ein Grab, um zu trauern.
Es war Anfang Oktober, DS Munro und DI Kerr arbeiteten mittlerweile an zwei neuen Fällen, als sie ein Fax aus Oban erreichte. Der dortige Polizeichef berichtete von einem merkwürdigen Skelettfund in der Nähe von Fionnphort, am Ross of Mull. Bei dem Skelett hätte man auch die Brille und den Studentenausweis von Neil Sutherland gefun-den.
Alan Kerr war sehr skeptisch, was diese Sache anging. Neil Sutherland war mittlerweile gute sechs Monate verschwunden und nach einer solchen Zeitspanne ein Skelett zu finden, war doch etwas merkwürdig. So schickte er Munro nach Oban, um sich die Sache einmal näher anzusehen. Er selbst hatte wohl alle Hoffnung auf Klärung dieses merkwürdigen Falles aufgegeben.
Munro war ziemlich schockiert, als ein Polizist ihm dort die Fundstücke zeigte. In der kleinen Aluminiumkiste lagen fein säuberlich in Folie eingepackt und nummeriert ein Schädel ohne Unterkiefer, ein Oberschenkelknochen, Teile der Wirbelsäule und einige Rippen. In einem weiteren Beutel präsentierte man DS Munro noch die Überreste einer Brille, anders konnte man das Ganze nicht bezeichnen. Das Gestell war dunkel und fleckig, wenn auch nicht verrostet, und die Gläser fast blind. Der Studentenausweis war nach Aussage des Polizisten, der ihn fand, fein säuberlich in Aluminiumfolie eingewickelt gewesen, die ebenfalls sehr stark verfärbt war. Die Hülle des Ausweises selbst war blind, doch nach dem Entfernen derselbigen konnte man den Ausweis Neil Sutherlands fast unversehrt sehen.
»Haben sie das schon einem Gerichtsmediziner gezeigt?«, fragte DS Munro, als er sich einigermaßen gefasst hatte.
»Nein, Detective Sergeant, wir hätten es nach Fort William oder Inver-ness schicken müssen. Wir dachten, sie in Glasgow haben da die besten Möglichkeiten«, bekam er zur Antwort.
Vorsichtig hob der junge Polizist den Schädel hoch. Er war erstaunt über dessen Gewicht. Er betrachtete die Zähne, die vielfach plombiert waren, einige sogar mit Kronen versorgt. Das war eindeutig der Schädel eines Menschen, der hier und jetzt gelebt hatte, allerdings ließen die Farbe und der Zustand der Skelettteile auf den ersten Blick ein höheres Alter annehmen.
DS Munro war noch immer skeptisch und bat deshalb einen der örtlichen Polizisten ihm den Fundplatz der Skelettteile zu zeigen. Bereitwillig setzte ein junger Uniformierter, etwa in Munros Alter, mit der Fähre zur Insel Mull über und dirigierte ihn zu dem südlichen Zipfel der Insel, der das Ross of Mull genannt wurde.
In Fionnphort, einem winzigen Ort mit nicht einmal einer Handvoll Häusern angekommen, mussten sie sich erst einmal einen heißen Tee beim dortigen Ortspolizisten gönnen, der herumtelefonierte, um den Mann ausfindig zu machen, der nach der Sturmflut vor ein paar Tagen das Skelett gefunden hatte und einen Archäologie-Professor aus Edinburgh, der ihnen bei der Bergung behilflich war.
Es war schon später Nachmittag und es wehte noch immer ein kräftiger Wind, der die Regenwolken über ihren Köpfen wegblies. Zum Glück hatte der Sergeant aus Oban ein zweites Paar Gummistiefel in Munros Größe mit, denn sonst hätte der Polizist binnen kürzester Zeit pitsch-nasse Schuhe gehabt. Sie waren von Fionnphort aus zu der Farm gefahren, auf der der Finder des Skelettes lebte. Im Gänsemarsch ging es dann einen recht unwegsamen schmalen Weg hinunter zum Strand. Vor ihnen lag die Insel Erraid voller steinige Klippen und vom Wind verwehter Bäume. Es war Flut, an den Felsen draußen vor der sandigen Bucht spritzte die Gicht meterhoch und der kräftige Wind ließ DS Munro in seiner Jeansjacke frösteln.
Der Farmer, ein gewisser James Cameron, führte sie nun querfeldein über mit riesigen Findlingen und Felsen übersäte Hügel zu einer Stelle, wo man sah, dass das Meer hier wie seit Jahrhunderten wohl ein Stück der Düne gefressen hatte.
»Das ist die Stelle, Detective Sergeant, den Oberschenkelknochen habe ich etwas weiter von der Düne weg gefunden, den hatte die Flut wohl schon herausgearbeitet, genauso die anderen kleineren Knochen. Der Schädel steckte noch in der Böschung. Ich habe dann gleich den Professor geholt, der bei mir wohnt, weil ich dachte, dass es irgendein historischer Fund sei. Die Knochen waren schon so dunkel und viele Steine lagen darüber.«, berichtete dieser und der erwähnte Professor nickte bejahend dazu.
»Ich habe auch erst gedacht, einen historischen Schädel vor mir zu haben, bis ich ihn frei präpariert hatte und die Zähne sah. Ich habe daraufhin den Polizisten gerufen und wir haben Polaroids gemacht von der ganzen Aktion. Wir haben nur die Brille und den Ausweis gefunden und alles deutet darauf hin, dass diese Sachen schon lange in der Erde gelegen haben.«, meinte der ältere Mann dazu.
DS Munro runzelte bedenklich die Stirn. »Neil Sutherland wird seit einem halben Jahr vermisst, wie kann es sein, dass nur Skeletteile gefun-den wurden?«, fragte er den Professor.
»Seit einem halben Jahr«, wiederholte dieser nachdenklich und schüt-telte den Kopf. »Hätten wir nur die Knochen am Strand gefunden und nicht den Schädel, der gut zwei Meter unterhalb der Rasenkante lag, würde ich sagen, dass die Sturmflut es angetrieben hätte. Aber dieses Skelett oder das, was von ihm übrig ist, wurde fein säuberlich begraben. Anders kann ich das nicht sehen.«, fügte er noch hinzu.
»Begraben?«, der junge Polizist starrte auf das sandige Ufer und schüttelte ebenfalls den Kopf.
»Wenn sie mich fragen, lag dieser Tote schon seit Jahrzehnten hier, wenn nicht länger. Sehen sie die verschiedenen Sedimentschichten und hier die Steine darüber? Ich habe eine Probe von oberhalb des Fundes genommen, dieser schwarze Streifen da. Das ist verkohlte Heide, mit Holzstückchen. Lassen sie in Glasgow eine Altersbestimmung davon machen, dann wissen sie es ganz genau.«, meinte der Wissenschaftler noch.
DS Munro nickte nur stumm. Es war also nicht so, wie er es sich erhofft hatte. Neil Sutherland würde wohl für immer verschwunden bleiben, wenn auch die Brille und der Ausweis Rätsel aufgaben, wie alles an dem Fall rätselhaft zu sein schien.
Nachdem sie sich auf der Farm etwas aufgewärmt hatten, der Professor ihnen die Fotos und die Erdprobe mitgegeben hatte, machten sie sich auf den Weg zurück zur Fähre. Sie erwischten gerade so die letzte, die in Richtung Oban ablegte, und DS Munro verbrachte die Nacht in der Hafenstadt, um am nächsten Morgen frisch und ausgeruht nach Glas-gow aufzubrechen. Dort übergab er alles der Gerichtsmedizin.
Es dauerte zwei Wochen, bis sie einen Anruf des Gerichtsmediziners bekamen, der sie zu sich bat.
So saßen Kerr und Munro am Dienstag, dem 21. Oktober, im Büro von Dr. Stevens, dem leitenden Gerichtsmediziner, der sie allerdings etwas warten ließ. Er kam dann schließlich mit der Munro allzu be-kannten Aluminiumkiste und einer Akte.
»Nun meine Herren, sie haben mir da eine ganz schön harte Nuss zu knacken gegeben. Eine wahre Herausforderung für einen Pathologen.«, begann er und schlug die Akte auf. Er hängte zwei Röntgenaufnahmen an den Röntgenschirm.
»Sehen sie, Detective Inspector, wie sie zueinander passen. Das rechte Röntgenbild habe ich von Sutherlands Zahnarzt, das linke habe ich von dem Schädel, den sie auf Mull gefunden haben, gemacht. Dieser Schä-del ist zweifelsohne ihr vermisster Student, was ja auch noch die Brille und der Ausweis bestätigen.«, fuhr er fort.
Munro und Kerr sahen den Arzt fragend an. Sie wussten nicht, was an dieser einwandfreien Identifizierung eine harte Nuss zu sein schien.
»Das ist schön zu hören, Doktor Stevens, da können wenigstens die Eltern von Neil Sutherland etwas beerdigen. Aber was war daran so kompliziert?«, fragte nun der ältere Polizist.
»Warten sie es ab, Alan. Dieser Professor Jamieson aus Edinburgh hatte Recht. Er hatte als Archäologe den richtigen Riecher. Die Altersbestimmung der Schicht über dem Skelettfund ergab ein Alter von rund 200 Jahren. Diese verbrannte Heideschicht stammte ungefähr aus dem Jahre 1780. Ich habe daraufhin eine Altersbestimmung der Knochen machen lassen. Sie wissen ja, dass sie irgendwie alt ausgesehen haben und dass ein solcher Zustand nach nur 6 Monaten nicht möglich sein konnte.«, erneut machte der Pathologe eine Pause.
»Und was haben sie da gefunden? Spannen sie uns nicht länger auf die Folter, Dr. Stevens!«, kam es nun von DS Munro.
»Sitzen sie gut und fest auf ihren Stühlen, meine Herren?«, fuhr der Doktor fort und sah die beiden mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. »Diese Knochen, die der Sturm auf Mull freigelegt hat, sind auch 200 Jahre alt, exakt 230 Jahre!«
Munro und Kerr sahen sich entgeistert an. Wie war so etwas möglich?
»Haben sie sich da nicht getäuscht, Dr. Stevens? So etwas kann doch nicht sein, wie kann ein Skelett so altern. Neil Sutherland wird doch erst seit April vermisst … haben sie das wirklich genau nachgeprüft?«, sprudelte es aus dem wohl vollkommen geschockten Kerr heraus.
»Alan, ich habe genauso dagesessen wie sie, als ich das Fax bekommen habe. Die Ergebnisse sind eindeutig und sie sind von allen Skelettteilen gleich, sogar das Papier des Ausweises weist dasselbe Alter auf. Ich habe das Ganze noch einmal von einem Professor in London nach-prüfen lassen. Der hat sogar mit einem brandneuen Computerprogramm die Schädelfragmente über ein Foto von Neil Sutherland gelegt. Das Ergebnis lässt absolut keinen Zweifel zu. Das Alter der Knochen allerdings bleibt ein Rätsel, das man nicht so leicht lösen kann!«, ver-suchte der Pathologe das Ganze zu erklären.
DS Munro starrte auf den Schädel in der Metallkiste. »200 Jahre alt, das kann einfach nicht sein. Ist es nicht doch ein historischer Schädel?«, warf er ein. Scheinbar konnte er und wollte er nicht glauben, was er da sah und hörte.
»DS Munro, haben sie schon jemals einen Schädel aus dem 18. Jahr-hundert gesehen, der Amalgamfüllungen und Kunststoffkronen hatte, ganz zu schweigen von der Trepanationsnarbe auf der rechten Schädelseite, die haargenau zu der Krankenakte und alten Röntgenaufnahmen von Neil Sutherland passt. Er hatte vor drei Jahren einen schweren Autounfall in Deutschland und lag wochenlang im Koma. Es gibt keine Erklärung für das Alter, jedenfalls habe ich keine gefunden und glauben sie, ich habe mein Möglichstes getan.«, entgegnete Dr. Stevens daraufhin.
»Einen Anhaltspunkt für irgendwelche erhöhte Strahlung oder so haben sie nicht gefunden. Meinem Wissen nach wird das Alter doch mit der C14 Methode bestimmt. Da könnte doch extreme Strahlung auch etwas ausmachen?«, warf nun Kerr ein. DS Munro sah ihn etwas erstaunt an. Solcherlei Interesse für die Wissenschaft kannte er bei seinem Kollegen nicht.
»An so etwas habe ich auch gedacht, aber außer dem Kohlenstoff 14 waren keine anderen Zerfallsprodukte von ionisierender Strahlung vor-handen. Bei einer Verseuchung durch radioaktive Strahlen müssten Jod und Cäsium als Zerfallsprodukte vorhanden sein. Doch wir haben nichts dergleichen gefunden.«, meinte der Arzt dazu.
Als er die immer noch fassungslosen Gesichter der beiden Polizisten sah, fügte er noch bestimmend hinzu: »Diese Knochen mögen ein Rätsel sein für die Wissenschaft, sie mögen Fragen aufwerfen, die keiner beantworten kann. Aber für sie ist der Fall jetzt endgültig gelöst. Neil Sutherland und seine Freundin sind durch einen Unfall ums Leben gekommen. Wenigstens eine Familie kann diesen Gebeinen ein christliches Begräbnis geben.«
»Sie haben Recht, Doktor Stevens. Auch wenn wir nicht alles lückenlos erklären können, wir sind nun in der Lage, der Familie ein Ergebnis vorweisen zu können, obwohl es mir lieber gewesen wäre Neil Sutherland lebend wiederzusehen und nicht als Skelett in einer Blechkiste.«, mit diesen Worten stand Detective Inspektor Kerr auf.
»Übrigens werden die sterblichen Überreste demnächst freigegeben und sie können der Familie sagen, ihr Sohn sei an einer Hirnblutung als Folge eines Schädelbasisbruches gestorben. Vielleicht ist das ihnen ein Trost. Außerdem würde ich nichts über den Zustand der Leiche er-wähnen. Wir versiegeln den Sarg nächste Woche. Es ist besser so, denke ich.«
Nach diesem abschließenden Satz machten sich die beiden Polizisten wieder auf in ihr Büro. DS Munro hatte den Aktenordner des Pathologen mit den Röntgenbildern und allen Laboruntersuchungen unter den Arm geklemmt und legte ihn auf seinen Schreibtisch. Wie in Trance hob er den Telefonhörer und forderte die Akte über den Fall aus dem Archiv an. Detective Inspector Kerr beobachtet ihn dabei etwas verwundert. »Was ist mit ihnen los Lachie?«, fragte er schließlich.
»Können sie das alles so glauben, oder besser gesagt, einfach als gegeben hinnehmen? Ich habe schon immer gewusst, dass diese verfluchten Experimente des Rätsels Lösung sind. Jetzt haben wir den Beweis dafür und dieser Beweis soll einfach so in einem versiegelten Sarg verschwinden und Gras darüber wachsen?«, brachte der Detective Sergeant ziemlich aufgebracht heraus.
»Lachie, sie haben scheinbar nicht richtig zugehört. Dr. Stevens hat keine Erklärung für dieses Phänomen. Atmosphärenmessungen können so etwas nicht bewirken.«, erwiderte sein Vorgesetzter darauf.
»Das waren keine Atmosphärenmessungen, was diese Studenten gemacht haben. Da muss etwas anderes dahinter stecken.«, fuhr dessen ungeachtet der Detective Sergeant fort, nachdem er der jungen Polizis-tin aus dem Archiv die Akte abgenommen hatte, die sie gerade brachte.
»Und wie wollen sie das herausfinden. Sie wissen das Alec Cunningham und Dan Callaghan nicht gerade redselig sind bei diesem Thema.«
»Nun, Alan, vielleicht rücken sie heraus mit der Sprache, wenn wir sie ein wenig schocken.«, meinte Munro darauf. Kerr runzelte bedenklich die Stirn, als er schließlich erklärte, was er vorhatte. Doch er beschloss auf diesen Vorschlag einzugehen und es zu versuchen.
Es war der 23. Oktober, ein regnerischer trüber Tag, als Dan Callaghan ins Sekretariat gerufen wurde, mitten aus einer Vorlesung heraus.
DS Munro bat ihn, zu einer Identifikation in die Stewart Street zu kommen. Dan Callaghan schien geschockt zu sein. Er zermarterte sich sein Gehirn darüber, wen oder was er identifizieren sollte. Was zum Teufel hatte die Polizei gefunden. Beunruhigt ging er zurück in die Vorlesung, der er kaum noch folgen konnte.
Zu gleicher Zeit erhielt auch Alec Cunningham denselben mysteriösen Anruf, auch er wurde aus einer Vorlesung geholt. Allerdings befand er sich auf dem Jordanhill Campus und hatte keine Gelegenheit Dan an-zurufen, dem es genauso erging.
So machten sich die beiden Studenten, jeder aus einer anderen Richtung kommend und zu verschiedenen Uhrzeiten auf den Weg zum Polizeihauptquartier in der Stewart Street in Glasgow. Genau das war der Plan von DS Munro.
Doch der Plan ging nicht ganz auf. Denn Callaghan schien Nerven wie Drahtseile zu haben und nicht einmal die erschreckende Präsentation einer Wasserleiche, die er identifizieren sollte, noch das, was wirklich von seinem Freund und Mitstudenten Neil Sutherland übrig geblieben war, schockierten ihn sichtlich.
Ganz anders reagierte Alec. Er war sichtlich entsetzt und empört und am Ende schob ihn DI Kerr in das Büro des Gerichtsmediziners.
»Sie haben jetzt eine halbe Stunde Zeit das zu studieren. Danach will ich Antworten!«, mit diesem Satz wandte der Polizist sich zum Gehen und zog die gepolsterte Tür hinter sich zu. Man ließ die beiden Studenten allein, um ihnen Zeit zu geben das Erlebte aufzuarbeiten.
Alec Cunningham starrte auf den Aktenordner in seiner Hand und setzte sich langsam, wie in Zeitlupe auf den Stuhl am Schreibtisch der Büros. Er war unter Schock und konnte kaum richtig verarbeiten, was da alles stand. Wie in Trance starrte er auf die Fotos und Laborunter-lagen, unfähig es richtig zu erfassen.
Nicht ohne Absicht hatte Detective Inspector Kerr Alec Cunningham als sein erstes Opfer auserwählt. Er wusste, dass der junge Mann am labilsten war, besonders nach dem Trauerfall in seiner Familie. Allerdings wusste er auch, dass sich Dan weitaus mehr um Neils Schicksal sorgte und es sich sehr zu Herzen nahm. Doch der war erst über das Vorgehen der Polizisten empört, als sie ihn schließlich ebenfalls in das Büro schoben.
Für einen Augenblick stand der bärtige Student fassungslos vor seinem Freund, der noch immer in der Akte blätterte.
»Das musst du dir durchlesen Dan … unbedingt. Sie haben es herausgefunden … es ist alles aus … sie wissen es.«, stammelte Alec noch immer geschockt.
Dan musterte seine Freund mit finsteren Blicken. »Nichts wissen sie, gar nichts. Lässt du dich etwa durch solch eine Komödie aufs Glatteis führen. Diese Knochen da draußen sind nicht Neil, genauso wenig wie diese unappetitliche Wasserleiche, mit der mich der Detective Sergeant schocken wollte.«, fuhr er ihn an.
Stumm schüttelte Alec Cunningham den Kopf. »Lese die Akten durch, hier Dan. Diese Knochen sind Neil … ohne jeden Zweifel!«, erwiderte er daraufhin mit feuchten Augen.
Stumm, aber immer noch mit einem finstern Blick setzte sich Dan neben ihn und begann in der Akte zu lesen. Seite für Seite wurde ihm klar, dass sein Freund recht hatte. Sie waren enttarnt worden. Sollten noch ein paar mehr Wissenschaftler diese Knochen unter die Lupe nehmen, würden sie nur auf eine Erklärung kommen, dass sie das Skelett eines Zeitreisenden vor sich hatten. Doch Dan hatte nicht vor, die Entdeckung, die sie drei gemeinsam erarbeitet hatten, den Mächti-gen der Welt einfach so zu übergeben. Das war es, was er am meisten befürchtete, er wollte nicht, dass es wie viele andere Erfindungen missbraucht werden würde. Weitaus klarer als Alec erkannte er, dass es für diese Veränderung und die Alterung der Knochen keine natürliche Erklärung gab. Es kamen nur ihre Experimente in Betracht und schon immer hatte besonders DS Munro sie in dieser Richtung bearbeitet. Das wurde ihm erst richtig klar als er am Ende eine geschickt getarnte Notiz des Gerichtsmediziners fand, die besagte, dass die Leiche zur Bestattung am kommenden Montag freizugeben sei. Es war also alles ein Finte, um von ihnen die Erklärung, die kein Anderer geben konnte, zu erpressen.
Stumm klappte Dan den Aktenordner zu, nachdem er einen letzten Blick auf das Foto Neils, das mit dem Foto des Schädels überblendet war, geworfen hatte.
»Das ist also aus seinem Ausflug in die Vergangenheit geworden.«, sagte er leise und sah nachdenklich zu seinem Freund Alec.
»Neil hat teuer bezahlt für seinen Leichtsinn, Alec, lassen wir dem nicht noch die Krone aufsetzen, indem wir diesen Polizisten ein Geheimnis anvertrauen, das ein Geheimnis bleiben sollte.«, begann er.
»Sie wissen es doch schon, Dan, was sollten wir ihnen denn noch ver-schweigen. Wie soll man erklären, dass dieses Skelett da draußen Neil ist, ein Skelett das 230 Jahre alt ist!«, erwiderte Alec jedoch noch immer völlig außer sich.
Dan war aufgestanden und lief vor Alec hin und her, um schließlich vor ihm stehen zu bleiben. »Mein Gott, Alec, reiß dich zusammen! Sie wissen nichts, gar nichts! Die Leiche ist zur Beerdigung freigegeben … was heißt, dass irgendwer die Sache unter den Tisch kehren will. Du weißt selber welches Theater Neils alter Herr gemacht hat, weil sie nichts gefunden haben. Nun haben sie etwas gefunden. Der Herr Oberhausabgeordneter kann in einem Sarg etwas beerdigen, den inte-ressiert nicht, wo die deutsche Verlobte seines Sohnes abgeblieben ist. Man hat etwas gefunden, was einen Unfall erklären könnte und damit ist diese Akte nicht länger eine X-Akte und damit vom Tisch. Sie haben gegen uns nichts in der Hand Alec, gar nichts!«, redete er auf seinen Freund ein.
Gerade in diesem Augenblick öffnete sich die Tür und die beiden Polizisten kamen herein. Provokant blieben sie vor den Studenten stehen. »Nun, meine Herren, haben sie diese Akte gut studiert?«, fragte Detec-tive Inspector Kerr ruhig.
Dan Callaghan warf ihm einen finsteren Blick zu und stellte sich hinter Alec, dem er die Hand auf die Schulter legte. »Das haben wir Inspektor, wir haben alles gut verstanden, was hier steht. Aber am besten habe ich verstanden, dass Neil bereits ohne jeden Zweifel identifiziert ist und dass sie uns dieses grausame Spiel, da draußen in der Leichenhalle, hätten ersparen können!«, entgegnete er dem Polizisten, nun wohl mit voller Absicht seinen Titel falsch aussprechend.
»Wenn sie alles so genau studiert haben, meine Herren Studenten der Physik, da werden sie wohl auch die Altersbestimmung gelesen haben und sehen, dass so etwas unmöglich sein kann.«, warf nun Munro ein, der offensichtlich merkte, dass er besser nicht alle beide zur gleichen Zeit die Akte hätte lesen lassen sollen. Noch immer machte zwar Alec Cunningham einen sehr mitgenommenen Eindruck, aber dafür war Dan Callaghan umso forscher.
»Für so etwas gibt es Wissenschaftler, Detective Sergeant, das dürfen sie nicht uns fragen. Ich kann ihnen keine Antwort darauf geben!«, erwiderte nun Dan und forderte seinen Freund auf aufzustehen.
»Wir wollen aber eine Antwort!«, mit diesen Worten versperrte Munro Dan und Alec den Weg.
»Detective Sergeant, sie werden von uns keine bekommen. Diese Akte ist geschlossen. Neil wird demnächst beerdigt werden und er wird dieses Geheimnis mit ins Grab nehmen und wir werden schweigen wie dieses.« Mit diesen Worten zog Dan seinen Freund an dem Polizisten vorbei und öffnete die Tür.
»Übrigens werde ich mich bei ihrem Vorgesetzten über ihr Vorgehen beschweren und das wird sicher nicht ohne Folgen für sie bleiben.«, sagte er noch und drehte sich kurz um.

So geschah es dann auch. DS Munro bekam einen strengen Verweis wegen seines Vorgehens und auch DI Kerr wurde getadelt. Zu allem Überfluss mussten Munro noch nach Inverness fahren, um der Familie von Neil die traurige Nachricht zu überbringen.
Schon oft hatte er dies tun müssen, es war das Schicksal der niederen Ränge. Normalerweise hätte ein Kollege aus Inverness die Familie benachrichtigt, aber das sollte wohl noch eine extra Strafe sein. Immer-hin hatte er ja schon Neil Sutherlands Mutter erlebt, vor einigen Monaten und das hatte ihm gereicht.
Zerknirscht und wütend fuhr DS Munro per Zug nach Inverness. Nachdem er sich eine kleine Pension gesucht hatte, in der er über-nachten wollte, ließ er sich mit dem Taxi zu dem zweistöckigen victorianischen Haus fahren. Hier lebte die Familie des angesehenen An-walts und Oberhausabgeordneten Sir James Sutherland, einem entfernten Verwandten des Earl of Sutherland, der durch sein hartes Vorgehen während der Zwangsräumungen in den Highlands im ver-gangenen Jahrhundert traurige Berühmtheit erlangt hatte. Das Haus war von einem weiträumigen Garten umgeben, der trotz des herbst-lichen Wetters noch schön anzusehen war.
Für den Polizisten passte das Ganze überhaupt nicht zu Neil Sutherlands unordentlichem Zimmer im Studentenheim, oder gar zu dem heruntergekommenen Wohnblock in den Gorbals, in dem seine Ver-lobte wohnte.
Es war schlimmer, als er erwartet hatte. Neil Sutherlands Mutter war von Trauer überwältigt und sein Vater ein Eisblock. Überaus kritisch und zynisch stellte er Fragen, die der Polizist nur mit Mühe beantworten konnte. Als er das Haus schließlich verlassen wollte, wurde er von Neils Schwester angesprochen.
DS Munro wurde allmählich neugierig. Er hatte schon immer geahnt, dass in dieser Familie etwas nicht stimmte. So ging er auch bereitwillig auf Janet Simpsons Vorschlag ein, mit ihr in die Bibliothek zu gehen, da die junge Frau ihm das Auftreten ihres Vaters erklären wollte. Was er dort erfuhr ließ ihn einige Dinge klarer sehen.
Neil war zwar der älteste Sohn und damit Erbe des Hauses und des ganzen Besitzes gewesen, aber nachdem er sich hartnäckig geweigert hatte Jura zu studieren und nach der Pfeife seine alten Herrn zu tanzen, der ihn auch als Nachfolger in seiner angesehenen Anwaltskanzlei aus-erkoren hatte, wurde er von seinem Vater enterbt. Neils Mutter unterstützte ihren Sohn zwar so gut sie konnte, aber er hatte kaum noch Kontakt zu seiner Familie. Selbst nach seinem schweren Unfall in Deutschland kümmerte sich ausschließlich Mrs. Sutherland um ihn. Janet wirkte zwar nach außen hin kühl und gefasst, aber er bemerkte auch wie sehr sie trauerte und dass ihr besonders Andrea Schwarz leid tat. Doch als er versuchte von ihr etwas über Neils mysteriöse Versuche zu erfahren, stieß er auf Unverständnis. Die Geschwister standen sich zwar nahe, aber über sein Studium schien Neil Sutherland nichts erzählt zu haben.
So ließ sich DS Munro schließlich ein Taxi rufen und fuhr zurück in seine Pension. Er verbrachte eine schlaflose Nacht dort. Am nächsten Morgen nahm er dann den ersten Expresszug zurück nach Glasgow. Er hatte sich an einem Zeitungsstand den »Inverness Courier« gekauft und las während der Fahrt darin. Zu seiner eigenen Verwunderung fand er darin schon die Todesanzeige von Neil Sutherland. Er sollte am kom-men den Samstag, dem 25. Oktober, beigesetzt werden – im engsten Familienkreis natürlich.
Draußen vor dem Fenster zog die herbstliche Hochlandlandschaft vorbei. In der Ferne sah er die schneebedeckten Gipfel der Cairngorms. Eine Idee reifte in seinem Kopf bei diesem Anblick.
Am nächsten Morgen meldete er sich krank und rief seinen Onkel in Nairn an. Er wollte übers Wochenende zu ihm fahren. Nairn lag nordwestlich von Inverness und DS Munro hatte vor, sich auf die Beerdigung Neil Sutherlands zu schleichen, weil er hoffte dort Dan und Alec wiederzusehen. Möglicherweise bekam er doch noch Antworten von ihm.
Er wollte und konnte diesen Fall nicht als abgeschlossen akzeptieren, obwohl er auch ganz gut wusste, dass dies ihm seine Karriere ruinieren konnte.
Munro hatte recht mit seiner Vermutung, dass Dan und Alec in Inverness waren. Die beiden waren von Neils Vater zu der Trauerfeier eingeladen worden, was die Studenten doch etwas verwunderte.
Alec Cunningham hatte sich halbwegs wieder gefasst, nachdem er an dem Tag, als er von Detective Inspector Kerr mit Neils sterblichen Überresten konfrontiert wurde, nahe an einem Nervenzusammenbruch war. Erst einen Tag später war er fähig über diese Sache zu sprechen. Sie trafen sich nach der Vorlesung bei Dan Callaghan und sprachen lange wie der Ausflug in die Vergangenheit für Neil und Andrea ausgegangen war.
Dan äußerte allerdings angesichts des Funkspruchs die Vermutung, dass die junge Deutsche diesen Zeitsprung im Gegensatz zu ihrem Verlobten überlebt hatte und er wollte sie unbedingt zurück holen. Er wollte das Wrack der Piper finden und damit die Zeitmaschine. Da halfen keine der Argumente, die Alec anbrachte. Dan konnte es einfach nicht verstehen. Er war verrannt in diese Idee.
So wollte er auch die Einladung zur Beerdigung Neils ausnutzen, um Geld oder irgendeine andere Unterstützung zu erhalten. Doch er stieß dabei auf taube Ohren.
Neils Vater wollte, trotz seines ruppigen Auftretens gegenüber DS Munro und seiner Zweifel an der korrekten Aufklärung des Ver-schwindens seines Sohnes, nichts von weiteren Nachforschungen hö-ren. So wagte es Dan auch nicht ihm etwas von ihrem Projekt zu erzählen.
Neils Mutter, die ja immer als der Geldgeber Nummer eins für ihren Sohn galt, war so verzweifelt und erschüttert, dass Dan ein Vorgehen in diese Richtung sofort ausschloss.
Das Einzige, was blieb, waren Freunde. Sie wollten wenigstens ver-suchen den Verbleib der Piper zu klären.
So fuhren sie am Montag nach der Beerdigung zu einem Freund Alec’s, der einen Fischkutter in Oban besaß. John Ferguson hatte auch eine Tauchausrüstung und anderes Zubehör, mit dem sie auf die Suche gehen konnten.
DS Munro beschattete die beiden Studenten, so gut er konnte. Zwar lief er ausgerechnet Neils Vater in die Arme, als er gerade den Friedhof verlassen wollte, aber sonst blieb er ungesehen. Die sehr provokativ gestellte Frage Sir James Sutherlands, was er denn auch noch hier suche, obwohl die Ermittlungen ja schon abgeschlossen seien, stimmte ihn auch sehr nachdenklich. Er hatte beobachtete wie Dan Callaghan mit ihm gesprochen hatte und aus der Gestik erkannt, dass dieser wohl eine herbe Abfuhr bekommen hatte, worauf ihn sein Freund Alec schnell vom Friedhof zog, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. Der Polizist lag also doch nicht so falsch mit seiner Vermutung, dass an der ganzen Sache etwas nicht stimmte.
So folgte er Alec Cunninghams klapprigem Mini dann am nächsten Morgen von Inverness aus nach Oban.
In der kleinen Hafenstadt war mittlerweile Ruhe eingetreten. Ende Oktober verschlug es kaum noch Touristen in diese Gegend. Die ersten Herbststürme fegten schon übers Land, es war empfindlich kalt geworden und Schnee lag schon auf den Bergen von Argyll. So war es auch nicht eben leicht für DS Munro ungesehen den beiden Studenten auf den Fersen zu bleiben.
Er sah, wie sie sich am Hafen auf den Fischkutter begaben, der dann nach etwa einer halben Stunde ablegte. Gerade als der Polizist sich umdrehte, um zu seinem Auto zurückzugehen, erkannte ihn Rory MacDougal, der Sohn des Fischers, der das Verschwinden der Piper vor dem Connel Airfield gesehen hatte.
»Nanu Detective Sergeant, was treiben sie denn hier?«, kam es in dem gewohnt spöttischen Tonfall des jungen Mannes.
»Ich habe auch mal Urlaub, Mister MacDougal«, antwortete Munro darauf und bot ihm eine Zigarette an.
»Schlechte Zeit für Urlaub.«, meinte Rory und sah hinaus auf die Bucht, wo das Meer eine bleigraue Farbe hatte, fast genauso wie der Himmel darüber.
»Ach, so schlecht nun wieder auch nicht. Es laufen wenigstens nicht so viele Touristen herum und die Luft ist frisch, frischer als in meinem Büro in Glasgow jedenfalls.« Auch Munro sah hinaus auf die Bucht und dem Boot hinterher, mit dem Dan Callaghan und Alec Cunningham den Hafen verlassen hatten.
»Wissen sie wem das Boot gehört Rory?«, fragte er schließlich.
»Also doch nicht Urlaub, Meister?« Der Fischer grinste übers ganze Gesicht.
»Sie täuschen sich, es ist alles rein privater Natur. Der Fall, weswegen wir im Sommer hier waren, ist abgeschlossen. Wir haben einen der beiden Vermissten gefunden, leider tot«, erwiderte der Polizist darauf.
»Das habe ich gehört, drüben auf dem Ross of Mull, nicht wahr«, begann Rory MacDougal schließlich und schnippte seinen Zigarettenstummel ins Hafenbecken. »Aber wenn sie mich so rein privat fragen, will ich ihnen auch antworten. Das Boot gehört John Ferguson, ein junger Kerl. Normalerweise fährt er im Sommer Touristen rüber zum Duart Castle, und gibt Tauchkurse. Es liegen allerhand interessante Wracks im Sound of Mull Detective Sergeant. Sie haben ja sicher schon von dem Spanier gehört, der dort vor etlichen hundert Jahren mit ’nem Haufen Gold an Bord gesunken ist?«, antwortete er schließlich.
»Ist er heute auch auf Schatzsuche?«, fragte der Detective Sergeant weiter.
»Genau weiß ich’s nicht. Aber John hat seine Tauchausrüstung mitgenommen. Ich glaube, er wollte nach Fionnphort«, kam es nun von dem Fischer. Nach dieser Antwort verabschiedete sich der Polizist. Während er dem Fischer jedoch erzählte, dass er sich eine Unterkunft suchen wollte, ging er zum Anleger der Fähre nach Mull, um sich nach der nächsten Überfahrt zu erkundigen, die allerdings erst am frühen Nach-mittag war. So hatte er noch Zeit für einen Imbiss und um sich wirklich ein Bett für die Nacht zu besorgen – dieses jedoch auf Mull.
Das Wetter wurde am Nachmittag noch so, wie es DS Munro liebte, wenn er um diese Jahreszeit in den Highlands unterwegs war. Er hatte keinesfalls dem Fischer einen Bären aufgebunden, denn er machte gerne Urlaub in der ›touristenarmen‹ Zeit. Das Licht war herrlich an diesem Nachmittag. Das Meer lag tiefblau vor ihm, darüber die braunen Berge, mit ihren weißen Schneekappen. Eine frische Brise wehte, kalt und nach Schnee riechend und über allem dehnte sich ein herrlich blauer Himmel.
Der Polizist hatte sich die Adresse des Farmers geben lassen, bei dem auch der Professor aus Edinburgh wohnte, als sie vor wenigen Wochen die Skeletteile gefunden hatten. Der war nicht wenig verwundert, als der Detective Sergeant bei ihm als Gast auftauchte.
Nach ausgiebigem Ausschlafen und einem guten Frühstück machte sich Munro am späten Vormittag auf, um den Strand etwas zu erkunden.
Von Knockvologan, so hieß die Farm, lief er den Weg hinunter zum Strand und dann querfeldein auf einen felsigen Hügel, von dem aus man eine gute Aussicht hatte.
Rechter Hand von ihm erstreckte sich die Insel Erraid, ein Ödland aus Felsen und Heide, wie das gesamte Ross of Mull. Dahinter konnte man die Insel Iona sehen, mit dem merkwürdig geformten Felsbuckel, dem Dun I. Die Häuser sahen aus der Entfernung aus wie Kinderspielzeuge. Zwischen der Insel Erraid und dem Festland verlief ein sandiger Strei-fen. Es war Ebbe, also konnte man die Insel trockenen Fußes betreten und wieder verlassen. Unmittelbar vor ihm am Fuße des Hügels und auch linker Hand lagen mehrere sandige Buchten, die die Ebbe freigelegt hatte. Genau davor ankerte das Fischerboot, mit dem Dan Callaghan und Alec Cunningham von Oban aufgebrochen waren. Eine Boje mit einer roten Fahne markierte die Stelle, wo sie tauchten, die sich etwas näher zum Ufer hin befand. DS Munro fröstelte es in seiner Wetterjacke und dem dicken Pullover, als er nach draußen sah. Mit Sicherheit war das Wasser eiskalt, aber die See war zum Glück ruhig.
Nach einer Weile lief er schließlich hinunter zum Strand und zu jener Stelle, an der die rot-weiße Absperrung, die von dem Archäologen angebracht worden war, noch immer die Stelle markierte, an der man den Schädel aus der Düne geborgen hatte.
Zu Munros eigener Überraschung saß dort Jemand auf einem Stein. Ein junger Mann mit einer gelben Öljacke, Gummistiefeln und einer Wollmütze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. Das Rauschen des Meeres und das Kreischen der Möwen über ihnen übertönten jedes Geräusch, so dass der Fremde sein Kommen nicht bemerkte. Als der Polizist näher kam, sah er, dass der Mann vor sich einen Karte liegen hatte. Auf seinen Knien lag eine Klemmmappe mit einem Stück Papier, auf das er etwas einzeichnete. Immer wieder blickte er zu dem Boot draußen und zur Insel Erraid, wohl um sich zu orientieren.
»Etwas ungemütlich heute, um zu zeichnen.«, sprach DS Munro den Fremden an. Der fuhr herum, ließ vor Schreck seine Zeichnung fallen und in dem Moment erkannte der Polizist ihn. Es war Alec Cunning-ham.
»Was zum Teufel schleichen sie hier herum, Detective Sergeant und erschrecken mich zu Tode. Ist das etwa ihr Hobby?«, fuhr er Munro an.
»Ich gehe hier zufällig spazieren Alec, auch ein Polizist hat mal Urlaub.«, erwiderte dieser ruhig.
»Das können sie erzählen, wem sie wollen, Detective Sergeant. Sie schnüffeln uns nach. Sie können einfach nicht die Finger von dem Fall lassen!«, kam es nun recht erregt von dem Studenten, der seine Zeich-nung aufgehoben hatte, gerade als Munro einen Blick darauf werfen wollte.
»Hätte ich denn einen Grund dafür?«, der Polizist beobachte Alec Cunningham mit einem lauernden Blick.
»Woher soll ich denn das wissen? Offensichtlich suchen auch sie etwas hier. Haben sie denn nicht schon genug gefunden?« Der Student wurde langsam unsicher.
»Ich weiß nicht, was sie gefunden haben da draußen vor Erraid Cunningham? Oder besser, nach was suchen sie? Nach dem Wrack der Piper?«
Sie standen sich wie zwei Streithähne gegenüber. Der Wind ließ die Karte und das Papier in Alec‘s Hand flattern, Möwen flogen kreischend über ihnen.
»Sie haben Recht, Alec, wir haben schon genug gefunden. Wir haben zu viel gefunden. Ein Skelett, das 200 Jahre alt ist, einen Schädel, der Kunststoffkronen und Amalgamfüllungen hat, einen Studentenausweis der Strathclyde University, der 230 Jahre alt ist. Das sind Dinge, die es nicht geben dürfte und sie sind mir darauf eine Antwort schuldig.«, Munro kam einen Schritt näher auf den Studenten zu, während dieser im weichen Sand nach hinten auszuweichen versuchte. Doch so recht gelang es ihm nicht. Er stolperte und der Polizist packte ihn etwas unsanft am Revers seiner Öljacke.
»Ich höre Cunningham! Was zum Teufel lässt eine Piper in einer Art Spektral-Licht verschwinden und das Gewebe von Toten um 200 Jahre altern. Was haben sie bei diesen Experimenten wirklich gemacht?«, zischte Munro den vollkommen verängstigten Alec an, der versuchte sich aus seinem Griff zu winden.
»Lassen sie mich los Detective Sergeant … sie … sie tun mir weh! Sie übertreten ihre Kompetenzen, Mann!«, stammelte er schließlich.
»Es sind meine ganz privaten Kompetenzen, Cunningham, meine ganz privaten Fragen, auf die ich hier eine Antwort haben will. Ich bin nicht Detective Inspector Kerr oder Chief Super Intendant Smith, die solch eine Sache unter den Tisch kehren, weil ein gewisser Sir James Suther-land sie darum bittet. Machen sie den Mund endlich auf Alec!«, allmählich schien Munro die Kontrolle über sich zu verlieren.
Alec Cunningham starrte ihn entsetzt an und schüttelte den Kopf. »Nein, Detective Sergeant und nochmals nein. Sie verstehen das Ganze nicht. Sie werden es nie verstehen! Neil ist hier an diesem Ort ge-storben und Leuten wie ihnen darf das alles nicht in die Hände fallen, niemals Munro, niemals!«, stieß er verzweifelt hervor.
Der Polizist sah in das bleiche Gesicht des Studenten, der den Tränen nahe war und ließ ihn endlich los. Stumm standen sie sich wieder gegenüber.
»Entschuldigen sie, Cunningham.«, brach schließlich Munro das Schweigen und setzte sich auf den Stein, auf dem zuvor der junge Mann gesessen hatte. Er starrte auf die Karten, die im Sand lagen. Es waren eine sehr detailgetreue Wanderkarte und eine Seekarte, die alle Untiefen und Riffe anzeigte.
»Wollen sie sehen was ich gezeichnet habe, Detective Sergeant?«, fragte nun der Student und setzte sich neben ihn.
Stumm nickte der Polizist und sah auf die Zeichnung, die ihn Alec hinhielt.
»Das ist der ungefähre Verlauf der Küste vor 200 Jahren. Ich habe auch noch die Kopie einer alten Karte, wenn sie sehen wollen.«, begann Alec Cunningham. »Hier, wo wir sitzen, war früher, ich meine vor über 200 Jahren Land, so wie hinter uns. Düne, Heide, Steine, Moor und sonst nichts. Jahrhundertelang hat das Meer hier Land gestohlen, bei jedem Wintersturm. Es war nur eine Frage der Zeit, wann es das freilegt, was jemand mühevoll vor langer Zeit hier begraben hat, unter Tränen sicher und voller Verzweiflung.«, fuhr er fort und sah den Polizisten mit einem seltsamen Blick an.
Alec Cunningham barg einen Moment sein Gesicht in den Händen und seufzte. Dann sah er hinaus zu dem Boot und der Boje mit der Tauchfahne, an der man einen Kopf erkennen konnte.
»Ich bin müde, Munro, verdammt müde immer wieder solche Fragen zu hören. Ich kann ihnen keine Antwort geben, die sie verstehen könn-ten, obwohl sie ein gescheiter Kopf sind für einen Polizisten. Dan versucht dort draußen das Wrack der Piper zu finden, da haben sie recht!«, begann er schließlich.
»Also sind sie ins Meer gestürzt?«, warf DS Munro fragend ein.
»Nein, sie haben versucht zu landen. Sie sehen ja, dass Ebbe ist und das hier ein toller Strand. Eine Piper braucht keine lange Landebahn. Sie haben versucht hier zu landen, Detective Sergeant.«, mit diesen Worten tippte er auf seine Zeichnung.
Der Polizist sah ihn etwas verwirrt an. »Sie haben versucht vor 230 Jahren zu landen … soll ich das so verstehen?«, brachte er stockend heraus.
»Verstehen sie, was sie wollen, Detective Sergeant. Ich weiß nur eines: Die Piper ist nicht hier, denn sie muss explodiert sein. Neil und seine Verlobte müssen das überlebt haben, fürs Erste jedenfalls, denn wir haben einen Funkspruch von einem Funkamateur, der das beweist. Einen Funkspruch aus dem 18. Jahnhundert, Munro!«, fuhr Alec Cunningham in seinem seltsamen Tonfall fort.
»So etwas ist unmöglich, Mann! So etwas kann nicht sein!«, entfuhr es dem Polizisten.
»Es ist so manches möglich. Denken sie mal an Wurmlöcher; Zeitverwerfungen, den Hyperraum oder Paralleluniversen. Kaufen sie sich ein Buch darüber oder besser noch eines über das Pasadena Projekt, vielleicht verstehen sie dann«, erwiderte Alec Cunningham sehr ge-heimnisvoll, wobei er einen recht entsetzten Blick des Polizisten auffing.
»Möglicherweise lebt Andrea Schwarz noch, doch sie ist für Nieman-den erreichbar, weder für mich, noch für sie, denn sie ist in der Zeit verschollen«, mit diesen Worten stand der Student auf, holte aus seiner Jackentasche ein Funkgerät heraus und rief das Schiff draußen an.
Nach einem kurzen Wortwechsel mit Dan Callaghan verließ er den Detective Sergeanten, um zurück nach Fionnphort zu laufen, wo ihn sein Freund wieder aufnehmen wollte.
Alec Cunningham ließ den Polizisten ziemlich verwirrt und nachdenklich zurück. Er hatte mehr gesagt, als er sollte, das war ihm bewusst. Doch Alec hatte dieses Versteckspiel satt. Er wusste, dass sein Freund Dan einem Hirngespinst nachjagte. Sie würden nie eine zweite Zeit-maschine bauen können, um Andrea zu retten und er sollte Recht behalten, auf ziemlich tragische Art und Weise.

Alles begann, als sie am übernächsten Tag die Lokalzeitung aufschlugen mit dem Bericht über einen tragischen Unfall auf der Insel Mull, bei dem ein Detective Sergeant der Strathclyde Police getötet wurde. Es war niemand anderes als Lachlan Munro. Er sollte nicht der einzige Tote bleiben, der das Geheimnis der Studenten teilte.
Am 6. März 1987 sank vor Zeebrügge in Belgien eine Fähre. Unter den zahlreichen Toten war Dan Callaghan. Er kam gerade von einem Besuch in Deutschland. Er hatte versucht Andreas Eltern um Hilfe zu bitten, doch es war vergebens. Er fand kein offenes Ohr dort, nur Verzweiflung und Trauer.
So stand Alec Cunningham allein da mit einem Wissen und einer Ent-deckung, für die er die Welt noch nicht reif genug hielt. Er vernichtete alle Unterlagen und Aufzeichnungen über das Projekt. Er brach sein Studium ab und übernahm die Farm seiner Eltern im Glen Coe.
Er wollte nichts mehr davon wissen, wo Andrea Schwarz abgeblieben war, wo sie gelebt hatte, wo sie gestorben war …
Zeit verläuft nicht linear, sie verläuft in einem Kreis … einem unend-lichen Kreis.


Zeittunnel



Glasgow 13.April 1986




Feurig rot erhob sich die Sonne an diesem Morgen über dem Hügelland östlich von Glasgow, mühte sich den Dunst und Nebel über der Clyde Niederung und dem Moloch der Großstadt zu vertreiben.
Es schien ein sonniger klarer Tag zu werden, ein warmer Ausbruch des Frühlings, der hier an der schottischen Westküste eine jede Wiese in ein Meer von Blumen verwandeln konnte.
Eine junge Frau sah aus dem Fenster ihres Appartements im 8. Stock eines Wohnblocks im ehemaligen Arbeiterviertel Glasgows, den Gorbals. Sie war nicht groß, sehr schlank, sie wirkte fast jungenhaft. Während dem sie den Sonnenaufgang beobachtete, band sie sich gerade ihr Haar zu einem Pferdeschwanz hoch.
Auf der Schlafcouch vor ihr räkelte sich ein junger Mann, seine dunkel-blonden, kurzen Haare standen nach allen Richtungen ab. Er zog sich das Kissen über den Kopf und knurrte, wie ein alter Kater. »Mein Gott Andy, mach die verflixte Gardine wieder zu!«, kam es von ihm, im unverkennbaren Highland-Dialekt.
»Sei kein Spielverderber, Neil, es ist so ein schöner Sonnenaufgang. Komm sieh dir das doch mal an. Wann hast du das so zum letzten Mal gesehen?«, erwiderte das Mädchen.
Der Angesprochene setzte sich auf, nachdem er sich umgedreht und das Kissen nach seiner Freundin geworfen hatte. Er betrachtete die junge Frau, die im gleißenden Sonnenlicht des beginnenden Tages vor ihm stand. Neil mochte ihre grünen Augen, die einen extremen Gegensatz zu ihren dunklen Haaren bildeten. Zusammen mit dem schmalen Gesicht und den etwas hervorstehenden Wangenknochen gaben sie ihr etwas Katzenartiges.
Er griff nach Andreas Händen und zog sie zu sich, um sie zu küssen.
»Du bist viel schöner als dieser Sonnenaufgang und im Bett ist es außerdem gemütlicher.«, sagte er schließlich leise.
»Solche Komplimente bin ich gar nicht mehr von dir gewöhnt, Neil.«, sagte das Mädchen leise und schmiegte sich an ihren Freund, der seufzte.
»Ich weiß ja, Andy, dieser Stress ist manchmal sehr belastend und ich weiß, wie schwer dir alles fällt. Du bist hier noch weniger zuhause als ich.«, erwiderte Neil darauf. Schweigen herrschte zwischen den beiden. Jeder hing seinen Gedanken nach und genoss es die Nähe des Anderen.
Andrea Schwarz, fühlte sich wirklich nicht sehr zuhause in Glasgow. Der Alltag war zermürbend und ihre Arbeit in der Notaufnahme der Royal Infirmary hart. Schichtarbeit konnte eine Beziehung sehr be-lasten. Es war nicht alles so, wie sie es sich vor einem Jahr vorgestellt hatte, als sie am Flughafen von Paisley aus dem Flugzeug stieg, mit zwei Koffern, in denen ihr ganzes Hab und Gut verstaut waren.
Sie hatte nicht nur ein hübsches Zimmer und nette Verwandte in Erlangen in Deutschland zurückgelassen, sondern ihr ganzes bisheriges Leben. Nur ungern erinnerte sie sich an den bösen Streit mit ihren Eltern. Auch sie waren zurückgeblieben und damit war jede Chance vertan im Guten wieder mit ihrem Vater zusammenzukommen.
Neil Sutherland ging es genauso, auch er war in Glasgow nur ein Fremder und sein wirkliches Zuhause in Inverness hatte er seit 10 Jahren nicht mehr gesehen. Auch bei ihm war es der Vater, der einen bösen Streit vom Zaune gebrochen hatte. Nicht einmal der schwere Autounfall seines Sohnes vor drei Jahren hatte ihn bewegen können mit Neil auch nur zu reden.
Der Student ahnte nicht, dass die Gedanken seiner Verlobten, die er scherzhaft Andy nannte, weil er ihren Vornamen als zu lang empfand, in die gleiche Richtung gingen.
Andrea sah ihn sinnend an und bettete ihren Kopf auf seiner Brust. Sie lauschte seinem Herzschlag und erinnerte sich daran, in welchem bemitleidenswerten Zustand Neil im Herbst 1983 auf die Intensivstation der Universitätsklinik Erlangen kam, wo sie damals arbeitete. Kaum Jemand hätte ihm zu dem Zeitpunkt, als sie ihn das erste Mal sah, den Hauch einer Chance gegeben.
Sie hob den Kopf und sah den jungen Mann an, der zärtlich mit seinen Fingern durch ihr Haar strich und dabei ihren gerade gebundenen Pferdeschwanz wieder löste. Lächelnd richtete die junge Frau sich wie-der auf und packte beim Aufstehen den Arm ihres Freundes.
»Komm jetzt endlich raus aus den Federn, Neil, wir wollen doch heute noch etwas unternehmen. Wir haben wirklich genug geschmust gestern Abend und heute früh«, kam es tadelnd von ihr, während sie Neil zum Sitzen zog. Der Student seufzte und schlüpfte in seine Shorts, die vor der Couch lagen. »Du hast ja Recht, Andy. Es ist schon spät und wir haben heute wirklich einiges vor.«, mit diesen Worten verschwand er pfeifend im Badezimmer.
Andrea klappte die Couch zusammen, verstaute das Bettzeug darunter und deckte den kleinen Tisch, den sie vor die Sitzgelegenheit gezogen hatte. Als Neil wieder angezogen auftauchte, mit nun ordentlich gekämmten Haaren und seiner Brille, ohne die er sehr schlecht sah, roch es in dem kleinen Appartement nach frisch gebrühtem Kaffee.
Andrea hatte sich eine Kaffeemaschine aus Deutschland mitgebracht und ließ sich von ihrem Bruder regelmäßig richtigen Kaffee schicken, da sie das Instandgebräu der Briten nicht ausstehen konnte. Sie mochte zwar Tee, aber zum Frühstück zog sie einen ordentlichen Kaffee vor. Das war auch der einzige Luxus, den sie sich leistete.
»Was für ein Ausflug wird das heute, Neil? Du hast gestern Abend so geheimnisvoll getan?«, fragte Andrea schließlich, als sie gemeinsam am Tisch saßen.
Neil, der gerade in seinen Toast beißen wollte, hielt inne und sah seine Freundin einen Moment überlegend an. »Ein ganz besonderer, Andy. Wir wollen mit der Piper in die Highlands.«, antwortete er schließlich.
Das Mädchen sah Neil mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an, während sich der Student über den Toast hermachte. »Mit der Piper? Ich dachte, du hast Ferien, oder machst du diese verflixten Versuchsflüge auch in deiner Freizeit.«, kam es nun recht ärgerlich von ihr.
»Nein Andy, ich will es ja nicht übertreiben. Wir haben eigentlich genug Messflüge gemacht, um unseren Forschungsbericht bei Professor Robertson abzugeben. Es wird wirklich ein Ausflug.«, versuchte Neil die Bedenken seiner Verlobten zu zerstreuen.
»Einen Ausflug, Neil? Mit der Piper der Uni und Dan und Alec. So viele Sitze hat die Piper ja gar nicht.«
»Alec und Dan werden nicht dabei sein. Das wird alles rein persönlicher Natur sein, nur du und ich …« Hier unterbrach ein seltsamer Blick Andreas Neils Redefluss.
»Du und ich und die Piper der Strathclyde Universität. Sie gehört doch der Uni und nicht euch, oder …?« Dem Mädchen schien die ganze Sache nicht geheuer zu sein.
»Mein Gott, Andy, du und deine deutsche Gründlichkeit.« Neil Sutherland seufzte und nahm noch einen Schluck Kaffee.
»Deutsche Gründlichkeit! Aber der Kaffee schmeckt dir noch oder?« Andreas Tonfall wurde zunehmend ärgerlicher. Doch als der Student sie über seine Brille hinweg angrinste, verflog das wieder. Sie war erneut auf einen seiner makaberen Scherz hereingefallen.
»Nun ja Neil, auch wenn das mit der deutschen Gründlichkeit ein Scherz gewesen sein sollte, gibt es doch hier trotz der schottischen Schlampigkeit, oder um es mit deinen Worten auszudrücken, deiner keltischen Unordnung, gewiss einige Regeln, an die man sich halten muss.«, fuhr sie dessen ungeachtet im selben Tonfall fort.
»Du hast ja Recht Andy. Wir haben das Flugzeug nur für unsere Mess- und Versuchsflüge zur Verfügung gestellt bekommen. Aber dieser Ausflug soll etwas Besonderes werden und hat etwas mit dem zu tun, was Dan, Alec und ich noch bei der ganzen Sache entdeckt haben.«, erwiderte Neil ruhig darauf, etwas Geheimnisvolles lag in dem Blick, den er Andrea dabei zuwarf.
Das Mädchen schenkte ihnen erneut Kaffee ein und musterte ihren Verlobten nachdenklich. Sie konnte sich keinen Reim auf sein Verhalten machen. Schon seit gut zwei Wochen tat er sehr geheimnisvoll, hatte er sie mehrfach am Nachmittag, nach ihrer Schicht versetzt, weil er irgendwelche Sachen besorgen musste, über die er nicht reden wollte.
»Spann mich nicht so auf die Folter, Neil, du weißt, dass ich solche Geheimniskrämereien nicht ausstehen kann. Es gab schon genug davon in den letzten Wochen.«, kam es nun von ihr und Neil hörte in ihrer Stimme die Neugier.
Das Gesicht des Studenten wurde nun ernst. Er fasste nach Andreas Händen. »Du musst mir ein Versprechen geben, Andy, dass nichts von dem, was ich dir hier sage, diesen Raum verlässt.«, begann er nun ein-dringlicher.
Andrea musterte Neil, der ihr gegenüber saß, aufmerksam und be-merkte den nicht gerade sanften Druck seiner Hände. Ein leichtes Zucken lief über das Gesicht des jungen Mannes, etwas – was ihr Sorgen bereitete. Sie kannte diese seltsamen Zeichen.
»Hast du deine Pillen genommen, Neil?«, fragte sie deshalb im strengen Tonfall einer Krankenschwester.
Neil Sutherland sah sie erschrocken an und zog sein Hände zurück. »Du bist unmöglich Andy, also du weißt doch, dass ich sie immer früh gleich als Erstes nehme, sonst könnte ich hier nicht so ruhig mit dir sitzen. Aber die Sache mit dem Geheimnis ist ernst gemeint. Es darf Niemand etwas darüber erfahren, Niemand hörst du!«, fuhr er jedoch weiterhin eindringlich fort.
Andrea wusste nicht so recht was sie von Neils Anspielungen halten sollte. »Bist du beim Geheimdienst, beim SI5?«, fragte sie ihn schließlich und nun wusste der Student nicht, ob sie es wirklich ernst meinte.
Neil zwinkerte und sah seine Freundin etwas verwirrt an. »Das ist mein Part, Andy. Ich mache sonst hier die Scherze!«, erwiderte er dann und lächelte.
»Aber im Ernst, Andy. Der SI5 würden sich die Finger lecken nach dem, was wir gefunden haben. Es darf nicht in die falschen Hände geraten.«, fügte er jedoch voller Eindringlichkeit hinzu.
Andrea seufzte und sah an Neil vorbei zum Fenster hinaus. »Neil, komm endlich zur Sache und rede hier nicht um den heißen Brei herum‚ ich weiß wirklich nicht mehr, ob ich dich ernst nehmen soll.«, sagte sie schließlich.
»Nun gut, nun wirklich allen Ernstes.«, begann der Student schließlich nach einem Moment nachdenklichen Schweigens. »Wir werden einen ganz besonderen Ausflug machen, mit der Piper. Nicht nur einen Ausflug in die Highlands, sondern einen Ausflug in die Vergangenheit. Wir werden sehen, wie unserer Vorfahren vor einigen hundert Jahren lebten und das live und in Farbe.«, fuhr er dann euphorisch fort.
»Willst du in ein neues Museum?«, fragte das Mädchen nun noch verwirrter als zuvor.
Neil schüttelte den Kopf. »Kein Museum, Andy, wir werden die Wirklichkeit sehen, denn wir werden einen Zeitsprung zurück in die Vergangenheit machen.«, sagte er schließlich.
»So etwas gibt es nicht, das ist nicht möglich. Das gibt es nur in Science-Fiction-Büchern«, widersprach ihm nun das Mädchen recht aufgebracht. Sie fühlte sich gelinde gesagt durch Neil veralbert.
Der seufzte nun und sah seine Verlobte überlegend an. »Du bist eine harte Nuss, Andy.«, meinte er schließlich.
»Wir‚ das heißt Dan, Alec und ich haben etwas entdeckt, was es möglich macht sich innerhalb der Zeit zu bewegen, bisher allerdings nur in der Vergangenheit und wieder zurück. Hier bestätigt sich die Theorie einiger Physiker, dass sich die Zeit nicht linear, sondern in einer Art Schleife bewegt, und man kann nur innerhalb dieser reisen. Es ist uns dreimal bisher gelungen und wir sind von Mal zu Mal besser und genauer geworden.«, erklärte er schließlich.
Andrea sah ihn noch immer recht skeptisch an. »Ich weiß nicht, ob ich das glauben kann, Neil. Wenn ihr das entdeckt habt, dann wären ja schon andere darauf gekommen. Es wäre phantastisch in die Vergangenheit zu reisen, man könnte die Zeit verändern, die Geschichte neu schreiben.«, sagte sie dann nach einer Weile.
»Das könnte man Andy, obwohl man da vorsichtig sein sollte. Du kennst doch diese Geschichte mit dem Zeitparadoxum, wo ein Mann seinen Großvater tötet aus Versehen und damit seine eigene Existenz gefährdet oder unmöglich macht. Es ist gefährlich, die Geschichte zu verändern. Aber ich sehe, du hast darüber schon etwas gehört.«, erwiderte Neil darauf.
»Du hast auch recht mit der Bemerkung, dass da auch schon andere darauf gekommen sind und zwar Studenten der Pasadena Universität in den USA. Es hat uns viele schlaflose Nächte gekostet und das ganze Geld meiner Mutter, das sie mir Monat für Monat zusteckt, ohne dass mein Vater etwas davon mitbekommt. Aber es war eher der Zufall, der uns geholfen hat. Ich kann das Ganze auch beweisen, denn ich habe Fotos von den Zeitsprüngen. Ich zeige sie dir im Studentenwohnheim, dort müssen wir sowieso noch mal hin, bevor wir nach Prestwick raus-fahren.«, fuhr er schließlich fort.
Andrea schüttelte stumm den Kopf. »Wie funktioniert das, rein technisch gesehen, meine ich?«, fragte sie schließlich.
Neil begann ihr nun Einsteins Relativitätstheorie zu erklären und zwar vom Urschleim an. Andrea hörte interessiert zu, obwohl Physik eigentlich nicht gerade ihre Stärke war. Als es allerdings doch etwas komplizierter wurde und Neil begann von der Quantentheorie zu erzählen, unterbrach sie ihn schließlich. »Hör auf Neil, das ist mir zu hoch, das ist mir alles zu theoretisch, nichts zum Anfassen, meine ich.«
»Nun gut, Quantenphysik ist wirklich etwas kompliziert für einen Lai-en, aber du hast sicher schon etwas über schwarze Löcher oder Wurmlöcher gehört, über Materie und Antimaterie.«, fuhr Neil aber weiter fort.
»Na ja, schwarze Löcher, davon habe ich schon gehört. Alles was in ein schwarzes Loch gerät, ist unwiederbringlich verloren und Antimaterie ist auch nicht gerade etwas Positives.«, beantwortete Andrea seine Frage.
»Ja, so wird es in gängigen Science-Fiction-Büchern beschrieben. Aber Physiker vermuten, dass schwarze Löcher mächtige Tore zum Hyperraum und damit Zeit und Raumtunnel zu anderen Sternensystemen oder Paralleluniversen sind. Aber so etwas gibt es nicht nur im Weltall, auch hier auf der Erde findet man solche Gebilde aus Antimaterie, die Schleusen zu anderen Zeiten und Universen bilden. Allerdings sind diese Wurmlöcher mikroskopisch klein. Durch sie kann man sich gewöhnlicherweise nicht bewegen, weil sie oft zu instabil dafür sind, um Dinge oder gar Menschen zu versetzen. Aber manchmal kommt es ganz spontan zu Verdichtungen solcher Wurmlöcher, das sind dann sogenannte Zeitfallen, in denen schon ganze Schiffe und Flugzeuge verschwunden sind. Man vermutet im Bermudadreieck eine solche Raum-Zeit-Falle.«, berichtete Neil weiter und Andrea hörte ihm aufmerksam zu. Sie hatte schon von solchen Sachen gehört und gelesen, denn sie war sehr interessiert an außergewöhnlichen Phänomenen.
»Wir haben bei unseren Messungen auch einige solcher Wurmlöcher entdeckt. Über dem Ben Lomond Massiv und dem Firth of Lorn sind sie besonders häufig, obwohl ich hier noch nie gehört habe, dass wir in Schottland ein Bermudadreieck haben, was allerdings wohl eher daran liegt, dass sich nicht allzu viele Schiffe und Flugzeuge in diese Gegend verirren. Nun ja, wir sind jedenfalls einmal fast in einer solchen Zeit-falle verschwunden. Dan hatte einen Hochfrequenzschwinger an Bord und hat ihn in der Nähe eines Wurmloches eingeschaltet. Wir registrierten plötzlich einige seltsame Werte. Dem Energieabfall nach hätten wir wie ein Stein abstürzen müssen, aber stattdessen schienen sich die Wolken vor dem Flugzeug zu verdichten und schließlich einen rotierenden Tunnel zu bilden. Als Alec auf die linke Tragfläche schaute, bemerkte er, dass sie sich in ein schillerndes Nichts aufzulösen begann. Als wir den Schwinger wieder ausschalteten, verschwand das ganze Phänomen, aber wir bekamen andere Probleme. Der Motor der Piper stockte und stotterte und wir hatten vollkommen die Orientierung verloren, sodass wir auf einem Feld notlanden mussten. Als wir dabei waren, den Motor zu reparieren, kam ein Bauer mit einer Schrotflinte auf uns zugelaufen und forderte uns auf, die Hände hoch zu nehmen und beschimpfte uns dabei als ›Krauts‹. Nach einem Gespräch stellte sich heraus, dass er uns für Deutsche hielt, da er den Flugzeugtyp nicht kannte. Schließlich fragte Dan nach dem Datum und der Bauer antwortete uns, dass es der 9. September 1944 war. Wir waren schockiert und hatten ziemlich zu tun, dem Bauern unser seltsames Auftauchen zu erklären. Als wir wie-der in der Luft waren, wussten wir erst nicht, was wir machen sollten, bis Alec auf die Idee kam, den Hochfrequenzschwinger auf die entgegengesetzte Frequenz einzustellen. Wir kamen zurück in die Zeit, aus der wir gekommen waren, aber wir stellten einen Effekt fest, der es gefährlich machte, in sehr belebtem Gebiet einen Zeitsprung zu wagen. Man bewegt sich auch im Raum dabei. Wir entdeckten das Wurmloch in der Nähe des Ben Lomond, sind auf einem Feld vor Stirling gelandet und am Ende in der Einflugschneise des internationalen Flughafens in Paisley herausgekommen, keine 200 Meter von einer startenden Maschine entfernt. Wir bekamen danach ein viertel Jahr Flugverbot und eine saftige Geldstrafe aufgebrummt.«, berichtete Neil.
Andrea sah ihn lange an‚ als er geendet hatte. Sie wusste, dass ihr Verlobter ein Physiker mit Herz und Seele war und kein Spinner, und dennoch war sie für den Moment sprachlos.
»Ich kann kaum glauben, dass so etwas möglich ist.«, begann sie nach einer Weile. »Habt ihr es noch einmal getan danach, ich meine, einen solchen Zeitsprung gewagt?«, fuhr sie fort.
»Ja Andy, wir hatten ja ein viertel Jahr Zeit uns genauer mit der Sache zu beschäftigen und es ist uns gelungen es halbwegs steuerbar zu machen. Wie gesagt, ist das Gefährlichste eben das Abtriften im Raum, und auch die Zeitabweichung beim Sprung zurück war extrem, denn wir kamen eine viertel Stunde, bevor wir in Prestwick starteten in Paisley an. Das war recht makaber. Zum Glück hat es keiner gemerkt. Aber Dank Alec’s guter Arbeit ist es steuerbar geworden und wir haben mehrere Zeitsprünge gemacht, der weiteste war bis ins Jahr 1864.«, antwortete Neil darauf und sah Andrea abwartend an.
Das Mädchen wirkte leicht abwesend und rührte in ihrem Kaffee. Sie konnte das Ganze nur schwer fassen. Was für Welten würden sich auftun, welche Gefahren hatte das Ganze? Sie musste an diese Zeit-Paradoxon denken, von dem ihr Neil berichtet hatte. Wenn man seine eigene Existenz auslöschen konnte, was konnte man sonst noch an-richten oder gar so nachhaltig ändern, dass sie diese Welt nicht wieder erkennen würden.
»Wie weit willst du zurückgehen?«, fragte sie dann plötzlich.
»Bis ins 18. Jahrhundert, genauer gesagt bis 1752, wenn wir es so exakt schaffen wie das letzte Mal.«, antwortete Neil darauf.
Andrea runzelte bedenklich die Stirn. Was für eine Zeit war das in den schottischen Highlands? Sicher keine besonders schöne. »Da brauchen wir doch noch die passende Kleidung, ich habe doch gar nichts der-gleichen anzuziehen. Schließlich kann man da doch nicht in Jeans und Anorak auftauchen.«, kam es dem Mädchen plötzlich in den Sinn.
Neil lächelte vielsagend. »Das ist typisch Frau! Die erste Sorge gilt der Kleidung. Aber keine Angst, Andy, ich habe etwas Passendes für uns organisiert. Aber bis zum Flughafen solltest du dir eben Anorak und Jeans anziehen. Es wird zwar langsam Frühling, aber es ist noch immer recht frisch. Es wäre auch seltsam in Kleidung aus dem 18. Jahrhundert nach Prestwick zu fahren. Packe einfach etwas zusammen, was für einen Ausflug in die Highlands am besten passt.«
»In die Highlands?«, kam es nun sinnend von Andrea.
»Ja, in die Highlands, da fallen wir am wenigsten auf. Ich meine, ich kann in einer dünn besiedelten Gegend die Piper landen und wir könnten uns umschauen, um dann auch wieder ungesehen zu verschwinden, ohne irgendwelche Schäden an dem Lauf der Geschichte angerichtet zu haben. Es ist auch über den Highlands am unwahrscheinlichsten, dass wir luftverkehrstechnische Probleme bekommen, so wie über Edinburgh oder Glasgow.«, erklärte Neil ihr.
Sie sprachen noch einen Weile über die Vergangenheit, in die sie reisen wollten, dann räumte Andrea etwas auf und packte einige Sachen ein. Sie nahm unter anderem auch ihren Pass mit, obwohl sie selber nicht so recht wusste, warum. Mit Sicherheit gab es im 18. Jahrhundert keinen Zollbeamten, der ihren Reisepass sehen wollte. In den Rucksack packte sie auch noch ihre Kamera und den Walkman ein, samt einigen Kassetten.
Zu Fuß machten sie sich schließlich auf zu Neils Zimmer im Studentenwohnheim. Das Haus war neu und ihr Verlobter hatte auch den relativen Luxus, ein Zimmer mit Bad allein zu bewohnen. Sie hätte dort auch mit einziehen können. Doch Neils keltisches Erbe, seine chronische Unordnung, hielt sie davon ab und noch eines, was sie als großer Makel bei Neil empfand, seine Nikotinsucht. So sehr sich Andrea auch abmühte, sie konnte ihm beides nicht abgewöhnen, obwohl er es schon einmal fertig gebracht hatte fast einen Monat nicht zu rauchen. Wenn sie zusammen waren, hielt sich Neil immer sehr zurück, da er wusste, dass das Mädchen so dagegen war, aber in seiner ›Studentenbude‹ und besonders, wenn er am Computer saß, frönte er dieser Sucht mit Hingabe.
Als Andrea das Fenster aufriss und Anstalten machte aufzuräumen, hielt Neil sie mit einem ärgerlichen Blick davon ab. »Bitte heute nicht, Andy, dafür ist ein anderes Mal Zeit. Wir haben zum ersten Mal seit einem halben Jahr Urlaub zusammen, da sollten wir die Zeit nicht mit so etwas verschwenden.«, bat er und umarmte das Mädchen zärtlich.
Andrea schob ihn sanft von sich und sagte mit gespielter Empörung: »Du und deine verdammte Unordnung! Ich möchte wissen, wie du hier etwas finden kannst?«
»Diese Unordnung hat System, Andy. Sie ist mein keltisches Erbe. Immerhin bin ich ein Highlander.«, entgegnete Neil ebenfalls lächelnd.
»Du siehst schon aus wie ein Highlander!«, mit diesen Worten fuhr das Mädchen ihm durch die kurzen dunkelblonden Haare und brachte seine mühselig gerichtete Frisur vom Morgen durcheinander.
»Es fehlt nur noch, dass du behauptest eines Königs Namen zu tragen.«, fügte sie hinzu.
»Nein, das kann ich leider nicht behaupten. Ich trage nur eines Dukes Namen und der hat sich in der Vergangenheit leider nicht gerade mit Ruhm bekleckert.«, erwiderte Neil und schüttelte stumm den Kopf.
Er holte aus einer Ecke einen seltsamen Rucksack, der von außen aussah wie ein Leinensack, aber bei näherem Hinsehen mit Folie wasserdicht ausgeschlagen war und einen doppelten Boden hatte. Es war eine Art Seesack, wie man ihn bei der Marine benutzte, allerdings auf alt getrimmt.
Dann holte der Student aus dem Einbauschrank die historischen Kostüme heraus. Zu Andreas Verwunderung hatte er auch für sie, neben einem recht einfachen Kleid, Kniebundhose, Hemd, Halsbinde und Gehrock besorgt.
»Soll ich etwa als Junge herumlaufen?«, fragte das Mädchen recht verwundert.
»Ja und nein, Andy. Sollte es nötig sein, würde ich dich lieber als Junge sehen. Es kann gefährlich werden als Frau in den Highlands zu dieser Zeit.«, meinte Neil darauf.
»Nun probiere das Kleid wenigstens einmal an, damit ich dich darin bewundern kann. Wolltest du so etwas nicht schon immer mal anziehen?«, fügte er noch hinzu.
Andrea nahm das Kleidungsstück, betrachtete es kritisch und runzelte die Stirn. »Da musst du mir aber helfen, ich trage ja sonst keine Kleider und dieses vorsintflutliche hier ist bestimmt nicht einfach zu handhaben.«, sagte sie schließlich.
Neil half ihr und betrachtete voller Bewunderung das Mädchen, als sie fertig war. »So etwas muss man im Bild festhalten. Andrea Schwarz im Kleid. Ich dachte, so etwas würde ich nicht einmal zu meiner Hochzeit sehen.«, mit diesen Worten kramte er seine Sofortbildkamera aus einem Regal hervor und machte ein Foto, obwohl Andrea lautstark demonstrierte. »Nun musst du aber auch die Sachen anziehen, damit wir zeitgemäß zueinander passen.«, meinte sie schließlich.
Neil gehorchte aufs Wort und zog sich ebenfalls um.
Sie gaben wirklich ein hübsches Pärchen ab, dachte Andrea, als sie das fertige Bild, das der Student mit dem Selbstauslöser geschossen hatte, betrachtete. In Gedanken legte sie es zurück auf Neils Schreibtisch, auf dem das übliche Chaos herrschte. Dabei stieß sie an einen Stapel Dis-ketten, der zu Boden stürzte.
»Bringe mir meinen Schreibtisch nicht durcheinander.«, kam es tadelnd von Neil, der die heruntergefallenen Disketten aufhob und zurücklegte, wobei er allerdings das Foto darunter vergrub.
Nachdem Neil die Kleidungsstücke in Andreas Rucksack verstaut hatte, machten sie sich auf den Weg zu einem kleinen italienischen Restaurant in der Nähe des George Squares. Neil meinte, sich erst einmal stärken zu müssen, da er wenig Hoffnung hatte in der Vergangenheit einen Pub zu finden, in dem man etwas Vernünftiges zu essen bekommen konnte.
Als sie dann endlich mit ihrem Gepäck im Zug nach Prestwick saßen, war es schon fast zwei Uhr nachmittags
Dort angekommen, führte Neil Andrea in den Bereich, in dem die Privatmaschinen standen und gewartet wurden. Er suchte in einem Han-gar nach Ian Wilson, dem Aushilfsmechaniker. Er sollte die Piper noch einmal durchsehen, bevor sie sich auf die wohl doch riskante Reise be-geben wollten.
In der großen Werkstatthalle fand er den Mann schließlich.
Ian Wilson war ein kleiner, schmächtiger Mann mit Halbglatze, der um die vierzig sein musste.
Ian war gerade mit dem Ausbau eines Motors beschäftig, den er mittels Flaschenzug aus einer mächtig verbogenen Sportmaschine herausgehoben hatte. Ein zerborstener Propeller lag unmittelbar daneben.
»Ich wünsche dir einen schönen Sonntag.«, begrüßte Neil den Mann.
Dieser drehte sich erschrocken um und warf Andrea und dem Studenten einen finsteren Blick zu. »Mag ja schön für dich sein, aber nich‘ für mich.«, kam es in breitestem Glaswegian von dem Mechaniker, einem Slang, der in Glasgow gesprochen wurde und den man als Fremder kaum verstand.
Neil kam etwas näher und betrachtete stirnrunzelnd das Flugzeug.
»Wer hat den die Cessna so zerlegt?«, fragte er schließlich.
»Einer von den Geldsäcken, er hat die Kurve nich‘ gekriegt beim Han-gar sieben. Jetzt darf ich mir den Sonntag um die Ohren schlagen mit dem Schrotthaufen.«, antwortete Ian Wilson knurrig.
»Ihm ist doch nicht etwa etwas passiert, dem Geldsack, meine ich?«, fuhr Neil fort mit einem spitzbübischen Lächeln im Gesicht
»Er hat sich den Kopf gestoßen. Ich hoffe allerdings nicht so sehr, dass er vergisst ein ordentliches Trinkgeld für diese Arbeit zu geben.«, kam es zynisch von dem Mechaniker. »Aber so eine Kopfnuss ist bei den Blaublütigen gelegentlich sehr gesund.«, fügte er dann noch hinzu, was wohl eine Anspielung auf Neils Abstammung sein sollte.
Der Student nahm es gelassen, er verstand Spaß, wenn auch Andrea es gelegentlich makaber fand. Doch beide lachten schallend auf Ians Anspielung.
»Du bist mir ein Spaßvogel, Ian!«, meinte Neil darauf, als er sich wieder beruhigt hatte.
»Ach Mann, mir ist aber gar nicht nach Spaß zu Mute.«, kam es nun von dem Mechaniker, begleitet von einem Seufzer.
Neil kannte allzu gut die Sorgen des Mannes, die Probleme mit seiner Frau, er wusste von den Raten seines Reihenhauses, wegen denen er sich seine freien Wochenenden um die Ohren schlug, um der Zwangsversteigerung zu entgehen. Deshalb hing bei ihm wohl auch öfters der Haussegen schief und so schien es auch an diesem sonnigen Frühlingswochenende zu sein.
»Ärger zu Hause Ian?«, fragte Neil vorsichtig.
»Ärger? Wenn es so weiter geht, werde ich nicht nur dieses verflixte Haus, sondern auch noch meine Familie verlieren. Seit meine Frau nicht mehr voll arbeiten kann, ist es kaum noch zu schaffen. Aber sie weiß nichts davon.«, redete sich der Mechaniker die Sorgen vom Herzen.
»Du solltest deiner Frau reinen Wein einschenken, Ian, es hat keinen Sinn ihr das alles zu verschweigen. Sie denkt doch sicher, du hast ein Verhältnis hier draußen.«, versuchte Neil ihn mit dieser Anspielung et-was aufzumuntern.
»Das habe ich auch, allerdings eines zu ölverschmierten Motoren und verstopften Benzinleitungen.«, nun lächelte der Mann wieder.
»So ist das Leben, Ian.«, mit diesen Worten legte Neil lächelnd seinen linken Arm um Andreas Schulter. »Mir geht es auch nicht viel besser. Ich habe zwar blaublütige Verwandtschaft, aber keine Kohle und meine Kleine hier schuftet in Schichten, um ihre Einzimmerwohnung in einem verflixten Hochhaus zu bezahlen. Dabei sehen wir uns kaum. Hat sie frei, bin ich in der Uni und an den Wochenenden muss sie als Krankenschwester auch arbeiten. Das ist verdammt hart.«, fuhr nun Neil fort, dem Mechaniker sein Leid zu klagen.
»Ach ja, das verfluchte Geld.«, meinte dieser nur lapidar dazu und betrachtete Andrea aufmerksam.
»Aber man braucht es schon, denn von Luft und Liebe allein kann man nicht existieren.« sagte das Mädchen darauf.
»Sie sind nicht von hier, Miss?«, fragte Ian Wilson nun.
Andrea fühlte sich getroffen. Sie gab sich die größte Mühe den Dialekt der Einheimischen anzunehmen und obwohl sie sehr gut Englisch sprach, würde sie es wohl nicht in Jahrzehnten beherrschen, um wie ein echter Glaswegian zu klingen. Das ärgerte sie immer wieder.
»Man hört es wohl?«, fragte sie zerknirscht. »Ich gebe mir ja große Mühe, aber der Dialekt ist doch etwas schwierig. Ich komme aus Deutschland.«, versuchte sie noch zu erklären.
»Sie ist die nette Krankenschwester, die mich dort drüben wieder auf die Beine gebracht hat, Ian.«, fügte Neil noch hinzu und zog das Mädchen sanft an sich.
Der Mechaniker nickte stumm, er schien die Geschichte zu kennen. Doch als Neil ihn schließlich bat die Piper noch einmal zu checken, war er nicht sonderlich begeistert. »Ich habe sie doch erst gestern mit Dan Callaghan durchgesehen.«, meinte er sichtlich misstrauisch dazu.
»Ian bitte, ich möchte mit meinem Mädchen hier eine kleine Extratour in die Highlands machen, es wäre fatal, wenn da etwas schief geht«, meinte der Student schließlich bittend und drückte dem Mechaniker eine Zehnpfundnote in die Hand.
Der starrte einen Moment verwundert auf das Geld und dann in Neils Gesicht. »‘Nen’ Privatausflug also, lass das mal nich’ deinen Professor hören, der dreht am Rad, wenn er das mitbekommt!«, meinte er dann und willigte schließlich ein.
Gemeinsam mit Neil kontrollierte er das kleine zweisitzige Sportflug-zeug auf Herz und Nieren, während Andrea etwas unschlüssig und sichtlich nervös daneben stand. Ihr war doch etwas ängstlich zu Mute, angesichts der Tatsache, dass sie bald eine Reise in die Vergangenheit antreten sollte. Das war nicht nur aufregend, sondern eher unfassbar.
Eine halbe Stunde später rollte die Piper der Strathclyde Universität auf eine der Startbahnen des Flugplatzes von Prestwick. Neil startete in Richtung Südosten, flog eine kleine Schleife und dann hinaus auf das Meer, den Atlantik, überquerte die Insel Arran und schließlich die Clydemündung, um Kurs in Richtung Norden zu nehmen, hinein in die Highlands.
Stumm lauschte Andrea dem Wortwechsel mit dem Fluglotsen, der Neil Schritt für Schritt aus dem Ballungsgebiet Glasgow herausbrachte, weg von den offiziellen Verkehrsrouten der großen Flugzeuge und des Internationalen Flugplatzes in Paisley.
Das Mädchen saß hinter Neil, da in der Piper die beiden Sitze hinter-einander angeordnet waren. Sie hatte üblicherweise keine Flugangst, doch die leichte Maschine war weitaus mehr als ein Verkehrsflugzeug der Thermik ausgesetzt und es wackelte ziemlich stark, besonders wenn Neil steile Kurven flog. Um sich abzulenken, sah Andrea aus dem Fenster, hinunter auf die grüne Landschaft und unwillkürlich schweiften ihre Gedanken ab. Sie musste daran denken wie sie Neil das erste Mal gesehen hatte, denn Kennenlernen konnte man das eigentlich nicht nennen.

Andrea war damals gerade Zwanzig und mit ihrer Ausbildung fertig geworden. Sie arbeitete auf der Neurochirurgischen Intensivstation der Universitätsklinik Erlangen. Es war ein Glücksgriff gewesen, dass sie dort gelandet war, denn freie Stellen auf der Intensivstation waren rar und man nahm höchst selten Schwestern, die gerade ihre Ausbildung beendet halten. Doch sie hatte sich während dieser als belastbar und sehr interessiert gezeigt und war deshalb auf die freie Stelle einer schwangeren Kollegin gekommen, befristet für zwei Jahre. Und damals, nach gerade einem Monat zweifelte Andrea bereits, ob sie es länger als diese zwei Jahre aushalten würde. Die Belastung war enorm, nicht nur durch die Schichten und die körperliche Anstrengung. Seelisch war die Anhäufung menschlichen Leides weitaus schwerer zu verkraften und der Tod war ein ständiger Begleiter geworden.
Das Mädchen hatte lernen müssen, nicht mit jedem Patienten zu leiden und zu sterben. Man musste gelegentlich eine Wand um sich herum bauen, um sich zu schützen. Viele der Patienten waren jung und hatten ihr ganzes Leben noch vor sich und plötzlich wurden sie durch einen Unfall oder einen Tumor zu schwerkranken Pflegefällen, unfähig auch nur eine Bewegung selbst zu machen. So wie Neil, damals an jenem verhängnisvollem 21. November 1982.
Zuerst war Neil einer von vielen Patienten gewesen und obwohl Andrea schon immer ein großes Interesse an Schottland hatte, wollte sie Bekanntschaft mit den Bewohnern des Landes eher in einem Pub in Edinburgh machen.
Aber irgendwie widmete sie sich doch mehr dem ins Wachkoma gefallenen Studenten, als es üblich war. Am Ende zweifelte sie nicht da-ran, dass es ihre stete Zuwendung und Ansprache war, die Neil aus seinem dunklen Gefängnis heraus holte.
Doch damit war es nicht getan, denn der junge Student litt grauenvoll unter den Schäden, die er zurückbehalten hatte. Ein Sprachdefizit, ständige epileptische Anfälle und eine Halbseitenlähmung hatten ihn zu einem Pflegefall gemacht. Doch auch hier endete Andreas Hilfe nicht.
Allerdings hatte sie damals mit einer ziemlich heftigen »Beziehungskiste« zu kämpfen. Seit fast einem Jahr teilte sie sich damals eine Wohnung und ihr Leben mit Peter Machner, einem jungen Ingenieur, der bei Siemens arbeitete. Er war fast zehn Jahre älter als sie und sehr eifersüchtig. Allerdings war ihre Beziehung damals schon schwer in der Krise. Andrea wollte weder Kinder, noch heile Familie spielen. Sie war zu jung für solche festen Pläne, etwas, was Peter nicht verstand. Für sie hatte das Leben gerade erst angefangen und sie wollte es erst genießen, soweit das ihr Dienst im Krankenhaus zuließ.
Als sie sich allerdings derart intensiv um einen Patienten kümmerte und das noch nach ihrer Dienstzeit, gab es ständig Streit, sodass Andrea schließlich kurzerhand zu ihrer Tante zog, die ein Zimmer frei hatte. Damals hatte es angefangen, obwohl es zuerst mehr Mitleid war, etwas, was Andrea nur schwer zugeben wollte. Doch es wurde mehr, mehr als sie sich selber zugestand.
Lächelnd schaute das Mädchen aus dem Flugzeugfenster hinaus auf die Berge und Hügel unter ihnen.
»So schweigsam, Andy?«, unterbrach Neil ihre Gedankengänge und drehte sich kurz um.
»Ich musste daran denken wie das damals alles angefangen hat, im Frühjahr Dreiundachtzig.«, erwiderte Andrea.
»Hm … wie es angefangen hat. Es war schon seltsam. Ohne dich hätte ich das alles nicht geschafft Andy. Noch nie habe ich von einem Mädchen so wenig gewollt und so viel bekommen.«, kam es nun von dem Studenten, der sich erneut umdrehte und vielsagend lächelte.
»Viel bekommen?«, wiederholte das Mädchen verwundert. Sie wusste nicht, auf was Neil hinaus wollte.
»Na, diese letzte Nacht, bevor ich in die Schweiz musste. Damit hätte ich am allerwenigsten gerechnet.«, antwortet Neil und versuchte Andrea zu küssen, wobei das Flugzeug allerdings gefährlich zu schwanken begann.
»Neil, höre mit dem Unsinn auf, ich will noch ein wenig leben!«, entfuhr es dem Mädchen in ängstlichem Tonfall.
Neil drehte sich wieder um und sah hinunter auf die Berge unter ihnen, während Andrea erneut zurückdriftete in die Vergangenheit mit ihren Gedanken.
Nicht nur ihr Freund wurde damals zu einem Problem und bis zu dem letzten Tag in Deutschland, oder besser der letzten Nacht von der Neil gesprochen hatte, war es ein langer steiniger Weg.
Neil machte damals schnell Fortschritte, fast zu schnell. Binnen eines Monats war er soweit, dass er eigentlich in eine Rehabilitationsklinik in der Schweiz verlegt werden konnte. Das hatte Neils Mutter organisiert.
Er konnte sich im Rollstuhl recht gut fortbewegen, lief schon ein paar Schritte. Sprachlich ging es auch vorwärts; er konnte mittlerweile so gut Deutsch, dass es mit dem Pflegepersonal und den Mitpatienten kaum noch Probleme gab.
Am Ende machte Andrea Schluss mit ihrem Freund und widmete sich fast ausschließlich dem schottischen Studenten. Fast jeden Tag, fuhr sie Neil mit dem Rollstuhl im Park spazieren und als er halbwegs anfallsfrei war, auch in der Stadt. Auf Bitten ihres Onkels und ihrer Tante, die eine Schwester ihres Vaters war, brachte sie ihn schließlich auch am Nachmittag mit nach Hause, später sogar am Wochenende, wenn sie frei hatte.
Die beiden waren sehr tolerant, ihre Tante war eben das ganze Gegenteil ihres sehr konservativen Vaters. Seit ihre Söhne ausgezogen waren, fühlte sich Tante Regina sehr allein, besonders weil ihr Onkel Fritz öfters auf Reisen war. So waren Andrea und Neil eine willkommene Abwechslung für sie. Tante Regina mochte Neil besonders, weil er so höflich und zuvorkommend war, ein richtiger »Gentleman«, wie sie es ausdrückte.
Aber auch Andreas Onkel war vernarrt in Neil. Wenn er zuhause war, saßen die beiden oft stundenlang am Computer und fachsimpelten. Andrea nervte das zwar etwas, aber sie begriff allmählich, dass Neil damit sein verloren geglaubtes Physikwissen wieder hervorholte und endgültig aus seinen Depressionen heraus kam.
Anders sah es allerdings mit Andreas Eltern aus. Ihre Mutter hatte zu-hause nichts zu sagen und ihr Vater war alles andere als tolerant. Es hatte ihm schon nicht gefallen, dass Andrea nach ihrer Ausbildung in Erlangen geblieben war und nicht zurück nach Ludwigstadt, einer kleinen Stadt im Zonenrandgebiet, in der Nähe der Grenze zu Ostdeutschland, gekommen war.
Peter war ihrem Vater schon ein gefälliger Schwiegersohn gewesen, wenn er auch dessen Hoffnungen nicht erfüllte, denn er suchte einen Mann für seine Tochter, der den Bauernhof weiterführte, nachdem Andreas Zwillingsbruder André schon mit Frau und Kind nach Norddeutschland gezogen war Als er aber nun erfuhr, dass Andrea Peter den Laufpass gegeben hatte und sich dafür einen ausländischen Studenten im Rollstuhl angelacht hatte, hing der Haussegen mächtig schief.
Mehrmals hatte Andreas Vater schon deswegen angerufen und ihr ins Gewissen geredet, ihre Mutter dagegen war nicht so drängend, eher verständnisvoll. Doch sie merkte auch wie sehr sie unter Druck stand und dass es zuhause wohl großen Krach deswegen gab. Zum Glück hatte Andrea Onkel Fritz und Tante Regina auf ihrer Seite, die sich sehr für sie einsetzten, so dass sie hoffte, die Sache mit ihren Eltern im Guten klären zu können. So machte sie sich auch große Hoffnungen, als sie beide Ende Mai übers Wochenende von ihren Eltern eingeladen wurden. Mit dem Zug fuhren sie nach Ludwigstadt, wo sie am Bahnhof von ihrem Vater abgeholt wurden. Er brachte sie mit dem Auto nach Ebersdorf, einem kleinen Dorf im Frankenwald, in dem Andrea aufgewachsen war und sich der Hof der Familie befand.
Neil war mittlerweile soweit, dass er mit Gehhilfen laufen konnte, wenn es auch nur ein paar Schritte waren; auch seine Anfälle hatte er halbwegs unter Kontrolle.
Andreas Eltern hatten einen sogenannten Nebenerwerbshof, was hieß, dass ihr Vater in Ludwigstadt als Schlosser arbeitete und die Hauptlast der Arbeit auf ihrer Mutter lag, die vor allen Dingen die Kühe und Schweine versorgte, während der Vater erst am Nachmittag und Abend mit zugreifen konnte. Das Wohnhaus war vor ein paar Jahren renoviert worden und der Hof noch gut in Schuss, obwohl er schon fast 150 Jahre alt und im Besitz der Familie war. Andreas Vater hatte zwar schon mit dem Gedanken gespielt alles zu verkaufen und eine kleine Wohnung in Ludwigstadt zu nehmen. Doch er empfand es als eine Schande die Tradition der Familie Schwarz aufzugeben. Allerdings fühlte er sich von seinen Kindern im Stich gelassen und die Aussicht, dass seine einzige Tochter nun mit einem Studenten aus Glasgow zusammen war, der wohl zu allerletzt daran dachte einen Bauernhof im Frankenwald zu übernehmen, ließ ihn nicht gerade jubeln. Entsprechend reserviert trat er auf, besonders als er sah, dass der junge Mann im Rollstuhl saß.
Doch Andreas Hoffnungen auf ein friedliches Wochenende wurden schon auf der Fahrt vom Bahnhof in Ludwigstadt nach Ebersdorf jäh zerschlagen. Ihr Vater redete nur das Notwendigste und beachtete Neil kaum.
Das war etwas, was den Schotten sehr belastete. Er selbst hatte wenige Tage zuvor schon einen, wenn auch nur telefonischen Zusammenstoß mit seinem eigenen Vater gehabt. So eskalierte das Ganze am Ende, da Andreas Vater nur auf Streit aus war und keinesfalls auf Verständigung. Neil erlitt einen epileptischen Anfall und sie mussten Hals über Kopf wieder abreisen.
Der Bekannte einer Freundin fuhr sie zurück nach Erlangen, wo Andrea den jungen Mann stehenden Fußes im Krankenhaus abliefern wollte. Doch als sie mit ihrem Gepäck vor der Tür standen, bat Neil sie diese Nacht bei ihr bleiben zu dürfen und Andrea war im ersten Moment sprachlos.
Das Mädchen zögerte einen Moment. Sie wollte auch nicht allein bleiben, denn sie fühlte sich hundeelend. Sie brauchte Jemanden, an dem sie sich anlehnen konnte und dieser jemand, so fühlte sie damals, konnte kein Anderer als Neil Sutherland sein.
Obwohl Andrea als Krankenschwester Bedenken hatte, nach dem doch recht heftigen Anfall, nahm sie Neil mit zu sich in ihr Zimmer bei der Tante und dem Onkel, die übers Wochenende ebenfalls verreist waren.
Es war nicht jene erste Nacht, von der Neil geredet hatte. Sie lagen nur beieinander, hielten sich fest und streichelten sich, um die Nähe des Anderen zu fühlen – um zu reden.
Doch die Zeit des Abschiedes rückte immer näher und es fiel Andrea alles andere als leicht, ganz zu schweigen von Neil. Er wagte es kaum dem Mädchen die schlechte Nachricht zu überbringen.
Erst einen Tag bevor er abreiste, erfuhr Andrea davon und das nur durch Zufall, da sie Neil beim Zusammenpacken seiner Sachen überraschte. Sie war zuerst ziemlich enttäuscht und beleidigt. Doch am Ende trat der bittere Abschied doch mehr in den Vordergrund und sie suchten bei einem Ausflug nach Nürnberg sich das Ganze irgendwie leichter zu machen. Eben an jenem Abend sprang der letzte Funke über und in dieser Nacht schliefen sie das erste Mal miteinander, was aber zugleich das letzte Mal war, für eine sehr lange Zeit.
Neil verließ am 26. Juni Deutschland und ließ Andrea sehr verloren und einsam zurück. Er rief zwar regelmäßig an und schrieb ihr, doch so recht glaubte Andrea damals nicht an eine dauerhafte Beziehung. Die Entfernung war einfach zu groß.
Als Neil dann im Oktober in eine Spezialklinik in der Nähe von London verlegt wurde, trafen sie sich dort für ein paar Tage, doch das verstärkte die Sehnsucht nacheinander noch mehr.
Ende des Jahres, also fast ein Jahr nach seinem tragischen Unfall schrieb sich Neil in einen Vorbereitungskurs für die Strathclyde Universität in Glasgow ein. In dieser Zeit kam nur noch sehr selten ein Brief und auch die Anrufe waren spärlicher geworden, bis dann im Frühsommer 1984 totale Funkstille herrschte.
Andrea war in dieser Zeit sehr in sich gekehrt. Ihre dunklen Vorahnungen, was diese Beziehung über eine so weite Entfernung anging, schienen sich zu bestätigen.
Doch dann kam Ende Juli plötzlich ein sehr seltsamer Anruf von Neil. Er fragte sie, ob sie nicht für immer zu ihm nach Schottland kommen würde und spontan sagte Andrea zu. Doch als sie sich schließlich mit Freunden und ihrer Tante zusammensetzte und darüber diskutierte, entschied sie sich doch anders.
Andrea schrieb Neil einen Brief, in dem sie ihm klar machte, dass sie nicht so einfach nach Schottland übersiedeln könne.
Auf keinen Fall würde sie nach Glasgow kommen, ohne vorher einen festen Arbeitsplatz und eine Wohnung zu haben. Sie erhielt weder eine schriftliche Antwort darauf, noch einen Anruf. Es schien wohl das endgültige Aus zu sein.
Zwei Tage vor Andreas Jahresurlaub, den sie frustriert in ihrem Zimmer bei Tante Regina und Onkel Fritz verbringen wollte, geschah etwas Seltsames.
Sie hatte Spätschicht und machte gerade Abendbrot, als es an der Tür zur Station klingelte. Da es für den Arzt war, kümmerte sie sich nicht weiter darum, bis schließlich kurze Zeit später Doktor Hartmann, sichtlich aufgelöst aus der Besucherschleuse kam und sie bat, mitzukommen
Zögernd folgte Andrea ihm in die Schleuse.
Dort stand ein großer, schlanker, junger Mann in Jeans und T-Shirt und versuchte recht ungeschickt sich den grünen Besucherkittel überzuziehen. Er stand mit dem Rücken zu ihr und als Doktor Hartmann ihm geholfen hatte, drehte er sich um. Der junge Mann war kein anderer als Neil Sutherland.
Andrea verlor fast das Gleichgewicht. Sie hatte das Gefühl den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie fiel fast in Neils Arme und umarmte den jungen Mann heftig. Der hob sie hoch und küsste sie leidenschaftlich. Der Arzt lächelte vielsagend und ließ die beiden schließlich allein.
Neil stellte Andrea wieder auf den Boden, während das Mädchen ihn an den Händen festhielt, einen Schritt zurücktrat und ihn staunend be-trachtete. Sie schüttelte stumm den Kopf.
»Seit wann bist du so groß, Neil?«, fragte Andrea schließlich, als sie sich halbwegs gefasst hatte.
»Seit ich wieder fest auf meinen zwei Beinen stehe.«, antwortet Neil lächelnd.
Erneut schüttelte Andrea ungläubig den Kopf. »Ich hätte dich beinahe nicht erkannt … das kann ich kaum glauben, dass du hier bist … seit wann bist du denn schon in Deutschland und warum hast du mich nicht angerufen oder wenigstens geschrieben?«, sprudelte es nun völlig aufgelöst aus ihr heraus.
Neil lächelte still und strich Andrea sanft übers Gesicht. »Nun beruhige dich wieder, Andy, ich bin hier und ich werde ohne dich nicht wieder gehen. Im Übrigen war das ein Komplott, deine Tante hat gewusst, dass ich heute ankomme.«, sagte er schließlich geheimnisvoll.
Andrea war erstaunt und neugierig zugleich, doch so sehr sie Neil bedrängte, er verriet nicht mehr. So führte sie den Studenten noch et-was auf der Station herum, wo ihre Kollegen nicht schlecht staunten, denn sie kannten alle Neil noch von damals.
Er hatte sich allerdings sehr verändert. Rein äußerlich war von dem schweren Unfall und seinen Folgen kaum noch etwas zu sehen. Neil hatte nur einen seltsamen Gang, war etwas ungeschickt mit der linken Hand und sah auf dem rechten Auge nicht besonders gut.
Nach diesem Blitzbesuch fieberte Andrea ihrem Urlaub entgegen. Gemeinsam mit Neil flog sie nach Glasgow und hier rückte der Student endlich mit der Wahrheit heraus. Er hatte Andreas Bedenken sehr ernst genommen und verstand, dass sie nicht so einfach Hals über Kopf Deutschland verlassen konnte. Ein Mitstudent hatte einen Job in Aberdeen bekommen und suchte einen Nachmieter für seine Wohnung. Es war in kleines Apartment in den Gorbals.
Andrea graute zwar etwas vor dem anonymen und verwahrlosten Hochhaus, doch die Miete war erschwinglich und das kleine Zimmer mit Dusche und Kochnische ganz in Ordnung und Neils Freund hatte alle seine Möbel dagelassen, da sie nicht in seine neue Bleibe passten.
Neil erledigte die Formalitäten in Bezug auf die Wohnung, was nicht ganz einfach war, da es ja eine Sozialwohnung war und Andrea schrieb in der Zwischenzeit jede Menge Bewerbungen.
Zuerst hagelte es Absagen, aber schließlich bekam sie die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch in der Royal Infirmary, einem staatlichen Krankenhaus.
Es lag sehr günstig, in Zentrumsnähe, so dass Andrea leicht zur Arbeit hätte kommen können. Was sie allerdings abschreckte, war der Zustand des Gebäudes, ein riesiger, alter, grau-schwarzer Kasten aus viktorianischer Zeit. Zum Glück sah es innen etwas anders aus, obwohl das britische Gesundheitswesen kaum mit dem in Deutschland zu vergleichen war. Es gab doch gewaltige Unterschiede.
Das Vorstellungsgespräch verlief zuerst auch nicht so gut, wie sie es sich erhofft hatte. Der Personalmanager hatte nur eine Stelle in der Notaufnahme frei und bestand auf einem mehrtägigen Praktikum, be-vor er sich endgültig entscheiden wollte. Er führte Andrea an ihren zukünftigen Arbeitsplatz, einem flachen Anbau vor dem eigentlichen Krankenhaus. Hier herrschte ein fürchterliches Durcheinander. Mehrere Polizei- und Rettungsfahrzeuge standen vor der Einfahrt und im Wartezimmer wimmelte es von aufgebrachten, teilweise leicht verletzten Fußballfans, zu-meist Celtic Glasgow Anhängern, was die grün-weißen Schals und Trikots bewiesen. Wie Andrea von dem Personalmanager erfuhr, hatte es in der Innenstadt Randale gegeben, als eine Gruppe englischer Fans den Celtic Männern über den Weg lief. Normalerweise waren die Schotten relativ friedlich und bei Spielen zwischen den beiden Lokalmannschaften, Celtic Glasgow und Glasgow Rangers ging es im Gegensatz zu anderen Spielen im Süden halbwegs gesittet zu. Doch die Engländer waren als Hooligans gefürchtet.
Derek Nelson, der Personalmanager hatte alle Mühe durch die heftig mit den Polizisten diskutierenden Männer durchzukommen und Andrea bekam einen Vorgeschmack auf das, was sie hier erwartete.
Sie verstand kaum ein Wort, da die Leute unheimlich schnell sprachen und ganze Silben verschluckten, sodass ein ziemliches Kauderwelsch herauskam, das mit dem gemeinen Schulenglisch nichts mehr gemein-sam hatte. Andrea war zwar durch Neil einiges gewöhnt, doch er hatte einen schönen Highland Dialekt.
Der Personalmanager stellte sie schließlich einem Arzt vor, dem Leiter der Notaufnahme. Er hieß Cooper und machte auf Andrea im ersten Moment einen sympathischen Eindruck. Allerdings stand er gerade ziemlich unter Stress und Andrea wurde, ehe sie sich versah, sofort eingespannt, nachdem ihr eine Schwester einen Kittel geliehen hatte.
Sie assistierte Dr. Cooper beim Nähen einer Kopfplatzwunde, wobei sie Mühe hatte alles zu verstehen, was der Arzt zu ihr sagte. Doch sie hatte so etwas schon öfter getan und wusste genau welches Instrument sie zureichen musste. Allerdings war auch der Patient nicht ohne. Eine mächtige Fahne verriet, dass er nicht ganz nüchtern war. Der junge Mann wand sich teilweise wie ein Wurm, obwohl er schon eine örtliche Betäubung hatte und er redete ununterbrochen, ohne Punkt und Komma.
»Verstehen sie überhaupt etwas?«, fragte Dr. Cooper schließlich, als der Patient für einen Moment schwieg. Er gab sich dabei beträchtliche Mühe nicht in den Glaswegian Dialekt zu verfallen.
Andrea sah ihn einen Moment erschrocken an.
Sie ahnte, dass mit dieser Frage ihr zukünftiger Job auf dem Spiel stand. Zu lügen hatte keinen Zweck, denn sie selbst empfand die Sprache als ihr größtes Handicap. »Wenn ich ehrlich bin, verstehe ich gar nichts, wenn die Leute schnell sprechen.«, antwortete sie deshalb etwas klein-laut.
Dr. Cooper musterte sie mit einem stillen Lächeln und setzte schließlich den letzten Stich bei seinem Patienten und verknotete den Faden geschickt.
»Kleben sie ihm ein Pflaster drüber, sie liegen hinter ihnen auf dem Verbandswagen.«, sagte er schließlich.
Während Andrea dem jungen Mann ein Pflaster auf die genähte Wunde klebte, beobachtete der Arzt sie weiter.
»Also, die Feuerprobe haben sie bestanden, bei mir jedenfalls. Sie haben auf der Intensivstation gearbeitet?«, fragte er schließlich.
»Ja, insgesamt zwei Jahre, seit ich mit der Ausbildung fertig bin.«, antwortete die junge Deutsche, bedacht sich grammatikalisch korrekt aus-zudrücken.
»Nun, da sind sie ja gewohnt selbstständig Entscheidungen zu treffen und können auch mal allein arbeiten, wenn der Diensthabende alle Hände voll zu tun hat, wie heute.«, meinte Mark Cooper darauf. »Im Übrigen ist ihr Englisch sehr gut, viel besser als mein Deutsch.«, fügte er noch hinzu.
»Das Englisch mag schon gehen, aber Glaswegian.«, erwiderte Andrea stirnrunzelnd.
»Machen sie sich da mal keine Gedanken, das kommt von ganz allein. Wenn sie eine Weile hier sind, werden sie es genauso gut können. Sie sind ja schon auf dem besten Wege dahin, denn sie haben einen hübschen Highland Akzent, für eine Deutsche. Ist ihr Freund aus Inverness?«
Dr. Cooper grinste übers ganze Gesicht. Andrea fühlte sich etwas überfahren, lächelte jedoch schüchtern und erwiderte nichts darauf.
»Also wenn es nach mir geht, haben sie den Job. Kommen sie morgen wieder, da wird es sicher ruhiger zugehen.«, immer noch lächelnd gab ihr der junge Arzt die Hand, um sich zu verabschieden.
»Bis Morgen«, verabschiedete sich Andrea schließlich höflich.
Sie wollte gerade ihren Kittel ausziehen, als sie vor dem Anmeldeschalter eine weißhaarige, ältere Frau mit einem Teenager sah, der seinen rechten Arm schmerzverzerrt hielt. Die beiden wirkten in dem grün-weiß-blauen Durcheinander des Wartezimmers geradezu wie eine Erscheinung. Irgendwie hatte Andrea bei dem Jungen ein seltsames Gefühl. Er war überschlank, fast dürr, mit kurzem pechschwarzem Haar, zu dem seinen hellen, grauen Augen und das von Sommersprossen übersäte Gesicht geradezu abstachen.
»Kann ich ihnen helfen?«, fragte Andrea, darauf bedacht, mit schottischem Akzent zu sprechen.
»Oh ja, Schwester, mein Enkel Alan ist auf dem Weg zum Bus gestürzt.«
Andrea warf einen kurzen Blick über den Tresen zu dem Jungen, der genügte, um einen klassischen Bruch des Handgelenks zu erkennen.
Sie drehte sich nach der Schwester um, der sie den Kittel zurückgeben wollte. »Der Junge da draußen hat wohl eine Radiusfraktur.«, meinte sie zu ihr gewandt. Die Angesprochene sah an ihr vorbei auf den Jungen und nickte.
»Sie sollen in Sprechzimmer fünf gehen, das ist gerade frei geworden. Ich stelle derweilen einen Röntgenschein aus.«, wies sie Andrea an, die Mühe hatte sie zu verstehen.
Nachdem sie die Großmutter mit ihrem Enkel in das Zimmer geführt hatte, verließ Andrea die Notaufnahme.
Die nächsten Tage waren zum Glück ruhiger und Andrea bekam wirklich diese Stelle. Sie sollte allerdings erst am 1. September anfangen, sodass sie noch ein paar Wochen richtig Urlaub machen konnte.
Gemeinsam mit Neil, der ja auch noch Semesterferien hatte, bereisten sie als Rucksacktouristen die Highlands. Der Student kannte die romantische Ader des Mädchens und dass sie vor allen Dingen in die Bücher von Scott und Stevenson vernarrt war, so führte er sie quasi auf einer Tour durch die Orte verschiedener Romane.
Es waren herrliche Tage und Andrea begann sich in Schottland so richtig zuhause zu fühlen. Umso schwerer fiel es ihr dann noch einmal zurück nach Deutschland zu fliegen, um noch einige persönliche Sachen zu holen und sich von ihren Eltern zu verabschieden.
Es war das, wovor sie sich am meisten fürchtete. Andreas Mutter wusste ja schon Bescheid, denn sie hatten miteinander telefoniert und sie war sehr traurig darüber. Als Andrea dann gemeinsam mit ihrem Bruder André nach Ebersdorf fuhr, endete das so, wie sie befürchtete hatte. Ihre arme Mutter musste mit ansehen, wie ihr Vater sie be-schimpfte und sogar ihrem Bruder Prügel androhte. So wollte sie sich nicht verabschieden.
Auch der Neuanfang in Glasgow ging nicht reibungslos über die Bühne. Am meisten machte ihr, wie sie es befürchtet hatte, die Sprache zu schaffen und nicht alle ihre Kollegen waren so nett und verständnisvoll wie Dr. Cooper und eine der Schwestern, Katie Brand, mit der sich Andrea schnell anfreundete.
Auch ihr Zusammenleben mit Neil verlief nicht ohne Komplikationen. Ein ewiger Streitpunkt war seine chronische Unordnung, weshalb sie auch weiterhin getrennt wohnten.
Die Schichtarbeit in der Notaufnahme tat ihr Übriges, denn sie hatten kaum Zeit füreinander. Es war eine wahre Prüfung und Andrea hätte es als bittere Niederlage angesehen, wenn sie vor all diesen Problemen kapituliert hätte, denn Neil war ihre große Liebe.
All das kam dem Mädchen in den Sinn, als sie über die sonnenbeschienen Gipfel der Highlands in Richtung Norden flogen. Unter ihr streckte sich der Loch Fyne aus, die zerklüftete Höhen des Ben Cruachan, mit seinem Stausee dazwischen. Neil folgte dem Flusslauf, zu dem der Loch Fyne geworden war, dem Pass of Brander entlang zu den niedrigen, grünen Erhebungen am Loch Etive.
»Ich muss dir noch einiges erklären.«, wandte sich schließlich Neil an sie. »Setze mal die Kopfhörer auf und stöpsele sie in die Konsole an der Seite ein, denn es wird recht laut werden.«, fuhr Neil fort und setzte ebenfalls seine eigenen mit einem Mikrofon auf. Er verstellte etwas an der Konsole der Piper, wobei er seine Sicherheitsgurte abstreifte.
»Es wird sehr laut werden, Andy. Wenn ich den Schwinger einschalte, presse die Kopfhörer über den Ohren fest an, dann ist es erträglich. Du brauchst keine Angst zu haben, wenn man durch die Scheiben nichts mehr sieht, oder gar die Tragflächen verschwinden. Ich fliege nur nach Instrumenten.«, hörte Andrea ihn nun über die Kopfhörer.
Mittlerweile war die Brücke von Connel in Sicht und der Tower des Connel Airfield meldete sich über Funk, um Neil einzuweisen. Der Student bestätigte das Ganze und schaltete den Funk ab.
Andrea sah fasziniert auf den Gezeitenstrudel unter der Connel Bridge, der deutlich zu sehen war, während Neil einen Bogen über die Bucht flog, um wie angewiesen von Norden her zu landen. Doch schließlich flog er aufs offene Meer hinaus.
»Tut mir leid Jungs, aber das Wurmloch ist weiter westlich. Die werden gleich sehr erstaunt sein.«, kam es von Neil.
Andrea holte tief Luft und klammerte sich an den Sitz, als der Student erneut über den Bordfunk zu hören war. »Achtung Andy, es wird jetzt sehr laut.«.
Mit diesen Worten betätigte er einige Knöpfe an der Konsole. Eine Digitalanzeige begann aufzuleuchten …1986 … Im selben Augenblick vernahm Andrea ein Geräusch, das kaum erträglich war und ihr förmlich die Haare zu Berge stehen ließ. Sie presste die Hände auf die Kopfhörer um es zu dämpfen.
»Es ist gleich vorbei.«, hörte sie Neil darüber, der sich kurz umgedreht und ihr entsetztes Gesicht gesehen hatte. Doch er konnte sich nicht weiter darum kümmern, weil er nun seine ganze Aufmerksamkeit auf seine Instrumente richten musste.
Angstvoll starrte Andrea nach vorne. Das Flugzeug begann heftig zu schwanken, als ob es in Turbulenzen geraten wäre. Die Bucht und die Berge unter ihnen waren verschwunden. Ein wabernder flimmernder Nebel dehnte sich darüber aus, der sich langsam in einen rotierenden Tunnel zusammenfügte. Das Mädchen spürte die ungeheuren Anziehungskräfte und es bereitete ihr Mühe Luft zu bekommen. Sie warf einen Blick auf Neils Instrumentenkonsole. Der Kompass drehte sich wie wild, auch der künstliche Horizont spielte verrückt. Nach seiner Anzeige hätte sie eine Rechtskurve fliegen müssen, doch nichts davon war zu spüren. Die Anziehungskraft, die Andrea zu schaffen gemacht hatte, ließ allmählich nach und voller Neugier starrte sie nun auf die Zeitanzeige, die kontinuierlich rückwärts lief.
… 1755 …56 …54 …53 … 1752, Neil drückte eine weitere Taste, ein grünes Licht leuchtete und um sie herum lösten sich die schillernden Wolken auf.
Doch mit einem Schlag sackte die Piper durch und Neil hatte Mühe sie abzufangen. Die Turbulenzen waren äußerst heftig, die Sicht gleich Null. Die Scheiben in der Kabine beschlugen mit einem Mal und Neil versuchte sie mit einer Hand frei zu wischen, was zur Folge hatte, dass die Maschine erneut durchsackte. Für einen Augenblick waren sie aus den dichten Wolken heraus und konnten unter sich die graublaue, mit Schaumkronen übersäte Fläche des Meeres sehen und einige Felsriffe, über denen sich die See Gischt versprühend brach.
»Verflucht, wo sind wir?«, entfuhr es Neil, der weiter die Höhe reduzierte, um sich zu orientieren.
Vor ihnen tauchten, in gespenstisches Zwielicht gehüllte felsige Inseln auf. Die Turbulenzen schüttelten die Maschine durch und der Motor begann schließlich zu stottern.
»Nicht jetzt, du verdammte Kiste … bitte nicht jetzt … halte durch, bis ich einen Landeplatz gefunden habe«, hörte Andrea ihren Freund über die Kopfhörer flehen.
In diesem Moment schwieg der Motor endgültig. Die Piper sackte durch wie ein Stein und Andrea schrie von Entsetzen gepackt laut auf.
Doch Neil gelang es das Flugzeug abzufangen und trotz der Turbulenzen in eine Art Gleitflug zu bringen.
Unter ihnen tauchte zwischen dem von Felsen übersätem Festland und einigen nicht weniger rauen Inseln ein Streifen Sandstrand auf. Auf diesen hielt Neil zu.
Doch die Piper kam ziemlich steil und etwas zu schnell herunter, setzte auf und streifte beim Ausrollen einen aus dem glatten Untergrund herausragenden Felsen. Dadurch wurde das Flugzeug auf die Seite geschleudert, bohrte sich mit Propeller und Nase in den Sand und kippte um, wie ein Käfer, der hilflos auf dem Rücken lag.
Es ging so schnell und unverhofft, dass sich Andrea gerade noch reflexartig gegen den Sitz vor sich pressen konnte, bis um sie herum alles für einen Moment dunkel wurde.
Als sie wieder zu sich kam, war sie zuerst erstaunt über die Stille, die sie umgab. Gedämpft war das Rauschen der Meeresbrandung zu hören und die Piper schaukelte leicht in dem böigen Wind, der um sie strich. Andrea war schwindelig und übel, ihr Genick und der Kopf schmerz-ten. Die Gurte hatten sich in ihre Schultern gegraben. Es dauerte einen Moment, bis sie registrierte, dass der Schwindel von der Tatsache her-rührte, dass sie kopfüber im Sitz hing, nur durch die Gurte gehalten. Es herrschte ein trübes Zwielicht und voller Entsetzen bemerkte sie, dass sich die Kabine allmählich mit Rauch füllte. Es roch nach verschmortem Plastik und Kerosin. Panik erfasste Andrea.
Sie löste den Verschluss des Gurtes, was zur Folge hatte, dass sie recht unsanft mit ihrem Hinterkopf auf das Dach, welches jetzt den Boden bildete, aufschlug. Es kostete sie einige Mühe sich aus der misslichen Lage wieder zu drehen und auf Hände und Füße zu kommen. Der beißende Rauch drang in ihre Lungen und sie wusste, dass sie hier so schnell wie möglich heraus musste.
»Neil, Neil!«, schrie sie voller Angst, denn nun registrierte sie erst, dass sich der Mann nicht rührte. Doch in dem zunehmenden Rauch konnte sie kaum noch etwas sehen. Hustend tastete sie sich vorwärts zur Kabinentür, die sich seitlich von ihr befand. Es kostete Andrea unendliche Mühe sie aufzustemmen, doch es gelang ihr schließlich.
Endlich konnte sie atmen, doch noch immer hatte sich Neil nicht gerührt, hörte sie keinen Ton von ihm. Nach einem tiefen Atemzug kroch sie zurück in das Wrack. Sie turnte über den Pilotensitz, an dem sie Neil angeschnallt vorzufinden glaubte. Doch der Student hatte wohl seinen Schultergurt abgestreift, was zur Folge hatte, dass er kopfüber, zwar durch den Hüftgurt gehalten, aber sonst wie eine leblose Puppe baumelnd da hing. Sein Gesicht und die Brille, die er noch immer trug waren blutüberströmt. Blutspuren an der Konsole und der Frontscheibe zeigten Andrea, dass er dort wohl dagegen geschleudert worden war.
Das Mädchen konnte ihn nicht so einfach abschnallen, ohne weitere Verletzungen zu riskieren. So kroch sie an ihm vorbei und unter ihn, versuchte ihn mit einem Arm abzustützen und mit der anderen Hand den Verschluss des Gurtes zu lösen. Es gelang ihr erst nach mehreren Versuchen.
Neil fiel mit seinem vollen Gewicht auf sie und es nahm ihr für einen Moment den Atem. Immerhin wog der Mann, der gut 1.80 m groß war, an die neunzig Kilo.
Hustend und nach Atem ringend wälzte Andrea ihn von sich herunter, so dass sie Luft bekam, soweit sie überhaupt atmen konnte bei dem Rauch. Nun musste sie Neil nur noch aus dem Wrack heraus bekommen, bevor es zu brennen begann oder gar explodierte. Ihn über die Sitze zur Tür heraus zu bugsieren, überstieg ihre Kräfte, blieb nur die Frontscheibe der Piper, die unmittelbar über dem Sand lag. Mit den Füßen trat sie die Scheibe heraus, die dabei in tausende kleiner Glaskügelchen zerbrach und sie fielen beide mehr oder weniger auf den Boden.
Mühevoll zerrte Andrea Neil unter dem Wrack hervor und weiter auf den leicht ansteigenden Strand hinauf. Sie sah, dass die Flut durch den böigen, orkanartigen Wind angetrieben schnell stieg und das schäumen-de Wasser nur wenige Meter von dem qualmenden Flugzeug entfernt war. Angstvoll tastete Andrea nach Neils Puls an der Halsschlagader und bettete ihn schließlich in die stabile Seitenlage, nachdem sie ihm die Brille abgenommen hatte.
Gegen die Böen stemmend kehrte sie zur Piper zurück, zerrte mühevoll ihr Gepäck und die Campingausrüstung heraus, um es neben Neil zu platzieren, der noch immer keine Anstalten machte, zu sich zu kommen.
Mit Tränen in den Augen sah sich Andrea um. Hinter dem Flugzeug bauten sich zahlreiche felsige Riffe und Inseln auf, an denen sich die sturmgepeitschte See tosend brach. In ihrem Rücken erhob sich hinter einer vom Wasser angefressenen Düne, steil ansteigend mit vielen mehr oder weniger großen Felsbrocken, Gras, braunem Heidekraut und abgestorbenen Farnen bedecktes Land. Keine Menschenseele war zu sehen.
Neil brauchte Hilfe und das schnell!
Andrea warf einen besorgten Blick auf ihren Freund und fühlte erneut dessen Puls. Einem Reflex folgend lief sie zurück zum Flugzeug, hangelte sie sich zum Funkgerät durch und stellte die Frequenz für Notrufe ein. Neil hatte ihr das einmal erklärt und sie wunderte sich, dass ihr das in diesem Augenblick noch einfiel.
Mit bebender Stimme rief sie: »May day, May day, hier Piper GBYC 226, hatten Notlandung in … « Andrea stockte und zog die Karte aus dem Handschuhfach. Sie erinnerte sich, dass Neil etwas von westlich erwähnt hatte, in Bezug auf ein Wurmloch. »Hatten Notlandung westlich von Oban, brauchen dringend Hilfe, Pilot schwer verletzt!«, fügte sie schließlich noch hinzu und drückte die Wiedergabetaste. Doch nichts war zu hören, nur atmosphärisches Rauschen und Knistern. Andreas Blick fiel auf die rot leuchtende Digitalanzeige mit dem Datum und darunter die Jahreszahl ihres Abfluges. 1752 … schoss es ihr durch den Kopf, waren sie wirklich in dem Jahr? Das war die einzige Erklärung für die Funkstille … es gab noch keinen Funk.
Panik erfasste Andrea, ohne noch weiter zu überlegen drückte sie eine Taste neben der Jahreszahl auf der »Return« stand. Im selben Moment wurde sie von Jemanden an der Schulter gepackt und mit einen lauten Aufschrei: »Nein nicht!« von dem Flugzeug weggezerrt, das seltsam vibrierte und zu schillern begann.
Es war Neil, der voller Blut war. Er schwankte wie ein Betrunkener und zog sie weiter von der Piper weg. »Weg hier Andy, so weit wie möglich!«, keuchte er nach Atem ringend.
Aus den Augenwinkeln sah sie etwas aufblitzen und in diesem Moment erfasste sie eine Druckwelle und schleuderte sie mehrere Meter weit auf den Strand. Es wurde dunkel und still um sie herum.
Wie lange Andrea bewusstlos war, konnte sie nicht sagen, Ihr Kopf und das Genick schmerzten fürchterlich, genauso wie Arme und Knie, sowie der Rücken, als sie sich mühsam aufrichtete. Es roch nach verschmortem Plastik und stechend nach Ozon. Von der Piper war keine Spur mehr zu sehen, nur der kleine Krater im Sand, wo sich Nase und Propeller hineingebohrt hatten. Nicht ein Trümmerteil war zu sehen, nur eine schillernde, sich allmählich auflösende Wolke schwebte über dem Ganzen.
Das Mädchen stopfte sich die Karte, die sie noch immer in der Hand hielt unter den Pullover und kroch zu Neil, der sich mühevoll auf die Seite wälzte.
»Wie geht es dir?«, fragte Andrea besorgt, als sie ihn erreicht hatte.
»Was ist passiert Andy … oh Gott mein Kopf.«, Er tastete mit diesen Worten und schmerzverzerrtem Gesicht nach seiner Stirn und starrte entsetzt auf das Blut an seiner Hand.
Das Mädchen betrachtete ihren Freund mit sorgenvoller Miene.
»Wir hatten einen Crash mit der Piper, Neil, der Motor hat ausgesetzt.«, erklärte Andrea schließlich vorsichtig.
Neil schnellte wie von der Tarantel gestochen zum Sitzen. Angstvoll und voller Entsetzen sah er sich um, schwer atmend. »Wo ist die Piper? Wo zum Teufel ist sie!«, entfuhr es ihm.
»Sie ist weg, verschwunden …«, begann das Mädchen vorsichtig.
»Verschwunden …«, murmelte Neil und wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke das Blut aus dem Gesicht. »Ich kann mich wieder daran erinnern, du hast die Return Taste gedrückt …«, fügte er tonlos hinzu.
»Das tut mir leid, Neil, ich wollte nicht dass … so etwas … passiert.«, erwiderte Andrea daraufhin stockend.
Der junge Mann sah sie an und schüttelte stumm den Kopf. »Du brauchst dich für nichts entschuldigen, Andy, das ist alles meine Schuld, ich habe die Sache verbockt, ich habe die Kiste im wahrsten Sinne des Wortes in den Sand gesetzt.«, mit diesen Worten griff er sich erneut mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Kopf.
Andrea beobachte ihn besorgt, half ihm schließlich beim Aufstehen, so dass sie gemeinsam zu ihrem Gepäck gehen konnten, das am Rande einer Düne lag.
Sie bugsierten das Ganze über den vom Wasser abgenagten Teil, wo sie nun eine Art Tal zwischen den steinigen Hügeln entdeckten. Das Gras war schon sehr grün und saftig hier und ein Bachlauf verlief, gespeist von einem kleinen Wasserfall, in den Felsen darüber.
Hier konnte Andrea Neil endlich versorgen, halbwegs geschützt vor dem Wind, der mittlerweile Orkanstärke erreicht hatte. Sie war erstaunt, als sie den ›Verbandskasten‹ aufmachte. Es waren mehr als nur Binden und Pflaster darin.
Während sie ihr kleines Zelt aufbauten und es mit extra Leinen und Heringen sturmsicher verankerten, unterhielten sie sich. Neil erzählte ihr etwas über die Zeit, in die sie geraten waren und dass sie wohl in die großen Städte, Edinburgh oder Glasgow gehen müssten, denn auf dem flachen Lande, besonders in den Highlands, herrschte bitterste Armut.
Andrea hielt mitten in ihrem Tun inne und fragte plötzlich recht entsetzt: »Wo sind wir überhaupt, Neil?«
Der Student schlug den letzten Hering in den Boden, stand schwankend auf und sah sich um.
»Es ist so, dass man nicht nur in der Zeit abdriftet, sondern auch im Raum sich bewegt, denn diese Wurmlöcher sind nicht sehr stabil. Meinen Instrumenten nach sind wir nach Süden abgetrieben, besser südwestlich. Das könnte hier eine Insel der Inneren Hebriden sein, vielleicht Mull, das Ross of Mull«, erklärte er, presste sich aber plötzlich die Hand vor den Mund und stolperte ein paar Schritte zur Seite, um sich zu übergeben.
Mittlerweile war es gänzlich dunkel geworden und der Orkan wütete mit voller Stärke. Das Zelt, in das sie sich zurückgezogen hatten, schwankte in den Böen und der Regen peitschte trommelnd auf die Plane. Sie konnten hören, wie sich draußen an den Riffen vor der Küste die See brach, Geräusche, die Andrea, die im Gebirge aufgewachsen war, nicht kannte. Neils Übelkeitsattacken nahmen zu, so dass sich das Mädchen große Sorgen zu machen begann. Im Dämmerlicht der Taschenlampe sah er entsetzlich bleich aus, hatte tiefe Schatten unter den Augen. Der Student hatte immer noch Nasenbluten, wobei mittlerweile die Farbe dessen, was da heraus floss, eher bernsteinfarben war, ein weiteres Symptom, über welches sie sich ernstlich Sorgen machte. Was sollte sie tun, wenn es ihrem Freund noch schlechter ging?
Angespannt lauschte Andrea dem Toben des Sturmes. Sie war also im 18. Jahrhundert, etwas, was vollkommen unfassbar für sie war. Zwar hatte sie keinen Beweis, bis auf die Funkstille, aber wenn sie ehrlich war, brauchte sie auch keinen. Ob sie nun in der Vergangenheit oder im 20. Jahrhundert irgendwo in einem abgelegenen, spärlich besiedelten Teil Schottlands war, machte keinen Unterschied, wenn es darum ging schnell Hilfe für Neil zu erhalten, denn die brauchte er offensichtlich dringend.
Der junge Mann sprach kaum noch und wenn Andrea ihn in ein Gespräch verwickelte, wirkte er unkonzentriert und teilweise verwirrt. Es war empfindlich kalt geworden, so dass sie sich dick eingemummelt in die Schlafsäcke zurückzogen, Spezialmodelle der Armee, und versuchten zu dösen. Neil wurde dabei immer schläfriger und das Mädchen lauschte angstvoll seinen Atemzügen in der Dunkelheit. Sie hatten die Taschenlampe ausgemacht, um die Batterie zu schonen.
»Andy?«, flüsterte Neil nach einer Weile plötzlich und erschrocken schaltete Andrea die Taschenlampe wieder ein.
»Es … es … es tut mir leid Andy …«, begann der junge Mann leise und stockend.
»Ich habe dich in Schwierigkeiten gebracht…«, fuhr er dann fort. Er griff nach Andreas Hand und sah sie mit einem seltsamen Blick an.
»Das ist schon O.K. Neil, wir leben und wir haben uns beide, das ist das Allerwichtigste.«, erwiderte das Mädchen darauf.
Stumm schüttelte der Student den Kopf. »Geh … geh in die Städte Andy … geh als Junge … es tut mir leid…«, stammelte er scheinbar verwirrt. Sein Blick ging plötzlich durch Andrea hindurch, ein Zucken lief über sein Gesicht, und er gab einen seltsamen schluchzenden Laut von sich.
Andrea wusste gar zu gut, was das bedeutete. Neil bekam einen Krampfanfall. Sie zerrte ihn auf die rechte Seite und versuchte einen Zipfel des Schlafsackes zwischen seine Zähne zu klemmen. Doch es war schon zu spät.
Es war ein großer, heftiger Anfall, der sehr lange dauerte. Obwohl Andrea noch in Neils Erster-Hilfe-Ausrüstung nach einem Mittel suchte, um den Anfall zu stoppen, konnte sie es nicht spritzen, da es ihr unmöglich war eine Vene zu treffen, da sein Kreislauf total am Boden war. Als es endlich vorüber war, war der Student bewusstlos, nicht mehr erweckbar.
Andrea war verzweifelt. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie unter-suchte Neil nochmals gründlich und entdeckte nun, was ihr offenbar zuerst entgangen war. Die Augenringe entpuppten sich als massives Brillenhämatom, ein deutliches Zeichen für einen Schädelbasisbruch. Was aus einer Nase rann, war nichts anderes als Liquor, Gehirnwasser. Außerdem stellte sie fest, dass seine Pupillen unterschiedlich weit waren, Zeichen einer massiven Blutung im Gehirn.
Mit tränenüberströmtem Gesicht saß Andrea da und starrte auf ihren Freund. Wie lange würde es noch dauern, bis er aufhörte zu atmen, bis sein Herz still stand? Stunden oder Tage? Wenn die Blutung im Gehirn zunahm, würde es schnell gehen. Doch bei einer ›simplen‹ Infektion, durch den offenen Schädelbasisbruch sicher viele, elende Tage voller Schmerzen und Krampfanfälle.
Andrea sank zu Boden, zog den Schlafsack über ihren Kopf, löschte die Taschenlampe und weinte still. Sie fühlte sich unendlich einsam und verlassen, vollkommen leer. Eine Leere, die sie zu verschlingen drohte.
Das Mädchen wurde schließlich vom Schlaf übermannt und als sie durch ein seltsames Geräusch wieder aufwachte, wusste sie im ersten Moment nicht wo sie war. Es war stockfinster, der Wind heulte und fauchte noch immer um ihr Zelt und die Brecher draußen klangen wie fernes Donnergrollen.
Doch mitten in diese natürlichen Geräusche mischte sich ein Röcheln.
Erschrocken tastete Andrea nach der Taschenlampe, die neben ihr liegen musste. Es dauerte unendlich lang, bis sie sie gefunden hatte und anschaltete und was sie sah, erschreckte sie fast zu Tode.
Neil hatte erneut einen schweren Krampanfall, war blau angelaufen, hatte blutigen Schaum vor dem Mund.
Andrea griff nach der Spritze mit dem starken Beruhigungsmittel, die noch immer auf dem Boden lag, doch es gelang ihr erneut nicht eine Vene zu treffen.
Doch mit einem Mal hörte der Anfall auf und die Stille, die nun entstand, war gespenstisch. Entsetzt starrte das Mädchen auf das bläuliche Gesicht ihres Freundes, in seine halboffenen Augen. Es dauerte unendlich lange, bis sie begriff, dass er nicht mehr atmete. Andrea war wie gelähmt, sie hockte da – wie versteinert.
Erst als eine Windböe das Zelt schüttelte, kam Andrea zu sich, rüttelte Neil an den Schultern und schrie ihn an. Mit zitternden Händen tastete sie nach seinem Puls. Sie fand kein Lebenszeichen mehr. Neil Sutherland war tot!
Das Mädchen war starr vor Entsetzen, in ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander und eine unbändige Angst erfasste sie plötzlich. Von schierer Panik getrieben stolperte sie aus dem Zelt hinaus in die Dunkelheit. Andrea lief blindlings los, wurde von Sturmböen getrieben und zu Boden geworfen, stolperte mehrmals und kugelte schließlich über den Rand der Düne. Eine eiskalte Welle ergoss sich über sie und das Wasser brachte sie wieder zu Sinnen. Verzweifelt versuchte sie die sandige Böschung wieder hinaufzukommen, was ihr erst nach mehreren Versuchen gelang. Schwankend und entsetzlich frierend stand das Mädchen nun am Rand des kleinen Tales und starrte auf das Zelt, das wie eine Signallaterne in der stockfinsteren Nacht leuchtete. Schließlich sank Andrea von Weinkrämpfen geschüttelt auf den Boden, schrie und trommelte mit den Fäusten auf das Gras. Irgendwann wurde sie von einer Ohnmacht übermannt, blieb zusammengekrümmt liegen.
Die heraufziehende Kälte brachte das Mädchen schließlich wieder zu sich. Der Sturm hatte etwas an Stärke verloren, doch noch immer konnte Andrea die Brecher hören, sah im ersten zögernden Licht des frühen Morgens, das über den Hügeln über ihr auftauchte, die Gischt weiß leuchten.
Sie fror entsetzlich, klappernd schlugen ihr die Zähne aufeinander. Andrea wusste, dass sie aus den nassen Sachen heraus musste, doch es schauderte sie in das Zelt zu gehen, das noch immer gespenstisch erleuchtet war durch die Taschenlampe, die sie hatte liegen lassen.
Es dauerte unendlich lange, bis sie sich endlich aufraffte und hinein schlüpfte. Die Trauer übermannte das Mädchen mit aller Gewalt, als sie das bleiche wächserne Gesicht ihres Freundes sah, seine verloschenen Augen …
Mit einem Aufschrei warf sie sich über ihn, weinte und schrie all ihren Schmerz heraus. Immer wieder strich sie ihm durch die Haare und über sein eiskaltes Gesicht. Immer wieder sah sie seine Augen verlöschen, als der Krampfanfall nachließ. Warum war sie nicht fähig gewesen, ihn wiederzubeleben, warum war sie so schwach?
Schließlich setzte sie sich wieder auf, wie in Trance schwankte ihr Oberkörper hin und her. Andreas Gedanken kreisten nur um eine Frage … Warum?… Warum? Schließlich kippe sie einfach nach der Seite um. Es wurde dunkel und still um sie.
Es war stockfinstere Nacht, als Andrea wieder zu sich kam. Der Regen peitschte auf das Zeltdach und das Rauschen der See war friedlicher geworden. Der Sturm war vorüber und ein warmer, milder Regen zog über die Küste, an der sie gestrandet waren. Dem Wetterwechsel verdankte Andrea wohl letztendlich, dass sie selbst noch am Leben und nicht in den Todesschlaf der Unterkühlung gesunken war.
Es dauerte eine ganze Weile bis sie richtig zu sich kam und registrierte, wo sie war. Mittlerweile roch es in dem kleinen Zelt nach Tod und Andrea gelang es nach einiger Überwindung Neils Schlafsack zu schließen und die Jacke über sein Gesicht zu ziehen, um seine entstellten Züge nicht mehr sehen zu müssen.
Andrea hockte schließlich am Zeltausgang und starrte in den Regen hinaus und in die Finsternis einer sternlosen Nacht.
Fragen über Fragen türmten sich vor ihr auf und sie hatte Mühe ihre Gedanken zu sammeln. Der Tod war etwas, mit dem Andrea umgehen konnte. Doch noch nie war er ihr so nah gekommen, hatte sie ihn so nahe an sich heran gelassen. Es war nicht Irgendjemand, der vor ihren Augen gestorben war, es war Neil … ihre große Liebe … ihr Leben! Alles war von einem Augenblick zum anderen zu Ende gewesen, ausgelöscht für immer. Nun teilte sie das Zelt mit einem Leichnam, der beerdigt werden musste, einem Leichnam, der ihr Verlobter war. Sie war mutterseelenallein in einem fremden Land … in einer fremden Zeit … im 18. Jahrhundert! Allein dieser Gedanke war unvorstellbar für sie. Sie wusste ja noch nicht einmal wo sie war und erst recht nicht wohin sie gehen sollte.
Andrea hockte noch eine Weile am Zeltausgang und starrte in die Dunkelheit. Schließlich konnte sie sich aufraffen und wechselte ihre klamme Kleidung, aß etwas und kroch schließlich in ihren Schlafsack. Das Leben musste weitergehen, irgendwie, und sie musste anfangen ihren Weg zu finden. Morgen würde sie Neil beerdigen, beschloss Andrea, während sie in den Schlaf sank.
Am nächsten Morgen wachte sie steif vor Kälte auf. Ein Kälteeinbruch hatte den Winter zurück gebracht. In der gleißenden Morgensonne sah die Landschaft wunderschön aus, etwas, was gar nicht zu Andreas Gemütszustand passte. Sie hatte Angst, dass das Erdreich nach dem Regen der vergangenen Nacht gefroren war. Doch die weiße Pracht war nur von kurzer Dauer, denn die Sonne hatte schon an Kraft gewonnen, auch an dieser kargen Küste Schottlands.
Es war das erste Mal, dass Andrea die Gegend, in der sie gestrandet waren, richtig wahrnahm. Die Wiese, auf der ihr Zelt stand, war nun mittlerweile von einem Meer aus Gänseblümchen übersät und saftig grün. Als sie den Rand der Düne erreicht hatte, sah sie hinaus auf eine Meeresbucht, einen breiten Sandstrand, den die schon einsetzende Ebbe freigab, umgeben von zahlreichen felsigen Inseln. Es schienen alles nur Felsen zu sein, kein Mensch war weit und breit zu sehen, noch trug der Wind ihr den Geruch eines Torffeuers zu, denn das musste es in dieser Zeit geben. Andrea kannte den charakteristischen Geruch -›Highlandsmoke‹-, auch in ihrer Zeit, dem zwanzigsten Jahrhundert wurde in einigen Gegenden des Hochlandes und der Inseln noch mit Torf geheizt. Das Mädchen schüttelte ungläubig den Kopf bei diesem Gedanken – ihre Zeit – sie war verschwunden, wie die Piper.
Andrea drehte sich um und sah auf die felsigen Hügel um die kleine Talsenke mit dem Zelt. Von dort oben hatte man vielleicht eine bessere Aussicht, um sich zu orientieren. Mühevoll erklomm sie einen Vorsprung, der sich wie ein kleiner Wehrturm erhob.
Doch viel mehr konnte sie nicht erkennen. Es war ein Gewirr von felsigen Uferstreifen und kleinen Inseln. Die Ebbe gab einen weiteren breiten Sandstreifen vor einer etwas kompakteren, mit Gestrüpp und abgestorbenen Farn bewachsenen Insel frei, dahinter lag noch eine weitere Insel oder vielleicht eine Landzunge, mit einem recht makaberen Hügel und einigen kaum auszumachenden Ruinen und Häusern, von denen Rauch aufstieg. Also war die Küste doch nicht so unbewohnt wie Andrea annahm. Noch immer konnte sie nicht erkennen, was sich hinter ihr befand, denn der Hügel war noch höher und versperrte ihr die Sicht ins Hinterland. Doch im Moment fühlte sie sich nicht in der Lage einen weiteren Aufstieg zu wagen. Sie musste eine Stelle finden, an der sie Neil beerdigen konnte. In den Hügeln war es unmöglich, der Boden war zu steinig, ganz zu schweigen von der Strapaze die sterblichen Überreste ihres Freundes hier herauf zu schleppen.
So lief sie wieder hinunter zu der Senke, in der sich das Zelt befand und begann im sandigen Uferstreifen oberhalb der Düne eine Grube auszuheben. Es war Schwerstarbeit für Andrea, wohl eher seelisch, als körperlich, aber beides war fast zu viel für sie. Es war weit nach Mittag, die Ebbe war bereits über dem höchsten Stand und hatte in der Bucht einen herrlichen Strand freigelegt, der jedem südlichen Inselparadies zur Ehre gereicht hätte. Doch für die junge Deutsche war nichts Schönes an diesem Ort. Das Rauschen der Dünung, die milde Frühlingsluft und die blühende Wiese um sie herum waren nichts als ein Grabgesang für Neil. Umso mehr Überwindung kostete es sie den Mann in seinem Schlafsack zu der Grube zu schleifen. Sie tat es unter Tränen und voller Verzweiflung.
Doch es dauerte eine Ewigkeit, bis sie in der Lage war, den toten Körper ihres Verlobten der Erde zu übergeben. Zuvor hatte sie in die Brusttasche seines Hemdes den Studentenausweis und seine Brille gesteckt. Vielleicht fand man seinen Leichnam irgendwann einmal im 20. Jahrhundert und es würde die Identifikation erleichtern.
Die Sonne ging schon fast unter, als sie endlich die Kraft gefunden hatte Erde auf den Toten zu schaufeln und das Grab mit einigen Steinen, zu bedecken. Sie war nicht einmal mehr in der Lage ein Gebet zu sprechen, so leer fühlte sie sich. Schwankend lief sie zum Zelt, fiel auf ihren Schlafsack und in einen tiefen traumlosen Schlaf, bis erneut die Kälte und der Regen, der auf das Zeltdach trommelte, sie aufweck-ten.
Andrea tastete nach der Taschenlampe, die trotzdem sie die ganze Nacht unaufhörlich gebrannt hatte, noch gutes Licht verbreitete.
So konnte es nicht weitergehen, seit fast drei Tagen war sie hier und die meiste Zeit hatte sie in einem Zustand der Ohnmacht verbracht, eine Ohnmacht, die sie selbst ins Grab bringen würde, wenn sie es nicht änderte. Nur würde hier Niemand sein, der sie beerdigte.
Auch wenn sie nicht wusste, wo sie war, musste sie einen Weg finden und noch deutlich lagen ihr Neils Worte in den Ohren: »… gehe in die großen Städte« … doch wie sollte sie dorthin kommen?
Andrea kramte in ihren Sachen, beförderte einen kleinen roten Taschenkalender heraus. Sie blätterte einen Augenblick darin, dachte da-rüber nach, dass für sie nie mehr irgendwelche Dienstpläne und freie Wochenenden von Bedeutung sein würden. Sie starrte auf das Datum, das vor ihren Urlaub stand. 13. April 1986 … jetzt war der 15. April 1752.
Andrea suchte sich einen Kugelschreiber und begann etwas unter das Datum zu schreiben. Sie schrieb all ihre Verzweiflung und Leere, ihre Angst in wenige Zeilen, den ersten Eintrag ihres Tagebuches …
Dann durchsuchte sie das vorhandene Gepäck. Sie wusste, dass sie sich von den modernen Sachen trennen musste, so schwer es ihr auch fiel. Andrea betrachtete das Kleid, welches Neil für sie besorgt hatte und auch die Männerkleidung. Nach dem, was sie heute auf dem Hügel gesehen hatte, konnte sie unmöglich in einem Kleid durch die Gegend laufen. Es schien ihr auch zu gefährlich. Sie wusste wie die schottischen Highlands beschaffen waren, von den wenigen Wandertouren, die sie mit Neil gemacht hatte. Was sie mit den Schnallenschuhen auf dem vom Regenwasser vollgesogenen, moorigen Boden anfangen sollte, bereitete ihr Sorgen. Doch sie fand recht schnell eine Lösung dafür. Neil hatte bei den Männersachen gestrickte Stulpen, die eigentlich dazu dienten die dünnen Strümpfe, die man unter den Kniebundhosen trug vor Schmutz und Wasser zu schützen. Sie verbargen ganz gut die modernen Wanderschuhe. Die restlichen Kleidungsstücke waren bei näherem Betrachten recht zeitgemäß gearbeitet und die Stoffe derb und wärmend. Andrea behielt am Ende das recht professionell ausgestattete Erste-Hilfe-Paket, für das Neil sicher einiges aufbringen musste, denn es waren Medikamente darunter, die unter das Suchtmittelgesetz fielen, ihren Walkman mit einigen Kassetten, einen dicken Strickpullover, den sie am Tag ihres Absturzes getragen hatte, sowie Reserveunterwäsche, Waschutensilien und einen Biwaksack, den Neil wohl aus Armeebeständen hatte.
Nun bestand nur noch das Problem, den Rest inklusive des Zeltes loszuwerden. Morgen in aller Frühe wollte sie das Ganze verbrennen und in einer Grube verscharren. Es sollte nichts an ihr merkwürdiges Herkommen erinnern, denn bis jetzt schien Niemand das Ganze be-merkt zu haben.
Zufrieden mit diesem Ergebnis schaltete Andrea die Taschenlampe wieder aus und kroch in ihren Schlafsack. Es würde die letzte Nacht im relativen Schutz eines Zeltes sein, von nun an musste sie unter freiem Himmel schlafen oder sich um die Gastfreundschaft der Menschen dieser Zeit bemühen. Das war etwas, wovor sie große Angst hatte.
Am nächsten Morgen wachte sie früh auf. Das Wetter hatte sich zwar etwas beruhigt, was genauer hieß, dass es im Moment noch nicht regnete, aber ganz danach aussah. Der Wind hatte wieder aufgefrischt, was ihr einige Probleme beim Abbauen des Zeltes und beim anschließenden Verbrennen der modernen Sachen bereitete. Aber es verhinderte auch, dass eine deutliche Rauchwolke entstand, die vielleicht die Neugier der Menschen in ihrer Umgebung weckte.
Andrea kam sich recht seltsam in ihren zeitgemäßen Kleidern vor. Die Sachen waren so voluminös geschnitten, dass ihre sowieso nicht üppigen weiblichen Formen gut verborgen waren. Allerdings entpuppte sich das auf alt getrimmte Gewebe als ziemlich unangenehm zu tragen, so wie es in früheren Zeiten wohl gewesen war. Ihre Haare hatte das Mädchen zu einem in jener Periode üblichen Zopf zusammengebunden.
Ein letztes Mal ging sie zu Neils Grab, kniete sich nieder und sprach leise jenes Gebet, das man eigentlich zu Beerdigungen vortrug, etwas zu dem sie am vergangen Tag nicht mehr fähig gewesen war. Sie tat es mit tränenerstickter Stimme, legte eine Hand auf die aufgeschichteten Steine und flüsterte leise: »Auf Wiedersehen, Neil, in einer besseren Welt.«
Dann sprang sie abrupt auf, nahm den Seesack, in dem ihr Gepäck verstaut war und lief, noch immer weinend den Hügel hinauf, auf die höchste Erhebung zu, von der sie sich umsehen wollte.
Sie achtete kaum auf ihre Umgebung, als sie plötzlich fast mit einem zerlumpten, ziemlich schmutzigen Kind zusammen stieß.
Andrea wischte sich erschrocken die Tränen aus dem Gesicht, um besser sehen zu können, während der Junge sie misstrauisch beäugte. Er war ziemlich spärlich bekleidet, hatte sich in einen bräunlichen Plaid gewickelt, während seine dünnen schmutzigen Beine in den typischen löchrigen Hochlandschuhen und einer Art Strümpfen, die mit den Riemen der Schuhe umwickelt waren, staken. Einige zottelige Ziegen und Schafe umringten ihn. Es war wohl ein Hütejunge.
Er blickte an Andrea vorbei hinunter zu der Talsenke, wo man deutlich das Grab sah und sagte irgendetwas in Gälisch, wobei er hinaus aufs Meer wies.
Das Mädchen hatte zwar vor gut einem Jahr einen Gälisch-Kurs in der Abendschule begonnen, weil sie die Sprache faszinierte, doch sie verstand in dem Moment gar nichts. Der Bursche schien das zu merken und begann mit einigen Gesten und ein, zwei englischen Wörtern sich in der Richtung zu äußern, das er wohl meinte, ihr Schiff sei gesunken.
Andrea nickte heftig, ergriff nun ihrerseits die Initiative, um endlich zu erfahren, wo sie sich befand. Sie wies auf die Gegend um sich herum und fragte: »Càite?... an anaim …an dùthaich …? Wo?... der Name … das Land …?« Es war eigentlich kein richtiger Satz, denn sie brachte es einfach nicht zusammen.
Der Junge sah sie ziemlich verdutzt an, nickte dann aber heftig.
»Sasunnach? Engländer?«, kam es zuerst fragend von ihm.
Doch Andrea schüttelte darauf den Kopf. Sie war kein Engländer. »Ghearmailteach. Deutscher.«, erwiderte sie darauf.
Ihr Gegenüber machte ein erstauntes Gesicht und wiederholte das Wort. Mit einer erhabenen Geste wies er auf die Hügel um sie herum und sagte schließlich: »Eilean Muileach. Die Insel Mull.«.
Andrea fiel es auf einmal wie Schuppen von den Augen. Sie wies auf die Insel mit den Ruinen, die sie am vergangen Abend gesehen hatte. »Iona? «, fragte sie.
Der Junge sah sie verwundert an und schüttelte den Kopf. »Icolmkill.«, sagte er schließlich und das Mädchen nickte wissend. Es war der alte Name der Insel.
»Moran taing. Vielen Dank.«, bedankte sich Andrea nun und der Junge lächelte schwach.
Ohne noch weiter auf das Mädchen zu achten, trieb er seine kleine Herde weiter und verschwand bald aus ihrem Gesichtsfeld.
Andrea seufzte, jetzt wusste sie endlich wo sie war und es wurde ihr auf einmal bewusst, welch weiten Weg sie vor sich hatte bis nach Glasgow. Stumm setzte sie ihren Aufstieg zu dem Gipfel des Hügels fort und war froh ihn erreicht zu haben. Von hier aus bot sich ein guter Ausblick.
Andrea holte ihre Karte heraus, eine Karte der Westlichen Highlands. Es bereitete ihr einige Mühe sie aufzufalten, weil der Wind doch zu stürmisch war.
Wenn die Insel da vor ihr Iona war, dann befand sie sich auf den Ross, of Mull und um aufs Festland zu kommen musste sie zu einer Fähre. Ein weiter, unbekannter Weg lag noch vor ihr.


Begegnungen



Isle of Mull 15.April 1752



Tiefe graue Wolken lagen über der unwirtlichen Küste des Ross of Mull. Immer wieder brach die Sonne durch und ließ ihre Strahlen wie Tunnel zu einer anderen Welt erscheinen.
Andrea drehte sich noch einmal kurz um, sah hinunter auf die sandige Bucht, die grüne Talsenke und das Grab, das man deutlich sehen konnte. Es tat ihr unendlich weh diesen Platz zu verlassen. Doch sie wusste, dass sie nicht hier bleiben konnte. Sie musste einen Weg in dieser Zeit finden, irgendwie und irgendwo. Sie musste aufs Festland in eine der großen Städte, nur hier in der Anonymität der Menschenmassen sah sie eine Chance sich in dieser fremden Welt zurechtzufinden. Das war es wohl auch, was Neil ihr versucht hatte zu sagen, kurz bevor er starb.
Abrupt drehte sich Andrea um und sah auf die hügelige, von Felsen und Moorflächen übersäte Landschaft, die vor ihr lag. Die Wolken lagen tief und sie konnte nur erahnen wo der Ben More war, wo er dem Kompass nach sein sollte. Doch so einfach wie es auf der Karte aussah, die sie hatte, war das nicht.
Ständig musste sie Moortümpeln, Bachläufen und riesigen Findlingen ausweichen. Ihre Schuhe waren binnen kürzester Zeit pitschnass, genauso wie ihre Strümpfe. Das gesamte Ross of Mull war nichts weiter als ein riesiger Steingarten mit knöchelhohem Heidekraut, windschiefen, zerzausten Bäumen, die kaum die Höhe von Büschen erreichten und dazwischen Flächen von Torfmoor. Der Wind kühlte sie allmählich aus und ein feiner Nieselregen, der schließlich einsetzte, durch-nässte sie bis auf die Haut.
Die Straße, die auf ihrer Karte eingezeichnet war, gab es natürlich nicht, aber sie erreichte einen schmalen, grasüberwucherter Weg, der in Richtung Osten führte. Sie folgte diesem, vermied es aber, einem der vielen Hütten zu nahe zu kommen. Die Gegend war zwar dünn, aber im Gegensatz zum 20. Jahrhundert weitaus dichter besiedelt. Immer wie-der entdeckte sie die schmalen Handtuchfelder und sie fragte sich, wie ein Mensch sich hier von diesem Boden ernähren konnte. Es war auch noch zu früh in Jahr, um diese Felder zu bestellen und wie sie so brach da lagen, sah es alles andere als fruchtbar aus. Die Menschen mussten auch bettelarm sein, denn die Hütten, Black Houses genannt, waren anders als Andrea sie aus den Museumsdörfern kannte. Zuerst hatte sie es für einen Haufen Steine gehalten, erst als Rauch von dem grasüberwucherten Dach aufstieg erkannte sie es als die Behausung von Menschen. Doch von denen sah sie nichts. Das Wetter war viel zu schlecht, der eiskalte Regen und der heftige Wind luden nicht ein nach draußen zu gehen, wenn man nicht musste. Doch dem Mädchen blieb nichts weiter übrig, als ihren Weg fortzusetzen.
Andrea trieb sich weiter. Sie folgte dem schmalen Weg, obwohl sie sich nicht sicher war, dass er sie dorthin führte, wo sie hin wollte, zur Fähre von Graignure, falls es dort eine Fähre gab, wie im 20. Jahrhundert. Orientieren konnte sie sich kaum noch. Lediglich die Meeresbucht zu ihrer Linken konnte sie als Hilfe nehmen, die Berge um sie herum lagen im Nebel, der herabgezogen kam, als es zu nieseln begann.
Der Weg, dem sie nun folgte, verlor sich am späten Nachmittag plötzlich im sumpfigen Gelände. Das zu umgehen zwang Andrea hinunter in Richtung Küste zu gehen. Sie hatte gerade eine kleine Bachmündung überquert und wollte von dem sandigen Strand wieder nach oben, als plötzlich ein ziemlich wild aussehender Mann vor ihr auftauchte. Er war nicht viel größer als sie selbst, hatte struppige, schulterlange schwarze Haare, einen verfilzten Bart. Sein wettergegerbtes Gesicht ließ kaum zu, sein Alter zu bestimmen. Am auffälligsten war seine Kleidung. Er trug etwas, was wie ein dunkel gefärbter Kilt aussah, der mit ein paar Stichen zwischen den Beinen in eine Hose umgewandelt worden war. Über diesem Provisorium trug er eine grobe kurze Jacke und ein Hemd von undefinierbarer Farbe. Der Geruch, der von dem Menschen ausging, erinnerte Andrea sehr an die Stadtstreicher, die immer wieder in der Notaufnahme des Krankenhauses auftauchten.
Der Fremde musterte Andrea misstrauisch. Er herrschte Totenstille, man hörte nur das Meer rauschen und das Kreischen der Möwen.
»Ciamar a tha sibh? Wie geht es Ihnen?«, sagte das Mädchen schließlich, was mehr eine Begrüßungsformel, als eine wirkliche Frage nach dem Befinden war. Ihre Gälisch-Kenntnisse waren nicht auf hohem Level, aber für Höflichkeiten reichte es.
Das Gesicht des Mannes hellte sich sofort auf. »Tha gu math …«, erwiderte er, was so viel bedeutete wie, es geht mir gut. Doch dann folgte ein Schwall Gälisch, wovon Andrea allerdings nichts verstand.
Mit Gesten und den paar Brocken der Sprache, die das Mädchen kannte, versuchte sie den Mann dazu zu bewegen Englisch zu sprechen, doch er beherrschte die Sprache wohl nicht. Etwas, was Andrea doch ziemlich verwunderte. Sie glaubte zu wissen, dass die Gälische Sprache seit dem Jahre 1746 und dem erfolglosen Jakobiten Aufstand verboten war. In ihrer Zeit sprach nur noch eine Minderheit auf den Äußeren Hebriden Gälisch, obwohl seit einigen Jahren die Schotten sich mehr auf diese Tradition besannen und dadurch das vollständige Aussterben der Sprache aufgehalten wurde.
Doch schließlich verstanden sie sich soweit, dass Andrea dem Mann zu dem Haus, das oberhalb des Strandes vor einen kleinen Hügel geduckt stand, folgte.
Haus – war natürlich maßlos übertrieben. Die aus losen Steinen er-richtete Hütte war mehr in die Erde gebaut, als dass sie herausragte, um den wilden Atlantikstürmen, die im Winter über die Inseln fegten möglichst wenig Widerstand zu bieten. Das Strohdach war mit Seilen, an denen große Steine hingen, überspannt und teilweise mit Gras überwuchert. Vom Dachfirst stieg Rauch auf und Andrea roch das Torffeuer. Ein paar zottige Rinder grasten auf den umliegenden Wiesen, vor dem Haus war ein Fischernetz aufgespannt und ein paar Reusen lagen hinter einer hohen Trockenmauer aufgestapelt. Mit Gesten bat der Fischer, denn das war er sicher, obwohl Andrea kein Boot gesehen hatte, das Mädchen ins Haus. Sie musste sich sehr bücken, um nicht an den aus einem langen Schieferstück bestehenden Türsturz zu stoßen.
Drinnen traf sie eine übelriechende Wolke wie eine Wand, eine Mischung aus menschlichen Ausdünstungen, Torfrauch und dem Geruch von Ziegen, mit denen sich die armen Menschen das Dach teilten und es verschlug ihr den Atem. Es dauerte geraume Zeit bis sie sich an das Dämmerlicht der Behausung gewöhnt hatte, genauso wie an die herbe Duftnote, denn nicht nur der Torfrauch ließen ihre Augen tränen. Hätte der Fischer sie nicht bei der Hand genommen und zu einer Sitzgelegenheit geführt, wäre sie blind wie ein Maulwurf herumgetappt. Die Einrichtung der Hütte war mehr als nur spärlich. Ein roh gezimmertes Bett, ein Paar Truhen und die Wandbank, auf der sie saß, bildeten die einzigen Möbelstücke. In der Mitte hing an einem Haken, der an einer Kette vom großen Mittelbalken des Daches hing, ein Kupferkessel über dem rußenden Torffeuer, das in einer Mulde brannte.
An der Feuerstelle saß eine Frau und rührte in dem Topf, an der Brust einen Säugling. Auf dem Boden krabbelten zwei weitere kleine Kinder herum, halbnackt und entsetzlich schmutzig und auf dem Schrankbett saßen noch zwei zerlumpte Jungen im Alter von etwa zehn oder zwölf Jahren. Eine alte Großmutter mahlte mit einer tellergroßen Handmühle Hafermehl und neben ihr hockte ein kleines Mädchen, Wolle spinnend mit einer Spindel. Der Boden der Hütte war zwar sauber gefegt, bestand aber aus nichts anderem als festgestampfter Erde.
Mit Gesten und ein paar Brocken Englisch forderte die Frau Andrea auf, das spärliche Essen der Familie, eine undefinierbare Suppe aus Hafermehl, zu teilen und die Nacht hier zu verbringen. Das Mädchen nahm an, obwohl sie ein sehr schlechtes Gewissen hatte, angesichts der Nahrungsmittel in ihrem Gepäck.
Als sie schließlich am späten Abend todmüde in ihrem Plaid gewickelt am Feuer lag, war sie voller Hoffnung. Ihre ersten Begegnungen mit den Menschen dieser Zeit waren ganz gut verlaufen, auch wenn sie sich an die verheerenden hygienischen Zustände und die bittere Armut erst gewöhnen musste. Aber die Gastfreundschaft dieser armen Leute war überwältigend.
Am nächsten Morgen verabschiedete sich Andrea von dem Fischer und seiner Familie. Als sie ihm Geld für das Essen anbieten wollte, wurde der Mann fast böse. Er wollte für seine Gastfreundschaft nicht bezahlt werden. Doch er beschrieb dem Mädchen dann mit Händen und ein paar Worten, die sie verstand, den Weg zur Fähre über den Sound of Mull, die in Torosay abfuhr, einem Ort, der wohl nur den Namen gemeinsam hatte mit dem, was auf ihrer Karte stand.
Es erwies sich als äußerst schwierig jenes Torosay zu erreichen.
Andrea war es als Mensch des 20. Jahrhunderts nicht gewöhnt solche Strecken zu Fuß zurückzulegen. Sie verlief sich öfters und obwohl das Wetter sich etwas besserte, es milder und frühlingshafter wurde, hingen die Berge ständig in den Wolken, was eine Orientierung sehr erschwerte. Die Menschen, auf die sie traf, waren verängstigt bis unfreundlich. Sie schienen nicht die beste Erfahrung mit Engländern gemacht zu haben.
Sie stellte fest, dass wohl im Hochland des 18. Jahrhundert überwiegend Gälisch gesprochen wurde und ihre Kenntnisse der Sprache waren bis auf einige Höflichkeitsformeln und nicht viel mehr doch sehr beschränkt. Nur zweimal in den drei Tagen ihrer Irrwanderung fand sie ein Nachtlager in einem der vielen Hütten. Sie schlief sonst unter freiem Himmel, was angesichts der niedrigen Nachttemperaturen nicht gerade angenehm war. Sie fror entsetzlich, erwachte an manchen Tag in einer Pfütze oder konnte kein Auge zu tun. Oft genug wurde sie dann von der Trauer um Neil übermannt und sie fühlte sich einsam und verlassen, wenn sie in die wolkenverhangenen Berge starrte.
Als sie am Nachmittag des 20. April endlich den Sound of Mull erreicht hatte, war sie heilfroh. Was Torosay genannt wurde, bestand aus einer Reihe Hütten, die sich am Ufer der Bucht hinzogen und einem größeren, ebenfalls strohgedeckten Haus mit zwei Kaminen, dem Torosay Inn. Es war weder ein Bootssteg, noch irgendetwas, was auch nur annähernd an eine Fähre erinnerte, vorhanden. Am grasigen Ufer lag ein größeres Ruderboot, dessen Hilfsmast wegen des herrschenden Sturmes gekappt war. Die beginnende Flut trieb hohe, graue, schaumbedeckte Wellen in die geschützte Bucht. Draußen, wo das Wasser offen war, zeigte die See eine seltsame türkisene Farbe, die Andrea faszinierend fand. Aber als eine heftige Böe sie erfasste und fast von den Füßen riss, bewegte sie sich in Richtung des Gasthauses. Dort war sie wenigstens geschützt vor den Unbilden des Wetters, denn es begann heftig zu regnen.
An die übliche Duftwolke, wenn sie ein Haus betrat, hatte sich Andrea schon gewöhnt, aber hier in dem Gasthaus kam noch der penetrante Alkoholgeruch dazu, gemischt mit Schweiß, Tabakrauch und Küchendunst der übelsten Art. Der ganze Raum war überfüllt mit mehr oder wenig zerlumpten Gästen, die an Tischen und auf den Wandbänken saßen. Es herrschte einen Moment peinliche Stille, als das Mädchen eintrat. Die Gäste musterten sie neugierig und als Andrea schließlich auf ein freies Plätzchen in der Nähe eines der kleinen Fenster zu-steuerte, ging das Gemurmel weiter.
Vor dem Fenster stand ein Tisch, an dem ein Mann saß, der schon wegen seiner Kleidung auffiel. Er war sauber gekleidet mit einer schwarzen langen Jacke, ähnlich wie sie selbst eine trug, ohne jede Zier, aber mit breiten Ärmelaufschlägen, einer grauen kurzen Weste, dunklen Kniebundhosen und makellos weißen Strümpfen. Vor ihm auf dem Tisch lagen neben dem Teller mit Essen ein schwarzer Dreispitz und eine in Leder gebunden Bibel. Sein Alter konnte Andrea schwer schätzen. Das Gesicht des Mannes war sonnengebräunt, tiefe Falten durch-zogen seine hohe Stirn und liefen entlang der Nase zum Mundwinkel.
Die Haare, die schulterlang waren und die er offen trug, waren dunkel-braun und schon leicht ergraut an den Schläfen.
Er grüßte Andrea freundlich, senkte jedoch sofort wieder den Blick und aß nach einem kurzen Gebet. Offensichtlich war er ein Geistlicher.
Das Mädchen sah nach draußen, wo mittlerweile der Sturm so an Heftigkeit zugenommen hatte, dass man nicht an eine Überfahrt denken konnte. Der Wind trieb den Regen vor sich her und pfiff im Kamin des Gasthauses.
»Die Unbilden des Wetters sind hier auf den Inseln besonders heftig.«, sprach der Mann Andrea schließlich an. Sein Englisch war makellos, ohne schottischen Akzent, aber mit einem Anflug des seltsamen Singsangs der Leute aus Mittelengland.
»So ist es, Reverend, seit ich hier auf Mull bin, habe ich Sturm, Regen und Schnee erlebt, wie sonst nirgendwo.«, antwortete das Mädchen zögernd.
Bei dem Wort Reverend blitzte es böse in den Augen des Mannes auf. So richtig wusste Andrea diese Reaktion nicht zu deuten. Doch noch bevor sie irgendetwas klären konnte, öffnete sich die Tür des Gasthauses erneut und eine Gruppe Rotröcke, offensichtlich eine Patrouille, betrat die Gaststube. Sie wirkten in ihren roten Uniformen, die triefend nass waren, wie ersäufte Ratten.
Die Reaktion der Anwesenden war sichtlich feindlich und die Soldaten hatten sofort die Waffen griffbereit. Sich in einen Gasthof voll von Gälisch sprechenden Hochländern zu wagen, war wohl der sprichwörtliche Gang in die Höhle des Löwen. Es hagelte böse Blicke und das Gemurmel schwoll bedenklich an. Andreas Gegenüber ließ hastig seine Bibel vom Tisch verschwinden und senkte voller Furcht den Blick.
Er und auch das Mädchen waren neben den zerlumpten Hochländern wohl die auffälligsten Personen in dem Gasthaus und flugs steuerte der kommandierende Sergeant auf sie zu.
»Wo kommt Ihr denn her, he!«, fuhr er Andrea in einem fürchterlichem Slang, der für jeden Schotten eine Beleidigung war, höchst unfreundlich an.
»Aus Glasgow.«, antwortete das Mädchen, bemüht so gutes und dialektfreies Englisch wie irgend möglich, zu sprechen.
»Was sucht ein Junge Eures Alters und noch dazu aus Glasgow in dieser verlausten Kneipe auf der Insel Mull, voll von Rebellen und Aufrührern gegen König George?« Mit diesen Worten zerrte er sie zum Stehen.
»Entschuldigt Sir, aber bei einem Sturm vor gut einer Woche ist mein Schiff, das auf dem Weg in die Kolonien von Neu England war, gesunken. Ich bin auf dem Weg zurück nach Glasgow, wo Freunde von mir leben.« antwortete Andrea, wobei sie sich Mühe gab, nicht allzu ausfallend zu werden.
Der Sergeant musterte ihre Kleidung, die durch den Marsch schon arg gelitten hatte und warf einen kurzen Blick auf den Mann, der an Andreas Tisch saß und den sie für einen Geistlichen hielt. »Nun gut, Junge, halte dich fern von diesem rebellischen Gesindel hier!«
Mit diesen Worten ließ er sie los und wandte sich zu seinen Leuten. Nun war der Wirt das Opfer seiner Attacke und der Disput um Lieferung von Ale an die auf Duart Castle stationierten Rotröcke hätte beinahe in einer handfesten Schlägerei geendet. Doch der Wirt lenkte ein, offensichtlich aus Furcht vor Schäden in seinem Haus und einer Verhaftung.
Als die Soldaten endlich gingen, waren alle Anwesenden froh. Das Gemurmel schwoll wieder an und einige Leute begannen wohl provokatorisch Musik zu machen. Ein Mann hatte eine alte Geige, der er so einem Dudelsack ähnliche Töne entlocken konnte, dass Andrea sich nur wunderte. Einige der Lieder kannte sie, jedoch nicht auf Gälisch. Als einer der Männer ›Johnnie Cope‹ anstimmte, lächelte sie still vor sich hin. Die Engländer hatten versucht mit ihren Gesetzen die Kultur der Hochländer zu vernichten und hatten genau das Gegenteil erreicht. Was sonst im Dunst der Geschichte verschwunden wäre, wurde durch diese Verbote erst recht konserviert und bildete den Nationalstolz der Schotten.
Sie trommelte den Takt des Liedes mit den Fingern auf die Tischkante und fing einen seltsamen Blick des dunkel gekleideten Mannes ihr gegenüber auf, der seine Bibel wieder auf dem Tisch liegen hatte.
»Ihr seid also aus Glasgow?«, fragte er schließlich.
»Ja, Reverend, mein Name ist Andreas Schwarz, ich bin kein Schotte, ich bin Deutscher.«, erwiderte sie, denn sie hatte bemerkt, dass der Mann auf ihren Akzent aufmerksam geworden war, etwas, was sie selbst nach drei Jahren in Glasgow nicht ablegen konnte.
Der Blick des Geistlichen verfinsterte sich wieder, so etwas wie Hass blitzte in seinen dunklen Augen auf, was Andrea doch ziemlich verwunderte und sie fast zweifeln ließ, einen Geistlichen vor sich zu haben. »Landsleute von König George sind hier nicht sonderlich be-liebt«, kam es nun von ihm.
Andrea lächelte still. »Ich bin kein Landsmann von König George, ich komme nicht aus Hannover. Ich bin Franke, aus dem Süden von Deutschland.«, erwiderte sie schließlich, um erneute Verwicklungen und Missverständnisse zu vermeiden. Sie warf einen Blick auf die Bibel, die der Mann vor sich liegen hatte.
»Ihr habt den Dialekt eines Mittelengländers und lest in einer gälischen Bibel, das ist auch nicht gerade alltäglich.«, fuhr sie dann fort.
»Ihr seid ein guter Beobachter, junger Mann. Aber woher weiß ein Deutscher, dass dies eine gälische Bibel ist?«, kam es nun noch immer misstrauisch von dem Geistlichen.
Andrea warf einen Blick auf die Überschrift des Kapitels und las sie vor. »Tha Gaidhlig agam, ach chan eil moran, ich spreche Gälisch aber nur wenig«, fügte sie noch hinzu.
»Das ist aber sehr ungewöhnlich, dass jemand Gälisch spricht, der nicht in den Highlands lebt, noch dazu nicht einmal Schotte ist.« Langsam schien das Misstrauen zu schwinden.
»Nun, Ihr seid offensichtlich auch so ein seltsamer Fall, Reverend.«, meinte Andrea.
»Da habt ihr Recht, aber nennt mich um Gottes Willen nicht länger Reverend. Ich bin kein Pastor der Presbyterianischen Kirche.«, meinte er, machte eine Pause und sah Andrea durchdringend an.
»Mein Name ist John Bishop und ich bin ein Prediger der verbotenen Episkopalischen Kirche, der sein Amt nur im Verborgenen ausübt.«, fügte er leise hinzu und musterte das Mädchen erneut überlegend. »Ihr habt also Schiffbruch erlitten an dieser Küste?«, fragte er dann.
Andrea holte tief Luft. Sie musste sich eine plausible Geschichte ein-fallen lassen, um ihr Woher zu erklären.
»Ja, am Ross of Mull, in der Nähe von Iona ist mein Schiff gesunken.«, antwortete sie vorsichtig.
Der Prediger ging nicht weiter darauf ein, entgegnete nur flüchtig: »Es ist eine gefährliche Küste, das Ross of Mull«, worauf Andrea nur stumm nickte.
Sie bestellte sich etwas zu essen, während John Bishop weiter in seiner Bibel las. Sie führten noch ein langes und anregendes Gespräch über Andreas Erfahrungen mit den Einheimischen, dann tat sie, was die meisten Anwesenden machte, sie suchte sich einen Platz zum Schlafen.
Am nächsten Morgen ging das Mädchen dann gemeinsam mit dem Prediger, der, wie sich herausgestellt hatte, ein Stück des Weges, den Andrea nach Glasgow nehmen musste, mit ihr gemeinsam zurücklegen würde, zum Fährableger.
John Bishop hatte ein Haus in der Nähe von Kingairloch, das er als geheime Kirche und Versammlungsplatz nutzte. Das Mädchen fand es als sehr angenehm einen Weggenossen zu haben. Sie konnte sich gut mit dem Mann unterhalten und sie lief in seiner Gesellschaft nicht Gefahr, sich wieder zu verlaufen.
Trotzdem fühlte sie sich an diesem Morgen nicht besonders wohl. Es war noch immer windig und kühl. Aber die Sonne brach beharrlich durch die dunklen, regenschweren Wolken hindurch und hüllte das Ufer und die hohen Berge von Morvern in düsteres Zwielicht. Die Trauer um Neil hatte Andrea wieder erfasst und schlich sich eiskalt von hinten an. Nur mit Mühe konnte sie ihre Fassung bewahren und die Tränen zurückhalten.
Der Prediger schien ein guter Menschenkenner zu sein und bemerkte schnell, dass mit dem vermeintlichen jungen Mann etwas nicht stimmte, dass ihn etwas bedrückte. Doch Andrea reagierte nicht auf seine Versuche, sie zum Reden zu bringen. Er stieß bei ihr auf eine Mauer des Schweigens.
Mittlerweile hatte man das Fährboot präpariert und das Mädchen zweifelte, dass man mit dieser Nussschale das andere Ufer erreichen konnte. Besonders als sie die zahlreichen Fahrgäste am Ufer sah, die nicht nur zwei Beine hatten.
Natürlich konnte der Fährmann nicht alle Leute übersetzen, aber der kräftige Wind ließ ihn schnell die Meeresbucht überqueren und zurück-kehren. Er teilte sich das Geschäft, wie es wohl üblich war, mit einem weiteren Fährmann in Kinlochaline.
Ihre eigene Überfahrt war etwas beengt und durch die raue See recht ungemütlich. Andrea starrte, um sich abzulenken, zurück auf die wolkenverhangene Küste von Mull, von der sie sich stetig entfernten.
Hier hatte Neils Leben ein so tragisches Ende gefunden. Andrea hatte mit ihm ihre ganze Liebe und ihr Leben, ihre Zukunft verloren. Ihre Zukunft war nun die Vergangenheit eines wilden und unbekannten Landes. Ihre Hoffnung schien sie ebenfalls auf dem Ross of Mull be-graben zu haben.
»Das Meer hat Euch einen geliebten Menschen genommen, einen Menschen, der Euch viel bedeutete, nicht wahr?«, sagte der Prediger plötzlich in Andreas Gedanken hinein.
Sie sah ihn betroffen an und senkte den Blick, denn sofort schossen ihr die Tränen in die Augen. »Ja, ihr habt recht, Sir, ich habe meinen Freund auf Mull begraben müssen, er hatte nicht so viel Glück wie ich.«, entgegnete sie schließlich mit tränenerstickter Stimme.
John Bishop legte Andrea seine rechte Hand sanft auf die Schulter, eine Geste des Trostes, die ihr gut tat. »Es ist nicht gut, wenn man sich nur in die Trauer stürzt. Es ist Gottes Wille, dass wir alle diesen Weg gehen müssen, der eine früher, der andere später. Man sollte nicht mit seinem Schicksal hadern!«, sagte er leise.
Andrea senkte den Blick, nachdem sie den Prediger erneut angesehen hatte. »Ich weiß nicht, Sir, ob ich jemals den Tod meines Freundes überwinden kann, denn er hat mich aus einer heilen geborgenen Welt herausgerissen mitten hinein in Kälte und Einsamkeit. Ich zweifle, dass ich je wieder ein normales Leben führen kann.«, kam es nun recht pessimistisch von ihr.
»Ich möchte Euch gerne meine Hilfe anbieten, junger Freund. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr eine Weile in meinem Haus in Kilmaleu bleiben, bis Ihr Euch etwas gefasst habt.«, erwiderte John Bishop darauf. »Übri-gens müsst Ihr mich nicht mit Sir anreden, John reicht«, fügte er noch hinzu und ein Lächeln huschte über sein sonnengebräuntes Gesicht.
Andrea nickte stumm und schwieg. Hilfe hatte sie bitter nötig, allerdings zweifelte sie, dass John Bishop ihr wirklich helfen konnte.
Durch den Seegang schwappte immer wieder Wasser in das überfüllte Boot und einige Leute waren ständig damit beschäftigt, es auszuschöpfen. Andrea half mit, um sich von der Übelkeit abzulenken, die sie erfasst hatte. Sie war schließlich froh, endlich Kinlochaline erreicht zu haben.
Der Ort war genauso, wie Torosay – eine ärmliche Ansammlung von Hütten, die sich die Bucht entlang zogen, umgeben von Feldern, die gerade zur Frühjahrsaussaat vorbereitet wurden.
John Bishop lud sie im ›Gasthaus‹, einer äußerst verkommenen Bruchbude, zum Frühstück ein, dass auf jeden Fall besser war, als es der schmuddelige Wirt und die vor Schmutz strotzende Hütte erwarten ließen. Hier erzählte er schließlich etwas über sich selbst. Eine Lebensgeschichte, die Andrea etwas verwunderte, aber auch erklärte, warum er gerade als Engländer hier im schottischen Hochland den Leuten mit Episkopalischem Glauben beistand, gegen die Gesetze König Georges.
Er war in der Nähe von London geboren, als Sohn eines englischen Offiziers, eines verarmten Landadligen. Seine Mutter war aus Schottland, aus Lochaber. Die Bibel, welche Andrea bei ihm gesehen hatte, gehörte ihr und war das Einzige, was ihm von seiner Mutter geblieben war. Fern von zu Hause hatte sie ihn in dem Glauben ihrer Heimat erzogen, der makabererweise dem der Anglikanischen Kirche in England entsprach, jedoch später als die Religion der Rebellion durch den König verboten wurde. Obwohl sein Vater für ihn eine Karriere als Soldat anstrebte, wurde er Priester und zerstritt sich vollkommen mit ihm. Nach dem Tod einer Mutter ging John nach Schottland und schloss sich dort 1745 der Rebellenarmee unter Prinz Charles Edward Stuart an. Er machte alles mit, von den ersten Siegen, dem Vorstoß bis nach Derby, den Rückzug, die Schlacht bei Falkirk und das elende Ende des Aufstandes auf dem Moor von Culloden. Im Nachhinein erfuhr er, dass sein Vater bei Prestonpans gefallen war. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab in Schottland zu bleiben, das ja die Heimat seiner Mutter war. Nach außen hin hatte John seinen Frieden mit den Mächtigen gemacht, doch im Verborgenen gab er den armen Menschen hier in Lochaber, Morvern und Mamore den geistlichen Beistand, den sie durch die Presbyterianische Kirche und ihre Vertreter nicht be-kamen. Eine gefährliche Angelegenheit, denn es drohte ihm die Deportation in die Kolonien, sollte man hinter sein verborgenes Tun kommen. Der jetzige Kommandeur von Fort William, ein gewisser John Crawfurt, hatte ein wachsames Auge auf ihn, so dass er sehr aufpassen musste, was er tat.
Andrea war froh, solch einen Gefährten für ihren Weg gefunden zu haben. Er kannte sich in der Gegend aus, so dass sie sich nicht in dem bergigen Terrain heillos verlief. Zwar wollte er sie nur bis nach Kilmaleu, einem kleinen Ort am Ufer des Loch Linnhe begleiten, aber mit Sicherheit konnte er ihr sagen, wie sie nach Glasgow kam.
Der Gedanke an Glasgow schauderte sie. Was würde sie dort vorfinden, war es der Ort, die sie zu kennen glaubte. Mit Sicherheit nicht, aber sie musste sich ein Ziel setzen!
John Bishop war auch ein guter Lehrer, was den Umgang mit den Einheimischen anbetraf. Sie beobachte aufmerksam, wie er mit ihnen sprach und sie lernte auch einen guten Teil der verworrenen Geschichte und der Zustände in diesem Landstrich kennen.
An ihrem zweiten Wandertag erzählte er ihr etwas, was zeigte, wie nah hier Freund und Feind waren und wie der Hass zwischen verfeindeten Clans all die Gesetze König Georgs Lügen strafte.
Sie hatten mittlerweile das Ufer des Loch Linnhe, in der Nähe von Kingairloch, erreicht, und machten dort eine Rast. Es war ein milder Tag, die Sonne schien warm und an der windgeschützten Stelle, an der sie sich befanden, war es sehr gemütlich. Im hellen Sonnenschein sah man deutlich das gegenüberliegende Ufer der Bucht.
»Wisst Ihr wie dieses Gebiet dort drüben heißt?«, fragte John Bishop plötzlich und Andrea schüttelte stumm den Kopf.
»Es ist das Gebiet der Stewarts, deren Anführer Charles Stewart of Ardshiel, einer der Rädelsführer des Aufstandes, war. Die Campbells sind seit Jahrhunderten Blutfeinde der Stewarts, genauer gesagt, seit es ihnen gelungen ist durch Betrug und Verrat die Lordschaft von Lorne an sich zu reißen, die einst die Stewarts inne hatten.«, begann er schließlich zu berichten.
»Zwar versucht der König in London und das Parlament eben jenen Clangeist mit den Gesetzen, die sie nach dem letzten Aufstand erließen, auszurotten, aber der Hass, der seit Jahrhunderten zwischen den ver-feindeten Clans besteht, wird so fürchte ich, auch das überleben. In Appin, so nennt man dieses Gebiet dort drüben, treibt dies ganz besonders unschöne Blüten.«, fuhr er fort und sah Andrea, deren Gesicht einen seltsamen Ausdruck bekommen hatte, nachdenklich an.
Das Mädchen fröstelte, trotz der Sonne. Ihr fiel plötzlich ein Buch von Robert Louis Stevenson ein, das sie als Teenager regelrecht verschlungen und das ihre Liebe zu Schottland begründet hatte. Es hieß ›Entführt oder die Abenteuer des David Balfour‹. Sie kam sich fast schon vor wie jener David Balfour, denn sie war ganz in der Nähe gestrandet, an dem auch Stevensons Held die Küste von Mull betrat, und nun saß sie am Ufer des Loch Linnhe und hörte die Geschichte von Appin, von der Fehde zwischen den Stewarts und den Campbells, wie sie David von Mister Henderland gehört hatte. Es war unheimlich.
»Habt Ihr schon von den Vorfällen in Appin gehört, junger Freund?«, fragte nun der Prediger mitten in Andreas wirre Gedanken hinein. Sie schüttelte stumm den Kopf.
Er erzählte Andrea nun eine Geschichte, die sie nie zuvor so gehört hatte. Anders als bei Stevenson Roman gab es hier nicht nur die bösen Campbells und die von ihnen vertrieben Stewarts, sondern eine überaus verworrenen Geschichte von Clan-Feindschaft und Hass und mitten darin, Colin Campbell of Glenure, der das Beste für sich und seinen Clan daraus machen wollte und James Stewart of the Glen, der versuchte für seine Leute, besonders für seinen Halbbruder Ardshiel, zu retten, was zu retten war.
»Am 15. Mai werden viele Pächter im Glen Duror in Ardshiel und Lettermore ziehen müssen, um Platz zu machen für Campbells. James Stewart versucht verzweifelt seit einigen Wochen dem Ganzen legal einen Riegel vorzuschieben, aber ich fürchte, ohne Erfolg. Ich weiß nicht was geschehen wird, wenn der rote Colin seine Pläne durchsetzt. Sein Leben ist sowieso in ständiger Gefahr, besonders in Lochaber, auf dem Gebiet seiner Mutter, wo er auch Vertreibungen geplant hat. Ich fürchte es wird Schlimmes geschehen.«, schloss der Prediger am Ende.
Andrea hatte dem Bericht John Bishops aufmerksam zugehört. Stumm sah sie hinüber zu den Bergen, die im bläulichen Dunst schimmerten. Sie wusste wie die ganze Sache enden würde. Colin Campbell of Glenure würde sein Ende irgendwann an einem Sommerabend im Wald von Lettermore finden und James Stewart mit seinem Leben dafür bezahlen und wer auch immer die fatalen Schüsse abgegeben hatte, würde ein Geheimnis der Geschichte bleiben. Andrea sah ganz deutlich eine Szene einer Verfilmung von Stevensons Roman vor sich, sie sah Glenure getroffen vom Pferd stürzen und James mit dem Strick um den Hals.
»Es wird böse enden, Glenure und James werden beide teuer mit ihrem Leben bezahlen.«, sagte sie leise, mit einem seltsamen Gesichtsausdruck.
John Bishop sah sie erschrocken an und bekreuzigte sich hastig. »Taibhsearachd!«, entfuhr es ihm voller Furcht.
»Taibhsearachd? «, wiederholte Andrea vorsichtig fragend.
»Taibhsearachd, Ihr habt das zweite Gesicht, Ihr habt die beiden tot-gesagt!«, kam es noch immer recht furchtsam von dem Prediger, der sie misstrauisch musterte.
Das Mädchen schüttelte den Kopf. Der Aberglaube seiner keltischen Vorfahren schien auch tief in diesem Mann verwurzelt zu sein. Etwas vollkommen Unverständliches für einen Menschen des 20. Jahrhunderts.
»Ich habe nicht das zweite Gesicht, ich habe nur die Konsequenzen gesehen. Ich habe Eins und Eins zusammengezählt. Wenn dieser James Stewart nicht auf legalem Wege die Vertreibungen verhindern kann, wird sicher Jemand einen anderen Weg finden und ich glaube Ihr könnt Euch das besser vorstellen, als ich, wo ich doch fremd in diesem Land bin.«, versuchte sie den Mann zu beschwichtigen.
John nickte stumm und sah sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. »Da habt ihr Recht, junger Freund. Doch ihr habt es so seltsam gesagt, als hättet ihr es mit Euren eigenen Augen gesehen.« Mit diesen Worten stand er auf und sie setzten ihren Weg fort, entlang der Küstenlinie nach Kingairloch.
Das Schweigen des Predigers hielt noch eine ganze Weile an, doch schon am Abend begann er recht lebhaft von keltischen Mythen und Sagen zu berichten, von den Feen, den Brownies, einer Art Wichtelmänner, vom Each Uisge, dem Wassergeist, von den Selkies, dem Meervolk und dem Tir nan Oig, dem Land der ewigen Jugend.
Andrea hörte sehr aufmerksam zu. Hier in diesem Landstrich, im schottischen Hochland, schienen der christliche Glaube und die alten heidnischen Bräuche der Kelten sehr ineinander verwoben zu sein. Vieles davon würde bis ins 20. Jahrhundert hinein lebendiger Brauch bleiben.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichten sie Kilmaleu, einen kleinen Ort, ein Clachan, wie man in Gälisch die Ansammlung von Hütten nannte..................


Andrea folgte dem Pfad zwischen dem hohen Heidekraut, der deutlich zu erkennen war, so ausgetreten oder besser ausgespült war er, bis zu einem Bergrücken unterhalb des Gipfels des Pap of Glen Coe. Die Bäume, hauptsächlich Birken, Erlen und Ebereschen waren jung und licht, so dass sie einen guten Rundblick von der Felsnase, auf der sie stand, aus hatte. Zu ihrer Rechten zog sich bleigrau die Wasserfläche des Loch Leven, auf der gegenüberliegenden Seite erhoben sich die mächtigen Berge von Mamore. Sie konnte Brians Haus nicht mehr sehen, ein merkwürdiger Felsbuckel, der tief in die Bucht ragte und sie kurz vor Caillich einengte, versperrte ihr die Sicht. Auch hier waren einige Häuser zu sehen, die Streifen der Felder, die Rigs oder Lazy Beds, wie sie auch genannt wurden, die zum Meer hinunter liefen, Vieh das auf den kargen Weideflächen graste. Es war ein friedlicher und zugleich befremdlicher Anblick für Andrea. Sie war schon einmal hier gewesen, an dieser Stelle und es hatte alles anders ausgesehen. Es war nicht das Schottland, das sie kannte. Es war die Vergangenheit, für Andrea ein unbekanntes Land, wie für die Menschen dieser Zeit die Zukunft. Die Zukunft, die ihr nicht unbekannt war, eine Zukunft die sie kannte.
Ein Blick fiel auf die Meerenge von Ballachulish, die in der Ferne zu sehen war, unterhalb der Bergformation des Ben a Bhethir und ein Schauer rieselte ihren Rücken herunter. Es war eine dunkle Vorahnung. Es würde etwas passieren, etwas Unangenehmes, das fühlte sie. Sie sah plötzlich jene Filmszene vor sich, wie es ihr schon in Morvern gegangen war, als John Bishop ihr von Colin Campbell of Glenure, Cailean Ruadh, dem roten Colin erzählt hatte. Sie wusste nicht, wie nah Stevenson mit seiner Geschichte den historischen Tatsachen gekommen war, einer Geschichte, die hier und jetzt Wirklichkeit war. Ein Roman, den sie für pure Fiktion gehalten hatte, war auf einmal bittere Realität geworden, nicht für Andrea selbst, aber für die armen Leute dort, in dem Gebiet, das an der Meerenge von Ballachulish begann und das Appin hieß. Andrea seufzte und schüttelte diese verwirrenden Gedanken ab.
Sie folgte dem Pfad weiter, der sie den Hang hinunter zum Tal des Glen Coe führte, zu einem Ort, der Carnoch genannt wurde und den sie im 20. Jahrhundert als Glen Coe Village kannte. Sie erreichte die Militärstraße, die ihren Namen halbwegs verdiente, kurz hinter einer Brücke, die den River Coe hinter der Ortschaft, die ebenfalls nichts weiter als eine Ansammlung elender Hütten war, bis auf ein etwas größeres Haus. Die Straße, die so breit war, das man mit einem Fuhrwerk darauf fahren konnte und bequem zwei Reiter nebeneinander Platz hatten, führte durch einen lichten Auwald, der sich an beiden Ufern des Flusses entlang zog, hinein ins Glen Coe. Andrea kam ein zweirädriger Ochsenkarren entgegen. Auf dem Bock, des mit Säcken beladenen und gefährlich schaukelnden Gefährts, saß ein großer, viel-leicht vierzigjähriger Mann, mit pechschwarzen Haaren und einem zotteligen Bart von derselben Farbe. Er grüßte Andrea freundlich, als er passierte und das Mädchen erwiderte genauso freundlich den Gruß.
Im Auwald hatte der Frühling eine verschwenderische Pracht entfaltet. Glockenblumen und Primeln bildeten blaue oder weiße Teppiche. Zwischen den herrlich frischen Duft der erwachenden Natur mischte sich der Geruch von Torfrauch und Stall.
›Highland Smoke‹, dachte Andrea noch schmunzelnd, als plötzlich eine zottelige, schwarze Kuh mit riesigen Hörnern, mitten auf dem Weg stand. Das Tier sah nicht gerade wohlgenährt aus. Sogar durch das verfilzte Fell sah man die Knochen spießen. Die Kuh trottete vom Weg herunter zwischen die Bäume des Auwaldes und ließ sich dort das saftige Grün schmecken. Andrea wusste, dass die Tiere nicht gefährlich waren, aber sie hatte einen Höllenrespekt vor den mächtigen Hörnern.
Es war angenehm zu laufen und immer wieder begegneten ihr Leute, hauptsächlich Bauern, ärmlich gekleidet, aber bei weitem nicht so wie die armen Pächter, denen sie auf Mull begegnet war. Sie waren wohl auf dem Weg nach Carnoch oder zu ihren Feldern, die in dem hier breiten Flusstal überall auftauchten. Die vereinzelten Hütten, die sie sah, waren nichts weiter als mit Heidekraut gedeckte Steinhaufen, ohne Fenster und Kamine. Dass solche Behausungen noch bis in die 50er Jahre ihres eigenen Jahrhunderts auf den Äußeren Hebriden bewohnt wurden, konnte sie kaum fassen. So etwas hatte es in Deutschland nicht einmal vor 200 Jahren gegeben. Aber es war eben die Realität des 18. Jahrhunderts in den schottischen Highlands.
Schon bald hatte sie das fruchtbare Gebiet des Glen Coe hinter sich gelassen und gelangte in jenen Teil, der auch den Reisenden im 20. Jahrhunderts das Blut in den Adern gefrieren ließ, wenn sie etwas von der Geschichte des Tales wussten. 1752 war es gerade ein Menschenleben her, dass hier an einem frostigen Februar Morgen, die Campbells über ihre schlafenden Gastgeber, die MacDonalds herfielen, auf Befehl des Königs in London die Männer ermordeten, die ihnen zuvor tage-lang Gastfreundschaft gewährt hatten.
Vor Andrea lag der Loch Achtriochtan, ein kleiner, flacher See, auf beiden Seiten von düsteren, hoch aufragenden Bergen eingerahmt. Steile Felsformationen, welche den finsteren und gespenstischen Eindruck noch verstärkten. Doch auch hier klebten Hütten wie kleine steinerne Nester unterhalb der Hänge. Der Weg führte sie an einer Gruppe größerer und kleinerer Behausungen vorbei, die sich bei näherem Hinsehen als eine Wassermühle mit Nebengebäuden entpuppte, die das Wasser des River Coe zum Mahlen von Getreide nutzte.
Im Gegensatz zum 20. Jahrhundert, wo die intensive Schafzucht die Vegetation sehr geschädigt hatte, war der Teil des Tales, der nicht landwirtschaftlich genutzt wurde, von einem schier undurchdringlichen Gestrüpp aus jungen Birken, Erlen, Buschwerk, Heide und Farnflächen bedeckt, das sich zwischen teilweise riesigen Findlingen und Geröllfeldern, Hinterlassenschaften der letzten Eiszeit, erstreckte. Die Straße schlängelte sich zwischen diesen Flächen hindurch und man wusste nicht, was hinter der nächsten Wegbiegung wartete.
Das Wetter verschlechterte sich zusehends. Düstere Wolken hatten sich über dem Tal zusammengeballt und hüllten alles in ein finsteres Zwielicht. Böiger Wind ließ die Schöße ihrer Jacke flattern und trieb Staubwolken über den Weg. Andrea holte den Plaid aus ihrem Seesack und wickelte sich in das große karierte Wolltuch.
Das Tal wurde immer enger und die Hänge auf beiden Seiten immer steiler. Flächen mit mannshohem Adlerfarn bedeckten sie teilweise. Zu ihrer Linken erhoben sich die drei seltsam geformten Gipfel, die als die ›Three Sisters of Glen Coe‹ bekannt waren. Sie waren düster und zum Greifen nahe im Zwielicht des aufziehenden Unwetters.
Andrea bog gerade um eine Felsnase herum, als der Wind ihr ein seltsames Klirren zuwehte, das sie anfänglich nicht einordnen konnte. Doch dann sah sie aus einem Farnfeld einen Trupp englischer Soldaten auftauchen, die gerade eine kleine Brücke über einen rauschenden Bach überquerten. Voran ritt ein Offizier mit Federhut und weißer Perücke. Die ihm folgenden Soldaten waren bis auf den Sergeant, der sie eben-falls zu Fuß anführte, mit jenen seltsamen Mitras, Bischofsmützen ausstaffiert und alle mit Musketen bewaffnet.
Nach dem ersten Zusammenstoß mit der Staatsmacht des Vereinigten Königreichs an der Fähre von Corran, hatte Andrea ein äußerst ungutes Gefühl, wenn sie einen Rotrock sah und das war wohl nicht unbegründet.
Sie war vor einem steilen Felsen stehen geblieben um die Soldaten passieren zu lassen. Mit finsterer Miene steuerte der berittene Offizier auf sie zu und ließ den Trupp halten. Er drängte sein Pferd so nah an Andrea heran, dass sie an die Felswand gedrückt wurde.
Andrea wurde mit einem Schlag bewusst, dass sie erneut mit dem verbotenen Plaid unterwegs war. Angst schnürte ihr die Kehle zu.
Mit seiner Reitpeitsche fuchtelte der Offizier ihr vor dem Gesicht herum und tippte auf den karierten Plaid. »Frag ihn wo er herkommt, dieser aufsässige Highlander, MacDonald!« Mit diesen Worten wandte er sich an den Sergeant, der hinter ihm stand.
Mit Entsetzen erkannte Andrea ihn. Es war eben jener Sergeant, mit dem sie schon an der Fähre aneinander geraten war. Wie konnte Andrea auch so unvorsichtig sein und in einer Gegend, wie dem Glen Coe, das von den Soldaten seiner Majestät kontrolliert wurde, in einem Tartanplaid oder etwas, was man dafür hielt, herumlaufen. Der Zwischenfall an der Fähre hätte ihr eine Warnung sein sollen. Auf das Tragen der Hochlandtracht standen schwere Strafen.
Der Soldat packte Andrea unsanft an der Jacke und schüttelte sie. Das Mädchen sah erschrocken in sein gerötetes Gesicht. Der Mann hatte seine Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst und eine tiefe Falte lief von seinem Nasenflügel zum Mundwinkel herunter.
»Se an amadan tha anad, amadan dearg a ghille! Du bist ein Dummkopf, ein verdammter Dummkopf, Junge!«, fuhr er sie an. Dann folgte ein Schwall Gälisch, bei dem Andrea nur einzelne Worte erahnen konnte. Das Ganze verwirrte sie vollkommen.
Der Sergeant kannte sie, wusste, dass sie kaum Gälisch sprach und dass sie Ausländer war. Trotzdem spielte er hier eine Komödie, die auf nichts anderes hinzielte, als sie zu schützen. Ihr war klar, dass, wenn der Offizier erfuhr, dass sie nicht zum ersten Mal mit einem Plaid erwischt wurde, ihr eine Gefängnisstrafe drohte. Trotz alledem war der Sergeant keinesfalls freundlich zu ihr. Im Gegenteil, er stieß sie so grob an, dass sie gegen die Felswand prallte und fast stürzte.
»A bheil thu tuigsinn? Verstehst du mich?«, schrie er sie an.
Andrea schüttelte den Kopf und versuchte das Gleichgewicht zu halten.
»Der Kerl versteht kein Gälisch. Er ist nicht von hier, fürchte ich Sir«, erklärte der Sergeant nun dem Offizier, der beunruhigt zu den düsteren, regenschweren Wolken aufschaute, die sich über ihren Köpfen zusammen ballten.
»Lasst uns zu einem Ende kommen. Wenn du nicht sofort sagst, wo du den Plaid her hast und wo du hin willst, du kleiner, dreckiger Schurke, dann lasse ich dich in Fort William in Ketten legen. Dann wirst du dich als Zwanzigpfünder auf einem Schiff in die Kolonien wiederfinden!«, schrie er Andrea in seinem abgehackten mittelenglischen Akzent ungehalten an.
Das Mädchen zögerte nur einen Augenblick. Welche Geschichte sollte sie nun wieder erzählen, keine anderer als die, welche sie dem Sergeant an der Fähre aufgebunden hatte, beschloss sie. Doch ihr Zögern hatte Folgen.
»Antworte du maulfauler, stinkender Trottel!« Mit diesen Worten begann der Offizier mit seiner Reitpeitsche auf den vermeintlichen Jungen einzuschlagen.
Andrea versuchte ihr Gesicht zu schützen und sank zu Boden, doch die Peitsche traf ihre Wange und eine brennende Strieme zog sich darüber.
»Haltet ein Sir, ich bin fremd in diesem Land und es war mir nicht bekannt, dass es verboten ist, diese karierte Decke zu tragen. Arme Leute haben sie mir geschenkt, weil ich bei einem Schiffbruch auf Mull alles verloren habe!«, rief sie in höchster Not, bemüht dialektfrei englisch zu sprechen.
Der Sergeant zog Andrea wieder auf die Füße, schüttelte sie erneut grob. »Warum antwortest du König Georges Soldaten nicht sofort, was für ein Fremder bist du, wohl Franzose?«, fuhr er das Mädchen an.
Andrea sah erschrocken in sein Gesicht, das finster und entschlossen wirkte. Nur in seinen unergründlich tiefblauen Augen, las sie etwas anderes.
»Ich bin kein Franzose Sir. Ich bin Deutscher«, antwortete sie ängstlich. »Bitte, Ihr müsst mir glauben, Sir!«, fügte sie noch vorsichtshalber auf Deutsch hinzu.
Der Offizier musterte sie überlegend. »Deutscher also, was treibt ihr euch in dieser Gegend herum?«, fragte er scheinbar wohlgestimmt.
»Ich habe Schiffbruch erlitten Sir, vor zwei Wochen auf Mull und versuche zurück nach Glasgow zu kommen, wo ich seit zwei Jahren lebe.«, antwortete Andrea vorsichtig.
»Nun gut, das will ich dir glauben, Bursche. Aber wer seit zwei Jahren in Schottland lebt, sollte seiner Majestät Gesetze kennen und ohne Strafe kommst du mir nicht davon!«, erwiderte der Offizier mit finsterer Miene.
»Haltet den Burschen fest, MacDonald.«, fügte er noch hinzu und stieg vom Pferd.
Der Sergeant packte sie grob an den Armen und drehte sie mit dem Rücken zu dem Offizier. Erschrocken sah Andrea in sein Gesicht, das starr wie eine Maske war, während der Engländer anfing ihren Rücken mit der Reitpeitsche zu traktieren. Laut begann er zu zählen und die Soldaten im Chor mit.
Zum Glück dämpfte die dicke Kleidung die Schläge, doch der Offizier traf sie auch mehrmals am Kopf und dem Nacken, was fürchterlich brannte und ihr die Tränen in die Augen trieb. Aber Andrea gab keinen Laut von sich.
Der Sergeant stemmte sich gegen sie, weil das Mädchen auszuweichen versuchte. Als sie kurz aufsah, fing sie erneut einen seltsamen Blick des Soldaten auf.
Bei »Fünfzehn!« ließ er sie los und Andrea kippte vornüber in den Schlamm auf dem Weg. Sie rollte sich schützend zusammen, weil sie weitere Schläge erwartete. Doch der Offizier schien zufrieden mit dem Ergebnis seiner Bestrafung zu sein.
Der Sergeant beugte sich zu Andrea herunter. »Lass dir das eine Lehre sein, Bursche.«, flüsterte er in seinem weichen Highland Dialekt, zerrte ihr grob den Plaid weg und beförderte ihn in den rauschenden Gebirgsbach unter der Brücke.
»Mach, dass du nach Glasgow kommst, a Ghearmailteach!« , fügte er noch laut hinzu und versetzte Andrea, die sich gerade aufrappelte, einen Fußtritt, so dass sie erneut im Schlamm landete.
Schallendes Gelächter folgte von den Rotröcken, die sich wieder auf Befehl des Offiziers in Marsch gesetzt hatten.
Andrea versuchte auf die Beine zu kommen, doch fast jeder Soldat, der vorüber lief, versetzte ihr erneut einen Fußtritt, so dass sie sich nur wie ein Igel zusammenrollte und wenigstens ihren Kopf und das Gesicht zu schützen versuchte. Es trieb ihr die Tränen ins Gesicht und sie weinte lautlos, bis der Trupp sich endlich entfernt hatte.
Warum war sie nur so unvorsichtig gewesen? John hatte sie ja zur Genüge gewarnt.
Andrea lauschte angespannt. Die Geräusche der Soldaten waren verstummt, nur das Rauschen des Baches und das Pfeifen des Windes, der über sie strich, war zu hören. Mühevoll rappelte sie sich auf. Sie war vollkommen schlammbesudelt und pitschnass. Die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht, auf dem die Strieme, welche die Reitpeitsche des Offiziers hinterlassen hatte, wie Feuer brannte.
Langsam ging sie zum Bach hinunter und säuberte sich das Gesicht und ihre Kleidung – so gut es ging. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie ihren Seesack verloren hatte und sie erschrak für einen Moment. Der Inhalt durfte keinesfalls in die Hände eines Menschen des 18. Jahrhunderts gelangen! Doch dann erinnerte sie sich, dass er während der ersten Schüttelattacke des Sergeanten von ihrer Schulter und in die Farne am Wegrand gerutscht war.
Andrea band ihre Haare wieder zusammen und lief hinauf zum Weg, ein Stück zurück bis zu der Stelle, an der sie gestanden hatte. Sie rutschte einen kleinen Abhang hinunter zu den Farnen. Einige Stängel waren umgeknickt, doch von dem Seesack war keine Spur zu sehen. Andrea lief tiefer hinein in das Gewirr des Adlerfarns, der höher als sie selbst war. Sie fluchte leise in ihrem Glaswegian Slang, als sie über einen Stein stolperte und auf allen Vieren landete.
Gerade als sie wieder aufstehen wollte, sah sie in das Gesicht eines jungen Mannes. Sie sank zurück und presste sich die Hand auf den Mund, um nicht laut zu schreien, was wohl das Klügste war, denn ihr Gegenüber hatte einen langen Dolch gezückt und hielt ihn ihr an den Hals. »Dun do beul, a ghille! Halte den Mund Junge!«, zischte er auf Gälisch.
Andreas Herz schlug wie ein Trommelwirbel, ihr war übel und sie hatte Mühe, nicht vollkommen vor Angst die Fassung zu verlieren. Was würde noch kommen, bis sie Glasgow erreichte. Ihre dunkle Vorahnung vor wenigen Stunden schien sich zu bestätigen. Ein Mann, der sich in den Farnen vor den Rotröcken verbarg, konnte nichts Gutes bedeuten.
Stumm musterte sie ihr Gegenüber. Der Fremde mochte Ende Zwanzig sein, trug einen braunen, langen, grob gewebten Umhang, unter dem sie eine dunkelblaue Jacke, mit auffälligen Borten und Metall-knöpfen und eine rote Weste ausmachte. Auf dem Kopf hatte er ein blaues Bonett, eine dieser barettähnlichen Mützen der Schotten, unter dem pechschwarze, lockige Haare hervorquollen. Um die Haare unter Kontrolle zu bringen, hatte er sie zu einem festen Zopf geflochten, der noch mit einem breiten Stoffband umwickelt war.
Sein Gesicht war sonnengebräunt, länglich, markant geschnitten und irgendwie fleckig pigmentiert, was Andrea etwas seltsam vorkam. Die Augenfarbe konnte sie unter den dichten schwarzen Brauen, über den tief liegenden Augen, im Zwielicht das in den Farnen herrschte, nicht genau ausmachen. Aber sie vermutete dunkle Augen, was zu den tief-schwarzen Haaren passen würde.
Auch ihr Gegenüber musterte Andrea aufmerksam, er zog schließlich seinen Dolch zurück und ließ ihn verschwinden.
»’Ist nicht gut Kirschen essen mit den Rotröcken a Ghearmailteach?«, sagte er dann mit einer angenehmen, tiefen Stimme, mit dem sanften Hauch der Hochlandschotten, deren Muttersprache Gälisch war. Ein freches Grinsen erschien dabei auf seinem Gesicht.
Andrea erwiderte nichts, schluckte nur und sah den Schotten an wie eine Erscheinung.
»Du suchst nicht zufälligerweise das hier?« Mit diesen Worten griff er hinter sich und drückte dem fassungslosen Mädchen den Seesack in die Hände.
»'Hätte mich fast erschlagen, das Ding. Schleppst du Steine mit dir he-rum?«, meinte er dazu und musterte Andrea erneut mit durchdringen-dem Blick.
»Hast du die Sprache verloren a ghille? «, fragte er schließlich und tippte das Mädchen mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand an.
Andrea schüttelte apathisch den Kopf
»Ihr … Ihr macht … mir Angst.«, antwortete sie stockend.
»’War nicht meine Absicht, Bursche, du solltest ja nicht unbedingt hier in den Farnen über mich stolpern.« Erneut huschte ein Grinsen über sein Gesicht und er entblößte eine Reihe weißer, leicht schiefer Zähne. Eine Windböe bog die Farne und es wurde zusehends finster.
»Wir sollten uns einen geschützten Platz suchen, denn hier wird es bald ungemütlich werden. Es zieht ein Unwetter auf!«, mit diesen Worten erhob er sich vorsichtig und spähte über die hohen Pflanzen.
Andrea sah erstaunt auf. Der Mann war ungewöhnlich groß. Die blaue Jacke war lang geschnitten und reichte ihm bis an die Knie. Darunter trug er schwarze, leicht abgewetzte Kniebundhosen und karierte Strümpfe, was genauso wie ihr Plaid ein Verstoß gegen das Gesetz war, welches das Tragen der Hochlandtracht verbot.
Das war sicher nicht der einzige Grund, warum sich der junge Mann hier in den Farnen vor den Rotröcken verborgen hatte.
Ihr fiel plötzlich ein, dass ihr Neil einmal von den sogenannten Jakobiten berichtet hatte, Anhängern des verbannten König James des Vier-ten. Sie vermutete hier einen jener verzweifelten und todesmutigen Männer vor sich zu haben, die für ihren verbannten Clan Chief die Verbindung zu den Zurückgebliebenen aufrecht hielten, Geld und Nachrichten schmuggelten. Offensichtlich war er auch noch Ange-höriger des französischen Heeres, denn sie hatte auf den Metallknöpfen seiner Jacke die Lilie, das Symbol des französischen Königs, entdeckt. Der Farbe und dem Schnitt nach war die Jacke Teil einer Uniform, so auffällig, wie sie war. Andrea konnte sich dunkel erinnern, dass die Franzosen im 18. Jahrhundert eine weiße oder graue Uniform trugen.
»Was ist, a Ghearmailteach, willst du hier in den Farnen anwachsen?«, unterbrach der Fremde Andreas Gedanken und hielt ihr seine kräftige Rechte hin, um ihr aufzuhelfen. »Komm Bursche!«
Das Mädchen sah verwirrt auf die Hand und dann ins Gesicht des Mannes über ihr. Schließlich fasste sie zu und er zog sie zum Stehen. Er war mehr als einen Kopf größer als sie, also genauso groß wie Neil, was sie schon vermutet hatte.
Schweigend folgte Andrea dem Mann, der sich seinen Weg durch die Farne in Richtung des Baches bahnte. Sie beobachtet ihn mit einem seltsamen Gefühl. Irgendetwas in ihrem Hinterkopf warnte sie weiter in Gesellschaft dieses Menschen zu bleiben. Es war ihr Siebter Sinn, der sie schon oft vor fatalen Fehlern bewahrt hatte. Andererseits hatte der Fremde Recht. Ein Unwetter zog auf und hier war weit und breit kein Unterschlupf zu sehen. Offensichtlich war er mit der Gegend vertraut und würde wissen, wo man einen geschützten Platz fand.
Mit ausgreifenden Schritten, denen Andrea kaum folgen konnte und sehr gewandt, lief der Schotte durch die Farne, bis diese an einer sumpfigen Wiese, in der Nähe des Baches, den die Brücke der Militärstraße weiter oben überspannte, endete. Hier blieb er stehen und wartete auf Andrea. Eine Windböe ließ seinen langen Umhang wie ein Segel flattern und zerzauste seine dunklen Locken. Er zog sich das blaue Bonett tiefer ins Gesicht und spähte mit in Falten gezogener Stirn zu den tiefschwarzen Wolken, die sich über dem mittleren Gipfel der Three Sisters zusammen gezogen hatten.
»Beeile dich, es wird gleich losgehen! Pass auf, wo du hin trittst, sonst steckst du bis zu den Knien im Moor. Wo Heide wächst, ist es sicher.«, gab er Anweisungen, als das Mädchen ihn erreicht hatte und begann flink über die Moorfläche zu laufen.
»Was tue ich eigentlich hier?«, fragte Andrea sich selbst, zögerte einen Moment, folgte dem Mann aber schließlich.
Sie war froh endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Nun überquerten sie den Bach an einigen Trittsteinen und liefen einen kaum erkennbaren schmalen Pfad zum Ufer des River Coe hinab.
Andrea folgte dem Schotten beim Überklettern einiger heideüberwucherter Felsen und schließlich einige Steinstufen hinunter zu einem weiteren Wasserlauf, den sie ebenfalls überquerten. Die eigentliche Straße führte weiter oberhalb von ihnen durch ein Gewirr von riesigen Steinquadern, sodass sie, falls dort ein Posten der Rotröcke war, nicht gesehen werden konnten.
Zwischen den Hügeln, die mit Farnen bewachsen waren, erkannte Andrea nun das mit Heidekraut gedeckte Dach einer Hütte. Das schien wohl das Ziel ihrer eiligen Wanderung zu sein und das schützende Dach kam keine Minute zu früh in Sicht.
Ein heftiger Wind kam auf und die Böen rissen sie fast von den Füßen. Der junge Mann hatte sich in seinen langen Umhang gewickelt und stemmte sich in gegen den Sturm. Ein Blitz zuckte vom Himmel und der Donner wurde vom Tosen des Windes verschluckt. Plötzlich begann es zu hageln, haselnussgroße Eiskörner bombardierten sie. Er zog Andrea, die der Wind zu Fall gebracht hatte, wieder auf die Füße und hinter sich her zu der Hütte.
Bei näherem Betrachten war diese halbverfallen und verlassen. Doch, obwohl das Dach einige Löcher hatte, bot es wenigstens etwas Schutz vor dem Unwetter. Sie schüttelten sich die Hagelkörner aus der Kleidung und den Haaren und der Fremde stemmte die halb aus den Angeln gehobene Tür wieder zu.
»Puh, das war keine Minute zu früh.«, meinte er, und als ob die Natur draußen das bestätigen wollte, schüttelte eine Windböe die Hütte, vergrößerte noch das Loch im vorderen Teil des Daches und ein Sturz-bach von Regen ergoss sich ins Innere. Zum Glück war das Haus so gebaut, dass sich die Wassermassen einen Weg unter der Tür hindurch nach draußen suchen konnten. Im hinteren Teil der Hütte waren sie sicher, denn hier war das Dach dicht und sie blieben trocken. Was keinesfalls hieß, dass es gemütlich gewesen wäre, ganz im Gegenteil.
Das Innere der Hütte strotzte vor Schmutz und Andrea stand mit vor der Brust verschränkten Armen fröstelnd da und versuchte auszumachen, was der Mann im Halbdunkel der Hütte trieb. Es raschelte in einer Ecke und er kam mit einem Haufen Heu auf den Armen zu ihr, breitete es vor der Mauer aus, legte seinen langen Mantel darüber und bat Andrea sich zu setzen.
Das Mädchen kam seiner Bitte zögernd nach. Als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, beobachtete sie, wie sich der junge Mann das Bonett vom Kopf zog und es ausschüttelte, schmelzende Hagelkörner aus den Haaren klaubte und sich schließlich das Heu von der Jacke putzte. Aus einer Tasche, die er über der Schulter hängen hatte, holte er einen Beutel Tabak, sowie Stahl und Stein, heraus. Er stopfte sich eine Pfeife, zündete mit Stahl und Stein einen Heidezweig an und setzte sie in Gang.
Im Schein des brennenden Zweiges sah Andrea sein Gesicht erneut und deutlicher. Die seltsame Pigmentierung entpuppte sich als tiefe Narben, die besonders seine Stirn und die Wangen bedeckten.
›Pockennarben‹, schoss es ihr durch den Kopf, das mussten Pockennarben sein. Noch nie hatte sie so etwas gesehen.
Der Mann schien zu bemerken, wie sie ihn anstarrte. Den brennenden Heidezweig immer noch in der Hand, musterte er sie nun neugierig und Andrea erschrak, so durchdringend und forschend war sein Blick. Seine Augen waren nicht dunkel, sondern hell, grau wie das Meer bei Sturm.
»Was ist los, Junge, was starrst du so, willst du auch rauchen?«, fragte er und ließ plötzlich mit einem leisen gälischen Fluch den Zweig fallen, da er sich wohl die Finger verbrannt hatte.
»Nein danke, ich rauche nicht.«, erwiderte Andrea darauf zögernd und schlang fröstelnd die Arme um ihre Knie. Sie fror nicht nur, weil ihre Kleidung feucht war, sondern auch, weil ihr die Situation irgendwie unheimlich war. Sie war ja nun schon einigen Menschen in dieser Zeit begegnet, angefangen bei dem armen Fischer auf Mull, John Bishop und Brian Cameron, den vielen einfachen Leuten unterwegs und nicht zu vergessen seiner Majestät Soldaten. Aber dieser vermeintliche Jako-bit, der neben ihr saß, war ihr nicht geheuer. Ihr siebter Sinn ließ die Alarmglocken läuten und das ziemlich laut.
Erneut zündete der Fremde einen Zweig an und hielt ihn vor Andreas Gesicht. »Wie alt bist du a ghille?«, fragte er mit einem seltsamen Gesichtsausdruck.
Das Mädchen sah ihn kurz an und senkte den Blick, weil sie ihm nicht direkt in die Augen sehen konnte.
»Drei… ah, ich bin sechzehn.«, antwortete sie stockend.
»Wie alt?«, fragte der Mann erneut, als hätte er durch Andreas Versprecher nicht richtig verstanden.
»Sia deug. Sechzehn«, wiederholte sie auf Gälisch.
»Och... a bheil Gaidhlig agad, a ghille? ...bàs mallaichte! Ach … du sprichst Gälisch, Junge … verflucht noch mal!«, erneut hatte er sich die Finger verbrannt.
»Beagan. Ein wenig.«, meinte Andrea einsilbig darauf.
»Wie kommt ein Ghearmailteach, der sechzehn ist, ins schottische Hochland und lässt sich wegen eines karierten Plaids von den Rotröcken verprügeln. Das ist schon etwas seltsam.«, führte der Fremde das Gespräch fort und sog an seiner Pfeife, die kurz aufglimmte und sein Gesicht in der Dunkelheit der Hütte rötlich beleuchtete.
Andrea überlegte einen Moment, das ungute Gefühl in ihrem Hinter-kopf nahm noch zu und ihr gefielen die aufdringlichen Fragen des Mannes nicht.
»Was sucht ein Mann in König Ludwigs Rock, in den Farnen und verbirgt sich dort vor König Georgs Soldaten?«, kam deshalb ziemlich aggressiv die Gegenfrage von ihr.
Im Halbdunkel konnte Andrea nicht genau erkennen, was ihr Gegenüber tat und das tobende Unwetter draußen verschluckte jedes Geräusch. Doch das lange Schweigen des Fremden verhieß nichts Gutes. Plötzlich packte der Mann sie grob am Arm. Sie fühlte eine kalte Klinge an ihrem Hals, unterhalb ihres rechten Ohres.
»Noch eine solche Frage, Junge, und ich blase dir das Lebenslicht aus! Was ich in den Farnen zu suchen hatte, geht dich nichts an!«, fauchte er wie eine Wildkatze.
»Verzeiht mir, Sir, ich wollte Euch nicht zu nahe treten. Ich habe nur eins und eins zusammengezählt.«, versuchte Andrea mit zitternder Stimme die Situation zu entschärfen, doch der Druck der Klinge an ihrem Hals ließ nicht nach.
»Ihr tragt einen französischen Uniformrock und verbergt Euch vor den Rotröcken, also könnt Ihr nur einer dieser Verwegenen sein, die für ihren Chief im Exil ihr Leben aufs Spiel setzen.«, fügte sie schließlich noch hinzu.
»Was weißt du von meinem Chief und was ich für ihn tue, a Ghearmailteach. Nichts, gar nichts, hoffe ich für dich. Beantworte meine Fragen, wie kommst du hier her?«, kam es mit nicht minder scharfem Ton von dem Fremden und um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, presste er das Messer so fest an ihr Kinn, dass Andrea einen brennenden Schmerz verspürte. Die Klinge schien sehr scharf zu sein.
»Wenn Ihr mir die Kehle durchschneidet, kann ich Euch nicht mehr antworten. Nehmt um Gottes willen den Dolch weg, ich bin unbewaffnet, Mann.«, flüsterte das Mädchen mit heiserer Stimme. Der Druck der Klinge ließ etwas nach, nicht aber der schraubstockartige Griff an ihrem Oberarm.
»Ich warte, a Ghearmailteach«, zischte der Mann erneut.
Andrea starrte auf die Pfeife des Fremden, die klimmend vor ihren Füßen lag.
»Ich habe auf Mull Schiffbruch erlitten, dort meinen Freund begraben müssen und bin nun auf dem Weg nach Glasgow, von wo ich aufgebrochen bin, um mit einem Schiff in die Kolonien von Neu England zu kommen.«, antwortete sie schließlich.
»Wie um Gottes Willen kommst du dann zu einem Tartan Plaid, Junge?« Mit diesen Worten ließ der junge Mann Andreas Arm los und auch das Messer verschwand.
»Ich habe die Decke von armen Leuten auf Mull bekommen, ich wusste nicht, dass es ein Tartan Plaid war. Ich habe nicht daran gedacht, dass dieses karierte Zeug verboten ist. Es war ziemlich dumm von mir.« Andrea rieb sich den Oberarm, der ziemlich schmerzte und tastete nach ihrem Kinn, von dem Blut tropfte.
»Du bist ein ziemlich einfältiger Bursche, a Ghearmailteach, und wenn du lebend nach Glasgow kommen willst, musst du noch einiges lernen.«, kam es nun von dem Fremden, der seine Pfeife wieder aufgehoben hatte und mehrmals daran zog, um sie wieder in Gang zu bringen. Sein Gesicht leuchtete rot und gespenstisch, durch die Narben entstellt, in der Dunkelheit der Hütte auf.
Starr vor Angst presste Andrea ein Taschentuch auf den Schnitt an ihrem Kinn und versuchte das Zittern, das sie erfasst hatte zu unter-drücken. Der Schotte schien das gemerkt zu haben, kramte in seiner Tasche und hielt ihr schließlich eine Art Feldflasche hin. Alkoholdunst stieg ihr in die Nase.
»Nimm einen Schluck, Bursche, ich denke du brauchst das jetzt.«, sagte er, dem Klang nach mit jenem frechen Grinsen im Gesicht, das Andrea schon in den Farnen aufgefallen war.
Es war wohl Whisky in der Flasche und obwohl Andrea kein Freund dieses Getränkes war, nahm sie einen großen Schluck. Es rann ihr wie flüssiges Feuer die Kehle herunter. Der zweite Schluck verfehlte allerdings etwas sein Ziel und Andrea musste heftig husten. Der junge Mann nahm ihr lachend die Flasche ab und klopfte ihr derart heftig auf den Rücken, dass sie fast vornüber kippte.
Ein glucksendes Lachen begleitete das Ganze, doch dem Mädchen war absolut nicht nach Lachen zu Mute.
»Nichts für ungut, aber wie du so weise festgestellt hast, bin ich für meinen Laird, leider nicht für meinen Chief, in Frankreich hier unterwegs und ich muss vorsichtig sein. Auch wenn ich ein Soldat seiner Majestät König Ludwigs bin, werden die Rotröcke nicht viel Federlesens mit mir machen, sollten sie mich erwischen.«, kam es nach einer Weile von dem Fremden, dessen Gesicht immer wieder gespenstisch beleuchtet aus der Dunkelheit auftauchte.
»Wie heißt du eigentlich, a ghille?«, fragte er nach einer Weile.
»Andreas Schwarz, Andrew Black in Englisch«, antwortete Andrea zögernd.
»Anndra Dubh, in Gälisch, kein übler Name, die Blacks folgen meinen Chief Appin, sie gehören zu meinem Clan. Aber, wo kommst du her, in Deutschland, meine ich. Ich hoffe nicht aus Hannover, wo German George herkommt.«, fragte ihr Gegenüber im Plauderton weiter.
»Nein, ich bin kein Landsmann von German George, ich komme aus Franken, das ist im Süden Deutschlands.«, antwortete Andrea nun schon bedeutend ruhiger. Der Whisky summte mittlerweile in ihrem Schädel wie ein Schwarm Bienen und eine dumpfe Müdigkeit erfasste sie.
Sie kramte in ihrem Seesack und holte den Proviant heraus, den ihr John Bishop mitgegeben hatte. Es war Brot, Käse und Bannocks, kleine Haferkuchen. Das letztere holte sie heraus und reichte einen dem jungen Mann, der ihn dankend annahm. Andrea kaute stumm und überlegte, was sie tun sollte. Irgendwie war der Fremde ihr nicht geheuer. Im Moment war er zwar friedlich, aber wenn sie nicht auf-passte, konnte eine unvorsichtige Äußerung das Ganze wieder eskalieren lassen.
»Wie ist Euer Name, Sir?«, fragte sie nach einer Weile vorsichtig.
Es herrschte wieder einen Moment Stille. Noch immer schüttete es wie aus Kannen und ein Sturzbach durchquerte den vorderen Teil der Hütte, doch es wurde schon heller, sodass sie erkennen konnte, was der junge Mann tat. Der kaute genüsslich, nahm noch einen Schluck aus seiner Feldflasche und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. Der Mann blinzelte in ihre Richtung und ein seltsames Lächeln huschte über sein Gesicht.
»Nun gut, Andy Black. Ich weiß deinen Namen und nachdem wir uns schon deinen Proviant teilen, ist es wohl nur höflich, wenn ich dir auch meinen Namen nenne. Auch wenn ich nicht unbedingt geneigt bin, ihn in die Gegend zu posaunen.«, begann er, hob seine Pfeife wieder auf, klopfte sie an einem Stein aus und steckte sie zurück in seine Tasche.
»Weißt du welchen Weg du genommen hast, von Mull bis hierher?«, fragte er jedoch erneut, statt einfach seinen Namen zu nennen.
»Ich bin von Torosay nach Kinlochaline übergesetzt und dann durch Morvern, über die Corran Ferry nach Marmore und dann ins Glen Coe.«, antwortet Andrea sichtlich verwundert.
»Nun, dann habt ihr meine Heimat Appin von Morvern aus ja gesehen. Ich bin ein Stewart aus Duror.«, sagte der Fremde darauf.
›Appin … Stewart … Duror‹, wiederholte Andrea in Gedanken und ein eiskalter Schauer rieselte ihr den Rücken hinunter. Sie schaute in das Gesicht des jungen Mannes und konnte das erste Mal seinem stechen-den Blick standhalten.
»Ailean Breac, nennt man mich in der Gegend hier.«, fügte dieser noch hinzu und Andrea war, als hätte jemand eine Kanone neben ihr abge-feuert. Alan Breck Stewart aus Duror in Appin, das konnte nicht sein … das durfte nicht wahr sein. Sie wusste, dass Stevensons Buch auf historischen Tatsachen beruhte und dass sein Held Alan Breck eine real existierende Person gewesen war … aber nicht so real wie der Mann, der da vor ihr saß. Sie hatte das Gefühl, als summe der Whisky noch einen Ton lauter in ihren Ohren. Sie starrte den Fremden an wie ein Gespenst, was er letztendlich auch für sie war.
»Ailean Breac …«, murmelte sie tonlos. Ihr wurde auf einmal schwindelig und übel. Sie sprang auf, stemmte die Tür auf und rannte hinaus in den strömenden Regen. Neben einem großen Findling, an dem sie sich abstützte, übergab sie sich. Immer wieder würgte es sie und trieb es ihr die Tränen in die Augen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich das Mädchen einigermaßen beruhigt hatte.
Der Regen rann ihr übers Gesicht und durchnässte sie. Stumm sah Andrea zu den Bergen, den Gipfeln der Three Sisters, die in den Wolken hingen.
»Mein Gott, lass diesen Alptraum vorüber gehen.«, murmelte sie tonlos auf Deutsch. Ihr wurde auf einmal bewusst, in welcher Gefahr sie schwebte. Wie gefährlich Alan Breck selbst war, hatte sie schon zu spüren bekommen … aber sollte sie in seiner Gesellschaft einer Patrouille der Rotröcke begegnen, würde es um sie geschehen sein.


Nachwort



Ich möchte hier noch einige Erläuterungen zu dem historischen Hintergrund meines Romans anbringen.
Der Mord in Appin ist auch über 250 Jahre, nachdem die fatalen Schüsse im Wald von Lettermore fielen, noch ein heißes Gesprächsthema in den Highlands und viele Bücher wurden darüber geschrieben.
Ich will in meinem Roman keinerlei neue Aspekte oder Schlussfolgerungen über den wahren Schützen in die Welt setzen und ich habe mich bewusst zurückgehalten, einer der vielen Theorien zu folgen. Nur eines habe ich klar dargestellt, dass es nicht Allan Breck Stewart war.
Ansonsten habe ich mich mit den Namen, wenn ich auch eine andere Schreibweise für Allan Breck verwende, und der zeitlichen Abfolge, an die in einigen Büchern klar umrissenen und durch die Akten des Prozesses gegen James Stewart akkurat überlieferten Tatsachen gehalten. Also sollte der aufmerksame Leser nicht verwundert sein, dass es jede Menge Namensvettern gibt. Das ist eine bis in die heutige Zeit erhaltene Tradition in den Highlands, wo man ganze Telefonbuchseiten mit dem Namen Donald MacDonald findet, um ein Beispiel zu nennen.
Die Schreibweise der gälischen Ortsnamen können auch unterschiedlich sein, es gibt viele Varianten und ich habe mich möglichst an die auf den Ordnance Survey Karten verwendeten gehalten.
Der aufmerksame Leser wird sicher auch einige botanische Ungereimtheiten finden. So ist es zum Beispiel nicht möglich, sich Ende April in den schottischen Highlands in mannshohem Farn zu verstecken, denn der rollt gerade seine Blätter aus, wenn man Glück und einen milden Frühling hat. Es machte sich aber gut im Verlauf der Geschichte.
Was die Handlung in der näheren Vergangenheit, im Jahr 1986, angeht, sind jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen rein zufällig.


Impressum

Texte: Originalausgabe : Noel1. Auflage Verlag März 2012 ISBN:978-3-942802-47-5 Liedtext: "One Thing" mit freundlicher Genehmigung von RUNRIG
Bildmaterialien: Einband: Gaby Benz
Tag der Veröffentlichung: 30.03.2011

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