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(c) Colleen McCann

2017

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Alle Rechte vorbehalten. 

 

 

Zuerst


 

 

 

Colleen McCann

 

 

Shannon

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Inhalt dieses Romans ist völlig frei erfunden.

Ähnliche oder identische Namen, Personen, Örtlichkeiten oder Begebenheiten in dieser Geschichte sind rein zufällig und entsprechen keinerlei wissentlicher Tatsachen oder Übereinstimmungen.

 

 

 

 

 

 

 

 

„Was ist das denn?“ Noch einmal las Shannon den Auftrag, der auf ihrem Schreibtisch lag. Und noch einmal. „Das muss ein Missverständnis sein!“ Sie schüttelte den Kopf und ihre Stirn legte sich in Falten.

„Frank?“ Sie klopfte zaghaft an die Tür ihres Chefs – Frank Merz – dem Inhaber und Leiter des Web-Design-Büros, in dem sie schon seit einigen Jahren arbeitete. Erst hatte Shannon viel Freizeit sowie ihre Ferien dort verbracht und nach dem Abitur verdiente sie weiterhin jede Menge Geld bei Merz, dem jugendlich wirkenden Mittvierziger, einem eingefleischten Junggesellen mit schwarzem, gelocktem Haar, meist mit einer Lesebrille auf der Nase. Sein blasses Gesicht war übersät von Sommersprossen und wenn er lachte, leuchteten seine sonst dunklen Augen metallisch.

Frank Merz hatte wohl mehr Geld und Verstand, als Glück in der Liebe. Keiner hatte ihn je in Begleitung einer Frau gesehen. Man hatte bereits gemunkelt, dass er auf Männer stehen könnte, aber das hatte sich in feuchtfröhlicher Runde bei einer Geburtstagsfeier als falsch erwiesen: Er bezeichnete sich selbst schlicht und ergreifend als einen der wenigen Menschen, denen der Fortpflanzungtrieb vorenthalten geblieben war. Er wollte eben keine Beziehung, weder eine lockere, noch eine feste.

„Was ist denn?“, fragte Merz, in irgendwelche Unterlagen vertieft.

„Dieser Auftrag, Frank!“ Shannon wedelte mit dem Papier in der Luft umher.

„Mhm? Das ist ein Auftrag. Richtig. Was ist damit?“

„Ist es Dein Ernst, dass ich den machen soll? Nun sieh doch mal her!“

Er sah kurz auf: „Warum nicht?“ Er widmete sich wieder seiner Lektüre.

„Aber wieso ich? Das ist nicht mein Genre!“

„Wie ich Dich kenne, hast Du auch eine kitschige Ader. Das machst Du schon!“

„Ich bin kitschig? Du hast sie wohl nicht alle? Warum kann Belen den nicht machen? Sie kennt sich bei so was viel besser aus. Ich bin nicht kitschig!“, rief sie empört.

Frank lachte: „Ich finde es niedlich, wenn Du Dich aufregst! Natürlich bist Du nicht kitschig, Liebes! Aber Dein letzter Auftrag ist erledigt, Du bist munter und erholt aus deinem Urlaub zurück, nun kannst Du Dich hinter etwas ganz Neues klemmen! Du liebst doch die Herausforderung, oder? Außerdem hat Belen noch einiges an ihrem aktuellen Auftrag zu tun, wenn sie aus Spanien zurückkommt!“

Shannon stieb ohne ein weiteres Wort aus dem Büro und knallte die Tür hinter sich zu.

„Mann! Das ist ja wohl der Gipfel!“, echauffierte sie sich und ließ sich in ihren Stuhl fallen.

„Was ist denn los?“ Ihr Kollege Marc, der an einem kniffligen Auftrag saß, und Shannons Gezeter gerade nicht unbedingt gebrauchen konnte, sah sie genervt an.

„Das ist los!“ Als konnte Marc etwas dafür, bekam er den Order vor die Nase gefeuert.

„Hey! Ich bin unschuldig, okay?“ Er las und staunte lachend: „Wow! Damit dürfte Deine Rente sicher sein!“

„Marc! Das ist der reinste Hohn, weiter gar nichts! Wie kommt er dazu, mir so etwas aufs Auge zu drücken?“

„Du machst Deinen Job und die Auftraggeber schauen, ob es in Ordnung ist! Wie immer! Wo ist das Problem?“ Marc versuchte, seine Kollegin, die er seit der Schulzeit kannte, mit beschwingtem Ton zu ermutigen. Sein hellblonder Haarschopf hing ihm weit ins Gesicht. Die hellblauen Augen konnte man nur sehen, wenn er das Haar hinter die Ohren streifte. Dann sah er allerdings aus wie ein Milchbub und das wusste er. Sich eine andere Frisur zuzulegen, daran war nicht zu denken. Er fühle sich beobachtet, meinte er, wenn ihm jemand den Rat gab, das Haar stutzen zu lassen.

„Du hast leicht Reden!“ Shannon setzte sich an ihren Schreibtisch und blinzelte in die Winterlandschaft hinaus.

 

Das Büro, in dem Shannon Conley saß, war zu ihrer zweiten Heimat geworden. Nur fünf Gehminuten von ihrem Elternhaus – in dem sie immer noch wohnte – entfernt, befand sich der Luxusbungalow von Frank Merz, am Rande eines dichten Waldes, der allerlei Freizeit- und Sportmöglichkeiten bot.

Frank Merz brauchte für sich selbst nicht viel Platz. Der Kerl saß Tag und Nacht an seinen Computern und bastelte und kreierte. Das war sein Leben. Das riesige, ursprüngliche Wohnzimmer war zu einem Großraumbüro umgestaltet worden, in dem jeder der drei Angestellten seine eigene Ecke hatte. Nur der Chef selbst hatte ein separates Büro.

Außer dem Bad und der Küche gab es noch sein Schlafzimmer, dem schließlich einzig wirklich Privatem in diesem Haus, zu dem keiner außer ihm Zugang hatte. Warum zusätzlich teure Miete bezahlen, wenn er sein Geschäft im eigenen Heim haben konnte?

Shannons Blick schweifte aus dem Fenster. „Es schneit schon wieder!“

Marc schüttelte mit hochgezogenen Brauen den Kopf. „Das haben die Wintermonate so an sich, Shannon! Allerdings könnte es Sommer werden, bis Du den Auftrag fertig hast, wenn Du nicht in den nächsten Tagen damit anfängst!“

Sie ließ einen Laut des Missfallens ab.

Vor ihren Augen erstreckte sich eine herrliche Gegend. Das kleine Tal war weiß bedeckt und die klitzekleinen Häuser im Nachbarort wirkten wie die einer Modelleisenbahn. Die Bäume glitzerten von Eiskristallen bestäubt. Und zu jeder vollen Stunde bahnte sich ein langer Zug den Weg durch das idyllische Dörfchen.

Zum ersten Mal in ihrer Karriere als Webdesignerin war sie sprachlos und ohne jegliche Ideen. In die Gegend zu starren war sicher nicht die beste Möglichkeit, um einen dienlichen Einfall zu gewinnen, aber was sollte sie sonst tun?

Zu ihrem Job gehörte es jeweils aufs Neue, Homepages zu entwerfen. Sonst war das nie ein Problem für sie. Doch was jetzt vor ihr lag, war für sie, als würde sie als Laie in ein fremdes Land ziehen müssen, um dort irgendwelche Ausgrabungen zu dokumentieren. Ihre Stärke lag darin, für ganze Städte, riesige Konzerne, namhafte Produktionsfirmen oder Auto- und Warenhäuser die Internetpräsenz aufzubauen und zu betreuen. Heute wusste sie nicht, wo sie anfangen sollte.

Kurz vor Feierabend kam Frank und legte ihr einen Ordner auf den Tisch.

„Da sind ein paar Sachen drin, die Du brauchen könntest! Die Auftraggeber sind momentan nicht zu erreichen! Aber das hier sollte Dir für den Anfang reichen!“ sagte er salztrocken, mit einem auffordernden Blick über seine Brille hinweg.

Shannon blätterte.

Ihr Boss schaffte es bereits ein zweites Mal an diesem Tag, sie zu ärgern.

„Hättest Du mir den nicht heute Morgen schon geben können?“

„Ich habe die Kurierpost erst vorhin bekommen!“ erklärte er kühl und ging.

„Feierabend! Tschüss ihr beiden!“ Marc warf die Haustür hinter sich ins Schloss.

„Ich gehe auch!“ Shannon knipste den Computer aus und packte ihre Sachen.

„Liebes?“ rief es aus Franks Büro.

„Was?“ kam es langgezogen von ihr, dabei verdrehte sie die Augen genervt.

„Setzt Du bitte noch eine Kanne Kaffee für mich auf, bevor Du gehst?“

„Du gehst mir heute auf den Zeiger!“ Sie ließ ihre Tasche zu Boden sinken und schlappte in die Küche. „Erst der Hammer heute früh und nun stellt er auch noch Ansprüche!“

„Wer wird denn hier fluchen?“ brummte plötzlich die tiefe, ruhige Stimme des Chefs hinter ihr, dass sie nur so erschrak und sich bei der Gelegenheit der inzwischen kalte Rest Kaffee, den sie gerade aus der Kanne gießen wollte, großflächig über ihren hellen Pullover verteilte.

„Oh nee!“ Nun war jeder gute Wille hinüber. „Mann!“ Sie stampfte mit dem Fuß auf den Boden, wie ein kleines, trotziges Mädchen. Ihre stahlgrünen Augen leuchteten gefährlich.

„Was ist denn mit Dir los? Ist Dir Dein Urlaub nicht bekommen?“ Frank legte freundschaftlich den Arm um ihre Schulter.

„Mein Urlaub war sehr schön! Kann ich jetzt gehen?!“ Shannon löste sich von ihm.

„Klar! Sieh zu, dass Du heimkommst!“ Er schaute ihr verdutzt hinterher.

 

Der Heimweg erschien ihr heute länger als gewohnt. Es war bereits dunkel und bitterkalt. Die ausgedehnte Straße, auf deren anderem Ende ihr Zuhause lag, war von Bäumen gesäumt. Schöne Villen zierten die Gegend und nostalgische Straßenlaternen beleuchteten den still fallenden Schnee.

Sie zerbrach sich den Kopf über die Arbeit, die in den nächsten Wochen vor ihr lag.

Die Klienten, für die sie arbeiten sollte, war eine der beliebtesten Musikgruppen Deutschlands, bestehend aus mehreren jungen Leuten. Shannon wusste, dass man diese Band nicht uneingeschränkt leiden konnte. Man hörte und las viele negative Nachrichten über sie. Sie selbst kannte diesen Verbund aus Zeitungsberichten, einzelnen Fernsehauftritten, die sie nebenbei verfolgt hatte, und von Gerede, das die jungen Leute ins schlechte Licht rückte: Drogenkonsum, Alkohol, Gewalt gegen Fans und Fotografen.

Zum ersten Mal hatte sie absolut keinen fixen Punkt, wo sie hätte ansetzen können.

„Irland! Daher sollen die ursprünglich stammen. Vielleicht wäre das eine Idee? Ich könnte es keltisch gestalten, das sollte ich hinkriegen!“ grübelte sie laut vor sich hin. „Aber Merz will es ja kitschig! Außerdem sind wir hier in Germany! Da passt Celtic wohl nicht!“ Ihre Gedanken drehten sich im Kreis.

„Hoppla!“ rief jemand, den Shannon gerade umrennen wollte.

„Entschuldigen Sie!“ murmelte sie.

„Hallo? Ich bin es, Paul! Erinnerst Du Dich an mich?“ Shannons Freund rieb sich das Schienbein, gegen das sie gerade gelaufen war.

„Oh, Schatz! Verzeihung, das wollt ich nicht! Was machst Du denn hier?“ Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie bereits vor ihrem Zuhause stand.

Paul sah sie verwirrt an und dann auf seine Uhr: „Wir haben heute Abend Probe! Hast Du das etwa vergessen?“

„Auch das noch!“

Paul öffnete die Gartentür.

 

Im Haus – ihren Jacken entledigt – nahm Paul seine Freundin fest in seine Arme. „Was ist los? Du wirkst so fahrig!“

Sie schmiegte ihren Kopf an seine Brust: „Nicht so wild! Lass uns essen! Die beiden warten bestimmt schon!“

Sie zog Paul ins Esszimmer, wo Shannons Eltern bereits mit dem Essen angefangen hatten.

Wie fast jeden Abend, seit ein paar Jahren, aß Paul bei Conleys zu Abend.

 

Michael Conley – der Herr des Hauses – ein hochgewachsener, sportlich gut gebauter Mann, mit eigentlich mittelblondem, allerdings bereits leicht grau meliertem, kurzem Haar, Grübchen und netten Lachfalten um die jeansblauen Augen, war Chefarzt der chirurgischen Station in einem privaten Krankenhaus am Stadtrand Münchens.

Sylvia – Shannons Mutter – arbeitete als Fachdozentin an einer Abendschule für Erwachsenenbildung. Sie hatte dunkelbraunes, fast schwarzes, langes Haar, feurig grüne Augen und, wie Shannon fand, für ihr Alter eine Figur wie ein Top-Model. Von ihr hatte Shannon nicht nur die Gestalt geerbt, sondern auch die Begabung, Fremdsprachen ohne Probleme zu erlernen. Wenn Shannon mit den Eltern alleine war, sprach man fast ausschließlich Englisch, die Muttersprache ihres Vaters.

Shannon hatte Ahnen aus allen Himmelsrichtungen. Ihr dunkles Haar und ihr kaffeebrauner Teint, sowie ihre Musikalität und ihre Tanzmanie mussten aus den südeuropäischen und den lateinamerikanischen Gegenden stammen. Ihre Mutter war halb Brasilianerin, halb Spanierin. Nicht zu vergessen, rührten Shannons väterliche Wurzeln aus den skandinavischen Ländern, sowie Großbritannien und Irland her, die Shannon wohl ihre schier endlose Ruhe und doch jede Menge Ehrgeiz in die Wiege gelegt hatten. Shannon sah ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Die gerade Nase, die Form der Augen und die Grübchen, wenn sie lachte, sowie der Mund und die akkurate Anordnung ihrer Zähne, wiesen sie eindeutig als Michaels Tochter aus.

Sylvia war als Kind mit ihren Eltern und Geschwistern aus Spanien nach Deutschland gekommen. Michael hatte es als jungen Studenten aus dem irischen Dublin nach München gezogen.

 

Man unterhielt sich üblicherweise bei Tisch über die Erlebnisse des Tages. Diesmal war Shannon dezent bei ihrem Bericht geblieben, wie sie sich den riesigen Kaffeefleck auf ihrem Oberteil zugezogen hatte.

Paul und Shannon harmonierten hervorragend miteinander. Sie waren ein Traumpaar in den Augen aller, die sie kannten. Noch nie hatten sie sich ernsthaft gestritten. Es war einfach eine wunderbare Beziehung.

Shannon hatte makellose Haut, eine weibliche, schlanke Figur und ihr Haar, dessen Farbpalette von dunkelblond bis mittelbraun schimmerte, reichte weit den Rücken hinunter.

Pauls Gesicht war sehr markant, seine Haut vernarbt, er hatte braune Augen, eine muskulös-sportliche Figur. Er ließ sein Haar – Naturfarbe blond – manchmal kurz scheren, manchmal ließ er es wuchern; einmal schwarz gefärbt, dann wieder hellblond gesträhnt, wirr durcheinander gegelt, ab und zu ließ er es, wie es fiel, je nach Lust und Laune. Er trug eine kantige Brille und er ließ manchmal einen Bart um Mund und Kinn stehen, den Shannon gerne an ihm sah. Er war fast einen Kopf größer als sie.

Nachdem sie sich kennen gelernt hatten, dauerte es eine ganze Weile, bis sie sich auf eine feste Bindung einlassen konnten. Jeder, der die Geschichte kannte, beurteilte es als ein kleines Wunder und so wurden sie auch behandelt: Wie ein Prinzenpaar aus einem Märchen, für das es einfach keinen Vergleich gab.

 

Die beiden gingen nach dem Essen in Shannons Wohnung unter dem Dach. Hier verbrachten sie ihre Freizeit zusammen, soweit vorhanden.

Shannon kochte unheimlich gerne und sie nutzte ihre geringe arbeitsfreie Zeit meist dazu, leckere Kuchen zu backen oder die köstlichsten Gerichte zuzubereiten. Wenn beide mit Arbeit eingespannt waren, wie es in den letzten Monaten der Fall gewesen war, kam es ihnen wie gerufen, wenn sie bei seinen oder ihren Eltern essen konnten. Entsprechend faul waren die letzten drei Wochen Urlaub ausgefallen: Nichts tun, und wenn überhaupt, dann nur etwas Angenehmes oder was eine entspannende Nebenwirkung hatte.

 

Shannon zog sich um.

„Sag mal, Schatz! Sagt Dir die Glenn-Truppe was?“, rief sie aus dem Bad.

„Flüchtig, wieso?“, kam gelangweilt von Paul, der in einer Zeitschrift blätterte: „Wie kommst Du darauf?“

„Hast Du sie mal kennen gelernt?“, interessierte sie weiter, während sie sich nach der Dusche abtrocknete.

„Wir haben sie mal bei einem Festival getroffen, das ist einige Zeit her!“

„Wie sind die so?“ Shannon ließ nicht locker.

„Keine Ahnung, ich kenne sie ja nicht. Wieso willst Du das so genau wissen?“ Paul stand nun neben ihr.

„Ich soll die Homepage für sie erstellen!“ Shannon betrachtete ihr hübsches, ebenmäßiges Gesicht im Spiegel.

„Das ist doch nicht die erste Homepage, die Du baust, ohne die Auftraggeber persönlich zu kennen!“ Paul rasierte sein Gesicht.

„Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob ich für Produkte oder Firmen arbeite, bei denen es um Design, Innovation und Qualität geht, als wenn ich über musizierende Menschen etwas veröffentlichen soll!“

„Fang bei ihrer Herkunft an!“ Paul grinste zuerst, wissend, dass Shannon die mit den Glenns gemein hatte, legte aber sogleich seine Stirn in Falten, weil er sich eben geschnitten hatte. „Außerdem: Unsere Homepage machst Du doch auch super. Wir sind ebenfalls Musiker! Wieso nimmst Du nicht das Konzept unserer Page für sie als Vorlage?“

Shannon holte ein kleines Pflaster und verklebte seine Schnittwunde.

Währenddessen murmelte sie: „Ja, die sind aus Irland, ich weiß. Trotzdem kann ich nicht einfach etwas aus dem Stegreif bauen, über das ich kaum Infos habe! Abgesehen davon, darf mir kein Fehler unterlaufen, weil die momentan viel Ärger an der Backe haben. Jedenfalls wird das behauptet!“

„Deswegen scheint es ihnen gerade jetzt sehr wichtig zu sein, ihr Image aufzumöbeln, nach allem, was über sie spintisiert wird!“, meinte Paul. „Dann sind sie ja bei Dir an der richtigen Adresse! Du machst das schon, meine Süße!“

„Was willst Du damit sagen? Bist Du etwa der gleichen Meinung wie Frank, ich wäre kitschig, oder …“

Paul nahm sie in die Arme und ihr damit verbunden die Luft zum Weiterplappern, weil er selbige in einem innigen Kuss erstickte.

„Nun fahr mal ein paar Gänge herunter! Immerhin hast Du heute gerade den ersten Tag gehabt! Morgen wird es anders aussehen! Und die Probe nachher sollte wegen so etwas nicht negativ beeinflusst werden! In Ordnung?“

Sie atmete tief durch und nickte.

 

Shannon wohnte schon von Kindesbeinen an in Sonnenstein, diesem kleinen Ort, ein paar Kilometer außerhalb Münchens, einem Dorf am Hang einer Senke, umgeben von Feldern, Hügeln und Wäldern. Gerade in der Winterzeit war es hier so malerisch, dass Shannon dankend ablehnte, in dieser Saison in die Sonne zu fliegen. Sie fuhr gerne Ski und ging leidenschaftlich gern eislaufen.

Im Sommer war sie dann mit ihren Eltern oder Paul in der weiten Welt unterwegs. Allerdings war es eher selten, dass sie und Paul zusammen Urlaub oder frei hatten, umso mehr genossen sie dann natürlich diese Phasen der harmonischen Einigkeit und Ruhe.

 

Paul wirkte seit vielen Jahren in einer Musikgruppe mit, den „Green Sleeves“, die im Großraum München bekannt und sehr beliebt waren.

Shannon war vor kurzem ebenfalls angeheuert worden, da sie hervorragend Geige spielte, und somit ein guter Nachfolger für Tim sein würde. Außerdem war sie mit Gitarre und Klavier gut Freund. Was aber das Allerwichtigste war, war ihre schnelle Auffassungsgabe, bei den vielen schnellen Stücken mit teilweise komplizierten Akkorden und Harmonien, die bei dem Stil der Band nicht ganz einfach zu spielen waren. Seit sie mit Paul zusammen war, hatte sie viel Zeit im Proberaum mit ihm und den anderen Musikern verbracht und sich für jedes Instrument begeistern können.

In stillen Stunden, in denen die Band Auftritte hatte und Shannon nicht zum Konzert wollte oder konnte, klimperte, zupfte oder geigte sie die ihr bekannten und geläufigen Stellen nach.

 

Im Proberaum wartete man bereits auf die beiden, dann ging es zügig los.

Shannon murxte anfangs ein paar Mal, konnte aber schnell den Anschluss finden, wodurch man nicht ständig von vorn anfangen musste. Sie war sehr konzentriert.

„Perfekt!“, fand Ben, Leadsänger, Songschreiber und unausgesprochener musikalischer Boss der Band. Es war inzwischen beschlossene Sache, dass Shannon bei den nächsten Auftritten, beginnend am ersten Wochenende des kommenden Monats, spielen würde. Die ersten Schritte hatte die Band mit irischen und schottischen Traditionals gemacht, untermalt von unterschiedlichen Rhythmen und mit der Zeit ab und zu auch mit kommerziellen Takten, die man, um dem ursprünglichen Stil treu zu bleiben, in Grenzen hielt.

 

Die Gruppe bestand aus fünf Männern: Ben und Paul spielten verschiedene Gitarren und sangen, Tobias spielte Akkordeon, Flöte und Bodhrán², Stefan saß am Schlagzeug und bediente die Percussions. Jörg bediente den Bass.

Die anderen hatten gezweifelt, allen voran Paul, als Ben den Vorschlag brachte, Shannon in die Band zu holen. Tim hatte seinen Ausstieg angekündigt und Ben war sofort Pauls Freundin eingefallen. Er war sicher, sie würde die schwierigen Passagen spielen können und den Jungs eine große Hilfe sein. Wenigstens so lange, bis sie jemanden gefunden hätten, der es übernehmen konnte, wenn Shannon es nicht auf Dauer machen wollte.

„Wir können Shannon zumindest fragen! Sie kennt Tims Taktik und ich bin sicher, sie würde daran arbeiten!“, meinte Ben nachdrücklich.

Die anderen erklärten sich einverstanden, Shannon in ihrer Runde aufzunehmen. Natürlich nur, wenn sie selbst auch wollte und den Ansprüchen genügen würde.

Als Paul ihr die Nachricht übermittelte, war sie völlig perplex und konnte zuerst gar nicht antworten.

„Ich werde es gerne versuchen. Aber meinst Du wirklich, ich habe das nötige Geschick dazu? Geige spielen ist gut und schön, aber so, wie Ihr das braucht, so wie Tim das macht?“

„Man kann alles, wenn man es will! Es wird viel Zeit in Anspruch nehmen, ich weiß nicht, ob Du das mit Deinem Job auf die Reihe bekommst. Aber einen Versuch ist es wert!“ Paul war also zuversichtlich, auch wenn es ihm nicht so ganz in den Kram passte, dass sein Mädchen in Kürze neben ihm „arbeiten“ sollte. Nicht, dass er sie nicht dabei haben wollte. Ihm schwirrten allerdings einige Sachen im Kopf herum, die passieren könnten, wenn sie bald auf diese Weise Fans haben würde. Männliche Fans vorwiegend. Die weiblichen machten ihm kein Kopfzerbrechen.

 

 

 

² Eine Bodhrán ist eine irische Rahmentrommel, normalerweise wird die Bodhrán im Sitzen gespielt, wobei sie auf dem Knie des Spielers steht. Der Rechtshänder berührt mit seiner linken Hand die Innenseite des Fells und kann so durch Druck und verschiedene Handpositionen die Tonhöhe variieren oder Dämpfungseffekte erzielen. Mit der rechten Hand wird die Bodhrán mit einem Holzschlägel, dem „Tipper“, „Beater“, oder „Stick“, gespielt. Quelle: www.wikipedia.de

Shannon übte in jeder freien Minute, teilweise unter den wachen Ohren von Tim, dem sehr viel daran lag, dass nicht irgendwer in die Truppe einsteigen würde.

Das „Vorspielen“ fand unter Ausschluss von Paul statt. Verständlich, wie Shannon fand, und ungerecht, Pauls Meinung nach. Die Jungs hatten es so gewollt. Immerhin hätte Paul aus privaten Gründen seine Zustimmung geben können. Tim war selbstverständlich auch dabei und sollte mit urteilen, ob Shannon sein Erbe fortführen sollte.

 

„Das schaffst Du schon!“, ermutigte Paul sie, weil sie auf dem Weg nach Hause anzweifelte, ob sie das wirklich hinkriegen würde. „Überleg' mal, wie oft wir alles durchprobiert haben! Das klappt! Auf jeden Fall!“ Er war sicher.

„Liebst Du mich?“, fragte sie, mit einem schelmischen Grinsen.

„Das weißt Du ganz genau!“ Paul fasste hinüber zu ihr und kraulte ihren Nacken.

„Zeig’ es mir!“ Ihre Augen funkelten ihn eindeutig an.

Kurzerhand lenkte Paul den metallblauen Käfer in einen abgelegenen Wald. Kaum war der Motor abgestellt, fiel Shannon über ihn her. Leidenschaftlich und voll sinnlicher Gefühle gaben sie sich einander hin.

Natürlich waren sie nicht auf ein Stelldichein in diesem Wald im Auto angewiesen, aber außergewöhnliche, spontane Situationen hatten eben ihren gewissen Reiz.

 

Shannon stand am nächsten Morgen zuerst auf. Ihr Tag begann stets um fünf Uhr dreißig. Sie setzte Kaffee auf und ging dann für mindestens eine halbe Stunde joggen, egal ob Regen, Schnee oder Sonnenschein. Sie brauchte das, um munter zu werden, meinte sie lächelnd, wenn man sie für verrückt erklärte. Wenn sie besonders gut drauf war, durchlief sie sogar den Trimm-dich-Parcours und wenn es draußen trocken war und sie einen gewissen Kick brauchte, war sie auf Inlinern unterwegs.

 

Gut gelaunt pfiff sie morgens für gewöhnlich Songs von den Green Sleeves, während sie duschte und anschließend ihr Haar föhnte.

Dann brachte sie Paul den Kaffee ans Bett, weckte ihn zärtlich auf und ging anschließend zur Arbeit.

 

Wenig später saß Shannon in ihrem Büro. Sie las sich durch den Wust an Berichten in dem Ordner, der ihr seit dem Vorabend vorlag.

Langsam bekam sie ein Bild von der Band. Dennoch fehlten ihr die Ideen, wie sie die Seite aufbauen sollte. Sie fing an, löschte wieder, sie versuchte etwas anderes, verwarf dies wieder. Zuerst die Idee mit den einzelnen Mitgliedern, aber dafür hatte sie zu wenige und zu unterschiedliche Informationen. Dann versuchte sie es mit den Instrumenten. Aber jeder spielte jedes, also klappte das auch nicht. So ging es die ganze Zeit. Ein paar Wochen lang.

 

Am Abend ihres ersten Auftrittes mit den „Greens“ kamen auch Marc und ausnahmsweise Frank – der sonst nie Zeit hatte – sowie Shannons Eltern mit Ralf, einem Kollegen ihres Vaters und gutem Freund der Familie, zum Konzert.

Auf dem Weg dahin musste sich Shannon etwas anhören, das ihr gar nicht gefiel: „Denk’ bitte daran: Wir sind bei den Gigs nur Kollegen!“, kam von Paul höchstpersönlich.

Shannon legte die Stirn in Falten. Sie war es bereits gewohnt, vor und nach Konzerten Paul nicht ungehemmt zu umarmen oder abzuküssen, wenn sie als Zuschauerin dabei war, aber jetzt, wo sie zur Band gehörte, sollte sie Pauls nächste Nähe die ganze Zeit meiden? Wortlos nahm sie die Anweisung hin, wobei sie es nicht ganz verstand, aber es würde schon seine Richtigkeit haben, wenn Paul selbst das so wollte.

Nervös schlich Shannon hinter der Bühne auf und ab, während sie ihre Geige stimmte und die schwierigsten Passagen zum schier tausendsten Mal probte.

„Bist Du bereit?“, fragte Paul leise.

„Ja, klar!“ Shannon schnaufte tief durch.

Man konnte von draußen schon eifriges Geplapper und Gelächter hören.

„Was ist, wenn die da draußen eine Frau an Tims Stelle gar nicht akzeptieren?“, murmelte sie vor sich hin.

„Dann hast Du noch immer sechs Männer hinter Dir stehen, einschließlich Tim!“, hörte sie Tobias' beruhigende Stimme.

Ein kurzes, nervöses Lächeln huschte ihr über die Lippen. Er zwinkerte ihr zu.

Shannon richtete ihr Shirt und ihre Hose, sie zog ihren Haarzopf zurecht, holte tief Luft und folgte den anderen zur Bühne.

Applaus, Freude, Jubel taten sich auf, wie Shannon es von so vielen Auftritten der Band bereits kannte, doch diesmal stand sie auf der anderen Seite.

Stefan schlug die ersten Takte mit den Drumsticks an, dann ging es los ... und Shannon hatte nichts Dümmeres zu tun, als ihren allerersten Einsatz vor Publikum ganz gepflegt zu verpassen. Amüsiert schauten Ben und Paul zu ihr hinüber.

Sie wusste, sie hatte die Musiker auf ihrer Seite, also fuhr sie bestärkt fort.

Sie sah ihre Lieben unten stehen, die sie genau beobachteten. Bereits nach dem ersten Lied kam ihr Solo. Die treuen Fans waren bereits über die Umbesetzung im Bilde gewesen und Tim war bei seinem letzten aktiven Konzert hoch lobend verabschiedet und gefeiert worden. Er wollte zum Studium und der Liebe wegen in den hohen Norden des Landes ziehen. Sie hörte aus dem Hintergrund eine weitere Geige erklingen. Das war nicht geplant, oder besser gesagt, sie wusste nichts davon, dass noch jemand arrangiert wurde. Etwas verwirrt schaute sie sich um, ohne sich unterbrechen zu lassen: Es war Tim, der fiedelnd und grinsend auf sie zukam und ihr noch mehr Ansporn gab. Sie spielten im Duett einige Teile des eigentlichen Solos im Duett. Und es war sowas von synchron, dass sogar die anderen staunten. Tim blendete sich dezent wieder aus, bevor das langsamere Zwischenstück kam.

„Soeben habt Ihr eine ganz neue Bekanntschaft in unserer Runde gemacht!“, stellte Paul nach dem Solo klar. „Tim, unser Geigerist – viele wissen es ja schon – hat die Band verlassen, um sich wichtigeren Dingen des Lebens zu widmen und deshalb mussten wir uns nach Ersatz für ihn umsehen. Dabei sind wir bei einer bezaubernden jungen Dame hängen geblieben, die ab heute seine Stelle einnimmt. Herzlich Willkommen: Shannon Conley!“ Er wies mit beiden Händen zu ihr hin, Shannon lachte amüsiert, weil seine Stimme bei dem Wort „bezaubernd“ etwas weit hoch geraten war. „Und zusammen sind wir „Green Sleeves!“

Applaus. Und schon ging der nächste Song los. Es wurde ein tolles Konzert.

In der kleinen Pause vor den Zugaben, hörte sie von Paul ein dickes Lob. Zu gerne hätte sie es mit einem Bussi bestätigt bekommen, aber nicht einmal annähernd so etwas kam von ihm. Allerdings hatte sie die ganze Nacht mit ihm vor sich, in der sie sich so viel Bestätigung in Form von Küssen und mehr holen konnte, wie sie wollte.

Auf Shannons „Danke, mein Schatz!“ legte sie, wie selbstverständlich, erschrocken die Hand auf den Mund und erntete prompt einen mahnenden Blick von ihm. Warum konnte sie das, was sonst völlig normal war, nicht auch jetzt tun? Hier, hinter der Bühne, würde es niemand sehen! Musste sie sich wirklich dafür entschuldigen? Leicht angesäuert bewältigte sie die letzten Lieder des Abends.

 

Eltern und Freunde freuten sich nach dem Konzert mit Shannon und ihren Kollegen über ihr gelungenes Debüt in der Band. Jeder klopfte ihr die Schultern und bestätigte persönlich, wie meisterhaft sie sich in das zuweilen recht wirre Gehoppse und Getümmel der Männer während der Show eingefunden hatte. Teilweise war es gar nicht so leicht, dem unkontrollierten Durcheinander der Musiker Stand zu halten. Ein Wunder, dass die sich noch kein einziges Mal die Köpfe gegenseitig eingerannt oder sich tiefblaue Flecke zugezogen hatten.

Sie war auf jeden Fall akzeptiert worden, denn die ersten Autogramme musste sie geben, nachdem sie gerade aus dem Backstage nach vorne gekommen war.

Sie unterschrieb bereitwillig auf CD-Hüllen, T-Shirts, Taschen, Eintrittskarten und anderem Schnickschnack.

„Kleine, Du warst wundervoll!“ Michael war stolz auf seine Tochter und drückte sie fest an sich.

Sylvia wirkte skeptisch. Sie war erfreut und stolz, natürlich, aber vielleicht waren Mütter so: immer Angst um die Jungen.

 

Die Situation als solche, sich vor Publikum präsentieren zu müssen, oder besser gesagt, zu dürfen, kannte sie bislang nur von langweiligeren Auftritten, als sie früher im Schulorchester gespielt hatte. Das hier war etwas ganz anderes. Schon allein deshalb, weil sie einen Mann ersetzen sollte, der seine Sache bisher sehr gut, fast immer fehlerfrei, über die Bühne gebracht hatte.

Dass sich nun so viele mit und über sie freuten, gab ihr Mut.

Shannon genoss ihr erstes Bad in der Öffentlichkeit als Musikerin.

„Shannon, kommst Du bitte?!“, entriss Paul sie – nach über einer Stunde witziger, teilweise anstrengender Gespräche – einer Unterhaltung mit einem jungen Mann, der sie für eine Schülerzeitung im Ort interviewt hatte.

„Ich bin gleich da!“, winkte sie fröhlich.

Sie verabschiedete sich freundlich und ging zum Bus.

Auf der Heimfahrt plapperte sie aufgeregt über die netten Leute und über das Interesse, das viele an ihr, der „Neuen“, gezeigt hatten. Die Männer grinsten sich vielsagend an und gönnten Shannon ihre Begeisterung, nachdem sie ihre Sache so glatt absolviert hatte.

Paul und Shannon duschten zusammen. Shannon fühlte sich gut. Sie hatte einmal mehr bewiesen, dass sie es konnte, und Paul zeigte ihr tatsächlich mit mehr, als nur ein paar Küssen, wie begeistert er von ihr gewesen ist und wie sehr er sie begehrte. „Die Bühne steht Dir gut! Du warst richtig sexy!“ hauchte er in ihr Ohr, als sie sich unter dem prasselnden Duschstrahl liebten. Sie lächelte verzückt und dankbar.

 

Sie hatte in ihrem Leben fast alles erreicht, was sie erreichen wollte. Sie hatte vor kaum etwas Angst und sie ging alles mit gesundem Optimismus an. Was ihr nur noch fehlte, was aber keine Eile hatte, war Paul irgendwann zu heiraten und in noch weiterer Ferne, einmal ein Kind.

Paul erzählte ihr im Bett von ein paar Begebenheiten des Abends, die sie nicht wirklich interessieren. Sie war glücklich, erschöpft und müde.

 

Paul war schon eine Weile wach, wie meistens, wenn Shannon nicht früh morgens raus musste, und hatte das Frühstück vorbereitet, als sie die Augen öffnete. Sie lag noch eine Weile in den Kissen und sann über den vergangenen Abend nach. Irgendwie war es wie in einem Film gewesen. In einem Film mit ganz vielen Emotionen und Spannung. In ihrem Hals steckte ein dicker Kloß, wenn sie an Pauls Blick nach ihrem kleinen, verbalen „Ausrutscher“ und an diese komische Auflage dachte, die er ihr höchstselbst aufs Auge gedrückt hatte.

Sie saß später schweigend am Tisch. Paul studierte die Sonntagszeitung. Sie sah ihn eindringlich an.

„Was ist?“, fragte er, nachdem er es endlich bemerkt hatte.

„Was ist?“, gab sie leise wieder. „Das fragst Du mich?“

Paul sah sie verdutzt an. „Wegen der Knutscherei?“, fiel ihm dann ein.

„Knutscherei? Wie das klingt! Ich finde das blöd! Es ist mir vollkommen klar, dass ich mich nicht vor den Augen der Fans an Deinen Hals hängen kann! Aber ...“

„Shannon! Das ist doch nicht schlimm! Es geht nur ...“

„Ich weiß sehr gut, worum es geht! Ich finde es trotzdem doof! Ich verstehe es irgendwie, aber dass ich Dich nicht einmal mehr mit dem Namen anreden darf, den ich schon immer für Dich habe, ist heftig, und dass ich Dir nicht einmal hinter der Bühne ein Bussi geben darf, ist auch nicht in Ordnung!“

Paul schluckte. „Ich weiß, dass es blöd für Dich ist ...“

„Für Dich ist es nicht blöd? Nein? Für Dich ist es okay so?“, fiel sie ihm erneut ins Wort.

„Natürlich ist es für mich auch nicht schön, aber es geht nicht anders!“ Seine ruhige Stimme wollte sie beschwichtigen.

„Wieso nicht?“ Sie wurde lauter.

„Shannon! Wir konnten uns noch nie küssen, wenn Du bei Konzerten dabei warst. So neu ist das nicht! Wir haben uns nie geküsst oder offensichtlich miteinander geflirtet, wenn Du da warst! Da hast Du es verstanden!“

„Das ist etwas ganz anderes! Bisher war ich als Fan dabei. Ich hätte mich im Leben nicht getraut, Dir zu nahe zu kommen und ich hatte kein Problem damit, jedes Mal mit Belen, Ralf oder sonst wem hinter dem Tourbus herfahren zu müssen wie manche Groupies, nur, um nach dem Konzert mit Dir zusammen sein zu können, das weißt Du ganz genau! Zuerst habe ich es als spannend empfunden, so heimlich zu tun. Keiner wusste, dass wir nach den Konzerten die Nächte zusammen verbracht haben. Heute bin ich erwachsen und ich bin seit langer Zeit Deine Freundin, nicht erst seit zwei Wochen! Wieso kann jemand, der halbwegs im Rampenlicht steht, nicht offiziell eine Freundin haben? Ist das verboten? Liebe? Ist Liebe verboten im Showgeschäft? Dann pfeif' ich auf den Job in der Öffentlichkeit!“

„Shan ...“

„Im Übrigen habe ich mich darauf gefreut, an den Wochenenden öfter mit Dir zusammen sein zu können und nicht etwa noch mehr Abstand nehmen zu müssen!“ Ihre Stimme wurde immer zorniger und ihr Gesicht wirkte erhitzt und verbittert.

„Na, dann sei doch froh, dass Du mich privat hast und mit mir machen kannst, was Du willst!“ Dieser Satz traf Shannon wie ein Schlag ins Gesicht.

Er wollte überspielen, wie nahe ihm ging, dass sie sich an diese Anfangszeit ihrer Romanze noch so genau erinnerte; an diese Liebelei, von der keiner überzeugt war, dass sie lange halten würde, sogar er hatte Zweifel gehabt, und er wollte sich nicht anmerken lassen, dass ihm nie zuvor so bewusst war, was sie damals empfunden und wie sehr sie manchmal gelitten haben musste.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen der Enttäuschung. Sie stand auf, zog ihre Trainingsklamotten an und wollte joggen gehen.

Noch wütender, weil ihm nun nichts mehr einzufallen schien, zog sie von dannen. Alleine. Sonst waren sie an den Wochenenden zusammen unterwegs, auch beim Frühsport. Heute ging sie eben ohne ihn, wie sonst wochentags auch.

Sie lief durch den Parcours, zurück, durch den Wald, sie sog die Luft tief in ihre Lungen und schnaufte sie kraftvoll wieder aus. Ihr Herz raste. Nicht, weil sie sich zu viel zumutete. Nein. Es raste vor Wut. Paul war ein wunderbarer Mann. Er hatte sie noch nie enttäuscht, war immer für sie da ...

 

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Sehr oft, vor allem wenn Shannon alleine war, egal ob traurig oder schlecht gelaunt, lustig, glücklich oder in Hochstimmung, schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit zurück. In bereits mehreren Tagebüchern hatte sie alles akkurat festgehalten, was sie erlebt hatte und für sie wichtig gewesen war, selbst wenn es für andere scheinbare Kleinigkeiten waren...

 

 

Die beiden hatten sich kennengelernt, als Shannon noch zur Schule gegangen war, Paul längst studierte und sogar bereits kurz vor seinem Abschlussexamen stand. Sie war von der ersten, unbedeutenden Begegnung an fasziniert von diesem Mann, von dem sie ab diesem Moment tags und nachts träumte. Wenn sie ihn sah, polterte ihr Herz in sämtlichen Oktaven, wenn er sie ansah, war es um sie geschehen und wenn es vorkam – was allerdings sehr selten war – dass sie ein paar Worte wechselten, war Shannon so verzweifelt, dass sie ein Königreich gegeben hätte, um mit diesem Kerl nur ein paar Minuten allein zu sein:

Er kam damals in ihrer Schule während einer Pause eine Treppe herunter, an der sie vorbei musste und dummerweise so eilig und knapp aneinander vorbeigelaufen, dass ein paar Blätter, die er lose, auf einem Ordner liegend, getragen hatte, herunter flatterten.

„’tschuldigung!“, hatte sie gemurmelt, worauf er lediglich einen missmutigen Laut von sich gegeben hatte.

Shannon konnte nicht einmal den Versuch starten, ihm zu helfen, die Papiere wieder aufzuheben. Sie sah ihn an und war wie gelähmt. So müsste er sein: Der Mann, dem sie einmal ihr Herz schenken würde. Er hatte allerdings den Kopf voll mit anderen Dingen, sodass er das Mädchen mit dem Stechschritt gar nicht registriert, die Blätter wortlos aufgehoben hatte und weggegangen war, ohne Shannon auch nur eines Blickes zu würdigen.

 

Sie hatte hart daran zu knabbern, dass sie sich ausgerechnet in diesen Mann verliebt hatte. Er war älter und er hätte leicht und locker bereits zwei oder drei Kinder haben können, verheiratet mit einer attraktiven Dame aus hoch angesehenen Gesellschaftskreisen.

Er war für Shannon der absolute Hammer. Er war der erste Mann, für den sie sich überhaupt interessierte. Während sich gleichaltrige Mädchen – wie ihre beiden besten Freundinnen Belen und Kathrin – Poster von Boygroups, nett aussehenden Sängern oder süßen Schauspielern über ihre Betten kleisterten und von denen schwärmten, versuchte Shannon – und meist gelang ihr das auch – einfach ganz fest an diesen Mann zu denken, bis sie das Gefühl hatte, er stünde direkt vor ihr. Ein Foto von ihm hatte sie nicht, wie hätte sie auch an eines kommen sollen?

Jungs in ihrem Alter fand sie durchwegs kindisch und viel zu pubertär. Mit keinem von denen, die sie kannte oder bei altersgemäßen Partys kennengelernt hatte, hatte sie etwas anfangen können. Natürlich gab es den einen oder anderen, nach dem sie, ihre Freundinnen und Kameradinnen sich umschauten, den sie ganz süß und ab und zu nett fanden, aber um sich mit diesen Buben abzugeben, hatte sie keine Lust und nicht die Zeit, die sie – für ihre Begriffe – sinnvoller nutzen konnte:

Täglich hatte sie ihr Tagebuch malträtiert und sich darin über ihre unerfüllte Liebe zu einem Mann ausgeweint. Einem erwachsenen Mann, kein halbes Kind mehr, so wie sie, mit dem sie für Prüfungen lernen oder in Kinofilme für ab Zwölfjährige hätte gehen können.

War sie etwa nicht normal?

Diese Frage hatte sie sich sehr oft gestellt, bis sie sich Ralf – dem mit der Familie sehr eng befreundeten Arzt, einem Kollegen ihres Vaters – anvertraute. Ralf war, seit sie denken konnte, mehrmals wöchentlich bei Conleys ein- und ausgegangen, er hatte während seines Studiums auf Michael Conleys Station praktiziert und nach seinem letzten Examen eine Stelle im gleichen Klinikum angenommen.

„Ich steh total auf einen Kerl, den ich niemals erreichen werde, Ralf! Er ist viel älter als ich! Ich weiß einfach nicht mehr weiter! Ich meine, das ist doch nicht normal, oder? Gleichaltrige Jungs interessieren mich nicht, weißt Du. Und dann erscheint ER und ich kenne mich langsam nicht mehr aus!“, seufzte sie herzzerreißend, während sie in dem schwarzen Lederstuhl vor Ralfs Schreibtisch saß und ihrem Leid Luft machen wollte.

Ralf sah sie zunächst nachdenklich an. Es war eine Schwärmerei, aus seiner Sicht, für sie schien sich allerdings die Welt um diesen ominösen Mann zu drehen. „Das kann verschiedene Ursachen haben, Shannon! Häufig ist es der mangelnde Kontakt zum eigenen Vater. Vielleicht hat Michael zu selten Zeit für Dich und Du wünschst Dir, er wäre öfter für Dich da? Das kann ein Punkt sein, der einen reiferen Mann für Dich interessant macht! Aber das ist nur eine Theorie.“

„Das glaube ich nicht! Dad hat schon genug Zeit für mich und andere Väter können doch auch nicht rund um die Uhr bei ihren Kindern sein! Dann müssten ja alle Mädchen, die geschiedene oder berufstätige Eltern oder gar keinen Vater haben, auf ältere Männer stehen!“ Sie schüttelte entschieden den Kopf.

Ralf Martens saß Shannon mit gespanntem Blick gegenüber, als sie ihr Problem weiter schilderte: „Er ist so umwerfend! Wenn ich ihn sehe, wird mir ganz schummrig und erst recht, wenn er mir zulächelt! Dabei weiß ich noch nicht einmal, ob er mich wirklich anlacht oder ob ihn nur die Sonne blendet!“ Shannon konnte gar nicht weitersprechen, weil ihr allein beim Gedanken an sein Gesicht der Atem stockte.

„So schlimm?“ Ralf zog erstaunt die Brauen hoch.

Sie nickte und sah ihn erwartungsvoll an. „Ganz zu schweigen von den Nächten. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal anständig geschlafen habe!“

Ralf schmunzelte. Süß, wie sie da in ihrer Verzweiflung nach Luft und Worten rang, aber es tat ihm auch ein bisschen weh, dass dieses sonst, für ihr Alter, so bodenständige Mädchen völlig neben der Spur zu laufen schien: „Shannon! Mal im Ernst: Um die Ursache für Dein Problem zu finden, wenn es wirklich ein Problem für Dich ist, wäre es notwendig, mit einem Psychologen zu sprechen. Ich bin Chirurg, der leider weder Traummänner entfernen, noch zermürbten Seelen zusammenflicken kann!“

„Ich bin ein Fall für den Psychiater?“ Nun wurde Shannon mulmig.

„Na, nun mach mal langsam! So weit sind wir noch lange nicht! Ohne Deine Gefühle anzweifeln zu wollen, sehe ich es als eine Schwärmerei, aber man kann eine Analyse erstellen, wenn es Dich so sehr beunruhigt! Wenn Du gegen das vermeintliche Debakel vorgehen willst, kann man da sicher was machen! Gesprächstherapie, Beschäftigungstherapie … Da gibt es schon Möglichkeiten!“, erklärte er vorsichtig, um ihr nicht noch mehr Angst zu machen. Für Ralf klang das alles gar nicht so wild. Shannon würde über kurz oder lang merken, dass es keinen Sinn hatte und sie würde sich zu gegebener Zeit in einen Jungen verlieben, der ihrem Alter entsprach.

„Muss ich in die Klapse?“ Ihr Gesicht wurde zusehends blasser.

„Shannon!“, rief Ralf lächelnd, stand von seinem Stuhl auf, trat vor sie hin und nahm ihre Hände fest in seine.

„Wie lange kenne ich Dich? Zehn, zwölf Jahre? Du bist eines der wundervollsten Mädchen, die ich kenne!“ Ralf sah sie mit ernstem Blick an. „Weißt Du noch, als Dein Hase gestorben war? Du hast bitterlich geweint! Völlig normal! Wenn Du hingefallen bist, bist Du aufgestanden und hast mit den Schultern gezuckt, nur wenn es ganz schlimm war, hast Du geschrien vor Schmerzen. Auch völlig normal! Du bist in der Schule eine der Besten. Ich höre Deine Eltern singen, wie sie Dich des Lobes in den Himmel heben und als Du mal diese Flaute hattest, vor zwei Jahren, hast Du ein paar Vieren und sogar eine Fünf nach Hause gebracht! Auch das ist völlig normal! Und jedes Mädchen in Deinem Alter macht die ersten Erfahrungen in Sachen Verliebtsein, Schwärmerei und auch mit Liebeskummer, das gehört dazu und ist ebenfalls völlig normal! Glaub’ mir Shannon: Du bist sowas von normal! Normaler geht es nicht!“

Shannon grinste, denn immerhin waren weder Ralf noch ihr Vater während ihrer Schulzeit von schlechten Noten verschont geblieben. Das wusste sie, darüber hatte man Weihnachten vor einem Jahr gelacht, nachdem Ihr Vater mit lautem, fast ohrenbetäubendem Zähneknirschen seine alten Zeugnisse zücken musste, weil er in einem Spiel um Lüge oder Wahrheit verloren hatte und eine „Leiche aus dem Keller“ holen musste. Und das war ein Zeugnis aus alten Tagen, mit einer Fünf in Mathe.

„Dass Du in einen Mann verliebt bist, der älter ist, sollte Dich nicht beunruhigen! Es gibt viele Mädchen, die auf ihren Lehrer stehen, manche mögen den Kellner ihres Lieblingsrestaurants, den Busfahrer oder einen Bankangestellten, wieder andere, was weiß ich, die würden ihren eigenen Vater am liebsten heiraten!“

„Oh, Gott bewahre!“, lachte sie.

„Na, siehst Du! Lass Dir selbst ein wenig Zeit! Eines Tages wirst Du drüber hinweg sein und darüber lachen!“

Ralf war ehrlich gewesen. Sie fand es toll, so einen Freund zu haben. Aber er hatte Unrecht: Dieser Herzschmerz würde niemals vergehen. Sie war sicher, dass sie ihr restliches Leben daran knabbern würde.

Wenn Shannon diesen Mann sah, versuchte sie, in seine Nähe zu kommen. Ab und zu hielt er sich auf dem Schulhof auf, wenn sie gerade Pause hatte. Er stand meist mit ernster Miene da und beobachtete die Kinder, unterhielt sich mit den älteren Schülern, mit Lehrern oder schlichtete, wenn sich unter den Jüngeren Raufereien abspielten. Er war einfach nur süß. Ihre kleine, kurzweilig heile Welt stürzte ein, wenn sie einen Blick von ihm erheischen wollte, fast am Ziel war, und dann enttäuschenderweise die Glocke zum Ende der Pause schellte.

Ein oder zwei Mal hatte er sie angesehen. Ganz sicher! Aber er hatte auch gelächelt, wenn er sie gar nicht sehen konnte. Also war dieses Schmunzeln sicherlich nicht für sie bestimmt. Wahrscheinlich war es mehr ein Auslachen als ein Anlachen, bezogen auf die kleine „Rempelei“ vor einigen Wochen auf dem Schulhausflur?

Trauriger, als hätte sie ihn besser gar nicht beobachtet, zog sie sich dann ins Schulhaus zurück, um in der nächsten Schulstunde von ihm zu träumen. Lehrer konnte er nicht sein, dazu hatte sie schon viel zu häufig die Tafel im Schulhausaufgang angestarrt, wo alle Lehrer mit Bild verzeichnet waren. Er war nicht dabei. Ein Hausmeisterposten passte zu seinen Klamotten so überhaupt nicht. Wie könnte sie nur herausfinden, was er hier machte? Jemanden zu fragen, wagte sie nicht. Man hätte ja merken können, was in ihr vorging.

Am liebsten hätte sie viel mehr Zeit in der Schule verbracht, nur um die Chancen zu erhöhen, ihm zu begegnen. Aber leider war das nicht so einfach.

 

Natürlich blieb es nicht ohne Folgen, dass sie sich Ralf anvertraut hatte: Immer wieder – und das war nicht selten – wenn Ralf zu Besuch war, tauschten die beiden vielsagende Blicke und grinsten sich an.

Wenn sie alleine waren, fragte Ralf leise nach ihrer „Herz-Rhythmus-Störung“, wie sie es inzwischen selbst betitelt hatte.

Shannon holte tief Luft und japste Dinge wie: „Er ist so atemberaubend sexy!“ oder: „Ich weiß langsam nicht mehr, was ich tun soll!“ und: „Es tut so weh, dass er mich nicht beachtet!“

„Shannon! Ich möchte Dir Deinen Mut nicht nehmen, aber vielleicht solltest Du Dich damit abfinden, dass er tatsächlich andere Interessen hat, als sich mit fünfzehnjährigen Mädchen zu unterhalten! Mag sein, dass er freundlich lächelt, wenn Du das auch tust! Es wäre komisch, wenn sich sein Gesicht jedes Mal in eine Fratze verwandeln würde, wenn er Dich sieht, meinst Du nicht?“ Er wollte sie aus ihrer Irrealität holen. Er selbst stand altersmäßig zu Shannon wohl ähnlich wie dieser Typ. Ralf kannte sie sehr lange und hätte ihr gerne geholfen, aber wenn er sich in die Lage versetzte, kam er zu dem Schluss, dass er, für sich selbst und für sein Alter, nie auf die Idee gekommen wäre, sich in ein Mädchen zu verlieben, das so jung war wie Shannon.

Shannon hatte es sehr getroffen, dass der einzige Vertraute, der von ihrer Schwäche wusste, so redete. Sie war verletzt. Sie wusste, Ralf hatte Recht. Aber sie lag die folgende halbe Nacht in ihrem tränennassen Kissen und wandt sich vor Herzschmerz.

 

Einmal fragte Ralf ganz beiläufig, wie alt eigentlich ihr Angebeteter wäre, als er kurz mit Shannon alleine am Tisch saß.

„Ich habe keine Ahnung! Er ist aber schon wirklich alt!“, sagte sie mit erhöhtem Herzschlag und wiederholt ausgiebigem Atemzug: „Er ist bestimmt schon um die dreißig!“

Ralf, der gerade einen reichlichen Zug von seinem Rotwein genommen hatte, konnte es nicht unterlassen, diesen über die neueste, schneeweiße und von Sylvia stolz präsentierte Tischdecke zu prusten.

Shannon war zuerst erschrocken, konnte sich dann aber vor Lachen kaum mehr auf dem Stuhl halten.

Michael, der durch das dazugehörende, äußerst seltsame Geräusch aufmerksam geworden war und zur Durchgangstür herein linste, entkam ein verwundertes „Oh!“

Sylvia wollte wissen, was da im Esszimmer vor sich ging, doch Michael versuchte, sie erst einmal davon abzuhalten.

„Was ist denn?“ Sylvia entwischte seinen Händen und der Bitte, sich das besser nicht anzusehen, und weil sie sah, wie Ralf und Shannon vergeblich versuchten, den tiefroten Fleck per Servietten zu vertuschen, verschlug es ihr glatt die Sprache.

Ohne Worte kam sie auf den Tisch zu. Zuerst hatte sie ihre Tochter im Verdacht. Doch der eindeutige Geruch und die noch eindeutigere Farbe des Weines war mit Shannons Apfelsaftschorle nicht in Einklang zu bringen.

„Warst Du das?“, wandte sie sich an Ralf.

Der nickte schuldbewusst mit treuherzigem Blick, konnte aber ein breites Grinsen nicht vermeiden.

„Mensch, Ralf!“ Sylvia klang enttäuscht und ernst: „Da versucht man, seinem Kind ordentliche Tischmanieren beizubringen und die auch beizubehalten, und dann kommt ein zweiunddreißigjähriger Junggeselle daher und macht dem Kind vor, wie man es NICHT tun sollte!“

Nach diesem Satz waren alle guten Vorsätze, nicht mehr zu lachen, hinüber.

Shannon sah Ralf betreten an: „Zweiunddreißig …?“, wurde puterrot und brach dann in noch größeres Gelächter aus. Er stand ihr darin in nichts nach.

Shannon liefen Tränen über die Wangen und ihr Bauch entspannte sich gar nicht mehr. Noch während mit vereinten Kräften die Tischdecke gewechselt und die Tafel neu gedeckt wurde, überkam sie immer wieder dieser heftige Lachkrampf.

Selbstverständlich waren Sylvia und Michael Conley wissbegierig darauf, was denn nun so witzig gewesen war.

„Ich habe mich mit eurer liebreizenden Tochter über das Alter unterhalten, und als ich hören musste, dass sie Dreißigjährige meint, wenn sie über alte Menschen spricht, war es mit meinen Tischmanieren leider nicht mehr weit her! Es tut mir aufrichtig leid!“

Nun verstanden ihre Eltern, dass es für Ralf schwer war, so eine Aussage leichtfertig hinzunehmen. Er war kein alter Mann, sondern einer in den besten Jahren.

Shannon war ihm dankbar, dass er eine zensierte Version genutzt hatte, um ihre kleine Unterredung geheim zu halten.

„Nein! Nein! Bitte gib diesem Menschen in diesem Haus kein Getränk mit Farbstoffen mehr!“, bettelte Sylvia ihren Mann, der gerade angesetzt hatte, Ralf diesen dunkelroten Wein nachzuschenken.

Wieder Lachen.

Später brachte Shannon Ralf hinaus. Im Windfang, nachdem die Zwischentür zum Wohnraum geschlossen war, sagte er leise zu ihr: „Komm morgen gegen 15 Uhr ins „Bailey’s“, das ist mein Stammlokal, Du weißt schon: direkt am Eingang der Fußgängerzone! Wir trinken was Farbloses zusammen und unterhalten uns weiter über alte Leute, hm?“

Shannon hatte es erst als Scherz aufgefasst, doch weil er hinzufügte, dass es sich auf neutralem Boden besser reden ließe, als hier, war das Date bestätigt.

 

Natürlich wusste Shannon zu schätzen, dass sich Ralf ihr angenommen hatte und sie nicht einfach abwies oder auslachte, auch wenn er anders darüber dachte und ihr das sehr wehtat. Sie hatte nur ihn, mit dem sie darüber reden konnte.

Ihre Eltern? Ausgeschlossen! Die wären an die Decke gegangen.

Ihre Freundinnen? Unmöglich. Die hätten sie ausgelacht.

Ihre Großeltern? Sinnlos. Die hätten ihr nur ein müdes Lächeln geschenkt.

Und sonst hatte sie niemanden, dem sie vertraute.

 

Neugierig und aufgeregt betrat Shannon am nächsten Nachmittag das Lokal, von dem Ralf ihr schon oft erzählt hatte. Hier war er, wenn er entspannen, sich unterhalten oder Mittagspause machen wollte. Sie kam sich verloren vor, weil sie scheinbar mit Abstand die Jüngste war. Ihr war bekannt, dass hier sehr viele Studenten verkehrten. Sie setzte sich an einen kleinen Tisch und schaute unsicher um sich. Ralf kam wenige Minuten später dazu. Sie unterhielten sich angeregt über den Vorabend und lachten immer noch herzlich über das lustige Farbenspiel.

Sie erzählte Ralf wiederholt von ihren Gefühlen, was sie empfand, wenn sie diesen gewissen Mann sah und dass sie bereits versucht hatte, ihn zu vergessen, was sich aber als ganz und gar nicht einfach erwiesen hatte. Sie hatte ihn lange Zeit nicht gesehen, bestimmt schon wochenlang, aber sie sah tagtäglich und jede Nacht sein Gesicht genau vor sich.

Ralf versuchte weiter, auf eine ganz sanfte Tour, ihr diesen Kerl auszureden. „Schau mal, wenn Du dreißig bist, ist er schon fünfundvierzig – vorausgesetzt, er ist nicht noch älter als alt. Okay, dann ist er immer noch nicht wirklich alt, aber das Alter lässt sich bei ihm nicht aufhalten und bei Dir nicht beschleunigen. In der Mitte ist der Unterschied vielleicht nicht so spürbar, aber jetzt und später!“

Shannon hatte ihm aufmerksam zugehört und genickt, als würde sie verstehen, was er meinte. Dann zog sie die Brauen zusammen, sah ihn von der Seite an und meinte: „Du? Momentan denke ich bei diesem Mann wirklich an gar nichts anderes, als an Sex!“

Nun war auch Ralf einmal baff: „Bitte?“, staunte er mit blitzenden Augen.

Sie wurde rot und schämte sich für ihre Aussage. Auch wenn Ralf daraus keine Affäre machen würde, so deutlich wollte sie es nicht preisgeben.

„Oh, mein Gott!“, stieß Shannon ungewollt laut aus. Sie hielt sich umgehend den Mund zu und sah mit weit aufgerissenen Augen zur Tür. Ihr Blut raste durch ihre Venen, wie ein Schumacher über den Nürburgring, nur viel, viel schneller.

Ralf, dem das nicht entgangen war, drehte sich um und verfolgte ihren Blick. Leise fragte er: „Ist er das etwa?“

Sie nickte zögernd, wurde hochrot und erwiderte: „Der mit dem weißen Hemd! Mit der Brille! Ralf! Ralf, ich glaub’, ich muss jetzt gehen! Ich fall' in Ohnmacht! Mir ist schlecht! Ich muss sofort aufs Klo!“

„Sitzen bleiben! Tief durchatmen! Ganz ruhig!“, riet Ralf grinsend.

Shannon wurde heiß und kalt.

„Was tut er denn hier, um Gottes Willen?“, winselte sie und suchte hektisch nach etwas, hinter dem sie sich hätte verstecken können. Ein Ordner vielleicht? Oder lieber etwas unauffälliger, die Karte des Lokals?

„Ich gehe davon aus, dass er etwas trinken will?!“ Ralf zuckte mit den Schultern. Er kannte diesen Mann vom Pub. Er war öfter hier und scheinbar in das Lokal involviert, denn ab und zu half er abends als Bedienung aus.

Was sollte ihr Traummann von ihr denken, wenn er sie hier sitzen sah, zusammen am Tisch mit einem etwa gleich alten Typen, ihr direkt gegenüber, der sich noch dazu recht vertraulich über den Tisch gebeugt hatte, um nicht so laut mit ihr reden zu müssen. Er würde doch denken ...

Was würde er denken? Gar nichts würde er denken! Weil er sowieso nie und nimmer etwas von ihr wissen wollte! Sie schluckte hart. Die Realität hatte sie für einen kurzen Moment wieder.

Sie hatte ihre Augen an ihm haften, dem Mann ihrer Träume, dem ihr Herz gehörte und nur ihm, auch wenn er es nie erwidern würde ... für sie würde es niemals einen anderen geben, das war sicher.

„Hallo, junge Dame! Was führt Dich denn in dieses Lokal? Wie war doch gleich Dein Name? Shannon?“ SEINE Stimme, es war tatsächlich SEINE Stimme, die sie da hörte und es war ER höchst selbst, der sie persönlich ansprach. Und was das für eine Stimme war! Noch nie hatte sie IHN einen einzigen Ton sagen hören, außer diesem Murmeln vor langer Zeit, und jetzt sprach ER sie an? Noch dazu mit ihrem Namen! ER nickte Ralf zu.

Nein! Das konnte nicht sein! Das durfte einfach nicht wahr sein! Ein Traum? Ja! Bestimmt war es ein Traum! So einer, von denen sie schon so viele hinter sich gebracht hatte. Sie würde jeden Moment aufwachen und alles wäre vorbei. Die Frage war nur, was ihr lieber war.

Sie konnte nichts sagen, bis sie an ihrem Schienbein einen dumpfen Schmerz verspürte.

„Wooow!“, entkam ihr mit schmerzlichem Gesicht. „Na ja, also ich, ich bin hier mit… mit einem F... meinem Violinlehrer! Wir müssen ein paar neue Termine ausmachen!“ Ihr Herzschlag musste zu hören gewesen sein.

„Dass Du ein Ass an der Geige bist, weiß ich, feinfein! Weiter so!“ ER lächelte sie an, nickte Ralf wieder zu und wünschte noch viel Spaß und einen schönen Tag.

Sein Geruch! Shannon hatte in ihrem Leben noch nie so einen angenehmen Duft in ihrer hübschen Nase gehabt, noch nie! Weder ihr Lieblingsparfüm, noch die edle Pizza ihres Italieners und nicht einmal das Aroma von Vanille, das sie so liebte, konnten zusammen das aufwiegen, was sie eben vernahm. Sie schloss für einen Moment die Augen, sie zitterte und ihr Atem blieb stehen. Sie speicherte sein Gesicht, das sie derart nahe noch nie erlebt hatte. Sie nahm alles auf, was sie so direkt noch kein einziges Mal registrieren konnte. Jedes noch so winzige Detail. Die Vernarbungen auf seiner Haut, seine braunen Augen, die Form seiner Nase, seine Wimpern und die Brauen, seine Ohren. Nicht zu vergessen: die Anordnung seiner Zähne! Er hatte sie fast umarmt. Na ja, zumindest hatte seine linke Hand für ein paar Sekunden auf ihrer Stuhllehne verweilt.

Ralf biss sich angestrengt auf die Lippen.

Als Shannon wieder einigermaßen zu Sinnen gekommen war, drehte sie sich vorsichtig nach diesem Mann um.

Just im gleichen Augenblick ging alles von vorne los: ER steuerte – nach nur höchstens einem Satz, den er mit dem Barkeeper gewechselt hatte – wieder direkt auf sie zu, genau genommen eigentlich auf den Ausgang; der Weg dahin führte jedoch geradewegs an ihr vorbei.

„Paul!?“, rief ein anderer Mann hinter dem Tresen, zu dem ER sich dann umschaute.

„Hast Du gehört? Paul. Er heißt Paul!“, flüsterte Shannon Ralf aufgeregt zu und machte einen neuen Versuch, ihn von hinten zu sehen.

Doch schon kam er wieder frontal in ihre Richtung.

Dieses Schmunzeln, welches Paul (endlich hatte ER einen Namen!) jetzt auf den Lippen hatte, als sich ihre Blicke noch einmal trafen, konnte man in alle Himmelsrichtungen deuten. Er konnte soeben erfahren haben, dass er in der Lotterie gewonnen, dass seine Freundin um seine Hand angehalten hatte, oder dass er in irgendeine Fußballmannschaft aufgenommen worden war. Er lächelte. Und wie.

So ein Käse! Dieses Lächeln – oder war es eher ein Grinsen, weil er gemerkt hatte, wie erpicht Shannon auf ihn war – wieso sollte es nicht ein Lächeln für sie ganz alleine gewesen sein?

Ganz einfach deswegen nicht: Weil sie ein hysterischer, kleiner Teeny war und er ein erwachsener Mann! Basta.

„Ciao!“, sagte er flockig, als er auf ihrer Höhe war, sie weiter angrinste und schon wieder im Begriff schien, gehen zu wollen. Das tat er auch, aber nicht, ohne dass Shannon seinen Hintern genau begutachtete.

Sie war fix und fertig.

Auf ihr eben noch blasses Gesicht folgten zwei aufgeregt gerötete Wangen.

Ralf hatte alles, entspannt zurückgelehnt, mit amüsiertem Blick verfolgt.

„Wie hast Du ihn eigentlich kennen gelernt?“, fragte er nach einer Weile, die Shannon noch gebraucht hatte, um sich zu erholen und um Paul, bis er als kleiner Punkt im Gewühl der Stadt verschwunden war, nachzusehen.

„Ähm, was?“ Shannon erschien es wirklich wie ein Traum. „Ich kenne ihn eigentlich gar nicht. Er war ab und zu an unserer Schule. Keine Ahnung, was der da gemacht hat! Das erste Mal, als ich ihm begegnet bin, bin ich fast mit ihm zusammengestoßen, aber in letzter Zeit habe ich ihn dort nicht mehr gesehen! Dann treffe ich ihn hier, wo ich nur durch Deine Idee sitze, und er kennt meinen Namen! Das kann gar nicht sein und woher weiß er, dass ich Geige spiele?“ Shannon kannte sich nun überhaupt nicht mehr aus.

Shannon besuchte ein Schulzentrum, in deren riesigem Komplex sowohl ABC-Schützen, wie auch Haupt- und Realschüler, bis hin zu Abiturienten alle Altersklassen zu finden waren. Was er dort zu tun gehabt haben könnte, wusste sie bis heute nicht.

„Vielleicht ist er Referendar?“, schlug Ralf vor und trank von seinem Kaffee, den er sich noch bestellt hatte.

„Meinst Du? Er sieht nicht aus wie ein angehender Lehrer, sorry!“

„Du, einem Verbrecher sieht man seine Taten auch nicht an der Nasenspitze an!“

„Das stimmt wohl. Aber er war nie an unserer Lehrertafel aufgeführt, also kann das nicht sein!“

Ralf fiel dazu nichts mehr ein. „Aber mal ehrlich! Wie dreißig sieht er noch nicht aus. Oder findest Du wirklich?“

Shannon war so zappelig, dass sie ihm gar nicht richtig antworten konnte. Was wusste sie denn, wie dreißigjährige Männer aussahen? Außer von Ralf, der ja nun schon über dreißig war. Er sah älter aus, wie sie fand. Und ihr Vater. Na ja, der war ja schon an die vierzig, das war ja eine völlig andere Generation. Sie hatte Lehrer, von denen sie weder das Alter wusste, noch sich dafür interessierte, weil kein einziger davon auch nur im Geringsten ihrem persönlichen Geschmack entsprach.

„Ich habe keine Ahnung, Ralf. Und ganz ehrlich: Es ist mir egal, wie alt er ist!“

Ralf hatte seinen Spaß an diesem Tag, was nicht bedeutete, dass er Shannon nicht weiterhin ernst nahm.

Die war jetzt erst einmal damit beschäftigt, sich umzusehen, denn inzwischen kam sie sich selbst höchst peinlich vor und sie hatte innerlich gehofft, es hätte niemand in dem Lokal mitbekommen. Es fiel ihr sehr schwer, das „Bailey’s“ irgendwann am späten Nachmittags verlassen zu müssen. Immerhin waren die Chancen, dass Paul noch einmal hier auftauchen würde, nicht gering. Aber sie konnte wohl schlecht hier ihr Nachtlager aufschlagen, nachdem sie an diesem Tisch ihre Hausaufgaben gemacht hätte. Leider.

 

Ralf brachte sie nach Hause. Das Abendessen wollte Shannon an diesem denkwürdigen Tag ausfallen lassen. Sie gab vor, sie hätte noch viel zu lernen, schließlich sollten sich ihre Leistungen nicht wieder verschlechtern. In Wirklichkeit lag ihr ein dicker Stein im Magen, der für etwas zu essen gar keinen Platz ließ.

Einerseits war sie happy, wie schon lange nicht mehr, andererseits war sie derart aufgewühlt, dass sie sich fest vornahm, schon am nächsten Tag wieder, und in Zukunft sehr oft, in dieses Pub zu gehen, um die Chancen zu erhöhen, Paul zu sehen.

Ihre Mutter brachte ihr einen Teller mit belegten Broten und eine Kanne Tee aufs Zimmer und bat sie, nicht mehr allzu lange zu lernen, denn das würde das Gegenteil bewirken und sie würde am nächsten Tag in der Schule gar nichts mehr wissen. Den Satz hatte sie schon sehr oft gehört.

Sie hatte ihn sich zu Herzen genommen. Jedenfalls, seit es PAUL in ihrem Leben gab. Sonst war es immer nur ER, von dem sie schreiben und Ralf erzählen konnte. Denn seit es IHN gab, gab es auch ihr Tagebuch und das brauchte bald Verstärkung.

Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, zu lernen, bis nichts mehr in ihren Kopf ging, sich dann auszuruhen oder ein wenig Sport zu treiben und später musste dieses arme Buch allerlei herzzerreißende Szenen, Gefühle und Sehnsüchte ertragen. Papier ist geduldig und sie konnte sich herrlich ausweinen, gerade beim Schreiben; wenn nur nicht die Tinte nachgegeben hätte, von den salzigen Tropfen ihrer Tränen, die sich über das Geschriebene ergossen. Meist konnte sie dann nicht mehr lernen und sie las sich den Stoff für den Unterricht erst am nächsten Morgen im Bus noch einmal durch.

Oft lag sie nachts wach. Sie versuchte sogar, sich wach zu halten, damit diese schönen Gedanken und Träume nicht so schnell vorbeigingen.

Die Realität hatte sie schließlich jeden Morgen wieder. Ihre Wünsche und ihr Begehren hingegen musste sie auf die Zeiten legen, in denen sie alleine war, in denen sie wusste, es würde sie niemand stören. Zeiten, in denen in ihrem Kopf die Träume für kurze Zeit zu Realität werden durften.

 

Es kam vor, dass Shannon schlecht gelaunt reagierte, wenn die Nacht nicht ausgereicht hatte, bis sie eingeschlafen war, um ihre imaginäre Zukunft zu spinnen.

Wenn sie jemand fragte, was mit ihr los sei, antwortete sie, dass sie gerade eine negative Phase hätte und dass man sie einfach in Ruhe lassen sollte.

Schwerer war es in der Schule: Sie sollte aufpassen, was gesagt wurde und sie musste mitschreiben, was wichtig war. Ab und zu bekam sie einen Hieb von Belens Ellbogen, der sie „aufweckte“, wenn sie gedanklich wieder einmal ganz woanders unterwegs war.

Ihre Freizeit verbrachte Shannon mit Schwimmen, Joggen, Musik und ihrer Vorliebe, über andere Länder Erkundungen einzuholen. Es war spannend für sie, die vielen Kulturen zu erlesen oder bei Dia- und Filmvorträgen in der ersten Reihe zu sitzen und sich ein Bild zu machen, wie es in anderen Ländern zuging.

Ihre Ferien hatte sie glücklicherweise mit ihren Eltern bereits auf sämtlichen Kontinenten verleben können, sodass ihre Neugierde zwei- bis dreimal im Jahr sogar vor Ort gestillt werden konnte.

 

Ihr Zimmer war romantisch eingerichtet, wie das für einen weiblichen Teenager ganz normal war, und sie achtete penibel darauf, dass es ordentlich aufgeräumt war. Schlamperei konnte sie nicht leiden und sie hatte des Öfteren den Spleen, ihr Zimmer umzuräumen.

Das große Haus der Conleys war insgesamt sehr geschmackvoll eingerichtet. Überall standen edle, rustikale Möbel, es hatte durchgehend Holzfußboden und mit warmen Farben gestrichene Wände.

 

Ihre Freundinnen Belen und Kathrin wussten nichts von diesem Kerl, der Shannons Herz in einem einzigen Moment erobert hatte, ohne es zu wollen oder zu merken.

Den beiden Mädchen war zwar aufgefallen, dass Shannon keinen Lieblingsstar und auch nie einen reellen Schwarm hatte und sie waren froh, dass wenigstens eine von ihnen einen klaren Kopf behielt. Wenn die beiden geahnt hätten, womit Shannons Kopf voll war, hätten sie sie für verrückt erklärt, da sie selbst häufig von einem Schwarm zum nächsten wechselten, weil letztendlich alle „so süß“ waren.

Wenn Shannon mit den Mädchen zusammen hockte und sie sich Videos ansahen, konnte sie nie verstehen, warum ihre Freundinnen diese Milchgesichter so atemberaubend fanden. Auf Shannon wirkten die Typen noch viel jünger als sie, obwohl die Kerle teilweise älter waren.

 

Die Zeit, die Shannon für sich ganz alleine hatte, hielt sich in Grenzen. Neben der Schule, die sie seit dem laufenden Jahr zusätzlich zweimal die Woche für jeweils zwei Stunden nachmittags besuchte, nahm das Schulorchester viel Platz ein, sie war Mitglied in einem Tanzverein für lateinamerikanische Tänze, der an den Wochenenden Training und Meisterschaften forderte, sie war bei der Wasserwacht Rettungsschwimmerin und ihre Eltern, Großeltern und Freunde wollten sie schließlich auch ab und zu sehen.

Shannon ging an den ruhigen Sonntagen gerne spazieren und joggen, so war ihre Woche jedes Mal ausgefüllt bis unter den Rand. In allem, was sie anfing, wurde sie erfolgreich und sie hatte Spaß an dem, was sie machte, auch, wenn es während ihrer geliebten geringen Freizeit war, in der sie sich zeitweise viel lieber viel ausführlicher ihren Frust von der Seele geschrieben hätte, besonders in den letzten Monaten.

 

In der folgenden Zeit saß Shannon tatsächlich häufiger im Pub. Egal, ob alleine, mit ihren Freundinnen oder mit Ralf.

Allzu oft kam es nicht vor, dass Paul auch da war. Aber jedes Mal dann stieg ihr Puls ins Unermessliche und ihre Nervosität übernahm die Oberhand über sie und ihr Handeln. Nur wenn sie mit Ralf dort war und Paul tauchte auf, konnte sie dahinschmelzen. Saßen Kathrin und Belen dabei, musste sie sich in Acht nehmen, um nicht zu auffällig zu werden, wenn sie Paul ansah, einen Blick von ihm erheischen wollte, er sie lächelnd grüßte oder sie ihn verstohlen beobachtete. Sie versuchte, dabei so egal wie nur möglich zu wirken und hoffte, dass es gelang.

Er war irgendwie meistens im Stress. Er kaufte offensichtlich ab und zu für das Lokal ein. Jedenfalls war er mit schweren Kisten beladen, wenn er kam und gleich wieder verschwand, sie viel zu selten bemerkte. Belen und Kathrin hatten nichts mitbekommen, das war sicher, sonst hätten sie Shannon längst darauf angesprochen und sie beim winzigsten Verdacht gelöchert, bis sie nachgegeben und alles ausgeplaudert hätte.

Einmal kam Paul mit zwei Tüten bepackt auf die Tür zu, als sie und Belen gerade hinausgehen wollten. Shannon hielt ihm, höflich erzogen, die Tür auf und sah ihn schmachtend an, nicht zu auffällig, aber tief in die Augen, nur ein paar Sekunden lang.

„Hallo Shannon! Das ist lieb! Vielen Dank! Wie geht’s?“, fragte er. Er war unter der Tür stehen geblieben und hatte sie fröhlich angegrinst.

Sie konnte nicht antworten. Stumm wie ein Fisch sah sie ihn an und nickte nur.

Vielleicht hätte er sie zu einem Drink eingeladen, wenn sie noch hätte bleiben können, aber sie hatte ihre Ausgehzeit bereits überschritten und musste zusehen, dass sie den letzten Bus nach Hause erreichen würde.

„Bis bald!“, sagte er lächelnd und ging weiter, sodass die Tür vor ihrer Nase zufiel und sie missmutig hinter Belen hergehen musste. Warum hatte sie ihn nicht gefragt, wie es ihm ging? Warum nicht? Vielleicht hätte sie sich wenigstens ein paar Minuten mit ihm unterhalten können. Wenn sie den Bus verpasst hätte, hätte sie eben ihre Eltern angerufen, die hätten sie schon abgeholt. Schließlich konnte sich doch jeder mal verspäten. Stattdessen trottete sie schweigsam neben ihrer Freundin her.

„Jemand zuhause?“

„WAS?“, erschrak Shannon.

„Woher Du den Typen kennst?“, fragte Belen noch einmal.

„Welchen Typen?“ Shannon konnte Belen und Paul nicht in Einklang bringen.

„Der gerade ins Pub kam!“

„Oh, der! Vom Pub halt!“ Gott sei Dank gab Belen sich damit zufrieden. Und hoffentlich würde sie es Kathrin nicht gleich erzählen. Kathrin war nämlich sehr neugierig und ließ sich nicht mit einer so knappen Antwort abwimmeln und schon gar nicht bei diesem höchst brisanten Thema.

 

Shannon bekam ein paar Monate später von ihren Eltern einen Computer geschenkt. Es herrschte helle Aufregung im Hause Conley, denn auch Mama und Papa hatten sich jeweils ein solches Teil zugelegt, und das, obwohl sie irgendwie sowieso nie Zeit hatten.

Ralf hatte sich bereit erklärt, die Rechner dem jeweiligen Kopf gerecht einzurichten. Die Eltern wollten ihre Computer eher zu beruflichen Zwecken nutzen, wogegen Shannon in erster Linie surfen wollte und sich ihr damit ein enorm reizvolles, neues Gebiet auftat: Die Faszination Internet. Hardware interessierte sie auch, aber nicht so sehr, wie diese Homepages, für die Technik hatte sie schließlich Ralf. Der hätte eigentlich seine Wohnung kündigen und direkt bei Conleys einziehen können, denn neben den Zeiten, in denen er in der Klinik dokterte, war er fast nur noch bei ihnen.

Die ausführlichsten Instruktionen über den Gebrauch eines PC benötigte Shannon, die einiges bis ins Detail genau wissen wollte. So haarklein wusste das Ralf allerdings selbst nicht immer und damit war für Shannon klar, dass sie in Zukunft viel, sehr viel Zeit, vor diesem Rechner verbringen würde, um hinter die Geheimnisse einer Homepage und den damit verstrickten Grundlagen zu kommen. Dabei konnte sie noch zwei weitere Fliegen mit dieser Klappe schlagen: Sie würde ihre Hausaufgaben und obendrein ihr Tagebuch in diese Maschine verlegen.

 

In den angesammelten Stunden, die Ralf bei ihr im Zimmer verbracht hatte, führten sie viele Gespräche über Paul. Oberflächlich.

Shannon hatte Ralf einmal gefragt, ob er selbst denn gar nicht an Frau und Kinder dachte.

„Meine süße Shannon!“, schnaufte er, „Kannst Du mir erklären, wie ICH zu einer Frau kommen soll, wenn ich im Krankenhaus die Hälfte des Tages verbringe, etwa drei bis vier Stunden hier bei Euch bin und dann völlig übermüdet zu Hause in mein Bett falle und wenige Stunden später der ganze Trott von Neuem beginnt?“

Shannon war erschrocken. Er hatte Recht. Er arbeitete zu viel. Außerdem hatten sie und ihre Eltern ihn so in Beschlag gehalten, dass der arme Kerl wirklich nicht mehr an eine eigene Familie oder gar an Sex denken konnte. Bei dem Gedanken grinste Shannon und Ralf hatte sie in diesem Moment angeschaut.

„Ich weiß genau, an was Du jetzt denkst!“, sagte er schmunzelnd.

Was meinte er denn jetzt? Sie sah ihn fragend an.

„Denkst Du immer noch so oft an Paul und an Sex mit ihm?“, fragte er sehr direkt und mit ernstem Blick.

„Nö!“, log sie. Völlig entrüstet und hochrot im Gesicht, suchte Shannon nach etwas, mit dem sie sich dieser peinlichen Situation entrücken könnte.

„Du machst einen großen, sehr großen Fehler, Shannon!“ Ralf klang plötzlich sehr nachdrücklich. Er hatte sie immer ernst genommen, wenn Shannon mit ihm über Paul geredet hatte, aber es war einfach seine lockere und doch wirklich freundschaftliche Art, mit ihr zu reden, die ihr das nötige Vertrauen geschenkt hatte.

Ralf lag inzwischen auf dem Fußboden und fummelte an zwei Kabeln herum, die sich wohl gelockert hatten, weswegen Shannons Internetzugang für zwei Tage lahm gelegt war, was eine Katastrophe bedeutet hätte, wenn sich nicht ihr reizender Vater am Abend zuvor bereit erklärt hätte, das Netz einmal Netz sein zu lassen und stattdessen mit seiner entzückenden Ehefrau, die er seit etwa 100 Jahren zu lieben schien, Essen und ins Kino zu gehen. So konnte Shannon an seinem Rechner surfen.

„Ich habe sehr, sehr viele Fehler, Ralf! Welchen meinst Du konkret?“, fragte Shannon kleinlaut.

„Du bist in manchen Sachen einfach nicht ganz Du selbst!“ Seine Stimme klang klar und ehrlich.

„Wie meinst Du das?“ Shannon wurde unsicher.

„Du bist ein gefühlsbetonter Mensch, was ja nichts Schlimmes ist, aber Du solltest daran arbeiten, das zu tun, zu sagen und zu empfinden, was Du wirklich willst! Das soll nicht heißen, dass Du alles übers Knie biegen sollst! Versuch einfach, die Situation damals mit Paul im „Bailey’s“ nachzuempfinden! Versetze Dich noch einmal in Deine Lage und dann in seine!“

Es herrschte langes Schweigen, indes Ralf das Netz zum Laufen brachte.

Shannon beobachtete, was er tat und versuchte, zu verstehen, was er gemeint hatte. Sie war inzwischen erwachsener geworden und Ralf wusste die ganze Geschichte um Paul als einziger, außer ihrem handschriftlichen und dem inzwischen virtuellen Tagebuch.

„Du meinst, ich habe mich falsch verhalten?“ Shannon ehrte es, dass Ralf diese Situation noch so gut im Gedächtnis zu haben schien.

„Na ja, eine Lüge kann eigentlich nie richtig sein! Es war nicht ganz in Ordnung, was Du gesagt hast, Du warst in diesem Moment leicht überfordert und nervös, schon klar.“

Shannon verstand kein Wort.

Natürlich war es eine Lüge gewesen, Paul zu erzählen, Ralf wäre ihr Violinlehrer … aber konnte man das nicht bitte unter „Notlüge“ verbuchen und es einfach vergessen? Außerdem war das schließlich eine extreme Ausnahmesituation. War es so abwegig, dass sie sich in eine dumme Lüge verzettelt hatte, als wie aus dem Nichts der Mann ihrer Träume vor ihr stand und obendrein mit ihr persönlich redete?

„Na?“, forderte Ralf eine Antwort.

Sie schüttelte nur den Kopf.

„Angenommen, Du hättest ihm einfach gesagt, ich wäre ein Bekannter oder ein Freund!?“

„Ja, und?“

„Meinst Du, er hätte es falsch aufgefasst?“

„Kann sein!“ Langsam schien er sie aus der Reserve zu locken und das gefiel ihr gar nicht.

„Shanny! Wenn Du ihm sagst, ich bin ein Bekannter, dann soll er doch damit machen, was er will!“

„Du meinst, wenn er Interesse an mir gehabt hätte, hätte er selbst herausgefunden, ob Du mein Freund warst?“

„Ja, genau so meine ich das! So fertig!“ Der Rechner lief wieder einwandfrei.

Ralf legte die Hände in den Nacken und stöhnte erleichtert vor sich hin.

Sie bewunderte ihn. Dieser Mann war nicht nur attraktiv, nein, er war auch noch klug und er hatte Verständnis für einen Teenager, der einen halben Rentner liebte.

„Wenn Du Deine Gefühle zeigen willst, musst Du ehrlich sein! Und wenn Dich jemand etwas fragt, dessen Antwort Dir unangenehm ist, sag es einfach! Sag die Wahrheit oder sag, dass Du darüber nicht reden willst oder sag lieber gar nichts! Indem Du Dich der Situation entziehen willst, indem Du lügst, was irgendwann auffliegen kann, fühlt sich der andere mehr auf den Schlips getreten, als wenn Du gerade heraus sagst, was los ist!“

Sie war eigentlich kein Mädchen, das mit dem was es empfand hinter dem Berg hielt oder nicht aussprach. Nein. Sie war immer für Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, die Wahrheit. Aber sie hatte es in Pauls Fall nicht so gemacht, wie sie es gelernt hatte, wie es ihr selbst wichtig war. Und sie hatte vor kaum zehn Minuten wieder gelogen, auf Ralfs Frage nach Paul. Sie wusste allerdings sehr genau, dass er es ihr sowieso nicht abnehmen würde.

„Ich denke immerzu an Paul, Ralf. Das weißt Du doch!“ Sie atmete tief durch und nickte dabei.

„Ich weiß!“ Sein Lächeln wirkte verständnisvoll, wie immer, aber er klang auch bedacht. Shannon hatte inzwischen einige Zeit mit ihrer imaginären, unerfüllten und nicht erwiderten Liebe zu diesem Paul zu kämpfen. Viel länger, als Ralf gedacht hätte. Umso besorgter war er, dass sie sich in etwas verrennen würde, das niemals Wirklichkeit werden konnte.

 

Shannon lächelte, immer noch fasziniert von Ralf und seinen hilfetragenden Tipps: „Weißt Du Ralf, wenn es Paul nicht gäbe, wäre ich bestimmt in Dich verknallt!“

Ralf sah sie an, stand auf, nahm sie in einen Arm und sagte mit seufzendem Unterton: „Wenn es mehr Frauen gäbe wie Dich oder Deine Mutter, wäre ich längst unter der Haube!“ Er drückte sie an sich.

„Na, da wird sich doch eine finden lassen!?“, grinste sie und schmiegte ihren Kopf an seine Brust.

In dem Moment kam Sylvia herein.

Shannon löste sich gerade von Ralf.

Sylvia stutzte: „Seid Ihr fertig? Das Essen steht auf dem Tisch!“

„Gerade eben fertig geworden!“ Ralf klatschte gespielt triumphierend in die Hände: „Jetzt kann die Prinzessin wieder surfen, bis die Flatrate quietscht!“

Shannon lachte.

Sylvia ging wortlos wieder nach unten.

„So, Prinzessin von und zu Sonnenstein! Die Rechnung kommt später per Post!“ Ralf packte seine CDs zusammen, die er mitgebracht hatte. „Mit der Nachhilfe machen wir ein andermal weiter, okay?“

Meinte er nun die Nachhilfe in Sachen Liebe oder PC? Egal, er war immer für sie da. Das wusste sie.

 

Beim Essen herrschte an diesem Abend seltsame Stimmung. Shannon hing ihren Gedanken über Ralfs Worte und natürlich über Paul nach.

Ralf war hundemüde.

Michael schien etwas zu bedrücken.

Sylvias Blick wechselte von Ralf zu Shannon, zu Michael und zurück.

Es war nicht wie sonst, mit lustiger Unterhaltung und den üblichen Arztwitzen.

Ralf fuhr gleich nach dem Essen heim.

Shannon verzog sich in ihre inzwischen komplett eingerichtete Wohnung im Dachgeschoss des großen Hauses. Michael hatte den Speicher ausbauen lassen, weil Shannon schließlich studieren und für länger im Elternhaus wohnen bleiben wollte.

Sie verfügte über ihre eigene, zuckersüße, selbst zusammengestellte Küche, bestehend aus ein paar Vitrinen, einem Kühlschrank und einem Herd mit Backofen. Sechs Stühle umrahmten den üppigen Tisch und eine passende Truhe stand über eine Ecke. Ihr bisher noch kleiner Bestand an Geschirr war ordentlich an seinen Platz geräumt.

Die Möbel waren aus massivem Eichenholz, mit blauer Farbe eingelassen. Alle Farben – die der Möbel und Vorhänge, sowie die der Geschirrtücher und Topflappen – harmonierten wunderbar miteinander. Selten hatte sie in dieser Zeit Lust dazu, sich selbst etwas zu kochen. Mittags war ihre Mutter meist zuhause und hatte gekocht und abends gab es kalte Platten oder man ging essen.

Sie frühstückte am Wochenende gerne alleine, vor allem sonntags, wenn sie wusste, ihre Eltern schliefen länger, wenn Michael zuhause war. Dann hatte sie ein ausgiebiges Frühstück, das bis zum Mittag anhalten, während sie sich mit ihrem Tagebuch beschäftigen konnte.

Auch ihr Schlafzimmer war genau so geworden, wie sie es sich vorgestellt hatte.

Michael hatte es sich eine ganze Stange Geld kosten lassen, alles so einzurichten, wie es seine Prinzessin gewünscht hatte.

Ihr Bett stand unter einem der beiden Dachfenster, der großzügige Schrank stand an der einzig geraden Wand. Hier hatte sie sich auf das Holz die Farbe Lindgrün ausersehen. Zwei Kleiderbutler standen jeweils links und rechts neben dem Bett in den Ecken und dann gab es noch eine Kommode, vor der saß Shannon, wenn sie sich „hübsch“ machte.

Das Wohnzimmer war der größte Raum in ihrer Wohnung. Sie hatte darauf bestanden, eine neue Couch zu brauchen. Zuerst wollten ihre Oldies ihr die gebrauchte, dennoch sehr gut erhaltene, aus dem elterlichen Wohnzimmer vermachen, aber da hatte Shannon sich quer gestellt.

Die sei viel zu unmodern und passe so gar nicht in diese jugendliche Bude, hatte Ralf auch gemeint.

Zwei Stützbalken durchzogen das Zimmer. Sie hatte Kletterpflanzen an beide gestellt, die sich schnell daran empor gearbeitet hatten.

Eine schöne Schrankwand, wo ihre vielen Bücher, ein Fernsehgerät und Videorecorder, sowie ihre Stereoanlage und unzählige Habseligkeiten verstaut werden konnten, war an der Geraden angebracht.

Der Schreibtisch für ihre Schularbeiten war großzügig über eine Ecke gebaut worden. Somit hatte sie reichlich Platz für alle Unterlagen die sie zum Lernen brauchte, oder um ihrem Hobby nachzugehen.

Ihr Badezimmer hatte eine großzügige Eckwanne, eine extra Dusche, WC selbstverständlich, und auch ein paar Möbel für ihre Handtücher und Kosmetika.

Sie fühlte sich bereits wohl in dieser Wohnung, bevor die überhaupt annährend fertiggestellt war.

Das ursprüngliche Elternhaus hatte Shannon gefallen. Sie war gerne zuhause und machte oft ihre Schularbeiten unten bei den Eltern in der Küche oder im Esszimmer.

Von der Haustür aus kam man in einen Windfang, von dem aus man ein Gästeklo fand und eine Wendeltreppe führte in die oberen Etagen. Durch eine zweiflügelige Schwenktür betrat man das großräumige Wohnzimmer mit Bücherecke, Kamin und Sitzgarnitur.

Daneben war die Küche und aus Küche und Wohnzimmer kam man ins Esszimmer.

Aus dem Wohnzimmer führten noch drei Türen: Eine in einen Wirtschaftsraum, eine ins Arbeitszimmer der Eltern und durch eine große Glastür gelangte man auf die Terrasse und in den Garten.

Im ersten Stock lagen Shannons Mädchenzimmer, das inzwischen als Gästezimmer diente, das elterliche Schlafzimmer und zwei weitere Räume als Ersatz für den inzwischen von Shannon bewohnten Dachboden.

 

Heute hatte Shannon Lust, in ihren Memoiren zu schmökern und sie zog das alte, bereits abgegriffene und dem Zerfleddern drohende Tagebuch aus ihrem „Safe“ heraus. Ihr „Safe“ war eine Holzkiste, die sie unter ihrem Bett versteckte. Natürlich hatte die Box ein Schloss, sonst hätte Shannon nicht mehr ruhig schlafen können.

Sie blätterte im hinteren Drittel des Buches. Dort standen die interessanten Geschichten. Unter anderem die, die sich im Pub abgespielt hatte.

... allein, wie er mich angesehen hat. Ich glaub, wenn ich mich das nächste Mal nicht so anstelle, komme ich besser mit ihm ins Gespräch...“

Shannon lächelte verzückt. Es gab ein paar nennenswerte Zusammentreffen mit Paul im vergangenen Jahr, seit er sie im Pub angesprochen hatte:

Shannon hatte nach ihrem sechzehnten Geburtstag einen Job angenommen. Sie saß in den Stunden ohne Training oder Schule und samstags an der Kasse eines großen Warenhauses. Dort wollte sie für Klamotten und anderen Luxus Kohle verdienen, wofür ihr Taschengeld und das, was sie von Oma immer zugesteckt bekam, nicht ausreichte, wobei das nicht gerade wenig war. Irgendwann wollte sie den Führerschein machen und der würde nicht zustande kommen, wenn sie nur ihr Taschengeld zählen würde.

 

In den Sommerferien würde sie einen Ferienjob in einem Web-Design-Unternehmen machen. Dabei würde sie sehr viel mehr bekommen und sie freute sich und war stolz darauf, für das, was sie sich bis dahin noch leisten wollte, selbst aufkommen zu können.

Sie hatte bei einer ihrer Fitnessmarathons im Sportpark mithören können, wie ein Mann sich mit einem anderen über Homepages und Internet unterhielt. Die beiden hatten auf einer Bank gesessen, an der Shannon Halt gemacht hatte.

„Entschuldigen Sie bitte, wenn ich mich einmische!“, hatte sie angesetzt: „Sie machen Homepages?“

Der Herr neben ihr sah sie mit freundlichem, hellem Blick an und nickte. „Ja, warum?“

„Hm, ich interessiere mich sehr für dieses Medium und suche Möglichkeiten, mich darin fortzubilden... na ja, ehrlich gesagt: Ich müsste es erst lernen und wäre für jeden Tipp dankbar!“

Holla! Shannon war über ihren Schatten gesprungen. Sie hatte einen wildfremden Mann angesprochen!

„Das ist doch sehr erfreulich! Im Internet liegt die Zukunft, junge Frau! Was haben Sie sich denn so vorgestellt?“

Er sprach sie mit SIE an? Wow. Das war ihr noch nie passiert.

„Nichts Konkretes! Ich will einfach wissen, wie das alles funktioniert!“, lächelte sie zurück.

„Hier ist meine Karte! Rufen Sie mich an, dann können wir gerne über einen Termin reden! Oder aber Sie haben Interesse an einem Job!“ Dieser Kerl war ja super nett!

„Wirklich?“ Erst jetzt merkte sie, wie toll es wäre, wenn sie jemanden kennen würde, der ihr beibringen könnte, was sie wissen wollte.

„Würde ich es anbieten, wenn es nicht so wäre?“

„Ja. Nein. Natürlich! Klar! Sorry!“ Shannon nahm die Karte an sich und las.

Frank Merz, Webdesign, Hoher Weg 7, Sonnenstein“.

„Hoher Weg? Das ist ja von mir aus gleich um die Ecke!“, staunte sie erfreut.

„Na so ein Zufall!“, grinste Herr Merz.

„Ja, allerdings!“ Shannon strahlte. Über alles hinaus, was Ralf wusste und ihr schon beigebracht hatte, hatte sie jemanden gefunden, der es professionell ausübte. Sowas war wirklich ein Glücksgriff.

„Ich melde mich auf jeden Fall bei Ihnen, Herr Merz! Es freut mich, Sie kennengelernt zu haben!“

Er nickte, wieder grinsend und widmete sich seinem Gesprächspartner.

Shannon verabschiedete sich und joggte weiter.

 

Oh! Ein Drama nahm seinen Lauf: Als Shannon ihren Eltern abends von diesem Herrn Merz erzählte, waren die erst einmal total aus dem Häuschen.

Wie konnte ihre Tochter nur...

„Meine Güte! Macht Euch mal locker! Er ist ein Mensch wie Ihr und ich! Er wohnt um die Ecke! Wenn Ihr Angst habt, gehen wir eben mal zusammen da hin und schauen uns an, was er macht, okay?“

Guter Vorschlag! Seht gut, Shannon! Das gefiel den Eltern!

Und schon wenige Tage später saßen die Drei bei Frank Merz im Büro und man unterhielt sich darüber, wie ein Praktikum bei ihm aussehen würde.

„Ich denke, Ihre Tochter ist sehr clever! Und dass sie so viel Interesse und Engagement zeigt, zeigt mir wiederum, dass sie nicht nur zum Lernen zu mir kommt! Ich werde das Praktikum nach Leistung vergüten!“

Was war Shannon für ein Glückskind? Noch mehr Kohle, wie schön!

„Und wenn sie ihr Interesse umsetzt, kann sie gerne auch am Wochenende oder in den Ferien bei mir arbeiten!“, schlug Merz übergangslos vor.

Natürlich war das an eine Abmachung mit ihren Eltern geknüpft: Sie dürfe nur jobben, solange sich ihre Leistungen in der Schule nicht verschlechtern würden, hieß es.

Nun hatte sie also zwei Jobs, eine Familie, Schule, Hobbys und andere Interessen. Das würde sie noch mehr Zeit kosten.

Inzwischen war sie aber soweit, dass sie Paul und ihr Tagebuch weiter nach hinten geschoben hatte. Natürlich war ihr beides weiterhin sehr wichtig, aber es gab eben noch andere Dinge im Leben, an denen man sich versuchen und seine Energie aufwenden konnte.

Vor einem Jahr hätte sie das nie für möglich gehalten. Sie hatte eben dazugelernt.

 

Wenn an der Kasse sehr viel los war, hatte sie kaum Zeit aufzuschauen und zu sehen, wen sie gerade abkassierte.

„Hallo!“

Diese Stimme kam ihr doch bekannt vor? Sie blickte hoch.

„Oh! Hi!“ Sie lächelte, denn mit ihm hätte sie hier überhaupt nicht gerechnet: Paul!

„Arbeitest Du schon lange hier?“, fragte er mit interessiertem Blick.

„Seit ein paar Wochen!“, antwortete sie knapp, errötete – wie immer, wenn er ihr gegenüber stand – und sie spürte, wie wieder einmal ihr Puls anstieg.

Es blieb an der Kasse nicht viel Zeit, sich mit Leuten privat zu unterhalten, so musste auch Paul zügig seine Sachen wegpacken und gehen. Schade, aber immerhin hatte sie ihn einmal wieder getroffen, außer zu kurzen Phasen im Pub, wo er meist sehr geschäftig war oder mit seinen Kumpels zu tun hatte.

 

Von Zeit zu Zeit kam Paul einkaufen.

Shannon hatte so viel um die Ohren, dass sie seit dieser Zeit kaum mehr dazu Gelegenheit bekommen hatte, ins Pub zu gehen, also kam er eben hier her, zu ihr, dachte sie sich.

Bei solchen Einfällen musste sie abgrundtief grinsen.

„Wann bist Du denn immer hier?“, erkundigte er sich beim nächsten Einkauf.

„Das ist unterschiedlich! Ich weiß das selbst immer erst eine Woche vorher! Meistens samstags, jedenfalls bis Mittag!“, verriet sie.

Beim nächsten und übernächsten Mal redeten sie nur sehr kurz.

Jedes Mal, wenn er an ihrer Kasse stand, wurde sie fahrig und es unterliefen ihr kleine Missgeschicke, die ihr nie passierten, wenn er nicht da war.

„Hast Du hier irgendwann auch mal Pause?“, war das nächste, was er sie eines Tages fragte.

„Ja, aber auch das weiß ich nie im Voraus! Außerdem gehe ich da meist selbst schnell einkaufen!“

Was war denn mit ihr los? Warum hatte sie ihm nicht einfach gesagt, sie könnte nach Dienstschluss mit ihm etwas trinken gehen, wenn er das gemeint hätte?

Es war gut, dass sie es nicht gesagt hatte. Vielleicht wollte er ja auch nur viel lieber dann einkaufen, wenn sie nicht da war. Nein, das war Humbug, denn dann würde er nicht bei ihr bezahlen, WENN sie da war.

Sie musste mit ansehen, wie Paul nach einem weiteren Einkauf eine hübsche junge Frau getroffen, sich mit ihr amüsiert, vertraut unterhalten und sie dann auch noch in die Cafeteria begleitet hatte.

Tränen stiegen ihr in die Augen. Ihr Magen ballte sich zu einem festen Klumpen zusammen. Ihr wurde richtiggehend schlecht.

Diese Frau war bestimmt genau sein Typ! Sie war fast so groß wie er, hatte unendlich langes, hellblondes Haar, sie war schon fast dürr und tatsächlich sehr hübsch, das konnte nicht einmal Shannon leugnen. Wie dumm und naiv von ihr, jemals zu glauben, er hätte auch nur ein Auge für sie!

„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte der nächste Kunde, der vergeblich darauf gewartet hatte, dass Shannon seine Sachen abrechnen würde. Stattdessen hatte sie auf das Café gestarrt, in das Paul mit dieser Schönheit gerade verschwunden war.

„Nein, es geht mir nicht gut! Entschuldigen Sie bitte!“ Sie kassierte den Mann ab.

Sie rief die Kassenleitung an und bat um Pause, da momentan sowieso nicht so viel los und ihr nicht gut war.

Sonst war sie in ihren Pausen immer einkaufen oder im Aufenthaltsraum, wo sie sich mit ihren Kollegen und Kolleginnen unterhalten hatte. Doch heute musste sie an die frische Luft. Der Weg dorthin führte am Café vorbei. Sie wagte es nicht, auch nur einen Blick hineinzuwerfen. Zu groß wäre der weitere Schmerz geworden, wenn sie Paul gesehen hätte, wie er diese Frau angehimmelt oder gar geküsst hätte.

Die Stunden bis Feierabend nahmen kein Ende. Immerzu schaute sie auf die Uhr, deren Minutenzeiger sich bei jedem Hinsehen gerade einmal nur einen halben Millimeter weiterbewegt hatte.

Paul kam nach einer Ewigkeit mit seiner Begleitung wieder an ihr vorbei. Sein Blick fiel zwar zu ihr und er lächelte sie dabei an, aber es sah aus, als würde er mit der Frau jetzt nett Essen gehen, ihr dann einen Heiratsantrag machen und mit ihr bei Kerzenschein ins Bett hüpfen. Jedenfalls verließen sie zusammen das Haus.

Shannon war ohne Begrüßung der Eltern in ihre Wohnung gestampft. Sie wollte ihre Ruhe haben. Sie wollte weinen, einfach nur weinen, ihrem Herzen Luft machen, indem sie diesen Tag mit seinen schwarzen Wolken in ihr Tagebuch hackte, wobei die Tastatur ihres Computers einer nahenden Überschwemmung standhalten musste.

 

Paul kam weiterhin alleine zum Einkaufen. Jedes Mal hatte Shannon herumgelinst, ob dieses weibliche Teil in seiner Nähe war, doch das bestätigte sich nicht. Außer ein paar belanglosen Dingen hatte er mit ihr nicht mehr gesprochen. Das war ihr aufgefallen. Entweder hatte er diese heiße Biene an der Backe und er musste den Einkauf tätigen, während sie ihre Fingernägel feilte, ihr Gewicht kontrolliere oder beim Frisör saß. Oder aber, es war ihm zu blöd geworden, ständig nach Shannons Feierabend und ihrer Pause zu fragen, wenn sie doch vermeintlich von ihm eh nichts wissen wollte.

Konnte das sein? Dass er eventuell nach ihren nicht zu umgehenden Abfuhren einfach keinen Bock mehr hatte, sie darauf anzusprechen? Er war immer freundlich und er hatte auch immer an ihrer Kasse bezahlt. Bis auf ein Mal: Shannon saß an der Eilkasse, die nur bis zu fünf Artikel zugelassen hatte. Paul stand geistesabwesend zwei Kassen weiter. Sie musste ihn so eindringlich angesehen haben, dass es ihm durch Marc und Bein gefahren war.

Es folgte ein erstaunter Blick von ihm. Sie schaute schnell weg. Mist! Er hatte sie gesehen und er hatte gesehen, dass sie ihn fixiert hatte.

„Hi! Na?“ Er kam auf sie zu, nachdem er diesmal nicht bezahlt hatte.

„Hallo!“, lächelte sie atemlos.

„Ich hab Dich gar nicht gesehen! Sonst wäre ich natürlich zu Dir gekommen!“, grinste er.

Shannon sah ihn an und blickte ungläubig in seinen Wagen: „Ich glaube, dann hättest Du Dich mindestens dreimal anstellen müssen!“

„Stimmt!“ Paul hatte viel mehr als fünf Artikel eingekauft. „Aber das wäre ja nicht das Schlimmste gewesen!“, grinste er. „Warte!“ Er stellte seinen Wagen neben ihrer Kasse ab und eilte an die Aufsteller neben den Zigaretten.

„Schokoriegel können nie schaden!“, sagte er und kaufte einen solchen, zusammen mit einem Päckchen Kaugummi.

Nur zu gut, dass er keine anderen Gummis brauchte! Die hingen nämlich auch in der Kassenzone. Sie grinste.

Wie es eben kommen musste, ratterte der Schokoriegel gleich dreimal in den Scanner ein. Einmal hätte sie sofort stornieren können. Aber so musste sie die Kassenleitung anrufen, die dann zum Storno antreten musste.

„Peinlich!“, meinte sie verlegen.

„Ach wieso? Dann haben wir ein paar Sekunden, uns zu unterhalten!“, zuckte er mit den Schultern und grinste dabei den älteren Herrn an, der hinter ihm stand und wohl recht eilig bezahlen wollte, denn dessen Finger tippten schon ganz nervös auf dem Band.

„Kaum steht da ein netter junger Mann, haut unsere Shannon in die Kerbe!“ meinte ihre Kollegin und lachte sich halb tot, weil Shannon gar so hibbelig war.

„Na ja! Nett bin ich schon, aber jung??“, kam grinsend von Paul.

Shannon sah ihn an. Sie fühlte sich ertappt, fast so, als hätte er in ihrem Tagebuch gelesen und wüsste alles über ihre seltsame Meinung über Männer in seinem Alter.

Genau jetzt herrschte Kundenflaute an dieser Kasse und Paul blieb tatsächlich stehen. Shannon fertigte den nervösen Mann noch ab, dann sah sie Paul erwartungsvoll an.

Würde jetzt doch noch ein Versuch zu einer Einladung von ihm kommen? Nein! Der kam nicht, aber er fragte, wann sie denn wieder einmal ins Pub kommen würde. Immerhin!

„Boah! Wenn ich das wüsste! Ich wäre schon froh, wenn ich wüsste, wann ich wieder einmal zum Aufatmen komme!“, sagte sie mit genervtem Blick.

„Na denn!“ Er sah auf die Uhr. „Ich muss leider los! Mach’s gut und schönes Wochenende! Vielleicht sieht man sich mal wieder!“ Er lächelte und ging. Leider ohne Antrag auf Verabredung, und ein schönes Wochenende würde es für Shannon sicher nicht werden, nicht ohne ihn.

 

Nach über einem halben Jahr als Kassiererin musste Shannon diesen Job an den Nagel hängen. Es hatte ihr dort gut gefallen, weil die meisten Kollegen sehr nett und viele davon in ihrem Alter gewesen waren. Aber sie schaffte es nicht, das alles auf die Reihe zu kriegen. Das laufende Schuljahr forderte noch einige wichtige Tests und die wollte sie ungern in den Sand setzen.

Jetzt war wieder etwas mehr Zeit, sich mit jemandem im Pub zu treffen, mit der angenehmen Nebenwirkung, Paul dort vielleicht zu begegnen.

Traurig ging sie ihrer Wege, wenn er wieder einmal nicht da war und das war dummerweise meist an den Wochenenden der Fall. Wahrscheinlich hatte er wirklich Frau und Kinder und er musste babysitten und Windeln wechseln. Wenn er aber auftauchte, schossen ihre Hormone derart in die Höhe, wodurch sie sich in ihrem tiefsten Inneren die Zukunft mit ihm derart rosarot ausmalte, dass es zunehmend schwerer wurde, wieder von dieser Wolke herab zu steigen und den knallharten Boden der Tatsachen unter ihren Füßen zu ertragen.

 

Dann sah sie Paul eine ganze Zeit überhaupt nicht. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Weder vormittags, noch nachmittags, noch abends, weder wochentags, noch am Wochenende, wenn sie im Pub war, tauchte er auf.

„Meine Güte, Shannon! Ihm wird ja wohl auch mal Urlaub zustehen!“, mahnte Ralf sie ,auf ihre zappelige Unruhe hin.

„Niemals! Er hat keinen Urlaub! Nie!“ Sie lehnte sich nach diesem Satz schmollend, mit verschränkten Armen zurück und überlegte, wie viel Zeit sie eigentlich daran verschwendete, indirekt nach diesem Kerl zu suchen und auf ihn zu warten, wenn es doch niemals so werden würde, dass auch er auf sie wartete.

Sie stand auf, warf Ralf einen kühnen Blick zu und ging zum Tresen: „Sagen Sie bitte: Hier hat doch ein gewisser Paul ab und zu gearbeitet! Ich hab ihn lange nicht gesehen! Was ist denn mit ihm?“

„Paul? Der kommt leider in nächster Zeit nicht. Er hatte einen Unfall. Er hat sich den Arm ganz böse gebrochen!“, bekam sie von einem der Thekenmänner gesagt.

Das war doch nun wirklich nicht wahr, oder?! Paul war krank? „Ein Unfall? Wie hat er sich verletzt und warum? Und wie geht es ihm? Es ist doch nicht allzu schlimm, oder?“, fragte sie mit großen Augen, interessierter, als sie sich hätte zeigen wollen.

„Er ist okay, aber er kann hier einfach nicht mit anpacken, das bringt nichts!“, bekam sie schlicht zur Antwort.

Mehr erfuhr sie nicht über Paul. Zu gerne hätte sie ihn besucht, ihn angerufen oder ihm wenigstens eine Karte zur guten Besserung geschickt. Aber was hätte ihr das gebracht? Wahrscheinlich hätte Paul damit gar nichts anfangen können. Sie wusste nicht, wie er mit Nachnamen hieß, sonst hätte sie ihn wohl über die Telefonauskunft ausfindig gemacht. Je länger sie darüber nachdachte, umso schwerer wurde ihr Herz. Und den Kerl hinter dem Tresen zu fragen, wie die Adresse war, dazu hatte sie den Mut nun doch nicht.

 

Ein herrlicher Frühling mit angenehm warmen Temperaturen zog nach einem tierisch kalten Winter durchs Land. Belen, Kathrin und Shannon verbrachten so viel Zeit wie möglich im Schwimmbad oder am See, unweit von Shannons Wohnort, wenn das Wetter mitspielte.

Meist trafen sie dort ihre Schulkameraden, mit denen sie ihren Spaß haben konnten. Mehr oder weniger gemeine Streiche hatten sie sich einfallen lassen, um sich gegenseitig zu necken. Die Jungs hatten allerdings die pfiffigeren Ideen. Shannon blieb davor nicht immer verschont, obwohl sie sich eher zurückhielt und sich lieber über die gegenseitigen Attacken der anderen amüsierte. Die Aktiveren waren Belen und Kathrin. Nur wenn Shannon mal wirklich gut gelaunt war und ihre Gedanken nicht gerade bei Paul gehangen hatten, hatte sie sich schon einmal einen Eimer von einem spielenden Kind geliehen und ihn voll kalten Wassers über ihre schlafenden Widersacher gegossen oder sie vom Zehn-Meter-Turm geschubbst. Sie waren halt alle noch Kinder.

Bei einer dieser Aktionen hatten die Jungs die Mädchen in ihre Fänge gebracht und untergetaucht oder die sind selbst von ihnen getaucht worden. Shannon entkam einem der Knaben und kraulte kraftvoll an den Beckenrand. Plötzlich sah sie einige bekannte Gesichter aus dem Pub. Wie erstarrt hatte sie kurz vor der Treppe angehalten, um zu sehen, ob Paul auch dabei war. Er war nicht dabei. Sie schaute sich um, wo ihre Mädels und die Jungs waren. Doch die tollten immer noch ausgelassen miteinander.

Sie ging zu ihrem Liegeplatz. Sie wollte ihre Ruhe haben. Doch plötzlich kam noch ein Mann zu dem Haufen dazu. Das war Paul. Sie wusste gar nicht, wie sie sich setzen sollte, geschweige denn, wohin schauen. Schließlich wollte sie nichts verpassen, aber auch nicht entdeckt werden.

Die Leute gegenüber lachten viel. Sie erzählten oder sonnten sich. Die Frauen in dieser Runde waren deutlich in der Unterzahl. Innerlich betete Shannon, dass keine zu Paul gehören würde. Wenn auch nur eine davon zu ihm gegangen wäre und hätte ihn geküsst, vor ihren Augen, hätte sich Shannon von einem ihrer „Feinde" so lange tauchen lassen, bis sie nichts mehr davon mitbekommen hätte. Oder sie wäre einfach gegangen.

Als Belen und Kathrin kichernd zu ihr kamen, tat sie, als wäre nichts passiert. Sie konnte schließlich nicht verlauten lassen, dass sich vor ihren Augen gerade ihr Traummann fast nackt ausgezogen hatte.

„Spielen wir Karten?“, fragte Belen und fügte hinzu, man könne doch die Jungs einladen, damit es nicht so langweilig würde.

„Ach, bitte nicht! Es macht doch zu dritt mehr Spaß!“, winselte Shannon flehentlich.

„Es ist mit mehr Leuten aber viel spannender!“, fand Kathrin, die bereits Ausschau nach den Kameraden hielt.

„Menno!“, motzte Shannon. Sie stand auf, setzte ihre Sonnenbrille auf und ging zu den Umkleidekabinen, um ihren nassen Bikini endlich gegen trockene Klamotten zu wechseln.

Bis sie wieder zum Platz gekommen war, saßen schon die Jungs da. Einer davon mitten auf ihrer Decke.

„Darf ich?!“, fragte sie freundlich.

Der Kamerad, Marc, einer der beliebtesten Kerle an der Schule, rückte zum äußeren Rand ihres Lakens. Er war einer derer, mit denen man sich auch mal anständig unterhalten konnte und mit ihm verstand Shannon sich von den Knaben am besten.

„Spielst Du nun mit oder nicht?“, fragte Belen, die die Karten bereits austeilte.

„Nein! Ich mag mich sonnen!“, gab Shannon ab.

„Sehr sinnvoll: Mit T-Shirt!“, zickte Kathrin.

„Und noch dazu auf dem Bauch!“, lachte Fabian sie aus.

„Pff!“, gab Shannon ab.

„Lasst sie doch! Sie ist eh schon braun! Mehr Farbe braucht sie gar nicht!“, verteidigte Belen die Freundin.

Sie schaute sich zu ihr um und lächelte ihr dankbar zu.

„Stimmt, Du wirst eigentlich auch im Winter gar nicht richtig blass, Shannon, oder?“, fragte Marc über seine Schulter zu ihr nach hinten, während er seine Karten sortierte.

„Mhm!“ Sie hatte gar nicht richtig gehört, was Marc gefragt hatte. Sie war mit Blick und Hirn schon wieder ganz wo anders.

 

Shannon hatte sich so hingelegt, dass sie hinter ihrer Sonnenbrille in Pauls Richtung schauen konnte. Er hatte sie noch nicht bemerkt und das war gut so, denn so lange konnte sie ihn noch nie ungestört beobachten.

„Welcher von denen gefällt Dir denn am besten?“ Fabian hatte sich auf sie gesetzt und ihre Blickrichtung verfolgt.

Erschrocken fuhr Shannon mit einer Hand herum und patschte Fabian herrlich laut klatschend auf seinen soeben erst bemerkten Sonnenbrand.

„Auuutsch!“, rief er laut aus und ging von ihr herunter.

„Du Depp!“, schrie sie ihn an. „Was soll das?“

„Blöde Gans!“, bekam sie von ihm zu hören.

„Mann, lasst doch die Mädels mal in Frieden! Kann man denn nicht mal in Ruhe Karten spielen? Ihr seid richtige Kindsköpfe!“, moserte Marc, stand auf und suchte das Weite.

Kathrin und Belen schauten sich ratlos an. „Nun mach doch nicht so einen Aufstand!“, zischte Belen leise in Shannons Richtung. Wie hätte sie oder Kathrin wissen sollen, dass Shannon einfach ein Problem damit hatte, einen anderen Mann an sich heran zu lassen. Ganz egal in welchem Alter, welcher Art. Und schon gar nicht, wenn das Objekt ihrer Begierde sich auf etwa fünfzig Quadratmeter mit ihr auf einer Fläche befand.

Alle, die um sie herum gelegen hatten, hatten es mitbekommen, also bestimmt auch Paul und sein Gefolge.

Shannon schnappte ihren Badeanzug und ging sich erneut umziehen.

Sie feuerte ihre anderen Sachen in ihre Tasche und lief zum Stadionbecken. Sie reagierte sich ab, indem sie zügig mehrere Bahnen schwamm.

Zum x-ten Mal kam sie zu den Startblöcken zurück. Sie wollte gerade aus dem Becken steigen, als sie merkte, wie jemand neben hier an den Beckenrand gerudert kam.

Zuerst schauten sie sich an, wieder weg, dann noch einmal an.

„Shannon?“

„Paul!“, kam zur gleichen Zeit von ihnen. Sie lachten.

„Hey, Du kannst schon wieder schwimmen?“, fragte sie gleich erfreut.

„Ja!“, lächelte Paul. „Woher weißt Du denn davon?“

„Ach, ich hab mal im Pub nach Dir gefragt, weil Du so lange nicht drin warst!“, tat sie möglichst unauffällig, während sie errötete.

„Charly hat mir erzählt, dass mal eine junge Dame nach mir gefragt hat! Jetzt weiß ich wenigstens, wer Das war!“, grinste er.

„So?“, kam hastig von ihr. Sicher hatten sich viel mehr „Damen“ nach ihm erkundigt.

Sie stiegen gemeinsam aus dem Becken.

Pauls Blick schweifte über ihren schlanken, gebräunten Körper, so dass ihr allein davon ziemlich heiß wurde. Als wären es keine Blicke, sondern seine Hände, die sie streichelten.

„Wie hast Du Dir den Arm eigentlich gebrochen?“, interessierte sie sich schüchtern.

„Arm? Das Schlüsselbein musste dran glauben!“, lachte er. „Ich wollte es beim Radfahren ganz genau wissen und habe eine nette Kurve einfach unterschätzt!“, erklärte er lachend.

„Jetzt ist aber wieder alles gut, oder?“, hakte sie nach.

„Ja, alles bestens! Natürlich muss ich mich noch ein wenig schonen, aber schwimmen ist gut für die lahmgelegte Muskulatur!“, nickte er, während er neben ihr herging.

Sie traute sich gar nicht, ihn anzuschauen, so nervös war sie. Sie hielt schützend ihre Arme vor ihre Brust verschränkt. Im Gegensatz zu Belen und Kathrin hatte Shannon im letzten Jahr an dieser Stelle einiges zugelegt. Für ein Mädchen in ihrem Alter war das gar nicht so einfach. Ihre Mutter, und auch die Freundinnen, hatten ihr allerdings widersprochen und gemeint, das wäre ja nur zu natürlich und sehr weiblich, sexy sogar. Sie solle stolz darauf sein, so gebaut zu sein.

„Wir sehen uns sicher noch!“, musste sie dann sagen, denn ihr Liegeplatz war erreicht.

„Okay, bis später!“, blinzelte er ihr zu und ging die wenigen Meter weiter, bis er bei seinen Kumpels war.

Zu gerne hätte sie gesagt, er solle sich doch einfach mit zu ihr legen. Aber das ging natürlich nicht.

 

Shannon zog sich wieder um. Diesmal wagte sie einen netten Bikini anstatt des flatterigen, kaschierenden T-Shirts. Sie schaute lange in den Spiegel in der Kabine, bis sie sich eingeredet hatte, dass es wirklich sexy anzuschauen war, wie gut sie mit weiblichem Liebreiz bedacht war. Bis sie zurückkam waren ihre Freundinnen wohl bereits wieder schwimmen gegangen und ihr Mut, wirklich mit ihrem knappen Zweiteiler zu imponieren, war wie verflogen.

„Darf ich?“, fragte Paul neben ihr. Sie wollte gerade ein T-Shirt überziehen.

„Oh! Ja!“, sagte sie überrascht. Sie biss hektisch und nervös in einen Apfel. Etwas anderes war ihr beim Griff in ihre Tasche gerade nicht in die Hand gefallen.

„Oder störe ich?“, grinste er.

„Nein! Gar nicht!“, schüttelte Shannon den Kopf und rückte auf ihrer Decke ein Stück weiter, damit er sich zu ihr setzen konnte. „Danke!“, strahlte er mit der Sonne um die Wette.

Genau das, was sie sich lange gewünscht hatte, war jetzt Wirklichkeit: Sie saß unmittelbar neben Paul. Und sie waren diesmal nicht im Pub, sondern ganz privat, auf ihrem Badelaken, das Gott sei Dank groß genug war.

Sie unterhielt sich mit ihm über das Pub, über das Wetter …

„Da ist sie ja!“, rief Belen.

„Hi!“, begrüßte Belen Paul zuerst und dann Kathrin mit einem „Hallo!“, das mehr fragend als aussagend klang.

Die beiden setzten sich schweigend auf ihre Plätze und schauten sich fragend an.

„Kommt Ihr heute Abend zufällig ins „Bailey’s“? Da spielt eine Live-Band!“, erkundigte sich Paul.

Nun war das Trio wieder ein eingeschworener Verbund: „Nein! Ich hab schon etwas vor!“

„Ich kann leider auch nicht!“ und

„Wir gehen heute Abend ins Kino!“, bekam Paul gesagt.

Alle drei waren sich einig gewesen, mit ihren fünfzehn und sechzehn Jahren nie alleine auszugehen. Sie hatten sich für diesen Abend bereits miteinander verabredet, also hielten sie das auch ein.

Außerdem hätten alle sechs Elternteile mit Sicherheit nicht zugelassen, dass ihre Mädels in dieser Kneipe ihren Abend verbringen würden.

Shannon tat es im Herzen weh, dass sie ins Kino gehen musste. Paul wäre sicherlich auch im Pub gewesen und sie hätte wenigstens einen Samstagabend mit ihm verbringen können. Es hätte aber auch sein können, dass sie dort tatsächlich zum ersten Mal seiner Freundin über den Weg gelaufen wäre und das bestärkte sie, lieber doch ins Kino gehen zu wollen.

„Schade! Ich hätte mich gefreut!“ Paul zog die Brauen hoch. „Vielleicht klappt es ja ein andermal!“

„Ja!“, murmelte Shannon enttäuscht.

Er warf Shannon noch einen viel sagenden Blick zu, verabschiedete sich: „Bis später! Ich geh noch eine Runde schwimmen!“ Und weg war er.

„Mist!“, maulte Kathrin. „Warum sind wir nicht ein paar Jahre eher geboren?“

„Weil Du Kathrin, ich Belen und sie Shannon sind und wir nun mal noch ein wenig warten müssen!“, antwortete Belen missmutig.

„Fabian hat einen knallroten Handabdruck auf seinem Arm!“, lachte sie amüsiert und ablenkend.

„Ich hab Euch gleich gesagt, ohne die Knaben ist das Kartenspielen schöner! Ihr wolltet nicht auf mich hören!“, säuselte Shannon gespielt, ihren Blick zog es immer wieder in Pauls Richtung.

„Da drüben sind ja die beiden aus dem Pub!“, deutete Kathrin zum gegenüber liegenden Getümmel an Menschen.

„Dass man die auch mal außerhalb des Pubs trifft!“, staunte Belen.

„Die sind alle aus dem Pub, die ganze Clique!“, wusste Shannon.

„Stimmt! Jetzt weiß ich auch wieder, woher ich diesen Kerl kenne, der gerade hier war!“, nickte Belen.

„Paul. Ja!“ Shannon schnaubte.

„Paul? Woher weißt Du, wie er heißt?“ Kathrin horchte aufmerksam.

Oh, das Interesse einer ihrer Freundinnen war zumindest schon einmal geweckt. „Keine Ahnung, hab ich irgendwie mal mitbekommen, als Charly ihn gerufen hat!“

„Hä? Paul, Charly, ... Hab ich was verpasst?“ Kathrin sah Belen und Shannon im Wechsel an.

Shannon holte tief Luft. Okay, sie hatte mit den beiden öfter im Pub gesessen, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, dass irgendwann in diesem Zusammenhang je ein Name gefallen war.

„Na, ich hab ...“, wollte sie ansetzen.

„Kathrin kriegt mal wieder gar nichts mit, was? Der Dunkelhaarige ist Charly, der Chef vom Pub, der süße Blonde ist Dennis. Und Paul, den hab ich ab und zu mal beim Bedienen gesehen!“ Belen rettete die Situation. Nur gut, dass sie die Namen auch wusste, sonst hätte Kathrin in den nächsten Minuten Alarm geschlagen.

Nun lagen alle drei nebeneinander auf den Bäuchen und schauten den erwachsenen Leuten zu.

„Wir sollten viel öfter ins Pub gehen! Da trifft man wenigstens echte Männer!“, ließ Kathrin seufzend los.

Belen und Shannon lachten.

„Was willst Du denn mit so einem ollen Knacker?“, kicherte Belen.

„Na, was wohl? Du kannst Fragen fragen!“ Kathrin verdrehte die Augen.

„Das werden wir schon noch früh genug erleben! Aber doch nicht mit einem Kerl, der doppelt so alt ist wie Du!“, meinte Belen besänftigend.

Und damit hatte sie nicht einmal so Unrecht. Immerhin waren Dennis und Charly ohne Zweifel noch älter als Paul. Und einige der anderen, die regelmäßig im Pub waren, wirkten auch nicht mehr wie Mitte zwanzig.

Shannon war urplötzlich das Lachen vergangen.

Belen fand Paul also schon mal alt. Sie, als ihre Freundin fand ihn alt. Was würden dann erst ihre Eltern sagen, wenn sie ...

Bevor sie zu Ende denken konnte, kam Paul triefend nass zu den anderen zurück.

Er umarmte Charly von hinten, so dass seine gesamte kalt-nasse Front an dessen sonnenerhitzten Rücken klebte. Charly ließ einen erschrockenen Schrei los. Umgehend musste Paul sich in Sicherheit bringen, denn Charlys Fluchen und sein Blick lechzten nach Rache.

Also waren die Mädchen nicht kindisch, wenn die „großen“ Jungs auch solchen Fez machten.

„Na warte!“, drohte Charly. „Das kriegst Du zurück!“

Die Mädchen kicherten.

Paul kam an ihnen vorbei und grinste ihnen zu, dann steuerte er zu seinem Platz zurück.

Shannon hätte am liebsten laut hinaus geschrien: „Ist er nicht wahnsinnig sexy?“ Ihr Bauch fing an zu Grummeln und sie spürte, dass das Verlangen nach Paul in den letzten Wochen überhaupt nicht abgenommen hatte, ganz im Gegenteil. Bei diesem Anblick schwirrten ihre Gedanken sonst wohin.

Nachdem Paul sich umgezogen hatte, kam er zielstrebig zu den jungen Damen zurück, als die gerade wieder Karten spielten.

„Braucht Ihr einen vierten Mann?“, erkundigte er sich freundlich.

„Willst Du mitspielen?!“ piepste Shannon.

„Nee, wahrscheinlich wollte er nur die Karten zählen!“, verdrehte Kathrin die Augen.

Richtig, das war eine blöde Frage gewesen, aber Shannon war überrascht, dass er mit ihnen zocken wollte.

Warum wollte er denn ausgerechnet neben Shannon Platz nehmen? Jedenfalls wartete er, bis Belen ein wenig näher zu Kathrin gerückt war und setzte sich dann erst hin, zwischen sie und Shannon.

Ihr Blut kam in Wallung. Vielleicht wollte er neben Belen und gar nicht neben sie?

Sie spielten Karten und unterhielten sich. Shannon hatte erst noch weiter auf dem Bauch gelümmelt, aber ihr schien es unfreundlich, wenn sie Paul den Rücken zugewandt lassen würde.

Als sie direkt vor ihm saß, sah sie sich Paul genauer an, vor allem das, was sonst verborgen war. Dieser Mann hatte wirklich nur sexy Teile an sich. Egal, ob es sein Drei-Tage-Bart, seine Brust oder seine Füße waren. Was ihr aber besonders aufgefallen war – schon seit der ersten näheren Begegnung im Pub – war sein vernarbtes Gesicht. Was sie daran so interessant oder gar reizvoll fand, konnte sie sich nicht erklären, es war einfach so.

Wer die Sonnenbrille erfunden hatte, dem gehörte ein Nobelpreis verliehen. Paul hätte sonst jeden ihrer Blicke verfolgt und sie womöglich für mannsdoll gehalten.

Paul hatte selbstverständlich auch unauffällig die Mädchen gemustert. Sie waren alle drei süß und nett.

Wenn er sich mit Kathrin unterhielt oder Belen mit ihm sprach, wurde Shannon zappelig. Die sollten bloß ihre Finger von Paul lassen! Das wäre ihr Untergang gewesen: Wenn eine von den beiden sich nicht so zickig anstellen würde wie sie selbst, hätte sie bestimmt bald das Nachsehen.

Belen war bereits zu neunzig Prozent als Konkurrentin ausgeschieden, denn sie fand Paul ja zu alt. Aber bei Kathrin wusste man nie. Vielleicht würde sie gerade in diesem Moment ein Faible für Paul entwickeln? Das Alter schien ihr jedenfalls relativ egal zu sein.

Irgendwann legte er sich seitlich hin, so dass seine Schulter dicht an Shannons Knie verweilte. Er stützte seinen Kopf in die Hand und wartete auf seinen nächsten Zug. Über den Brillenrand schaute er jeweils die an, die gerade dran war. Paul spielte mit Shannon und ihren Freundinnen Karten. Wer hätte das gedacht?

Shannon brachte ihren Blick nicht von seinem nackten, gebräunten Körper weg. Besonders ausgiebig beäugt sie seine behaarte Brust und seinen Bauch bis hinunter zu seiner Badehose. Dort hielt sie aber an und schielte lieber wieder nach oben, wo eine goldene Kette seinen Hals zierte, die war schließlich auch nett anzusehen. Sie lächelte einmal mehr amüsiert über sich selbst.

Paul sah sie an und stutzte, grinste aber dann. Sie wurde rot und war froh, dass auch er eine Sonnebrille trug, dadurch fiel es hoffentlich nicht so auf, wie peinlich es ihr war, ertappt worden zu sein. Er hatte sicher genau beobachtet, wie sie ihn optisch verschlungen hatte. Und dabei sagt man doch eher den Kerlen solch gierige Beschau nach. In diesem Fall war es umgekehrt.

Es wurde langsam kühler. Paul hatte fast eine Stunde bei den drei jungen Damen verbracht.

„So! Es hat riesigen Spaß gemacht mit Euch! Vielleicht klappt es ja mal wieder. Im Pub? Ich bewege mich mal wieder rüber! Wir werden bestimmt bald gehen!“ Paul stand auf. Seine Augen linsten über die Brille hinweg, zu Shannon. Direkt zu ihr: „Also, bis dann!“

„Tschüssi!“, säuselte Kathrin.

„Bis bald, im Pub!“, blinzelte Belen.

„Ciao!“ Shannon lächelte. „Und viel Spaß heute Abend!“

Er nickte und ging langsam, so als wollte er gar nicht recht, zu seinen Freunden zurück.

Als die Mädchen zusammenpackten, wagte Shannon es immer wieder, zu ihm zu schauen. Er unterhielt sich mit einem Kerl, während er zu ihnen herüber schielte. Belen und Kathrin hatten es gar nicht mitbekommen, das war ganz gut so. Die hatten damit zu tun, alles in ihre Taschen zu verstauen, was sie während des Tages so auf dem Platz ausgebreitet hatten. Shannon war da einfach gewissenhafter und achtete immer darauf, dass nichts außen herumlag, sondern ordentlich in ihrem Rucksack verstaut.

„So, fertig!“, rief Belen und schnaufte auf.

„Ich habe auch alles!“, meinte Kathrin, sah sich aber noch einmal prüfend um, ob auch nichts liegen geblieben war.

Währenddessen sah Shannon sich auch noch einmal um, allerdings nicht nach etwas Vergessenem, sondern nach Paul. Der hob die Hand zum Abschied. „Ciao Mädels!“, rief er.

Einheitlich winkten nun die drei im Takt zurück zu der Gruppe. Und siehe da: Sogar Charly und Dennis winkten mit einem „Tschüss Mädels!“

„Oh wow! Die kennen uns ja!“ Kathrin war gleich völlig aus dem Häuschen.

„Na, ach was? Ein Wunder, nicht wahr?“ Shannon war ein wenig pampig geworden. Was war denn schon dabei, wenn sie die Inhaber ihres Stammlokals kannten, in dem sie nun mal regelmäßig verkehrten? Gut, dass Paul sie kannte, dass er sich sogar zu ihnen gesellt hatte, hatte sie schon mächtig stolz gemacht. Aber man musste es doch nicht gleich überbewerten.

 

Shannon trottete hinter ihren Mädels her, als wäre sie ein Vierbeiner, der artig seinen Herrchen folgte. Am liebsten hätte sie noch einmal zurück geschaut, aber es schien ihr zu übertrieben.

Das jungfuchsige Dreiergespann machte sich auf den Heimweg. Auf ihren Fahrrädern fuhren sie zu Kathrin, von wo aus sie später Essen und ins Kino gehen wollten. Gegen eine Pizzeria und Kino hatten die Oldies allesamt nichts einzuwenden, denn dort konnte man die Küken abholen und so vermeiden, dass sie noch in irgendwelche Spielunken abtauchen konnten.

Shannon und Belen mussten sich frisieren, denn sie hatten beide Locken, die nach dem Freibad mit seinem Chlorwasser recht hilflos von ihren Köpfen herunter hingen. Kathrin hatte das Problem nicht, obwohl sie die beiden anderen schon immer um ihre Haare beneidet hatte. Sie hatte blondes, glattes Haar, das wunderbar zu ihrem weiblichen Gesicht und ihren großen, blauen Augen passte, deshalb wollte sie nichts daran verändern.

Während Shannon ihre Mähne föhnte, flötete Kathrin: „Ob dieser Paul eine Freundin hat?“

„Vielleicht ist er schwul, wie Dennis und Charly!?“, gab Belen allen Ernstes zur Antwort.

Shannon schaltete vor Schreck den Fön ab: „Was?“

„Na ja, das wäre nicht ungewöhnlich! Die meisten, die um Charly herum sind, sind schwul, habt Ihr das nicht bemerkt?“, lachte Belen unbekümmert, während sie eine Jugendzeitschrift durchblätterte, und sie wusste gar nicht, was sie mit ihrer Aussage bei Shannon anrichtete. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Natürlich war ihr nicht entgangen, dass ein paar von den Männern im Pub homosexuell waren, aber Paul? Sie schluckte hart.

„Quatsch! Er hat halt die Richtige noch nicht gefunden!“, meinte Kathrin trocken.

„Na ja, aber denkbar wäre es! Wieso interessiert Dich das eigentlich? Gefällt er Dir etwa?“, hakte Belen nach und sah Kathrin prüfend an.

Shannon hielt den Atem an und schaute über den Spiegel zu Kathrin, die Belen den Vogel zeigte und sagte: „So ein Käse! Es ist mir halt aufgefallen, weiter gar nichts! Aber nett ist er, das müsst Ihr zugeben!“

Shannon hatte vergessen, weiter zu fönen und zu atmen. Erst jetzt wagte sie es, wieder Luft zu holen. „Ja, geht so!“

„Bist Du fertig?“, fragte Belen.

„Nein!“ Geistesabwesend trocknete Shannon weiter ihr Haar.

Beim Essen und im Kino bekam Shannon nichts mit. Zu tief saß der Schock über die Möglichkeit, dass sie Paul vielleicht wirklich niemals bekommen könnte, aber aus einem ganz anderen Grund, als dem, der ihr vorher wahrscheinlicher schien.

 

„Die Szene, wo er sie geküsst hat, als sie dann so verdattert geschaut hat! Göttlich!“

„Nein, das Schönste war, als sie dieses Kind gerettet haben, das war phantastisch! Ich hatte richtig Gänsehaut!“, unterhielten sich Belen und Kathrin aufgeregt über Teile des Films, für den Shannon gezahlt und von dem sie nicht die Spur mitbekommen hatte.

 

Das Kino war nicht weit vom Pub. Kathrin schaute auf die Uhr: „Hey, wir haben noch gut zwanzig Minuten Zeit! Was meint Ihr: Sollen wir mal einen kleinen Abstecher zum „Bailey’s“ wagen?“, feixte sie.

„Au ja!“, rief Belen begeistert.

„Och nö!“, winselte Shannon. „Was wollen wir denn dort? Um was zu trinken reicht die Zeit nicht und um einfach mal reinzuschauen, ... ich weiß nicht ...“

„Komm schon! Sei kein Spielverderber!“ Belen und Kathrin hatten sich einander untergehakt und waren bereits zielstrebig auf dem Weg zum Pub. Shannon schnaufte durch. Okay, alleine hier zu warten, war wohl auch nicht die Lösung. So folgte sie ihren beiden Kumpelinen missmutig. Sonst hätte sie alles drum gegeben, auch nur fünf Minuten in seiner Nähe sein zu können, aber heute, nach neueren Gedankengängen, lag ihr fern, aus Vermutungen Erkenntnisse werden zu lassen.

Im Pub war jede Menge los. So voll war es hier noch nie gewesen. Wo um alles in der Welt, hätten sie hier jemanden finden sollen und überhaupt: Was wollten sie eigentlich hier?

Etwas desorientiert standen sie inmitten erwachsener Leute und schauten sich um. „Ganz schön voll hier!“, rief Belen.

Kathrin nickte, mit schon fast enttäuschtem Blick.

„Lasst uns wieder gehen! Nicht, dass wir noch zu spät kommen!“, ermahnte Shannon die beiden.

Gerade als sie das Lokal verlassen wollten, hörten sie jemanden „Shannon!“ rufen. Ihr Herz blieb stehen. Sie wusste genau, wem die Stimme gehörte. Die Freundinnen schauten sich suchend um, während Shannon ihn längst entdeckt hatte. Er freute sich sichtlich: „Hat es doch noch geklappt?“

„Na ja, eigentlich ... wir wollten nur mal vorbeischauen!“, hastete Shannon nervös.

„Oh, schade, also bleibt ihr gar nicht lange?“, hakte er nach.

Ein prüfender Blick auf die Uhr. „Wir müssen gleich los, sorry!“ Nun bedauerte Shannon doch, dass sie nicht noch ein paar Minuten oder sogar Stunden Zeit hatte. Zeit hätte sie schon. Für ihn immer. Aber sie konnte nicht bleiben.

„Wollt Ihr was trinken? Ich lade Euch ein!“, schlug er vor.

„Das klappt leider nicht, Paul! Vielleicht ein anderes Mal?“ Was hätte sie jetzt aufs Spiel gesetzt, um diese Einladung anzunehmen? Ihr Eltern versetzen? Unmöglich! Und die beiden anderen mussten ja auch nach Hause.

„Da kann man nichts machen. Aber das holen wir nach, okay?“, forderte er eine Zusage.

„Bestimmt!“, nickte sie eifrig und lächelte.

Ein wenig erleichtert war sie jetzt schon. Immerhin hatte er sie eingeladen, was doch wohl heißen wollte, dass sich zumindest nicht im gleichen Lokal jemand befinden würde, der zu ihm gehörte. Die andere Möglichkeit war dennoch nicht auszuschließen.

Ein kurzer Abschied noch, dann verschwand Paul im Getümmel der Leute.

Nicht ganz erfolglos verließen die Mädchen die Kneipe. Schweigend gingen sie Richtung Kino zurück.

 

Beim Treffpunkt, wo die Eltern ihre Töchter abholen wollten, ermahnte sich Shannon dazu, sich bloß nichts anmerken zu lassen.

Sie schwärmte ihrem Dad Zeug vor, das überhaupt nicht in diesem Streifen vorgekommen war, denn sie hatte nicht die leiseste Ahnung mehr davon.

Erst in ihrem Bett, als sie alleine war und erschöpft vom Tag, ergossen sich ihre Tränen, wie schon so oft, in ihr Kissen.

Sie war nicht sicher! Die Vermutung, dass Paul Männer lieben könnte, lag für sie mehr als fern, aber es war im Bereich des Möglichen, das machte ihr schwer zu schaffen.

 

Shannon hatte Paul wenige Tage später beim Einkaufen getroffen. Sie war mit ihren Eltern unterwegs und hatte sich bei den Zeitschriften herumgetrieben, während die Oldies Lebensmittel besorgten.

Sie hatte ihre hübsche Nase gerade in eine renommierte Jugendzeitschrift versteckt, die sie zwar noch nie regelmäßig gelesen hatte, in der man aber ab und zu gute Kosmetik-Tipps, sowie nette Modetrends finden konnte.

„Suchst Du etwas Bestimmtes?“, fragte sie jemand.

Sie sah Paul direkt ins Gesicht, als stünde vor ihr ein Geist. „Nein, ich lese das normalerweise gar nicht!“ Mit diesem Satz feuerte sie das Blatt wieder an seinen Platz. „Hallo! Na? Kaufst Du ein?“ Was für eine dämliche Frage! Wieder einmal war sie mehr als überflüssig.

Er nickte lächelnd. „Ich hatte neulich vergessen, Dich zu fragen, ob Du gar nicht mehr hier arbeitest!? Bist Du mit einer Million Einnahmen getürmt?“ Paul durchstöberte die Zeitungsaufsteller.

„Nein, ich bin nicht mehr hier, ich schaffe das zeitlich einfach nicht!“, erklärte sie geschäftig. Er hatte sie vermisst? Konnte sie seine Frage so verstehen?

„Ah! Die Letzte!“ Er wedelte mit einer Musikzeitung. Er hatte ihre scheinbar Antwort gar nicht registriert.

„Das habe ich mir schon gedacht! Hab Dich schon vermisst!“, grinste er prompt. „Bist Du alleine hier? Kann ich Dich irgendwo hin mitnehmen?“, fragte er in ihre wirren Gedanken hinein.

„Äh, nö, das ist nett! Meine Eltern schwirren hier irgendwo herum! Die müssten gleich kommen! Aber trotzdem: Danke für das Angebot!“ Ihr Lächeln war so gequält, dass sie sich am liebsten den Mund zugehalten hätte, damit er es nicht sehen konnte.

Warum konnte sie just in diesem Moment nicht einfach sagen: „Ja, Paul! Fahr’ mich bitte heim! Ich würde mich sehr freuen!“

Nein, es ging nicht. Und so, wie die Dinge zwischen Paul und ihr bis dato gelaufen waren, würde es wohl nie dazu kommen, dass sie einmal mit ihm, ganz nah bei ihm, in seinem Auto sitzen würde und ihm sagen, wie sehr sie ihn verehrte, oder besser, anhimmelte.

„Shanny! Wir hätten dann alles!“, rief Papa Conley aus dem Hauptgang.

„Ich komme sofort!“, winkte sie zurück.

Sie verabschiedete sich einmal mehr auf unbestimmte Zeit von Paul.

Der schlurfte ihr ein paar Sekunden später nach, so dass er an der Kasse ausgerechnet hinter ihr und den Eltern stand.

Warum war ausgerechnet heute so viel los, dass man lange warten musste? Sie konnte jetzt nicht einmal flirten und ihm Signale ihrer Zuneigung schicken!

Wenn Paul sie noch einmal ansprechen würde ... ihre Eltern … „Bitte, sag jetzt kein Wort mehr!“, bettelte sie innerlich und sah ihn dabei an.

Als hätte er es verstanden, sagte er nichts mehr.

Aber er lächelte. Es war keine Sonne da, die ihn blenden konnte, es war niemand um sie herum, den er außer ihr hätte meinen können und sie standen genau zwischen den Zigarettenaufstellern. Wenn, dann hätte er eine Havanna angegrinst und das konnte wohl nicht sein. Sie ließ diesmal ihren Blick nicht so schnell von ihm weichen.

„Shan! Schläfst Du noch?“, mahnte ihre Mutter, weil sie unnütz da stand und gar nicht merkte, dass sie schon ihren Einkauf aufs Band legen konnten.

Shannon half ihren Eltern, die Sachen aus dem Wagen zu packen.

„Hier! Deine Slips!“, rief die Mutter und warf Shannon ein Bündel Unterwäsche zu.

An die hatte sie gar nicht mehr gedacht. Und die wollte sie unbedingt auch noch selber zahlen!

„So was ziehst Du an?“, wunderte sich Michael und musterte die äußerst knapp geschnittenen String-Tangas, die aus Versehen er abgefangen hatte.

„Dad!“, maulte Shannon genervt.

Sie wagte es nicht, Paul noch ein einziges Mal anzuschauen. Jetzt nicht mehr. Immerhin wusste er jetzt, was sie für Unterhosen trug.

Erst, als sie ihre Sachen bezahlt hatte, drehte sie sich noch einmal um und sagte leise „Tschüss!“, da hatte er sich schon auf seine Waren konzentriert, sie hörte noch sein deutliches „Ciao!“.

 

Seit dieser Zeit hatte Shannon Paul, wenn sie ihn gesehen hatte oder sie zur gleichen Zeit im Pub waren, genauer beobachtet, als zuvor. Zuweilen versuchte sie besonders zu analysieren, wie er sich mit Männern unterhielt. Wenn er mit Frauen plauderte, hatte sie das ermutigt, wenn auch nicht glücklich gemacht, aber es waren halt auch viele Kerle dabei, die ihre beängstigende Vermutung hochgehalten hatten.

 

Wieder wenige Wochen später – sie wollte abends zu einem Filmvortrag an ihrer Schule über Australien, den sie auf keinen Fall verpassen wollte – sprang ihr Roller nicht an. Ihre Eltern waren nicht zu Hause. Da sie ja außerhalb wohnte, war mit einem Fußmarsch oder dem Bus auch nichts gewonnen. Gerade, als sie den Roller zur Seite schieben wollte, hielt ein kleiner Wagen neben ihr an. Es war noch hell. Sie sah sich um.

„Kann ich helfen?“, fragte eine freundliche Stimme und ein noch freundlicheres Gesicht blickte ihr entgegen.

„Ja, ja, vielleicht! Mein Gefährt springt nicht an und ich muss in einer Viertelstunde in der Schule sein!“, gab sie bekannt und nahm ihren Helm vom Kopf.

„Jetzt noch Unterricht?“, fragte der junge Mann, stellte den Wagen ab und stieg aus.

„Nein! Ein Filmvortrag!“, zappelte sie.

Der Kerl dokterte am Moped herum: „Hmm, das könnte was Größeres sein! Ich glaube nicht, dass wir das auf die Schnelle hinkriegen!“

Er versuchte, die Kiste noch ein paar Mal anzulassen, aber es klappte nicht.

„Schule? Filmvortrag? Meinst Du zufällig den Vortrag über Australien?“, stutze er nun.

Shannon nickte mit enttäuschtem, aber überraschtem Blick.

„Ich könnte Dich mitnehmen, ich muss nämlich auch da hin!“, bot er sich an. Während er sie jetzt erst genauer anschauen konnte, fiel ihm ein: „Sag mal, kenn' ich Dich nicht?“

Shannon neigte den Kopf zur Seite und grinste.

„Hey, nein! Nicht, das was Du denkst! Das soll keine Anmache sein, ja?!“, lachte er. „Ich könnte schwören, dass ich Dich schon mal irgendwo gesehen habe! Ich bin übrigens Tim!“

Shannon überlegte. „Vielleicht kennst Du mich aus der Schule?“ Er war kaum älter als sie. Jedenfalls sah er sehr jung aus, vielleicht gerade mal zwanzig. „Oder aus dem „Bailey’s“?“, vermutete er.

„Das kann gut möglich sein. Ich bin zwar nicht oft dort, aber möglich, dass wir uns da schon mal begegnet sind!“ Sie nickte.

„Also, was ist?“ hakte er nach. Er sah auf die Uhr. „Wenn wir pünktlich sein wollen, müssten wir los!“

„Oh! Oh, ja, das wäre natürlich klasse, wenn Du mich mitnehmen könntest!“, beschloss sie kurzerhand. Eigentlich passte es nicht zu ihr, zu einem fremden Mann ins Auto zu steigen, egal wie alt er wirkte.

„Ich muss schnell noch einen Kumpel abholen, ist das in Ordnung?“, fragte er weiter, als der Wagen mit mindestens 70 km/h die Straße hochfuhr.

Sollte sie jetzt aussteigen und flüchten? Besser wäre es, denn bedingungslos geheuer war ihr das nicht.

Schon kurz später hielt er den Wagen wieder an.

„Moment, ich hol’ ihn!“ Tim sprang aus dem Auto und lief die Zufahrt zu einem noblen Haus hinauf, an dem Shannon immer vorbeikam, wenn sie zu Frank Merz zum Arbeiten ging.

Noch bevor sie zu Ende denken konnte, was sie nun vorhatte zu tun, wollte sie lieber an gar nichts mehr denken: Erstens kam dieser Tim bereits zurück und im Schlepptau hatte er zweitens keinen Geringeren, als einen gewissen Paul.

Shannon wäre jetzt lieber doch geflüchtet. Aber sie erinnerte sich an Ralfs Worte. Und immerhin wollte sie diesen Mann besser kennen lernen, der ihr plötzlich nicht mehr ganz so alt erschien, wie noch vor zwei Jahren. Er hielt alles mögliche Obst in der Hand, das er in Windeseile zu vertilgen schien. Jedenfalls war es fast leer bis er zum Auto kam.

Sein naturfarbenes Hemd mit Schnüren statt Knöpfen, ließ auf seine Brust blicken. Seine Haare waren gebleicht von der Sonne. „Ach, sieh an, sieh an! Hallo Shannon! So trifft man sich wieder!“ Paul grinste bis zu den Ohren, als er durch das geöffnete Beifahrerfenster sprach.

Shannons Herz schlug wie verrückt, man musste an ihrer Halsschlagader gesehen haben, wie sehr.

„Ihr kennt Euch?“, stutze Tim.

„Ja, flüchtig!“, kaute Paul die letzte Weintraube auf.

„Hallo Paul!“, sagte sie, hoffentlich selbstbewusst genug.

Sie stieg mit geistesgegenwärtiger Selbstverständlichkeit aus dem Wagen und ließ nicht etwa diesen hoch gewachsenen Mann hinten einsteigen, sondern krabbelte selbst hinein.

Irgendwie fühlte sie sich plötzlich sicherer, gegenüber den anderen kleinen Begegnungen mit ihm.

„Was macht der Geigenunterricht?“, erkundigte er sich und drehte sich dabei auf dem Vordersitz so herum, dass er sie ansehen konnte.

„Na ja, der geigt halt so vor sich hin! Übrigens: Der Mann im Pub, mit dem ich ab und zu dort bin, das ist nicht mein Violinlehrer!“ Erstaunt über sich selbst war sie nun stolz, dass das bereinigt war.

„Das weiß ich!“ Paul zog die Brauen hoch und grinste.

„Ach, das ist Shannon? Die mit der Geige, hm?“, fiel Tim ein.

Paul musste also bereits über sie geredet haben! Woher sonst hätte Tim von ihr gewusst?

Shannon wurde rot, sie spürte, wie ihr heiß wurde und schon war aller Stolz wieder eingestürzt. Paul hatte schon im ersten Moment gewusst, dass sie ihn angelogen hatte? Ralf war öfter im Pub, also kannte er ihn auf jeden Fall zumindest vom Sehen. Und er wusste sicher auch, dass Ralf Arzt war.

Aber er fragte nicht nach, wer denn nun der Mann war, der damals Kaffee getrunken, ihr die Cola spendiert hatte und mit dem sie seitdem des Öfteren im Pub saß.

„Das war ein Bekannter, ein Kollege meines Vaters!“ Das musste sie jetzt loswerden, egal, was Ralf von ihrem übereifrigen Verhalten denken würde, außerdem würde sie jetzt aufhören, sich ständig an Ralfs Worte zu klammern und selbstständig entscheiden, was sie sagen und denken würde.

Sie sah drein, als würde sie schmollen.

„Ich weiß, dass Dr. Pfeiffer Dein Violinlehrer ist!“, erklärte Paul, während er ausgiebig gähnte. „Mein Gott, ich muss mal wieder eher ins Bett!“

Nicht doch! Das wäre gar nicht nötig! Paul hätte ja nur seine Betthäschen mal in Ruhe lassen und sich mehr um sie, Shannon Conley, kümmern müssen!

Bei ihr hätte er bekommen, was Frau ihm geben kann und er hätte auch genug Schlaf abgekriegt! Vorausgesetzt, er interessierte sich überhaupt für Frauen, was ja immer noch nicht ganz klar war.

Shannon war ganz mulmig im Bauch. Sie war sich inzwischen zu hundert Prozent sicher, dass ihr nichts passieren würde, denn Paul kannte sie. Solch nette „Gespräche“ wie beim allerersten Mal im Pub, den kurzen Small Talks während der Einkäufe oder im Schwimmbad hatten lange Zeit nicht mehr stattgefunden. Er hatte sie freundlich gegrüßt, ab und zu hatte er sie angelächelt und wenn man ganz genau hinsah, Ralf hatte ihr das mehrfach bestätigt, konnte man feststellen, dass Paul, wenn sie selbst ihn nicht gerade angehimmelt hatte, Shannon beobachtete.

Shannon hatte es auch einmal bemerkt. Das war, als sie mit ihren Eltern und zwei befreundeten Paaren, Kollegen ihrer Mutter, im Theater gewesen war und ein wunderschönes Kleid an hatte. Shannon wirkte an diesem Abend viel älter in diesem Aufzug und sie wusste, dass sie gut aussah, denn Paul wäre nicht der erste gewesen, der ihr das vielleicht gesagt hätte. Sie war natürlich sehr aufgeregt, als ausgerechnet an diesem Abend auch noch Paul im Pub war und bediente.

Als er auf sie zukam, kam wieder so ein verschmitztes Lächeln. Ein tonloses „Hallo!“, von seinen Lippen abzulesen, das nur ihr galt, dann erst begrüßte er den gesamten Tisch. Er war freundlich und hatte sie korrekt bedient. Shannon hatte selbst bemerkt, dass er, wenn sie zu ihm sah, schnell wegschaute. Nicht immer. Ab und zu erwiderte er ihren Blick herausfordernd, aber dann war sie diejenige, die den Kontakt unterbrach. Sie wollte kein Risiko eingehen, dass ihre Eltern etwas bemerkten. Komisch. Sie hatte nie die Möglichkeit, ihn länger als eine halbe Minute anschauen zu können, ohne nicht Rücksicht auf jemanden nehmen zu müssen, der sie ertappen könnte. Nur bei Ralf konnte sie das, aber dann eben auch nur beschränkt, weil sie niemals alleine im Pub waren.

Leider wollte Sylvia gerade an jenem Abend schon früh nach Hause, weil sie Kopfschmerzen hatte. Zum Abschied hob Paul die Hand und schaute ihr nach.

 

Jedenfalls saß sie jetzt nur wenige Zentimeter von ihm in einem Auto. Auch wieder nicht so, wie sie das gerne gehabt hätte – ganz allein, aber immerhin.

Sollte er also wirklich schwul sein? Vielleicht war ja dieser Tim sogar sein Freund?

Es hätte sie außerdem brennend interessiert, woher er den Namen des Dr. Pfeiffer wusste.

Ihr Gesicht sprach Bände.

Paul musterte sie.

Sie erwiderte seinen Blick.

Dieser Mann stand ganz bestimmt nicht auf Schulmädchen, aber erst recht nicht auf Männer! Für Shannon war er einer, der mindestens jedes Wochenende eine andere hatte, oder zwei, was ihr schon mehrfach das Herz gebrochen hatte, wenn sie freitags, samstags und sonntags nicht im Pub sein konnte und mit sportlichen Aktivitäten abgelenkt war. Sie hatte ihn eigentlich im Pub noch nie eindeutig mit einem Mädchen oder einer Frau beobachtet. Klar, er unterhielt sich mit einigen, aber man konnte nicht daraus ersehen, dass es mit einer davon intimer war, als wenn Shannon mit Ralf plauderte. Das hätte wieder dagegen gesprochen, dass ihn Mädchen überhaupt näher interessierten.

Sie fand Paul nicht schön. Da hatten Belen und Kathrin schon eher die Augen für, aber außer einem schönen Gesicht, das man sich gerne mal anschauen wollte, war kein einziger Typ dabei, der solches Bauchkribbeln in ihr ausgelöst hatte. Außerdem waren ihr diese Saubermännchen zuwider. Sie wollte einen Mann. Einen, der nicht lachte, wenn man ihm sagte, dass man seine Tage hatte, sich nicht wohl fühlte und deswegen nicht mit ins Schwimmbad oder ins Kino wollte. Sie wollte IHN. Diesen Mann! Sie wollte Paul!

Auf jeden Fall war sie bestimmt nicht die einzige Frau – oder musste man sie doch noch Mädchen nennen? – die solche Männer sexy fand. Nein, es gab sicher Tausende und mindestens hundert davon wollten mit ihm etwas anfangen, während es einige von denen sicher schon geschafft hatten, mehr von ihm zu bekommen, als nur ein flüchtiges Lächeln.

„Woran denkst Du?“, wollte er wissen.

„Woher kennt Ihr beiden Euch?“, fragte sie gleichzeitig.

Damit war seine Frage erst einmal zurückgestellt, Gott sei Dank! Hätte sie ihm etwa sagen sollen, dass sie gerade an Sex mit ihm dachte?

„Wir machen zusammen Musik!“ Tim blickte über den Rückspiegel zu ihr nach hinten.

„Aha? Violinkonzerte?“, hakte sie grinsend nach.

Paul lachte: „Er schon!“ und zeigte auf Tim.

„Jaja, so ähnlich halt!“ Tim lachte laut.

Sie hatten keinerlei Gemeinsamkeiten. Tim trug einen langen blonden Zopf, sehr gepflegt, und sein Gesicht war gar nicht sehr männlich.

Paul war um einiges maskuliner, unrasiert. Er trug sein Haar kurz und eine Brille, die ihm ausgezeichnet gut stand. Tim war recht schmal und nicht besonders groß, Paul war halt einfach ein Mann.

Das einzige, das sie ein bisschen verbunden hatte, waren die legeren Klamotten.

Shannon hatte gelesen, dass Schwulenpärchen oft genau in diesem Stil zusammen lebten. Einer war der männliche und der andere der weiblichere Part. Ihr Magen schnürte sich zusammen.

Einer Boygroup würden sie hoffentlich nicht angehören, so sah keiner von beiden aus.

„Wir machen Folkmusik, da ist die Geige unerlässlich!“, klärte Tim endlich auf.

„Und was spielst Du, Paul?“ Sie hoffte, dass er nicht etwa Blockflöte spielen würde. Es würde ihr Bild von ihm als Mann drücken.

„Ich? Ich bin nur der Pausenclown!“ Es kam wieder dieses Grinsen zum Vorschein.

Shannon wäre am liebsten jetzt und hier auf seinen Schoß gesprungen.

Warum war das Leben so kompliziert? Alles bei ihr lief ziemlich glatt, nur das Liebesleben nicht ... Vielleicht würde es sonst zu einfach für sie?

„Schmarrn! Paul spielt Gitarre, Bouzouki und er singt recht schön!“ Tim war sehr nett, das wusste sie jetzt, denn Paul versuchte wohl, sie zu veräppeln?

„Gesang? Studiert Ihr Musik? Oder macht Ihr das nur als Hobby?“

„Nur nebenbei!“ Endlich wurde auch Paul ernst. Sie waren an der Schule angekommen.

Auf dem Weg vom Parkplatz zum Gebäude wusste Shannon nicht, was sie machen sollte: Sollte sie sich an die Fersen der Männer heften? Oder sollte sie sich lieber ausklinken? Wie gerne wäre sie in Pauls Nähe geblieben.

„Willst Du später wieder mitfahren?“, fragte Tim hilfsbereit.

Shannon hätte ihn für diese Frage abküssen können. Natürlich nicht hier vor Paul, nein, das würde einen zu ungeschickten Eindruck machen.

„Das ist sehr nett, aber wenn es Umstände macht, kann ich auch meinen Freund anrufen, der ist dann bestimmt schon von der Klinik zu Hause! Also einen Freund. Nicht meinen. Einen Freund der Familie!“. Der Satz hätte auch in die Hose gehen können.

„Der Violinlehrer?“ Verschmitzter hätte Paul die Frage jetzt nicht mehr bringen können.

„Genau der!“ Shannon schürzte ihre Lippen.

Paul stieß sie kumpelhaft an.

„Quatsch, klingle doch die Leute nachts nicht aus dem Bett! Klar kannst Du wieder mitfahren!“, meinte Tim, der sich suchend umblickte.

Inzwischen waren sie im Vorführraum angekommen.

„Da vorne ist noch Platz!“, flüsterte Tim, der, nicht weniger als die anderen beiden, sehr erstaunt war über den Ansturm. Der Saal war fast voll.

Paul, ganz gentlemanlike, wies Shannon mit einem Arm, sie solle vorgehen. Tim saß schon auf einem der Stühle. Sie setzte sich neben ihn. Neben Tim war noch ein Platz frei. Paul knautschte sich aber direkt an Shannons Rechte.

Zuerst plapperte ein Reiseführer ein paar Takte. Das Licht erlosch. Paul wollte Tim etwas sagen, wozu sie beide je zur Hälfte über Shannon gebeugt waren.

„Ich bin mal gespannt, ob was kommt, wegen der Hitzewelle!“

„Werden wir sehen!“, nickte Tim kurz.

Ja, Hitzewellen verspürte Shannon jetzt auch, da brauchte es gar kein Australien. Es genügten München, ein Lesesaal und ein ganz bestimmter Mann, der gerade neben ihr saß.

Der Film ging los und jedes Mal, wenn die beiden Männer etwas schnasselten, verstand Shannon nichts mehr vom Bericht.

Ihr Herz, das selbstverständlich immer noch halshoch pochte, übertünchte den Rest des Gemurmels aus den Lautsprechern.

„Setzt Du Dich bitte hier her?“, flüsterte Shannon an Pauls Ohr.

„Was?“ Er neigte seinen Kopf dichter zu ihr hin, damit er sie besser verstehen konnte.

So nah war sie ihm noch nie. Was sollte sie jetzt tun? Ihn küssen? Sein höchst niedliches Ohrläppchen anknabbern? Mei, was hatte er sogar für sexy Ohren!

Bei ihren Gedanken musste sie grinsen.

Er sah sie stutzend an.

„Ob Du mit mir den Stuhl wechselst?“, wiederholte sie leise.

„Klar!“ Und schon hatten sie vertauscht.

Paul hätte sich eigentlich gleich neben Tim setzen können, wollte er aber scheinbar nicht. Jetzt haftete Pauls rechtes Bein direkt an ihrem linken.

Sie saß ziemlich unbequem und hätte gerne ihre Beine übereinander geschlagen, aber angesichts dieses Körperkontaktes war das natürlich völlig unmöglich. Sie blieb, so schief wie sie war, sitzen. Und wenn es sie einen Bandscheibenvorfall kosten würde.

Würde er sein Bein wegnehmen, wenn er schwul wäre? Er tat es nicht!

Der Film ging fast eine Stunde lang. Shannon fand ihn sehr interessant. Im Gegensatz zu ihrem Nachbarn, dem ständig der Kopf nach unten klappte.

Tim stieß ihn an: „Hey, Du Penner!“

Paul schreckte hoch und setzte sich wieder ordentlich hin.

Shannon kicherte.

Pauls herzhaftes Gähnen verstärkte ihr Lachen.

Bei allem, was in diesem Vortrag zu vernehmen war, klebten ihr Herz und weiterhin ihr Bein an Paul. Sie überlegte, wie sie ihn beeindrucken könnte, wie sie ihm zeigen könnte, dass sie total auf ihn stand. Aber erstens war der nette Tim dabei und zweitens wollte sie sich nicht lächerlich machen. Außerdem stand ja noch eine wichtige Kleinigkeit aus, die sie erst noch zur Sicherheit wissen musste.

Auf dem Heimweg fragte Shannon, ob sie wohl nach Australien reisen wollten.

„Ja, aber erst im Herbst!“, bestätigte Paul ihre Vermutung, die sie aus Fetzen der Unterhaltung mitbekommen hatte.

„Ich war vor zwei Jahren dort!“, sagte sie stolz. „Es ist ein wunderbares Land! Man braucht Wochen, um alles Sehenswerte zu besuchen!“

„Warst Du da mit dem Violinlehrer?“, stichelte Paul.

„Das hätte ich gerne getan! Ralf zieht sich durch mein Leben wie ein grünes Band!“, seufzte sie gespielt.

„Wirst Du ihn irgendwann heiraten?“ Diese Frage aus Pauls Mund traf sie mitten ins Herz. Zum einen, weil Ralf für sie ein Zwischending aus zweitem Papa und dem immer gewünschten großen Bruder war, zum anderen, weil sie nicht wusste, was genau Paul jetzt von ihr hören wollte.

„Paul!“, mahnte Tim, „In ihrem Alter denkt man wohl kaum schon ans Heiraten?“ Er hatte wohl gemerkt, dass es Shannon die Sprache verschlagen hatte.

„Sorry, war dumm von mir!“, kam dann reumütig von Paul.

„Aber nein! Wieso denn? Vielleicht heirate ich ihn ja wirklich! Er ist sehr nett! Er ist so, wie sich eine Frau einen Mann vorstellt, mit dem sie ihr Leben verbringen möchte!“ Damit war sie in einem Punkt bestätigt, weil Paul jetzt wusste, dass das Alter für sie keine Rolle spielen würde. Zumindest hoffte sie, dass er das so verstanden hatte. Es blieb nicht mehr viel Zeit, es ihm noch einmal deutlicher zu sagen, denn sie waren vor ihrem Haus angekommen.

„Wäre er nicht zu alt für Dich?“ Paul bot ihr seine Hand an. Mann, war die weich. Sie griff nach ihr und kletterte heraus. Er stand nun so dicht vor ihr, dass sie seinen Atem spüren konnte.

Ihr wurde schwindelig, mehr noch, als den ganzen Abend schon.

„Nein! Wäre er nicht! Ich finde, das Alter sollte keine Rolle spielen!“ So, jetzt musste er es aber kapiert haben!

Er neigte den Kopf zur Seite und zog die Brauen zusammen. Dann lächelte er sie an.

Bevor sie hier vor ihm zusammenbrechen würde, beugte sie sich noch einmal in den Wagen, reichte Tim die Hand und bedankte sich für die nette Hilfe und die freundliche Fahrbegleitung. „Ich gebe Dir mal einen aus, wenn wir uns im Pub treffen, okay?“

„Keine Ursache! Man sieht sich!“, winkte Tim.

Sie strich mit ihrem bloßen Arm Pauls Bauch. Es durchzuckte sie wie ein Blitz.

„Wir sehen uns auch wieder?“, fragte er leise, oder stellte er fest?

„Überlassen wir es dem Zufall!?“, fragte sie leise, oder stellte sie fest?

„Es war ein netter Abend! Du wohnst hier? Da oben, wo Ihr mich vorhin abgeholt habt, wohnt meine Oma!“, verkündete er.

Sollte das heißen, sie könnte ja mal den Berg hinauf laufen und schauen, ob er zufällig dort anzutreffen war? Oder wohnte er auch da?

„Pass auf Dich auf!“, riet Paul, bevor er den Blick abwandte, ins Auto stieg und „Ciao!“ rief, bevor die Tür zuklappte.

Shannon war völlig von der Rolle. Sie wurde vom Telefonklingeln im Haus in die harte Realität zurückgeholt.

Hektisch eilte sie hinein und nahm den Hörer ab.

„Shannon! Gott sei Dank! Hast Du mal auf die Uhr gesehen? Es ist halb zehn!“ Ralf hatte sich Sorgen gemacht, wie süß von ihm. Ralf hatte immer ein Auge auf Shannon, wenn ihre Eltern nicht zuhause waren. Es war eine unausgesprochene Selbstverständlichkeit, dass er für sie da war, wenn sie alleine war.

„Ralf! Ja, es wurde ein wenig später! Aber das ist völlig wurscht, mir geht es blendend ...“ Shannon erzählte Ralf in allen Einzelheiten die Ereignisse, angefangen beim defekten Roller, bis hin zum Altersunterschied zwischen ihr und ihm und dem zwischen ihr und Paul ... und das waren allerhand Details, die sie loswerden musste.

Ralf wusste von der inzwischen eingetretenen Annahme, Paul könnte vielleicht gar nicht auf Frauen stehen.

„Meinst Du, er hat Interesse an Dir?“, fragte er vorsichtig.

Aus dem, was Shannon erzählt hatte, glich es einer Anmache höchsten Grades von Paul, was sie da recht erfolgreich, und sogar ohne bewusstlos zu werden, hinter sich gebracht hatte.

„Ich weiß nicht, was meinst Du?“, fragte sie gegen.

„In jedem Fall würde ich vorsichtig sein, Shannon, immerhin wäre es schade, wenn Du in Deinem Alter schlechte Erfahrungen mitnehmen müsstest!“

Die beiden redeten noch eine ganze Weile.

Es wurde fast Mitternacht.

Shannon musste ins Bett. Sie hatte am nächsten Morgen eine wichtige Prüfung für dieses Schuljahr. Englisch lag ihr. Da musste sie nicht viel lernen und ihr Tagebuch würde morgen auch noch auf sie warten, aber Müdigkeit war nun mal kein Lernfach.

 

Die nächste Zeit zog sich wie Kaugummi durch Shannons Leben.

Sogar im Klassenzimmer starrte sie aus dem Fenster und sinnierte, wie es wohl wäre, mit Paul bei so einem Mistwetter in ihrer Wohnung unter dem Dach zu sein, zu kuscheln und sich zu lieben.

 

Es klopfte an ihrer Tür.

„Herein?!“ rief Shannon, nachdem sie ihr Buch schnell zur Seite gelegt hatte, in dem sie gerade diese wichtigsten Episoden mit Paul noch einmal durchlebt hatte. All die Gefühle waren wie vor wenigen Wochen.

„Liebes? Ich möchte kurz mit Dir reden!“ Ihr Vater hatte sorgenvolle Falten auf der Stirn.

Er schloss die Tür hinter sich und trat auf sie zu. Sie hatte ja schon beim Essen bemerkt, dass er nicht besonders gut gelaunt war.

Sie lümmelte auf ihrer Couch. „Was gibt es denn?“

Er setzte sich zu ihr und sah sie mit ernstem Blick an.

„Mein Mädchen, uns ist aufgefallen, dass Du Dich in letzter Zeit sehr verändert hast. Hat das einen bestimmten Grund?“

„Verändert?“ Sie verstand nicht recht.

„Es ist nur ... Na ja, Deine Mutter und ich haben den Verdacht, dass Du Dich in jemanden verliebt hast ...“, fuhr er fort.

Nun wurde es also wirklich ernst für sie! Früher, als sie gedacht hatte.

„Wäre das so abwegig?“ Sie zog stutzig lächelnd die Brauen zusammen.

„Natürlich nicht, nein, das will ich damit nicht sagen. Es ist nur, weil Mum und ich ... wir denken, dass Du Dir vielleicht den falschen Mann dafür ausgesucht hast. Wir möchten gerne, dass Du mit uns darüber sprichst. Ich meine, ein Mann in seinem Alter ... Da liegen doch die Interessen ganz anders ... wenn du verstehst, was ich meine. Das ist nicht so einfach, wie Du es vielleicht im ersten Verliebtsein siehst! Denke bitte darüber nach, Shanny, wir meinen es nur gut mit Dir und wollen Dir ersparen, dass Du unglücklich wirst!“

So hatte Shannon ihren Vater noch nicht erlebt. Er hatte immer ein offenes Ohr gehabt und wenn es notwendig war, hatte sie mit ihm oder ihrer Mutter über alles reden können. Aber jetzt stellte er sie vor einen riesigen Berg an Schuldgefühlen, der sich in ihr aufbaute, und er hoffte scheinbar, mit einem Gespräch alle Steine der Gefühle abtragen zu können? Außerdem: Woher wusste er das alles? Woher wusste er von Paul und dass er um einiges älter war als sie?

„Ich weiß nicht, was Du unter anderen Interessen verstehst, Dad! Ich komm schon klar! Ich möchte jetzt bitte wieder gerne alleine sein!“ Sie verkniff sich die Tränen, die sich ihren Weg bahnten. „Außerdem verstehe ich überhaupt nicht, was das soll!“

Ihr Vater nickte und strich ihr über die Wange. „Du weißt, dass Du jederzeit zu uns kommen kannst und es auch tun sollst, okay? Egal, worum es geht! Aber verrenne Dich bitte nicht in etwas, das keine Zukunft hat!“

Shannon sah ihn schweigend an. Denn erst in diesem Moment wurde ihr klar, dass Ralf geplappert haben musste. Außer ihm wusste niemand von ihren Gefühlen für Paul.

Sie hatte es ihm im Vertrauen erzählt und er hatte wohl nichts Besseres zu tun gehabt, als es ihrem Vater weiterzugeben. Sie war stinksauer.

Egal, ob Ralf an diesem Abend müde war oder nicht, er musste daheim sein.

Shannon rief ihn an, aber das Handy war aus.

„Ich fahr’ noch eine Runde!“, rief Shannon ins Wohnzimmer, von wo sie die leise debattierenden Stimmen ihrer Oldies hören konnte.

Noch bevor einer von beiden etwas dazu sagen konnte, war Shannon weg.

Ihr Roller stand in der Einfahrt.

Immer wieder musste sie das Visier hochklappen, um ihre Tränen wegzuwischen, während sie Richtung Stadt brauste.

Ralf hatte sie enttäuscht. Warum hatte sie sich ihm bloß anvertraut? Hätte sie es lieber Belen oder Kathrin erzählt, die hätten vielleicht dumm geschaut oder darüber gelacht, aber bei ihnen wäre sie sicherer gewesen, dass sie nichts ausgeplaudert hätten, zumindest bei Belen.

Das ständige Klingeln an

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Colleen McCann
Bildmaterialien: Colleen McCann
Cover: Colleen McCann
Lektorat: Colleen McCann
Satz: Colleen McCann
Tag der Veröffentlichung: 23.12.2017
ISBN: 978-3-7438-4738-5

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