(c) Colleen McCann
2006
All rights reserved.
Alle Recht vorbehalten.
Von Herzen geschrieben ...
... für mich,
für Euch
und für
meine Lieben!
Der Inhalt dieses Romans ist frei erfunden. Ähnliche oder identische Namen, Personen, Örtlichkeiten oder Begebenheiten aus dieser Geschichte sind rein zufällig und unterliegen keinerlei wissentlicher Tatsachen oder Übereinstimmungen.
Die Sonnenstrahlen dieses Tages ließen ihr Licht durch die dünnen Spalten der Lamellenvorhänge fließen. Alle Anwesenden im Gerichtssaal blickten erschrocken auf das gekippte Fenster. Ein dumpfer, lauter Knall hatte die Ruhe gestört, die bei der Vernehmung eines Zeugen geherrscht hatte. Der Mann wollte in diesem Moment mit einer aufschlussreichen Aussage beginnen und jeder hatte ihm aufmerksam zugehört.
„Bewahren Sie bitte Ruhe!“ Der vorsitzende Richter, Dr. Ralph Sanders, stand selbst neugierig auf und ging zum Fenster.
„Oh, da hat Ihr werter Kollege seinen netten Sportwagen ein bisschen zu freundschaftlich einparken wollen, Herr Winter!“, wandte sich Richter Sanders an den Staatsanwalt, der schulterzuckend den Kopf schüttelte und kühl meinte: „Es musste einmal so kommen.“
„Er hat die Mauer übersehen. Die steht aber schon länger da.“, grinste der Richter und nahm wieder Platz. „Wir fahren mit der Zeugenvernehmung fort!“ Die Verhandlung nahm ihren Lauf.
Patricia legte ihre Finger wieder ans Notebook und schrieb mit, was der Zeuge aussagte. Heute ging es zum zweiten Mal um einen Fall von Dokumentenfälschung.
Patricia Degen war seit knapp vier Jahren beim Landgericht I in München tätig und sie hatte mittlerweile vielen Richtern beigesessen und mitgetippt, bei Richter Sanders war sie allerdings am liebsten.
Ralph Sanders war humorvoll, konnte einfühlsam sein und - wenn es angebracht war - sehr zynisch werden. Dabei ging es allerdings nicht etwa nach seiner Stimmung, sondern eher nach dem jeweils vorliegenden Fall und dessen Hintergründe, die im Verlauf der Verhandlung zutage kamen. Jedenfalls war er nicht langweilig und einsilbig, wie manche seiner Kollegen, die stur ihren Job machten und mit keiner Silbe an etwaige persönliche Umstände
der Menschen dachten, die als Täter überführt werden sollten. Ganz zu schweigen von den Opfern, die bei gewissen Vorsitzenden oftmals wie Täter behandelt wurden.
Es war viel interessanter für Patricia, die Verhandlungen zu protokollieren, denen Richter Sanders vorsaß. Hier teilte sie ihre Meinung mit ihren Kolleginnen.
Inzwischen war Patricia einundzwanzig Jahre alt und wohnte in einem noblen Stadtteil Münchens.
Ihre Eltern, Johanna und Karl Degen, lebten in der Schweiz. Nachdem Patricia ausgezogen war, wollten beide ihren Ruhestand vor der Idylle der Alpen genießen.
Patricia war als Nachzügler zur Welt gekommen, als ihre Eltern die Vierzig bereits überschritten hatten. Sie erfreuten sich inzwischen ihrer üppigen Renten, sowie bester Gesundheit, und ließen den lieben Gott einen guten Mann sein.
Patricias längst erwachsenen Geschwister Marcel und Liane lebten mit ihren Familien in Hamburg und Köln.
Jedes der Degen-Kinder hatte es in die großen Städte verschlagen, nachdem sie ihre Kindheit und Jugend in diesem kleinen, verträumten Dorf an der österreichischen Grenze verbracht hatten. Skisport war hier die einzige Beschäftigung gewesen, die ihnen wirklich Spaß gemacht hatte und alle drei waren gute Abfahrtsläufer geworden. Aber das allein konnte sie nicht halten.
Patricias Elternhaus war liebevoll im Landhausstil eingerichtet. In regelmäßigem Abstand läuteten die wuchtigen Kirchenglocken, gleich neben ihrem Haus. Es gehörte zu ihrem Leben dazu, wie Essen und Trinken. Wenn man aus dem Haus trat, stand man auf einer engen Straße, durch die man nur einspurig mit einem Kleinwagen fahren konnte. Jeder kannte hier jeden und man wusste, dass man an jeder der Türen im Ort hätte klingeln können – man hatte immer freundlich ausgeholfen, wenn man Hilfe brauchte.
In einem Wäldchen, oberhalb der Siedlung, hatten Patricia und ihre beste Freundin Marie eine alte Hütte für sich, die scheinbar niemandem gehörte. Hier saßen sie im Sommer häufig in der Wiese und spielten, als sie kleiner waren, und später verzogen sie sich dorthin, wenn sie sich etwas ganz Wichtiges und Geheimes zu erzählen hatten.
Patricia hatte eine wunderschöne Kindheit hinter sich. Sie hatte sich zuhause wohl gefühlt und war zufrieden, bis auf die Tatsache, dass man im interessanten Alter zwischen vierzehn und achtzehn Jahren durchaus versauern konnte, wenn man keine Freunde hatte, die bereits Auto fuhren. Schließlich wollte man sich am Wochenende amüsieren und das war in dieser Einöde, so nett sie auch war, nicht möglich.
Patricia hatte Marie, mit der sie ständig zusammen war, schon seit dem Kindergarten gekannt. Später mussten sie morgens mit dem Bus zur gleichen Schule, in die nächste Stadt, und wieder nach Hause fahren. Sie machten Hausaufgaben miteinander und entschieden nach der sechsten Klasse – nicht auf die Realschule, wie die meisten ihrer Jahrgangsstufe – sondern lieber auf eine Wirtschaftsschule zu wechseln. Sogar in Urlaub hatte Patricia zweimal mit Marie und deren Eltern fahren dürfen. Die Mädchen erzählten sich alles. Patricia stand eher auf blonde Jungs, Marie mochte die dunklen Typen lieber, somit kamen sie sich nicht ins Gehege und Neid oder Eifersucht gab es bei ihnen sowieso nicht.
Patricia hatte sich mit sechzehn in einen Jungen aus der Stadt verliebt. Sie war an den Wochenenden regelmäßig mit ihrem Cousin Eric und dessen Freund Georg in die Stadt gefahren, um dort die Diskothek zu besuchen. Eric war der einzige Junge, dem Patricias Eltern ihre Tochter anvertrauten. Patricia mochte ihn und Georg zwar nicht besonders, aber sie musste sich mit ihnen gut stellen, sonst wäre sie aus dem Dorf gar nicht heraus gekommen. In der Diskothek „Blue Moon“ trafen sich viele Jugendliche. Marie konnte nur ab und zu mitkommen. Sie war in der Schule nicht so erfolgreich wie Patricia, was deren Eltern nicht belohnen wollten. Umso lustiger wurde das Wochenende, wenn Marie mitkommen durfte.
Und hier, in dieser Diskothek, hatte Patricia einen Verehrer namens Nick. Eigentlich hieß er Nikolaus. Alle fanden es allerdings viel cooler, ihn Nick zu nennen.
Mit ihm hatte Patricia bereits heftig geflirtet und ihn sogar ab und zu alleine getroffen. Sie merkte, dass dieser Nick sie auch mochte und dass mehr daraus werden konnte.
Dass Patricia diesen Job am Gericht hatte und deswegen nach München gezogen war, hatte sich aus einer Fügung des Schicksals ergeben, denn
allein Zufall konnte es nicht gewesen sein:
Sie hatte sich während des letzten Halbjahres an der Schule auf einige Stellenangebote in der Umgebung ihres Heimatortes beworben und sich über ebenso viele Absagen geärgert, obwohl sie sehr gute Zensuren hatte, dass sie sich eines Samstagmorgens eine große Münchner Tageszeitung am Kiosk geholt und dort die Angebote durchforstet hatte. Aus diesem Angebot hatte sie sich einiges ausersehen. Ausbildung zur Arzthelferin, Speditionskauffrau, Krankenschwester, Industriekauffrau oder Rechtsanwaltsgehilfin. Berufe, die ihr gefielen. Sie war nicht festgelegt auf eine bestimmte Richtung. Sie war flexibel und an Vielem interessiert. Sie setzte dabei auf ihre Offenheit, irgendwie bestimmt an jedem Beruf Gefallen zu finden.
Dummerweise hatte sie sich bei der Adressierung eines der vielen Kuverts, die sie nach München gesandt hatte, in der Annonce vertan, und somit nicht einen gewissen Rechtsanwalt Peter Meyer in Freising, sondern das Landgericht in München erwischt.
Da es dort einen Richter namens Peter Mayer gab, öffnete man das Kuvert in der Poststelle, weil der Rest der Adresse korrekt geschrieben war.
Obgleich in ihrem Bewerbungsschreiben stand, dass sie sich als Anwaltsgehilfin bewarb – was man als schlichten Formulierungsfehler deutete – nahm man ihre Bewerbung durchaus ernst. Gerade zu dieser Zeit hatte nämlich jene Institution tatsächlich nach Mitarbeitern gesucht.
Schließlich hatte sie wenig später Post vom Landgericht I München im Haus und das machte ihr zuerst einmal Bauchschmerzen. Was sollte sie denn verbrochen haben? Mit zittrigen Händen öffnete sie den Brief.
Erleichtert, dennoch höchst erstaunt darüber, dass man sie zu einem Vorstellungsgespräch einlud, sprang sie polternd durch das elterliche Haus und teilte Vater und Mutter lauthals mit, dass sie in die Großstadt ziehen würde.
Marie freute sich zwar mit ihr, rümpfte aber umgehend die Nase: „Wenn das klappt, werde ich hier elendig eingehen!“ Marie selbst hatte bis zu diesem Tag ebenfalls noch keine Aussicht auf einen Ausbildungsplatz und wie ihre schulischen Leistungen standen, musste sie sich wohl oder übel dazu entschließen, die zehnte Klasse und den Abschluss zu wiederholen, wenn sie den ersten Versuch in den Sand setzen würde.
Patricia war sicher, dass sie persönlich die Mittlere Reife beim ersten Anlauf schaffen würde, und hatte auch mit Marie stundenlang gebüffelt, ihr
versucht zu erklären, wobei sie Probleme hatte.
„Ach was! Du kommst einfach mit! In München Arbeit zu finden, ist sicher viel einfacher, als hier draußen! Außerdem steht noch gar nichts fest!“, hielt Patricia dagegen und versuchte, sich an den Gedanken zu gewöhnen, in nicht mehr allzu weiter Ferne das traute Heim zu verlassen, um selbst Geld verdienen zu können, auf eigenen Beinen zu stehen. Ewig wollte sie ihren Eltern schließlich nicht auf der Tasche liegen.
Nach längerem Nachdenken verflog allerdings ihre anfängliche Freude
wieder. Erstens hatte sie sich bei diesem Gericht niemals beworben und zweitens schien es ihr unwahrscheinlich, dass man ausgerechnet sie nehmen würde, wenn sie schon hier auf dem Land kaum eine Chance hatte. Trotzdem wollte sie die Gelegenheit nutzen und hinfahren, sie hatte ja nichts zu verlieren.
Patricia war sehr aufgeregt, als sie zum ersten Mal den riesigen, alten Justizpalast betrat und an der Wegweisertafel das Zimmer suchte, in dem man sie erwartete. Sie hatte sich eigens für diesen „Auftritt“ einen dunkelblauen Hosenanzug gekauft, ihr blondes, langes Haar zu einem Zopf geflochten und sich ein wenig geschminkt, was sie sonst nie mochte.
Als sie vor dem Mann und der Frau saß, die das Vorstellungsgespräch mit ihr führten, klopfte ihr Herz wie wild. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil ihre Bewerbung einfach fehlgeleitet worden sein musste.
Ehrlich, wie sie nun einmal war, gestand sie gerade heraus das scheinbar vorliegende Missverständnis, noch bevor die beiden anfangen konnten, Fragen zu stellen. Sie schilderte das Versehen aus ihrer Sicht.
„Sie wollen diese Stelle gar nicht?“, stutzte der Mann und schielte seine Kollegin über den Brillenrand an, während er Patricias Unterlagen durchblätterte.
„Verstehen Sie mich bitte nicht falsch! Natürlich bin ich trotzdem sehr interessiert an einer Stelle in diesem Prachtgebäude!“ Sie lächelte verlegen und wurde puterrot im Gesicht. Als wäre der Baustil ein Grund, hier arbeiten zu wollen. „In unserer Gegend ist es schwer, etwas zu finden, für das man sich geeignet fühlt, wissen Sie?“
„Ja, ich sehe gerade: Sie hatten sich als Anwaltsgehilfin beworben, nicht wahr?“ Der Herr nickte.
„Es tut mir wirklich ganz schrecklich leid, dass ich nicht sofort hier angerufen und das aufgeklärt habe! Sie müssen wissen, dass dieses hier, nach sehr vielen Bewerbungen, mein erstes Vorstellungsgespräch ist und dass ich mich so wahnsinnig darüber gefreut habe, dass ich zuerst gar nicht bemerkt hatte, dass ein Fehler meinerseits vorliegen muss, verstehen Sie?“ Sie spürte, dass sie aufgekratzt wirkte und versuchte, auf Biegen und Brechen zu verhindern, dass man sie hochkantig hinauswerfen würde.
„Nun einmal ganz langsam, junge Frau!“, beschwichtigte die nette Dame mit ruhiger Stimme. Sie schaute auf die Unterlagen. „Frau Degen, wir reißen Ihnen nicht den Kopf ab und wir werden Ihnen auch keinen Staatsanwalt an den Hals hetzen! Wir gehen dieses Gespräch mit Ihnen durch, als hätten Sie sich bei uns beworben, in Ordnung? Ich glaube, das wäre nur fair! Immerhin hatten Sie eine längere Anfahrt hier her, das soll ja nun nicht für umsonst gewesen sein.“ Sie wirkte vergnügt und
verständnisvoll. Gott sei Dank. Patricia fiel ein riesiger Stein vom Herzen.
„In Ordnung!“ nickte sie jetzt fröhlich.
Nach ein paar Fragen und wiederholter, ausführlicher Durchsicht ihrer Mappe, beriet man sich kurz ganz leise.
„Frau Degen, wir bedanken uns für Ihr Kommen und Ihr Interesse! Und natürlich für Ihre Ehrlichkeit! Wir benachrichtigen Sie, wenn wir eine Entscheidung getroffen haben!“, verkündete die Frau gedämpft lächelnd.
„Vielen Dank auch Ihnen und entschuldigen Sie bitte nochmals! Ich hoffe, ich habe Ihnen nicht zu viel Ihrer wertvollen Zeit gestohlen!“, sagte sie unsicher und verabschiedete sich.
Sie ärgerte sich, dass sie so dumm war, die falsche Adressierung zugegeben zu haben. Hätte sie das nicht getan, hätte sie vielleicht jetzt schon einen Job zugesagt bekommen. Aber so war es eben in dieser Welt, und einmal mehr war sie total enttäuscht abgezogen und erfolglos nach Hause gefahren. Wenigstens hatte sie einen netten Tag in München gehabt. Sie hatte ein paar neue Klamotten gekauft, die sie am Wochenende in der Diskothek tragen würde. Mode aus einer Metropole, das hatten in ihrem Dorf nicht viele.
Während der Heimfahrt mit der Bahn konnte sie sich kaum auf das Buch konzentrieren, das sie bereits ein paar Stunden zuvor halb verschlungen hatte. Sie las, nahm aber nichts von dem wahr, das da stand. Immer und immer wieder fing sie bei der gleichen Stelle an zu lesen, doch innerhalb weniger Sekunden war sie wieder in Gedanken an dieses Gespräch und ihre Ehrlichkeit. „Nein!“, sagte sie innerlich zu sich. Selbst, wenn man sie eingeladen hatte: So genau, wie man bei diesem Vorstellungsgespräch auf ihre Bewerbung und auch auf das Anschreiben geschaut hatte, war spätestens zu diesem Zeitpunkt aufgefallen, dass sie sich als Protokollantin gar nicht eignen würde. Also würde man es müde belächeln und zu den Akten legen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie die Absage – eine weitere Absage – per Post erhalten würde.
Also mussten die Bewerbungsmappen, die sie sorgfältig und mit viel Mühe zusammengestellt hatte, wieder neu bestückt werden, mit neuen Adressen, mit neuen Bewerbungsschreiben und darin enthaltenen, nicht immer ganz ehrlichen Begeisterungsschwallen für Tätigkeiten versehen, von denen sie noch nie etwas gehört hatte. Eines hatte diese irrtümliche Sache und ihr erstes Vorstellungsgespräch allerdings für sich: Sie wusste jetzt, dass sie auf jeden Fall in die Richtung Phonotypistin gehen wollte, in ein Büro, Verwaltung, etwas in der Art. Und sie hatte auf diese Weise ein bisschen „trainieren“ können. Nun wusste sie, was für Fragen auf sie zukommen konnten, wenn sie einmal wieder die Chance bekommen würde, sich in
einer Firma oder einer Kanzlei vorzustellen.
Das Feld, für das sie sich interessierte, wurde also kleiner, so konnte sie gezielter suchen. Und sie suchte weiter in München. Sie hatte sich in diese Stadt schon als kleines Mädchen verliebt, auch wenn sie dort nur selten war.
„Hast du schon Bescheid wegen dieser Stelle?“, fragte Marie täglich.
Patricia wurde bei jedem „Nein, immernoch nicht!“ betrübter.
Sie hatte mit diesem Vorstellungsgespräch einen Strohhalm gefunden. Leider nur für kurze Zeit. Jeden Tag, an dem sie keine Post bekam, rutschte sie ein Stück daran hinab.
Und eben das Schicksal dieses Irrläufers meinte es gut mit ihr und sie bekam eine Einladung zu einem Eignungstest am Gericht. Das war doch mal ein gutes Zeichen. Wenigstens bewegte sich in dieser Sache etwas. Am gleichen Tag noch würde sie dann erfahren, ob sie die Stelle bekam.
Sie erzählte niemandem davon. Nicht einmal ihre Eltern wussten es. Sie hatte ihnen vorgeflunkert, dass sie sich in München einen schönen Tag machen wollte, mehr nicht. Nur gut, dass gerade Pfingstferien waren.
Etwas ungewöhnlich war das aus Sicht der Eltern schon, dass Patricia ganz alleine losziehen wollte. Sie wiederum wollte ihre Eltern nicht anlügen, indem sie behauptet hätte, sie würde mit Marie fahren. Außerdem: Einen schönen Tag würde sie so und so haben, weil sie erst nachmittags bei Gericht antreten sollte und gleich den ersten Zug früh morgens nahm. Also hatte sie genügend Zeit, wieder einmal shoppen zu gehen und bestimmt auch, um sich in ein niedliches Café zu setzen und etwas zu essen, dabei das Treiben der Großstadt und die Leute zu beobachten und das schöne Wetter zu genießen.
Sie war wieder nervös. Nicht mehr so sehr wie beim ersten Vorsprechen. Trotzdem wollte sie auch diesmal nichts falsch machen. Sie war sicher, dass sie im Tippen super war, daran konnte es also nicht scheitern. Das beruhigte sie ein wenig.
Beim Test wollte sie ihr Mut noch ein paar Mal verlassen: Sie sollte von einem Tonband tippen, das ziemlich schnell und stellenweise recht undeutlich besprochen war. Allerdings hatten die zehn Damen, die in dem Raum saßen, nach dem Übertragen Zeit, ihre schriftlichen Aufzeichnungen zu korrigieren.
In der Zwischenzeit, während die Texte ausgewertet wurden, unterhielt sich Patricia mit den anderen „Kandidatinnen“. Vier davon waren etwa in ihrem Alter, drei waren ein wenig älter und zwei davon waren schon Damen, also mindestens in die Vierzig.
Es schien unendlich lange zu dauern und sie bewunderte erstaunt, dass wohl keine von ihnen so nervös war wie sie.
Endlich kamen diese Frau und der Mann aus dem Zimmer. Schließlich verlasen sie die Namen derer, die sie in Kürze hier am Gericht als neue Mitarbeiter begrüßen durften:
„… und Patricia Degen!“
Genau diese drei Mädchen standen gerade in einem Grüppchen zusammen und hatten nacheinander freudig ihre Namen vernommen.
Patricia holte ein paar Mal tief Luft, wobei sie sich noch nicht ganz sicher war, ob sie richtig gehört hatte.
„Ihre Ehrlichkeit hat uns von Anfang an überzeugt, Frau Degen! Dieser Test war eigentlich nur noch pro forma für Sie!“, erklärte der Herr, bei dem sie schon die Vorstellung hatte.
Patricias Wangen glühten, als sie die Bestätigung hörte.
„Oh Mann! Da bin ich aber froh!“, blies sie erleichtert die Luft heraus.
Die anderen beiden feixten mit ihr freudig um die Wette. Sie freuten sich, ganz klar, und sie konnten es kaum erwarten, dass sie hier in Kürze als Kolleginnen antreten würden.
Im September also sollte es für Patricia in die große Stadt gehen. Endlich hatte es geklappt. Noch dazu in München. Sie war ein Glückskind.
Und endlich bekam sie bestätigt, dass Ehrlichkeit eben doch am längsten währte.
„Mir ist gar nicht wohl bei dem Gedanken, dass unsere Kleine uns jetzt auch noch verlässt!“ Patricia stand im Flur, als sie die besorgte Stimme ihres Vaters hörte.
„Leicht fällt mir das auch nicht, das musst du mir glauben. Aber sie freut sich so sehr auf München und wenn wir ihr jetzt einen Strich durch die Rechnung machen, wird sie vielleicht nicht wieder so schnell Glück haben, einen Job zu finden!“, raunte die Mutter.
Glück? Patricia blieb der Mund offen stehen. Zweifelten ihre Eltern etwa an ihren Fähigkeiten, sich bei Gericht durchsetzen zu können?? Erstaunt hielt sie weiter inne und lauschte dem Gespräch.
„Sie wird nicht zurechtkommen in dieser riesigen Stadt! Sie ist noch so jung und sie hat überhaupt keine Lebenserfahrung!“
„Ach was! Die anderen beiden haben es geschafft, wieso sollte Patricia das nicht auch schaffen?“ hielt Johanna optimistisch dagegen.
„Marcel ist ein Mann! Und Liane war damals so gut wie verheiratet, als sie von hier weggegangen ist!“
„Aber sie …“, setzte Johanna an, bevor Patricia dazwischen ging.
„Ich werde das natürlich schaffen! Wieso traust du mir das nicht zu?“, platzte sie in die nachmittägliche Ruhe, wo ihre Eltern bei Kaffee und Kuchen saßen und wandte sich an ihren Vater.
„Patricia! So hatte ich das nicht gemeint!“, sagte Karl schnell.
„So? Wie denn dann?“, zickte sie und setzte sich mit verschränkten Armen an den vertrauten, rustikalen Küchentisch, an dem sie schon so oft ihre Hausaufgaben gemacht hatte. An den Tisch, auf dem sie und ihre Geschwister als Babys gewickelt worden waren, wo man zusammen Weihnachtsplätzchen gebacken und zusammen gebastelt hatte, oder einfach zusammensaß, wenn eine Familienfeier stattfand.
„Es ist schwer für uns, das letzte Küken herzugeben! Und weil du unser Nesthäkchen bist, sind wir einfach ein wenig ängstlicher, was dein Leben in der Großstadt angeht!“, mischte sich ihre Mutter schützend ein.
„Habt keine Angst! Ich werde schon nicht in irgendwelche Szenen abrutschen! Ihr kennt mich doch!“, versicherte sie. „Vertraut mir einfach!“
Die Wohnungssuche erwies sich als anstrengend; besonders, weil man es im Vorfeld von zuhause aus abwägen musste, um nicht zu viel Zeit zu verlieren. Sie war diesmal mit Karl im Auto nach München gefahren. Nach fünf nicht wirklich behaglich wirkenden Wohnungen, die sie sich angesehen hatten, versprach die sechste umso schöner zu sein.
Ein nettes, neues Mehrfamilienhaus, in einer ruhigen Ecke Münchens, hielt ein Appartement im Dachgeschoss für Patricia bereit. Alles roch nach frischer Farbe, Holz und … eben einfach neu.
Das Treppenhaus war in hellgrauem Marmor gehalten, sehr edel.
Von der Wohnungstür kam man in einen Flur, geradeaus betrat man ein großzügiges Wohnzimmer, alles war mit Parkett ausgelegt. Ein kleines Fenster zeigte auf die entfernte Stadt, ein größeres auf den mit vielem Grün angelegten Wohnpark und der Balkon lag nach Süden.
Links und rechts der Wohnzimmertür war jeweils eine weitere Tür. Die rechte führte ins Schlafzimmer, die linke in die Küche, mit Platz für eine Einbauzeile und einen kleinen Tisch. Vom Schlafzimmer aus fand sie ein nobles Bad mit Eckwanne, extra Dusche, Waschtisch, Bidet und Toilette.
„Wenn man Besuch hat, muss man die Gäste zum Pinkeln durchs Schlafzimmer schicken?“, sann sie laut nach.
„Meine Liebe!“ Der Verwalter schob sie zurück in den Flur. „Hier ist eine Gästetoilette!“
„Das ist eine sehr schöne Wohnung, findest du nicht?“, fragte Karl seine
Tochter begeistert.
„Ja, sehr schön! Wirklich! Man fühlt sich gleich heimisch!“
Karl war natürlich viel daran gelegen, dass sein kleines Mädchen nicht etwa in eine verhauene Bruchbude einzog, wo die Nachbarn so undurchsichtig wie unansehnlich waren.
Allerdings nahmen Patricia der dann genannte Mietpreis und die Höhe der Kaution erst einmal die Luft. Sie blies die Backen auf und guckte ihren Vater mit weit aufgerissenen Augen an.
„Nun ja, Sie müssen bedenken, dass wir hier eine wunderbare Lage haben, eine klasse Anbindung ans Busnetz und außerdem ist es ein ganz neu gebautes Haus! Sie haben hier weder laute Autobahngeräusche, noch Eisenbahnschienen, keinen Fluglärm! Ich sage Ihnen: Für diese Wohnung könnte ich jede Menge mehr verlangen, aber weil Sie mir geschildert haben, dass Sie erst anfangen zu arbeiten und weil Sie mir sehr sympathisch sind, kann ich mit mir reden lassen!“, prahlte der Verwalter selbstgefällig, ein komisch aussehender Mittdreißiger in Anzug, auf der Nase eine Brille, die wohl seine unwiderstehliche Art kompensieren sollte.
Patricia zog die Oberlippe hoch und verdrehte die Augen: „Ich denk lieber noch einmal darüber nach!“
Ihr Vater zwinkerte ihr zu, als wollte er sagen: „Das kriegen wir schon hin!“
Sehr interessant war für Patricia der große Balkon. Die Aussicht war hinreißend: weit und breit nur Wiesen, Wälder, Felder und in der Mitte ein kleiner See, oder ein Fischteich, was auch immer, es war Wasser, das da durch die hochstehende Sonne funkelte. Außerdem hätte sie hier oben ungestört sonnenbaden können, weil keiner den Balkon einsehen konnte. Sie sog den Duft von Sommerblumen durch die Nase ein und schloss dabei die Augen.
„Du glaubst doch nicht im Ernst, Papa, dass ich da einziehe? Dieser Kotzbrocken ist auf meine Kohle aus, die ich noch nicht einmal verdient habe, und außerdem hinter meinem Rock her, oder was? Ich sehe den schon vor der Tür stehen, wenn ich hier wohne, und dann will er eine Gegenleistung haben, weil er so großzügig war! Pass mal auf! So wird es sein!“, zischte Patricia ihrem Vater zu, als sie wieder im Auto saßen. Sie war enttäuscht von der unverschämt hohen Miete und der Verhandlungsweise des Verwalters.
Karl lachte: „Vielleicht sollten wir mit dem Vermieter selbst sprechen? Mir kam dieser Mann auch sehr suspekt vor! Vor allem: was der an Bearbeitung und Nebenkosten verlangt und was er alles auf die Kaution aufschlagen muss! Das hab ich ja noch nie gehört!“ Karl suchte nach dem Schreiben, auf dem die Adresse des Vermieters stand.
„Oh, Josef Liebherr, Staatsanwalt im Ruhestand!“, staunte er, als er die Adresse gefunden hatte.
„Na, dann wollen wir davon ausgehen, dass der weiß, was er tut, wenn das alles von ihm ausgeht!“, feixte Patricia erfreut.
Sie riefen ihn an. Der Vermieter zeigte sich höchst erstaunt: „Ich werde mich darum kümmern! Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich mehr weiß! Vielen Dank zunächst für Ihre Aufmerksamkeit!“, hatte er in strengem Ton gesagt.
Wieder warten. Sie suchten zwei weitere Wohnungen auf. Die eine war riesengroß, viel zu groß, um alleine darin zu wohnen, auch, wenn sie viel günstiger war, als der Neubau, und die letzte war ein verhauener Altbau, wie ihn ihr Vater nicht zumuten wollte.
Bereits, als sie abends heim kamen, lag ein Zettel neben dem Telefon, dass ein Herr Liebherr angerufen hatte und eine Nummer dazu.
„Mama? Hat Herr Liebherr noch was gesagt?“
„Ja, dass du ihn anrufen sollst!“, rief Johanna über den Flur.
„Das war mir schon klar!“ Patricia verdrehte die Augen. „Und weiter nichts?“
„Nein! Wer ist denn das?“, hakte Johanna nach.
Sie wählte gleich die Nummer. „Der Vermieter einer super schönen Wohnung, aber ...“
„Patricia! Es ist 22:30 Uhr!“, mahnte ihr Vater, der sich völlig übermüdet und erschöpft auf dem Sofa niederließ, zischend den Kronkorken einer Bierflasche löste und den Fernsehapparat einschaltete, während er seiner Frau den Tagesverlauf schilderte.
„Stimmt!“ Patricia legte rasch wieder auf.
Am nächsten Morgen wartete sie gerade bis acht Uhr. „Rentner haben um diese Zeit längst eingekauft und waren beim Arzt!“, konterte sie, weil ihre Mutter der Meinung war, es wäre viel zu früh, um jemand Fremdes anzurufen.
„Hier ist Patricia Degen, guten Morgen, Herr Liebherr! Ich sollte Sie zurückrufen wegen der Neubauwohnung, wir hatten gestern Nachmittag schon einmal telefoniert. Ich habe es leider nicht mehr geschafft. Es war schon spät, als wir heimgekommen sind. Und ich wollte Sie nicht mehr stören.“, blubberte sie auf den verschlafenen Pensionär ein. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt!?“ Hatte sie hoffentlich wirklich nicht, sonst hätte er spätestens jetzt beschlossen, dass sie ihm als Mieterin viel zu eifrig und zu laut wäre.
„Doch, das haben Sie, junge Frau. Aber das macht nichts! Ich hätte sowieso gleich aufstehen müssen!“, seufzte er.
„Oh, verzeihen Sie bitte, Herr Liebherr!“ Nun war es ihr doch peinlich, nicht eine Stunde länger gewartet zu haben. Aber vielleicht wäre er dann wirklich nicht mehr zuhause gewesen, sondern tatsächlich einkaufen oder beim Arzt.
„Ich muss Ihnen sehr danken, dass Sie mir den Hinweis gegeben haben, Fräu'n Degen. Ich habe Herrn Kroll gestern zur Rede gestellt! Angeblich wusste er von nichts. Er hat scheinbar fast die Hälfte von dem Geld, das die Leute als Kaution bezahlt haben, in die eigene Tasche gesteckt und den Rest nur in den Verträgen fest gehalten! Anscheinend hat er das so geschickt gemacht, dass es noch keinem aufgefallen ist! Überdies war Ihr Verdacht, dass er schmierig ist, wie Sie es ausgedrückt haben, nicht verkehrt! Er hat die Wohnungen nur an junge Leute vermietet, überwiegend Mädchen aus gut betuchten Häusern, denen ein paar hundert Euro mehr oder weniger nicht weh getan haben!“, erzählte er.
„Oh! Das ist ja klasse!“ freute sie sich. „Das heißt, es ist gar nicht klasse! Aber gut, dass man ihn dingfest machen konnte! Dann bin ich wohl beim Gericht gut aufgehoben, was?“ lachte sie. Sie erklärte ihm ganz begeistert, dass sie bald beim Landgericht arbeiten würde.
Das freute wiederum ihn und er versicherte ihr, dass dieser Kerl das Geld, das er unterschlagen hatte, an die bereits betrogenen Mieter zurückzugeben hätte und außerdem bekäme er von ihm eine Anzeige wegen Unterschlagung. „Vielleicht protokollieren Sie ja sogar diesen Fall, wenn es soweit ist!“, orakelte er belustigt.
Natürlich bekam Patricia die Wohnung sofort von Herrn Liebherr persönlich zugesagt und zu ihrer Freude erließ ihr der Staatsanwalt i. R. Die Kaution komplett, als Dankeschön sozusagen.
„Sie machen so einen netten Eindruck, Fräu'n Degen, dass ich mir nicht vorstellen kann, die Kaution je in Anspruch nehmen zu müssen!“, hatte er über seine Brille hinweg gezwinkert, nachdem sie den Vertrag bei ihm persönlich unterschrieben hatte.
„Sie sind ein sehr lieber Herr, Herr Liebherr!“ Sie war erfreut darüber, dass das Geld, das als Kaution flöten gegangen wäre, nun für ein paar mehr schöne, neue Möbel zur Verfügung stand.
Liebherr lachte über ihren Satz. „Solche Damen wie Sie bräuchte es mehr bei Gericht, dann wäre nicht alles so halsstarrig!“
„Och, mit Ihnen war es sicher auch sehr lustig!“, kicherte sie.
„Das war es auch!“, nickte Liebherr. „Fragen Sie ruhig die Herrschaften, die immer noch dort sind!“
Patricia strahlte zufrieden, bevor sie sich freundlich verabschiedete.
Patricias Vater hatte seit ihrer Geburt einen Sparvertrag laufen. Er fragte sie, ob sie das Geld auf einmal haben wollte, oder ob er damit lieber monatlich ihre Miete unterstützen sollte, wenigstens solange sie noch nicht ausreichend verdienen würde.
„Ich bräuchte schon ein paar Kröten, um die Wohnung einzurichten, den Rest legen wir weiterhin zurück, oder? Das wird das Beste sein!“, beschloss sie. „Wer weiß, was noch an Kosten auf mich zukommt, wenn ich mal Führerschein habe und vielleicht ein Auto will!“
Mit dem letzten Satz wühlte sie ihren Vater auf. „Ich gebe dir das Geld lieber erst, wenn du verheiratet bist …“
„Papa!“ rief sie laut lachend.
„Ist ja schon gut! Ich hab halt Angst um dich, mein kleines Juwel!“
Patricia stiegen Tränen hoch. Sie war gerührt, dass sich ihr Papa solche Sorgen um sie machte. Dabei wollte sie doch nur raus, um zu arbeiten.
Ihr Umzug stand bevor und Patricia machte einen ausgedehnten Spaziergang durch ihr Elternhaus. Sie fixierte alles noch einmal, als würde sie es gar nicht mehr wiedersehen. Sie blieb lange in dem süßen kleinen Bad mit der schnörkeligen Badewanne und dem alten Holzofen. Sie steckte ihren Kopf ins Schlafzimmer ihrer Eltern, in dem sie als kleines Mädchen nachts Zuflucht gesucht hatte, wenn sie nicht schlafen konnte oder sie ein böser Traum geängstigt hatte. Sie sog das Wohnzimmer optisch in sich auf, in dem sie abends mit ihren Eltern ferngesehen hatte.
In der großen Wohnküche blieb sie am längsten haften. Hier war sie am häufigsten. Hier hatte sich auch das Meiste abgespielt. Diskussionen, Streitigkeiten, Freude, auch Trauer und Ärger … hier drin war das Leben der Familie Degen. Jeder andere Raum hatte seine eigene Geschichte, aber hier war das Leben. Es roch immer nach Essen oder Kuchen, nach Kamin und Winter, nach Weihnachten, nach Sommer, nach Geburtstag. Sie würde es vermissen. Alles hier würde sie vermissen, aber diese einzigartige Küche ganz besonders.
Abends, als sie ein vorerst letztes Mal in ihrem Kinderzimmer schlief, kam sie kaum zur Ruhe.
Es war nicht allein die Aufregung, bald eine große Verantwortung in Form einer wichtigen Arbeit zu übernehmen. Es war auch der Gedanke daran, wie es sich anfühlen musste, allein zu sein. Sie wusste, sie hatte bisher immer jemanden bei sich. Ob nun Mutter, Vater, eines der Geschwister, Marie oder jemand anderen, den sie besser kannte.
München war eine große Stadt und sie musste sich mit der Tatsache abfinden, dass sie anfangs niemanden kannte. Okay, die beiden Mädels, die zusammen mit ihr diesen Test bestanden hatten. Aber sonst?
„Ich komme doch an jedem zweiten Wochenende heim! Und du kannst
mich gerne jederzeit besuchen! Ich würde mich sehr freuen, wenn wir uns sehen könnten!“ schluchzte Patricia, als sie sich heulend von Marie verabschiedete.
Sie schworen sich hoch und heilig Kontakt bis zum Lebensende.
In der ersten Zeit, die Patricia in München lebte, fühlte sie sich tatsächlich häufig einsam und zum ersten Mal sehnte sie sich nach den geliebten Bergen, nach ihren Eltern und nach ihrer Freundin Marie. Sie telefonierten häufig.
Wie versprochen, fuhr Patricia jedes zweite Wochenende nach Hause. So konnte sie weiter mit ihren Freunden abfeiern und war nicht so ganz und gar von ihrer Nabelschnur abgeschnitten. Außerdem wurde sie bei Mama sehr verwöhnt und bekocht.
Mit Nick ging es schon bald weiter, als nur zu flirten. Sie hatte sich in ihn verliebt und dachte, er würde verstehen, dass sie sich nicht laufend sehen konnten. Dann würde sie eben jedes Wochenende heimkommen, wenn ihm daran läge.
Zuerst tat er das wohl auch. Zumindest hatte er ihr immer wieder versichert, wie klasse er sie fand, und eine Weile nachdem Patricia sich von ihm hatte verführen lassen, hatten sie sogar ernsthaft darüber diskutiert, dass Nick zu ihr nach München ziehen würde. Er hätte dort viel bessere Chancen als DJ, und so wäre es passend, wenn er bei ihr wohnen würde.
„Ich finde ihn so süß und ich bereue nichts! Er war sehr lieb!“ schwärmte Patricia Marie von ihrem ersten Mal mit Nick vor.
„Du sprichst von Nick, ja? Der Nick aus der Disco? Der Nick, der ab und zu auflegt?“, hakte Marie ungläubig nach.
„Ja! Na klar! Kennen wir sonst noch einen Nick?“, schnappte Patricia lässig. Sie fühlte sich überlegen. Marie hatte noch nicht mit einem Jungen geschlafen. Das hatte sie ihr nun voraus.
„Nick ist gar nicht dein Typ!“, stutzte die Freundin weiter.
„Er hat mich vom ersten Moment an umgehauen!“, erklärte Patricia.
„Du stehst doch nicht auf schwarzhaarige Kerle!“, empörte sich Marie aufgebracht, als hätte ihr jemand die Butter vom Brot geklaut.
„Ach, Mary! Da sieht man, dass die Liebe nicht darauf wartet, blondiert zu werden! Ich finde Nick klasse, auch wenn er vom Äußeren her nicht eindeutig in mein Schema passt!“
Patricia war happy. Endlich hatte sie einen Freund. Zum Leidwesen von Marie, die neidisch zusehen musste – während sie noch immer solo war – wie Patricia mit dem südländisch aussehenden Nick knutschte. Wenn das Pärchen in den Morgenstunden turtelnd die Diskothek verließ, konnte Marie
sich denken, was sie danach machen würden. Patricia konnte nicht ahnen, dass ausgerechnet dieser Nick Maries heimlicher Favorit war. Sie hatte es nie erwähnt. Genau wie Patricia ihr schließlich auch nicht auf die Nase gebunden hatte, dass sie ihn gut fand.
Nick stellte sich schon bald als fieser Macho heraus. Ein Mädchen mit gerade mal siebzehn Jahren – wie sollte es wissen, dass einen Mann mit dreiundzwanzig Jahren anderes interessierte, als ihr Job als Tippse, ihre Kolleginnen aus der Stadt, ihre Wohnung in München und irgendwelche Paragrafen?
Nick hatte sie betrogen. Sie wusste nicht mit wem, aber sie hatte bei einem ihrer Besuche daheim aus sicherer Quelle erfahren, dass sie nicht die Einzige geblieben war, seit sie in dem Glauben lebte, seine feste Freundin zu sein.
Sie heulte während der gesamten Zugfahrt eines Sonntagabends, zurück nach München, mit dem festen Entschluss behaftet, nie wieder in diese Disko zu gehen, nie mehr jedes Wochenende heimzufahren und nie wieder Nick begegnen zu wollen.
Natürlich fuhr sie noch ab und zu nach Hause, aber sie merkte, dass sie hier nicht mehr hinpasste, und ließ es langsam ausklingen.
Schon bald hatte Patricia keinen Kontakt mehr zu Marie. Grund: Marie war es gewesen, mit der Nick sie betrogen hatte. Dass es mit einer Beziehung zwischen ihr und Nick auf Dauer vielleicht nicht geklappt hätte, damit hatte sie rechnen können, aber nicht damit, dass ihre einst beste Freundin ihr so hart in den Rücken fallen würde. Somit war das Thema „Marie“ für Patricia erledigt, wie auch das Thema „Nick“. Endgültig. Es fiel ihr nicht leicht, aber so war es nun einmal.
Sie hatte neue Freundinnen gefunden: Tanja und Kerstin, die beiden gleichaltrigen Kolleginnen, mit denen sie sich auf Anhieb blendend verstand.
Mit ihnen konnte sie wunderbar kichern, wenn sie privat bei einer von ihnen zusammen hockten und sich über Fälle bei Gericht ausließen, die jenseits von Gut und Böse waren, ganz abgesehen von den Beteiligten, oder wenn sie herzzerreißende Filme verfolgten, Musik hörten oder zusammen ausgingen.
Sie saßen im gleichen Büro. Schon bald wussten sie einige private Sachen voneinander, die sie – jede für sich – als Geheimnisse bewahrten.
Seit ein paar Monaten hatte Patricia nun einen festen Freund, Kai. Er war sechs Jahre älter und hatte gerade sein Studium zum Allgemeinarzt erfolgreich abgeschlossen. Seine persönlichen Vorstellungen von seinem Traumberuf gingen allerdings sehr viel weiter, als bis in eine Privatpraxis in Oberbayern und Umgebung oder in eine der Kliniken links oder rechts der Isar. Er wollte hinaus in die Welt.
Patricia hatte nie geglaubt, dass er das eines Tages tatsächlich umsetzen würde. Aber je weiter es auf das Ende seines praktischen Jahres zugegangen war, desto häufiger sprach er davon und umso eiserner wurden auch seine Pläne.
„Sorry, Patricia, aber es wird heute Abend nichts mit Kino! Ich muss packen! Ecuador ruft!“, hatte Kai ihr stolz und voller Tatendrang verkündet, als Patricia bei ihm angekommen war, um mit ihm auszugehen.
„Das ist nicht dein Ernst!“ Patricia schüttelte ungläubig den Kopf, während er mit glänzenden Augen vor ihr stand und sie allen Ernstes fragte: „Kommst du nun mit? Ich habe für nächste Woche unterschrieben und ich fliege am Sonntag! Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich freue!“ Das sagte er ihr, als würde er überraschend und kurzfristig mal eben für ein Wochenende wegfahren müssen.
„So schnell?“ fragte sie mit zitternder Stimme.
„Wieso schnell? Du weißt, dass ich das wollte! So überraschend ist das nicht!“, stutzte er über ihr blasses Gesicht, maß dem allerdings keine größere Bedeutung bei.
„Kai! Du kannst nicht so einfach abhauen!“, rief sie aufgebracht. „Ich dachte du liebst mich?!“
„Das tu ich! Aber du hattest genug Zeit, dir zu überlegen, ob du mitkommen willst! Ich musste mich gestern entscheiden!“ Er kam auf sie zu und nahm sie in die Arme. „Entschuldige bitte, dass es so schnell geht, dafür ich kann ich leider nichts.“ Er drückte ihr ein Bussi auf. „Ich habe ein Angebot bekommen, das ich nicht ausschlagen konnte! Man bietet mir nicht nur viel mehr Geld, als ich es hier verdienen würde, ich werde zusätzlich das tun können, was mir lange schon am Herzen liegt: Menschen zu helfen, die in Not und Krankheit leben, ohne etwas dafür zu können!“
Kai war in sein Zimmer zurückgegangen und geschäftig dabei, seine Klamotten zu sortieren. Er hatte noch immer bei seinen Eltern gelebt, in diesem riesigen Haus, einer Villa mit so vielen Zimmern, von denen nicht einmal alle genutzt wurden. Patricia hatte sich hier nie richtig wohl gefühlt. Kais Eltern mochte sie gerne, sie waren zwar reich, aber ließen es sich nicht heraushängen. Patricia war mit großzügiger Freundlichkeit als Kais Freundin in der Familie aufgenommen und akzeptiert worden, auch von seinen Verwandten, die sie inzwischen alle kennen gelernt hatte, und sie hatte nie das Gefühl vermittelt bekommen, dass man sie wie eine arme Kirchenmaus – die sie im Vergleich dazu schließlich war – behandelte.
„Bedeuten dir die Monate mit mir gar nichts?“ Patricia war nicht nur schockiert, dass Kai bereits für sich allein entschieden hatte, sondern auch noch wütend, weil es so schnell gehen musste.
„Natürlich bedeutet mir die Zeit mit dir etwas und ich würde mich sehr freuen, wenn du mitkommen würdest! Ich könnte aber auch verstehen, wenn du hier bleiben und dein Leben weiterführen willst! Ich möchte dich zu nichts zwingen!“ Warum war er denn auf einmal so kalt? Er war kein ausgesprochen warmherziger Mensch gewesen, aber er war sonst wirklich nicht so ein Trampel.
„Seit wann weißt du es?“ fragte sie leise.
„Seit gestern Abend, das hab ich vorhin bereits erwähnt!“ Er wirkte komplett emotionslos. Nicht seiner Arbeit gegenüber, aber ihr gegenüber.
„Nein, hast du nicht, aber egal! Warum hast du mir es nicht gleich gestern gesagt, Kai? Wäre es nicht wichtig gewesen, mir als einer der ersten Personen mitzuteilen, dass du mich verlassen wirst?“
Kai warf die Sachen, die er in der Hand hielt, auf sein Bett, wandte sich zu ihr und nahm sie erneut in die Arme. „Patricia: Du weißt, dass ich dich sehr, sehr lieb habe und dass ich dich am liebsten nie hergeben würde! Aber dieser Job, Mäuschen, der ist genau das, was ich immer wollte. Das ist das, was mich fordert; das ist das, wofür ich so viel gelernt und getan habe, verstehst du?“
„Nein, ich verstehe kein Wort!“ Sie blickte ihm in die funkelnden Augen und fand nichts mehr darin. Nichts als Freude auf diesen Job. Keinen Ausdruck von Zuneigung zu ihr mehr.
„Mach mir die Freude und komm wenigstens nach, wenn du nicht sofort kannst oder willst!“
„Nein, Kai! Wie stellst du dir das vor?“
„Ich weiß, dass du dir noch nie ernsthaft Gedanken darüber gemacht hast und dass du wahrscheinlich lieber das Gegenteil gehofft hast! Vielleicht habe ich ja auch deswegen nicht sofort bei dir angerufen und es dir gesagt ... weil ich wusste, dass du es nicht verstehen würdest!“, murmelte er und ließ sie los.
„Das klingt gerade so, als wäre es dir egal, wenn nicht sogar ganz recht, wenn ich nicht mitkomme!“, schnaubte sie.
Ausgerechnet während dieses Satzes klingelte sein Handy und er hatte lieber dieses Telefonat angenommen, anstatt ihr zuzuhören und mit ihr zu reden.
„Ja, Onkel Hannes! Am Sonntag geht es los! Ich bin froh, dass es so schnell geklappt hat! Ein Freund von mir hat ganze zwei Jahre darauf warten müssen, einen Platz zu bekommen!“ Kai war ganz in seinem Element.
Was sollte sie noch hier?
Patricia schüttelte den Kopf, schlich unbemerkt rückwärts aus dem Zimmer und kurz danach ebenso unbeachtet aus dem Haus. Gedankenverloren schlenderte sie zur Bushaltestelle. Diesen Weg war sie schon viele Male gegangen, wenn sie bei Kai war und er ganz schnell woanders hin musste und keine Zeit hatte, sie nach Hause zu bringen. Sie war ja so nett und immer damit einverstanden, den Bus zu nehmen. Notfalls gab es ja auch noch Taxis.
Kai hatte nicht bemerkt, dass Patricia gegangen war. Er war zu sehr damit beschäftigt, seine Zukunft in zwei Koffer zu packen und seinem Onkel Details zu übermitteln, von denen sie ganz offensichtlich nichts verstand.
Kai war der ganze Stolz seiner Verwandtschaft und er machte seine Sache tatsächlich sehr gut.
Er stammte aus diesem sehr gut betuchten Haus. Sein Vater war Politiker, seine Mutter in sämtlichen wohltätigen Organisationen vertreten und engagiert. Die beiden hatten nur das eine Kind, das von vorne bis hinten verwöhnt wurde. Er hatte es sehr gut hier. Aber er wollte raus. Ausbrechen. Seine Erfüllung finden. Die Erfüllung, die er anscheinend mit Patricia nicht gefunden hatte.
Zu allem Überfluss fing es an zu regnen wie aus Eimern, während Patricia über die langgezogene Brücke ging, unter der die Isar großzügig hinweg rauschte. Autos rasten an ihr vorbei und der Bus, mit dem sie eigentlich fahren wollte, war schneller an der Haltestelle, als sie das geschafft hätte.
„So ein Mist! Heute ist ein verfluchter Tag!“, schimpfte sie, und stöberte in ihrer Handtasche vergeblich nach einem Schirm. Der lag – wie konnte es anders sein, wenn es regnete – in ihrer Wohnung, vermutlich so sorgfältig aufgeräumt, dass sie ihn nicht einmal auf Anhieb finden würde. Und der nächste Bus war eine halbe Stunde entfernt. Also konnte sie genauso gut weiter zu Fuß gehen. Sie war sauer, verletzt, und sie wollte jetzt nichts lieber, als zuhause zu sitzen, im Trockenen, ganz alleine, um nachzudenken. Und schon mischten sich in ihrem Gesicht Tränen mit den Regentropfen.
Ein Wagen bremste lautstark neben ihr.
„Frau Degen? So alleine auf nasser Flur? Kann ich Sie ein Stück mitnehmen, bevor Sie komplett durchnässt sind?“
Patricia schniefte, linste abwesend zur Seite, wo die Stimme hergekommen war, und konnte erst gar nichts erkennen, weil ihre Sicht von Wasser verschleiert war. Sie wischte über ihre Augen. Am Straßenrand stand Richter Sanders mit seinem Wagen. Er hatte das Fenster der Beifahrerseite einen Spalt weit heruntergelassen.
„Das wäre sehr nett!“, nickte sie mechanisch. Ihn hatte der Himmel mit all diesen Fluten von oben geschickt. Ihr war kalt, und da sie eben erst eine üppige Erkältung hinter sich gebracht hatte, war es ihr nur recht, so schnell wie möglich heim zu kommen.
Sie zog ihre Jacke aus, die schon triefte, um nicht das gute Innere des Autos einzuweichen.
Richter Sanders wohnte in ihrer Nähe, Kai an einem ganz anderen Ende Münchens.
„Ich war gerade bei Staatsanwalt Winter, der wohnt hier draußen!“, erzählte Sanders gut gelaunt. „Und was treibt Sie hier her?“
Patricia musste schrecklich aussehen, mit ihren verheulten Augen, wahrscheinlich vom Weinen tiefrot unterlaufen und geschwollen, also mied sie den direkten Blickkontakt.
„Ich war bei meinem Freund!“, sie schnäuzte in ein Taschentuch. „Okay, besser gesagt: bei meinem Ex-Freund!“
„Ist alles in Ordnung?“, hakte Sanders nach.
Sie schüttelte zaghaft den Kopf: „Nicht so schlimm! Das vergeht wieder!“ Sie quälte sich ein Lächeln heraus, obwohl ihr zum Weiterheulen war. Ihr Bauch krampfte sich zusammen.
Sanders fragte nicht weiter. Bei ihr schien gar nichts in Ordnung zu sein, aber das ging ihn schließlich nichts an.
Sie unterhielten sich über das Wetter, das für diese Jahreszeit viel zu kühl und verregnet war, und über die extremen Temperaturschwankungen.
„Momentan passt das Wetter zu meiner Laune!“, gab sie gespielt lässig ab.
„Kommen Sie zum Juristenball am Samstag?“ Nur gut, dass manche Menschen Kurven so extrem zu nehmen wussten. Wenn er so Auto fuhr, wie er von unangenehmen Themen ablenken konnte, wäre es wohl besser gewesen, sie wäre nicht eingestiegen …
„Oh, der Ball! Den hätte ich fast vergessen! Aber ich werde wahrscheinlich nicht kommen!“ Sie starrte aus dem Seitenfenster.
„Ich finde den immer sehr witzig!“, grinste Sanders.
„Ja, das stimmt! Ich werde vermutlich am Samstag meinen Freund das letzte Mal sehen! Er geht nach Ecuador, mein Noch-Freund! Mein Ex also.“
„Gleich so weit weg?“, staunte der Richter.
„Wenn es ihn glücklich macht?“ Sie erzählte ihm davon in Kurzfassung.
„Komisch! Wenn er Sie so einfach freigeben kann, sollten Sie allerdings nicht ihre wertvolle Zeit verschwenden, ihm nachzuweinen oder gar auf ihn zu warten!“ Der war ja noch eisiger als Kai! Sie schaute ihn fragend von der Seite an.
„Um Gottes Willen! Entschuldigen Sie, wenn das etwas hart klingt, aber so, wie Sie das geschildert haben, kann er seinen Abschied am Samstag gut und gerne ohne Sie feiern! Anstatt sich selbst unglücklich zu machen, bieten Sie ihm lieber Paroli und gehen zum Ball! Sie können sich da ganz auf mich verlassen, Patricia, auf mich und meine Kollegen. Mit uns hätten sie hervorragende Ablenkung!“ Da war sein überraschender Zynismus, für den er bekannt war, und sein dazu passendes Grinsen, das sie an ihm mochte.
Sie musste lächeln. „Vielleicht haben Sie Recht!“
Sanders hatte seinen Wagen vor Patricias Haus geparkt.
„Kopf hoch! Wenn Sie weinen, machen Sie es sich selbst nur noch schwerer!“ Er hatte den Motor abgestellt und sich zu ihr gedreht.
„Wenn das so einfach wäre!“ Sie merkte, wie sich der nächste Tränenschwall seinen Weg durch ihre Augen bahnte. Und so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte es nicht unterdrücken.
„Was kümmert mich, was gestern war, das Leben ist morgen wieder da!“, gab er mitfühlend ab. Er puffte ihr aufmuntern wollend gegen den Arm.
Es entkam ihr ein kurzes Lachen. „Stammt das aus der Sanders’schen Poesie?“
Er war ein netter Kerl, dieser Ralph Sanders. Er war nicht nur nett, sondern auch noch attraktiv. Sein kurz geschnittenes, dunkles Haar hatte er stets ordentlich gestylt. Er trug eine kantige Brille, dahinter versteckt strahlende, grünblaue Augen, über die sich schwarze Brauen zogen, er war ganzjährig leicht gebräunt und wenn er lachte, lachte das ganze Gesicht.
Patricia wusste von ihm, dass er seit ein paar Jahren verheiratet war. Er musste inzwischen Mitte dreißig sein. Er hatte ein Haus in ihrer Wohngegend, wo sie ihm aber noch nie über den Weg gelaufen war.
Es war großer Zufall, dass er sie ausgerechnet heute, ausgerechnet in Kais Gegend, „aufgegabelt“ hatte. Obwohl sie so nahe beieinander wohnten, hatten sie noch nie zusammen den Weg zum Gericht oder nach Hause genommen. Sie fuhr meistens mit Bussen oder mit der U-Bahn oder sie wurde von einem der Mädels oder ihrem Nachbarn mitgenommen, wenn sie zur Arbeit oder in die Stadt musste.
Manchmal blieb sie nach Feierabend mit Tanja, Kerstin und anderen Freunden in der City.
„Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen! Das geht vorüber! Das Schlimmste ist der verletzte Stolz. Man fragt sich, was man selbst falsch gemacht hat, nicht wahr? Vergessen Sie nicht: Es sind immer zwei daran beteiligt!“, riet er und stieß ihr freundschaftlich an den Arm.
„Kann sein!“ Sie putzte ihre Nase. „Ich habe ihn wohl unterschätzt oder nicht ernst genug genommen; es tut trotzdem weh!“
„Ich weiß!“ Er wirkte jetzt ernst, nahezu nachdenklich.
„Das sind Gefühle, auf die ich super verzichten kann!“, meinte sie ironisch.
Er schaute sie an und nickte nur.
„Vielen Dank fürs Mitnehmen und Zuhören, Herr Sanders! Wir sehen uns morgen früh in aller Frische!“
„Genau! Wir haben zwei harte Nüsse zu knacken! Schlafen Sie sich aus, morgen geht es Ihnen bestimmt viel besser, hm?“
„Ich werde es versuchen!“ Sie verabschiedete und bedankte sich noch einmal und ging ins Haus.
Ihre Schritte auf den marmornen Treppen wirkten heute so laut. Das erste Mal – seit ihrer Enttäuschung mit Nick – kam sie nicht gerne nach Hause. Die Wohnung wirkte leerer, als sie es sonst schon war, und dass es ziemlich unordentlich in der Wohnung war, machte ihre Laune nicht besser.
Patricia kam nach der Arbeit meistens heim und räumte auf, putzte oder sie bügelte, je nachdem, was notwendiger war.
Manchmal hatte sie nichts zu tun oder gar keine Lust, noch etwas zu schaffen, und sie setzte sich mit einem leckeren Abendessen vor ihren Fernsehapparat, studierte irgendwelche Sendungen, las oder ließ das Programm aus dem Radio auf sich einrieseln, während sie in Katalogen, Prospekten oder Zeitschriften blätterte.
Zweimal pro Woche spielte sie abends Volleyball. Das machte ihr Spaß, hielt sie fit und sie traf zur Abwechslung andere Leute. Am Wochenende ging sie regelmäßig schwimmen, abends tanzen, samstags vormittags bummeln oder sie kochte für Freunde.
Kai hatte andere Interessen. Ab und zu kam er mit schwimmen oder einkaufen, aber dann musste er schon sehr gut gelaunt sein. Wenn Patricia Freunde zuhause hatte, hatte er sich meistens bei Zeiten ausgeblendet, weil er sich scheinbar nicht wohl fühlte, wenn Patricia sich mit ihren Freunden gut verstand, teilweise sogar besser als mit ihm.
Zu ihren engsten Vertrauten gehörte seit ihrer ersten Zeit in München ihr unmittelbarer Nachbar Christian, der auf der gleichen Etage wohnte wie sie, wie auch dessen Schwester Jeannette. Die beiden hingen fast ihre gesamte Freizeit zusammen. Jeannette studierte Psychologie und Christian arbeitete bei einem renommierten Paketservice. Als Patricia neu hier und am Wochenende offensichtlich alleine war, immer noch kaum jemanden kannte und selten aus ging, hatten sich die Geschwister ihrer angenommen und ihr München gezeigt.
München, die weißblaue Hauptstadt mit all ihren Liebens- und
Sehenswürdigkeiten, ihren unendlich vielen Biergärten im Sommer und den gemütlichen Kneipen und den Diskotheken zu jeder Jahreszeit, hatte Patricia schnell fest in ihr Herz geschlossen.
Kai war bei ihr, so oft es seiner Meinung nach möglich war. Manchmal sahen sie sich tagelang nicht, weil er Dienst oder etwas Wichtigeres vorhatte, zu dem er sie wohl nicht gebrauchen konnte. Sie hatten sich kennen gelernt, als er gerade sein praktisches Jahr angetreten hatte.
Während sie an diesem Abend aufräumte, erinnerte sie sich wehmütig an die erste Zeit mit Kai.
Patricia hatte sofort ein Auge auf ihn gehabt, als er bei einer Party aufgetaucht war. Er zog Frauen und Mädchen mit seinem Lausbubengrinsen sofort in seinen Bann. Er war der erste Kerl, der sie interessierte, seit sie von Nick und ihrer besten Freundin betrogen worden war. Aber er war anfangs in festen Händen gewesen. Ein paar Mal hatten sie sich bei verschiedenen Partys gesehen, bevor sie letztendlich zusammengekommen waren. Patricia hatte vor ihm ein paar flüchtige, nichts sagende Flirts mit Typen, die entweder kurz danach in der Versenkung verschwunden oder von ihr an die Luft gesetzt worden waren. Vielleicht war sie gar nicht fähig, eine Beziehung zu führen, vielleicht lag es wirklich an ihr, dass Kai sie verlassen wollte. Umso schwerer war es, alleine zu sein. Richter Sanders hatte Recht: Man suchte nach einem Grund und nach dem Fehler – oder mehreren – bei sich selbst. Und wenn man es gründlich genug tat, fand man sie auch. Das wiederum verunsicherte einen selbst und beim nächsten Mal wurde alles nur noch verkrampfter.
Als sie mit Aufräumen fertig war, gönnte sie sich ein ausgiebiges Entspannungsbad, währenddessen ihre Gedanken tiefer gingen. Es wurde ihr nach und nach klar, dass Kai eigentlich immer nur dann bei ihr war, wenn er Lust oder Zeit hatte. Er hatte nie danach gefragt, ob es ihr recht war oder ob sie andere Pläne hatte. Sie machten meist, was er wollte. Nur wenn er etwas anderes vorhatte, ging sie ihren Hobbys nach. Sie freute sich jedes Mal, wenn er bei ihr war oder sie zusammen ausgingen. Sie hatte in ihm jemanden gefunden, mit dem sie sich gut verstand. Im Bett war er ein fauler Hund, bezeichnete sich selbst vornehm als Gentleman, der genoss und schwieg, aber er machte es wieder wett, indem er sie mit Dingen unterhielt, die sie faszinierten – wenn er nicht gerade von seinem Job sprach. Streit gab es nie. Wahrscheinlich waren sie dafür viel zu selten zusammen, aber Patricia war der Überzeugung, dass es halten würde. Bis zum heutigen Tag. Sie weinte leise.
Er würde für unbestimmte Zeit weggehen und keiner wusste, wann er
zurückkommen und sie dann überhaupt noch mögen würde.
Sie musste sich an den Gedanken gewöhnen, ihn nicht so schnell wiederzusehen. Und sie würde versuchen, nicht an ihn zu denken, wenn er weg war. Es würde ihr schwer fallen, doch was blieb ihr anderes übrig? Auch, wenn sie ihn vermissen würde: Etwas anderes war ihm mehr wert als sie, und das hatte sie sehr gekränkt. Mehr noch hatte sie diese Eitelkeit verletzt, mit der er ihr sein bereits beschlossenes Vorhaben an den Kopf geknallt hatte.
Es klingelte, kaum dass sie aus der Badewanne war, sich in ihren Bademantel gekuschelt und ein Handtuch um ihr Haar gewickelt hatte.
Kai stand da, an den Türrahmen gelehnt, mit forderndem Blick nach einer Erklärung. Sie glotzte provokativ auf die Uhr. Etwa drei Stunden, nachdem sie ihn in seinen wichtigen Vorbereitungen hatte stehen lassen, war ihm aufgefallen, dass sie weg war?
„Warum bist du einfach gegangen?“, erkundigte er sich leichthin.
„Hast du das inzwischen bemerkt, ja?“, blaffte sie. „Kai, du stellst mich vor vollendete Tatsachen und erwartest von mir, dass ich so mirnichts dirnichts mit dir komme? Dein Plan steht fest! Sollte ich mich also wirklich länger in dein Zimmer stellen, um deine Rückseite anzuschauen, während du mit den Gedanken schon ganz weit weg bist, nebenbei Koffer packst und auch noch ein Telefonat annimmst, das wichtiger zu sein scheint, als das, was mich bedrückt?“
„Patricia! Ich freue mich nun mal auf Ecuador! In unserem Land gibt es genug fähige Mediziner, dort unten braucht man jeden Mann und jede Frau. Leute, die mit Leidenschaft ihren Job machen, auf die man sich verlassen kann!“ Kai hatte sich inzwischen vom Türrahmen gelöst und wartete wohl darauf, dass sie ihn hereinbat.
Patricia hatte nicht dergleichen getan, also blieb er draußen stehen.
„Es ehrt dich sehr, Kai, dass du dein Leben in so einem Land für die armen und kranken Menschen einsetzen willst, aber mein Leben findet hier statt und nirgends anders! Ich liebe München! Meine Leidenschaft sind diese Stadt, mein Job, meine Hobbys und meine Freunde!“, erklärte sie sachlich.
„Also bedeute doch ich dir nicht so viel, wie du von mir erwartest, oder? Du glaubst, dass du mir egal wärst! Es scheint eher andersrum zu sein!“, vermutete Kai und schielte sie zweifelnd an.
„Es hat keinen Sinn, weiter darüber zu reden! Du machst dein Ding und ich bleibe hier! Da gibt es keine Diskussion mehr! Im Übrigen hoffe ich für deine Patienten, dass du dich niemals aufs Herz spezialisierst!“ So, das war ihr letztes Wort.
Kai wirkte nicht gerade zufrieden, gab ihr unsicher einen Kuss auf die Wange und sagte: „Ich wünsche dir alles Gute! Vielleicht sieht man sich einmal wieder!“
Sie hatte das Bussi unbewusst genossen und Kais Geruch in sich aufgenommen. Ein letztes Mal – wahrscheinlich das allerletzte Mal.
Kai fummelte etwas von seinem Schlüsselbund. Es war der Hausschlüssel von hier, den Patricia ihm vor wenigen Wochen erst gegeben hatte.
Er ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, langsam die Treppe hinunter.
Patricia sah ihm nach. Sie schloss die Wohnung erst, als sie die Haustür im Erdgeschoss hatte einrasten hören. Es tat weh, aber es sollte wohl so sein. Wenn sich die Geister so weit schieden, sollte man sie nicht aufhalten. Mit Gewalt konnte man sein Leben und die Erwartungen daran nun einmal nicht verbiegen.
Spät nachts, als sie unruhig und hellwach im Bett lag, überrannten sie Wut, Bauchschmerzen und auch ein wenig Trauer. Er war nur selten bei ihr über Nacht geblieben, sodass es für sie nicht ungewöhnlich war, alleine zu schlafen. Unter Tränen erinnerte sie sich an die trotz allem schöne Zeit, die sie mit Kai verbracht hatte, in diesem Bett hatten sie sich oft einander hingegeben. War es am Ende nur das Körperliche, was sie verbunden hatte? Gab es tiefer gehende Gründe? Doch, sie war verliebt in ihn, ganz sicher. Und er? Mit feuchtem Gesicht und brennenden Augen schlief sie schließlich ein.
Der Freitag wurde anstrengend. Die beiden Fälle, die Richter Sanders ihr angekündigt hatte, erwiesen sich als höchst anstrengend. Nach dieser fast komplett schlaflosen Nacht war das um einiges aufreibender.
Sanders war ein sehr geduldiger Mensch und es brauchte lange, bis man ihn auf die Palme brachte. Doch schon in der ersten Verhandlung verwoben sich die Aussagen der Zeugen und des Angeklagten derart, bis sich schließlich herauskristallisierte, dass das Opfer sich selbst geschädigt hatte und der Angeklagte eigentlich nur einen Köder darstellen sollte, um auf einen anderen als Verdächtigen zu lenken. Es war zu oberflächlich durchdacht.
Zwischen den beiden Sitzungen schielte Richter Sanders Patricia prüfend an, die sich entspannt in ihrem Bürosessel zurückgelehnt hatte und die Arme vor sich ausstreckte.
„Geht es Ihnen ein bisschen besser?“, interessierte ihn.
Sie lächelte, während sie ihren Kopf hin und her neigte: „So lala!“
Durch die Sonne, die sich endlich nach dem vielen Regen durchgesetzt hatte, blinkte ihr Sanders' Ohrring ins Auge. Sie fand es witzig: ein gestandenes Mannsbild mit Kreolen und Robe. Man hatte es ein paar Mal angesprochen, an oberer Stelle, aber er hatte sich nicht davon beeindrucken lassen und behielt den Schmuck an.
„Vergessen Sie nicht: Zeit heilt alle Wunden!“, hing er noch an, „Sagen Sie mir bitte, wenn Sie eine Pause brauchen!“
Danach ging es um einen Familienvater, der seine Mutter aus Habgier ermordet haben soll. Die Anklage lautete auf Mord, aufgrund des Verdachtes, dass er bei ihr war und sie absichtlich die Kellertreppe ihres Hauses hinuntergestoßen hatte.
Der vermeintliche Täter widersprach vehement und gab vor, er wäre an dem gesamten Tag gar nicht da gewesen, dann behauptete er wiederum, er wäre zum Todeszeitpunkt nicht dort gewesen und im nächsten Versuch sagte er aus, dass er erst dort war, als sie schon tot im Keller lag. Es zehrte an den Nerven, wie die Angehörigen sich allerhand Miesepetrigkeiten um die Ohren pfiffen, dass Sanders sogar einmal richtig laut wurde und den Angeklagten so heftig anschrie, dass umgehend im Saal alle mucksmäuschenstill waren. Der Typ, kein Kumpeltyp, auch wenn er Freund hieß, hatte sich selbst in Widersprüche verstrickt und alles, was ihm dadurch noch mehr zur Last gelegt wurde, mit weiteren zwei oder drei Ausflüchten und vermeintlichen Berichtigungen wieder umgeworfen.
„Wenn Sie nicht auf der Stelle zur Wahrheit kommen, vereidige ich Sie und Sie werden sich umschauen, welche Strafen für eine Falschaussage vorgesehen sind! Wenn Sie Pech haben, gehen Sie allein dafür in den Knast!“
Patricia hielt die Luft an. So laut hatte sie Sanders noch nie plärren gehört.
Der Angeklagte verweigerte jetzt jede weitere Aussage. Sogar sein Verteidiger, ein renommierter und höchst belastbarer Anwalt, war kurz davor, das Handtuch zu werfen, weil er gar nicht mehr wusste, wie er seinen Mandanten noch herausboxen sollte.
Schließlich stand von den wenigen Anwesenden eine Frau auf und rief dem Angeklagten zu: „Axel! Es hat keinen Sinn mehr!“
„Halt deinen Mund!“, blökte der Angeklagte zurück.
„Wenn herauskommt, dass ich davon wusste, bin ich auch mit dran! Das muss ich mir und dem Kind nicht antun!“ Die Frau war völlig aufgelöst.
„Wer sind Sie denn?“ Der Richter wischte sich genervt mit der Hand durchs Gesicht.
„Ich bin seine Freundin und ich bekomme ein Kind von ihm!“ Sie zitterte am ganzen Leib. „Ich weiß, wie es wirklich war!“
„Kommen Sie doch mal bitte nach vorn!“, schnaufte Sanders.
Er nahm die Personalien der Dame auf und fragte dann, was sie zu dem Fall Wissenswertes beitragen konnte.
„Er hat es nur für mich gemacht; für mich und unser gemeinsames Kind! Er wusste nicht, wie er es seiner Frau sagen sollte. Also hatte er sich zuerst seiner Mutter anvertraut, zu der er bis dahin ein gutes Verhältnis hatte!“, fing sie an.
„Ich habe es die ganze Zeit gewusst!“, murmelte jetzt die Ehefrau des Angeklagten vor sich hin und warf ihm einen bitterbösen Blick zu.
„Es ist nicht so, wie du denkst, Angelika! Ich hätte dich und die Kinder nie verlassen, das weißt du!“, beteuerte der Gatte, noch unglaubwürdiger, als alles andere, was er zuvor ausgesagt hatte.
„Und woher wollen Sie wissen, dass der Angeklagte seine Mutter getötet hat? Hat er Ihnen das persönlich gesagt?“, fragte Herr Winter, der Staatsanwalt.
„Ja! Er kam sofort danach zu mir und hat es mir in Wortfetzen und unter Tränen gesagt!“ Die Stimme der jungen Frau wurde immer leiser.
„Was genau hat er Ihnen erzählt?“, interessierte den Richter.
„Du sagst jetzt nichts mehr! Hör auf damit! Das ist alles gar nicht wahr! Ich warne dich!“ Er drohte seiner Geliebten mit einer geballten Faust.
„So, jetzt reicht’s! An den Angeklagten ergeht eine Strafe von einhundert Euro, ersatzweise zwei Tage Ordnungshaft! Und wenn Sie nicht sofort aufhören, die Zeugin zu bedrohen, zu beschimpfen oder dazwischen zu quatschen, lasse ich Sie aus dem Verhandlungssaal werfen! Das ist die letzte Verwarnung!“, motzte Ralph Sanders. „Bitte fahren Sie fort!“, wandte er sich wieder an die Zeugin.
„Seine Mutter wusste als einzige von mir und dem Kind. Er hatte sie gebeten, ihm Geld zu leihen, damit er uns eine Wohnung einrichten kann. Von dem Geld, das er mit seiner Frau hatte, wollte und konnte er uns nichts abzwicken, das wäre aufgefallen.“ Sie atmete durch. „Jedenfalls wollte seine Mutter ihm nichts geben und sie muss damit gedroht haben, es seiner Frau zu sagen, weil er sich nicht hatte abwimmeln lassen. Dann ist es eskaliert, wie er mir erzählt hat: Sie standen an der Treppe zum Keller und er hat sie immer mehr bedrängt und er drohte ihr, sie nie mehr zu besuchen, wenn sie ihm das Geld nicht gäbe oder wenn sie seiner Frau von unserem Verhältnis sagen würde. Seine Mutter liebte die drei Kinder über alles und es hätte sie zerstört, wenn sie die Kleinen nicht mehr hätte sehen dürfen.“
„Na ja, im Drohen scheint er ja ganz fit zu sein, Ihr Geliebter, nicht wahr?“ keifte Winter, der mit eisiger Miene zugehört hatte.
„Bitte! Herr Kollege!“, warf der Rechtsanwalt hinüber.
„Frau Schweizer, was hat Herr Freund Ihnen noch erzählt?“, hakte Sanders nach. Ihm lag daran, diesen Fall endlich abzuschließen.
„Sie wollte ihn wohl zurückschieben, weil er vor dem Lichtschalter stand, und dann ist er ausgerastet und hat sie wutentbrannt geschüttelt. Dabei muss sie das Gleichgewicht verloren haben, gestolpert und die Treppe hinunter gestürzt sein!“ Sie schielte zu ihrem Liebhaber hinüber. „Ich kann und will mit dieser Belastung nicht weiterleben, Axel!“, schluchzte sie.
„Ich habe dir gesagt …“, setzte Freund erneut lauthals an. Sein Anwalt konnte ihn noch rechtzeitig stoppen. Er verstummte.
„War es so, Herr Freund?“ Der Richter war wieder ruhiger geworden und wollte jetzt nur noch ein klares Ja oder Nein hören.
Aber der hüllte sich weiter in Schweigen, was abzusehen war. Was seine Freundin ausgesagt hatte, warf ein ganz neues Licht auf das Motiv, die Umstände und den Tathergang. Dass sich dieser Kerl selbst durch sein unmögliches Verhalten nur noch weiter ins Verderben geritten hatte, wollte er wohl gar nicht in Betracht ziehen.
Frau Freund stand auf: „Ich hoffe, du findest bei deiner Gespielin ein neues Heim, wenn du aus der Haft entlassen wirst! Bei uns kommst du jedenfalls nicht mehr rein! Du Betrüger!“, keifte sie und wollte gehen.
„Sind noch Fragen an die Zeugin Freund?“, fragte Sanders die Anwälte, während er etwas notierte und beide einheitlich mit dem Kopf schüttelten.
„Dann sind Sie hiermit offiziell entlassen, Frau Freund! Eines will ich ihnen mitgeben: lassen sie ziehen, was nicht bei ihnen bleiben will und freuen sie sich auf eine neue Zeit. Sie sind noch jung und werden sicher noch einmal einen Mann finden.“
Sie nickte und verließ den Saal.
Patricia streckte derweil abwechselnd ihre Finger aus und ballte die Hände zu Fäusten. Sie musste mit den Ohren überall sein und feinsinnig jedes wichtige Detail protokollieren.
„Also keine Habgier! Kein Mord, eher Totschlag“ sann Sanders laut nach. „Wir vertagen das Urteil auf den nächsten Mittwoch!“
Es war kurz nach achtzehn Uhr und die Verhandlung lief bereits seit mittags, mit einer Unterbrechung von nur einer halben Stunde.
„Nein!“ Freund meldete sich einmal mehr zu Wort, diesmal in normalem Ton, um nicht zu sagen, kleinlaut: „Es war so, wie sie gesagt hat! Es war ein Unfall! Aber wer hätte mir geglaubt?“
„Warum denn auf einmal so betreten, Herr Freund, hm? Fällt Ihnen nichts mehr ein, was Sie uns noch auf die Nase binden könnten?“, zischte Herr Winter.
„Herr Staatsanwalt! Seien Sie nicht immer so sarkastisch!“, hielt Herr Jost, der Strafverteidiger, zartbitter grinsend dagegen.
„Entschuldigen Sie!“, winkte Winter ab.
„Sie geben also zu …“ Der Richter fasste noch einmal alles zusammen und entschied nach einem eindeutigen Geständnis, das Urteil bis zum Montag zu verschieben. Das war zwar unüblich, aber er hatte keine Lust mehr und der Kerl, der ihn den halben Tag genervt hatte, sollte ruhig noch ein wenig schmoren. Er hatte sowieso noch zwei Tage Ordnungshaft gut.
„Genießen Sie noch ein Wochenende in U-Haft, Herr Freund! Am Montag werden Sie dann wohl in eine neue Behausung umziehen! Die Sitzung ist für heute beendet!“
Patricia blies die Luft heraus, weil sie endlich das Notebook schließen konnte. Sie setzte sich gleich an ihren Schreibtisch, als der Richter und sie im Büro waren, und tippte das Protokoll ins Reine. Sanders saß die ganze Zeit über in seinem Büro. Die Tür stand einen Spalt offen, sodass er hörte, wie sie noch immer arbeitete. Gerade als er ihr vorschlagen wollte, Feierabend zu machen, trat sie auf sein Zimmer zu.
Sie erschrak, da er plötzlich die Tür aufriss und vor ihr stand.
„Na? Schlechtes Gewissen?“, griente er.
„Nö! Ich wüsste nicht wieso!“, schnalzte sie und reichte ihm die Blätter.
„Schon fertig? Sehr gut! Vielen Dank! Und jetzt machen wir uns auf ins Wochenende!“ Er legte die Papiere auf seinen Schreibtisch.
Sie stellte ihre Geräte ab, packte ihre Tasche und ihre Jacke.
Er ging schweigend neben ihr her, durch die hohen Gänge des alten Gebäudes war stets jeder Schritt zu hören, außer man trug Filzpantoffeln. Sie mussten zur Hintertür hinaus.
„Ganz schön aufreibend, was?“, fragte Patricia.
„Was meinen Sie?“
„Die Fälle heute!“, erinnerte Patricia ihren „Chef“.
„Wir kennen es doch inzwischen. Straftaten sind ja sozusagen unsere Kunden.“
„Können Sie eigentlich abschalten, wenn sie Feierabend machen? Ich meine, verfolgen einen als Richter die Fälle nicht bis nach Hause? Oder die Urteile? Denkt man nicht manchmal, wenn man zur Ruhe kommt, es waren ein wenig viele oder es hätten ein paar mehr Jahre sein können, die man dem Täter aufgebrummt hat?“ Patricia hatte das schon lange interessiert, aber es gab nie eine passende Situation, einen der Richter zu fragen. Umso lieber war es ihr, ausgerechnet Sanders um eine Antwort bitten zu können. Bei ihm konnte sie davon ausgehen, dass er momentan nicht in Eile war, so lässig, wie er neben ihr schlenderte.
„Wenn man nicht abschalten kann, tut man sich keinen Gefallen! Man muss es sich zumindest angewöhnen! Mit der Zeit schafft man das, wenn man es nicht von Natur aus kann!“, erklärte er.
Richterin wäre für sie gar nichts, gestand sie. Sie würde sich vor schlechtem Gewissen nachts die Stunden um die Ohren schlagen und für die Angeklagten und Verurteilten selbst Berufung einlegen.
Er lachte amüsiert. „Klar kann es mal passieren, dass man zweifelt. Aber das darf nicht zur Gewohnheit werden.“
Sie bewunderte zum einen die Ruhe, welche die meisten Richter an sich hatten, besonders eben Richter Sanders. Manchmal war die Ruhe stoisch, wodurch man förmlich spürte, wie der Sturm sich anbahnte. Andere Male schmunzelte sie über die aberwitzigen Wortgefechte zwischen Staats- und Rechtsanwälten, vor allem, wenn Winter auf seine Lieblingskollegin Frau Axauer traf. Die beiden waren wie Katz und Maus. Am Ende kam doch meist die Wahrheit ans Licht und man war sich wieder einig. Mit Zähneknirschen musste der jeweilige „Verlierer“ eben klein beigeben.
Nach Richter Sanders mochte Patricia den Staatsanwalt Sewerin am liebsten. Er war einer der Älteren und vor Gericht ein knallharter Kerl von der Sorte „mich kann man nicht täuschen“, aber privat war er ein liebevoller Familienvater und Ehemann. Sobald die Verhandlungen zu Ende waren, plauderte er mit seinen Kollegen über seine beiden Kinder und über seine Frau, sein Hobby – Oldtimer – und er telefonierte viel, wenn er Pause hatte.
Staatsanwältin Ute Axauer war auch eine ganz Nette. Sie war immer freundlich und half, wenn man einen Fehler gemacht oder etwas übersehen hatte, anstatt zu mosern. Nur bei der Anklage war auch sie unbestechlich, unnahbar und verdammt sachlich.
Alles in allem gefiel Patricia der Job, sie mochte die Richter, die Kolleginnen und war selbst bei allen beliebt.
Sie merkte, wie Ralph Sanders Blicke sie durchdrangen und erwiderte es.
„Haben Sie letzte Nacht einigermaßen schlafend überstanden?“, erkundigte er sich.
„Es ging so!“ Irgendwie hatte sie den ganzen Tag noch gar nicht oft an Kai gedacht. „Es hält sich in Grenzen, wenn ich ehrlich bin!“, gab sie zurück. Und das war die Wahrheit. Im Gegensatz zum Abend vorher, fühlte sie sich heute sehr viel besser. Dass Kai noch einmal aufgetaucht war, und sie ihm die kalte Schulter gezeigt hatte, hatte wohl einen großen Teil dazu beigetragen, dass sie nicht mehr ganz so geknickt war.
„Glauben Sie bloß nicht, einer wie ich kenne dieses Gefühl nicht!“
Na klar! Jeder erwachsene Mensch hatte wahrscheinlich schon mindestens einmal richtig heftigen Liebeskummer.
„Das denke ich nicht! Jeder kennt das, aber man kann es nur richtig nachfühlen, wenn man selbst drin steckt! Wenn es vorbei ist, ist es vorbei.“, war sie sicher.
„Es kann lange später noch weh tun, glauben Sie mir, und es kann einen Menschen richtig prägen, manche zerstört so etwas sogar!“, konterte Ralph Sanders. „Denken Sie an Frau Freund und ähnliche Fälle, bei denen es um Eifersucht, Untreue und verletzten Stolz ging!“
„Ja, leider!“ Sie atmete durch. „Sie können ja doch nicht abschalten!“ lächelte sie.
„Haha, ertappt!“ grinste er mit.
„Wenn Kai öfter mit mir geredet hätte, wäre ich mir vielleicht früher darüber bewusst geworden, dass es gar keinen Sinn mit uns hat! Oder ich war einfach zu blauäugig und wollte es nicht merken! Vielleicht hatte ich Angst vor dieser Wahrheit!“
„Gefühle haben immer einen Sinn! Egal, ob sie negativ oder positiv sind!“ Er blinzelte in die orangerote Sonne, die gerade am Horizont verschwand.
„Wissen Sie inzwischen, ob Sie morgen zum Ball kommen?“, wollte er wissen.
„Je nachdem, wie ich mich fühle!“, zuckte sie mit den Schultern.
„Das klingt gut! Ich bin sicher, dass Sie sich morgen noch besser fühlen als heute und dass es für Sie das Beste ist, unter Leute zu gehen! Alleine zu Hause zu sitzen und Trübsal zu blasen wäre keine gute Idee!“ Er zwinkerte Mut machend. „Es wird bestimmt sehr lustig, wie gesagt!“
„Ich weiß!“, lachte sie und erinnerte sich.
Im Jahr zuvor war es amüsant gewesen: Wenn Richter, Staats- und Rechtsanwälte tanzten, „a capella“ oder „Karaoke“ zu einschlägigen Gassenhauern sangen, und schlussendlich mehr oder weniger orientierungslos aus dem Saal eierten, kicherten die Mädchen belustigt.
„Geben Sie sich einen Ruck!“ Selbigen gab er ihr an den Arm, als hätte er gewusst, was gerade in ihrem Kopf vorgegangen war.
„Ich werde mich bemühen, okay?“ Das war ein unverfänglicher Kompromiss. „Ich glaube, es ist besser, dass wir uns getrennt haben! Irgendwie war es eine nette Zeit, aber ziemlich einseitig, wie mir heute Nacht bewusst wurde!“, schwenkte sie wieder zum leidigen Thema.
„Na also! Dann kommt so eine Abwechslung wie gerufen! Wenn ich Sie mitnehmen kann, rufen Sie mich einfach an, ja? Ich bin ganz sicher bis 19 Uhr zuhause!“, bot er freundlich an und gab ihr ein Kärtchen.
Verwundert starrte sie auf die Zeilen. Da war sogar seine Privatnummer drauf. Wenn das kein Vertrauensbeweis war?
„Lassen Sie sich überraschen!“
„Das werde ich!“ Er grinste.
Komisch, mit einem Schlag nahm sie diesen Richter ganz anders wahr, als vorher. Vorgestern war er unnahbar, weit über ihr in der Hierarchie. Heute fand sie in ihm einen Kumpel, dem man sogar sein Herz ausschütten konnte. Er war für sie nicht mehr nur eine Respektsperson von höherer Stelle, sondern auf einmal eine Vertrauensperson.
Und es kam noch freundschaftlicher: „Kann ich Sie nach Hause mitnehmen?“, fragte er.
„Das ist lieb gemeint, aber ich muss noch einkaufen! Mein Kühlschrank ist leer und mein Magen leider auch!“ Sie rieb sich den Bauch.
Er stand da und schaute sie an. Zuerst strahlten bei ihm die Augen, dann der Rest des schelmischen Gesichtes.
Sie spürte, dass er sie weiter anvisierte.
„Was?“, stutzte sie, aus ihren Gedanken gerissen.
„Ich frage mich, wo Sie um diese Zeit noch einkaufen wollen!“
Sie lugte auf ihre Uhr. „Oh nein! Ich wusste, dass heute noch ein Haken kommt! So ein Mist! Und ich war um zwanzig Uhr auch noch mit Kerstin verabredet!“
„Schade! Sonst hätte ich Sie zum Essen eingeladen!“ Er öffnete die Tür seines Wagens.
„Das ist sehr nett! Wir sehen uns vielleicht morgen!“ Sie suchte nach ihrem Handy und winkte ihm zu. „Schönen Abend noch!“
„Ich lasse mich überraschen! Ach, Frau Degen! Wenn Sie lächeln, sehen Sie gar nicht so verheult aus!“ Er schmunzelte. „Bis dann!“
Na toll! Ihm war also nicht entgangen, wie sie am Tag zuvor ausgesehen hatte, mit ihren verflennten Augen. Und morgens hatte sie nicht anders aus denselben geschaut.
Sie konnte Kerstin nicht erreichen, sie ging nicht ans Telefon. Nach einer Weile gab sie auf und wollte nach Hause. Gerade, als sie auf dem Weg zur U-Bahn war, klingelte ihr Handy.
Kerstin fragte, wo sie denn bliebe, sie würde schon eine knappe Stunde warten.
„Du, ich habe so lange gearbeitet! Und dann bist du nicht ans Telefon! Ich wollte gerade heim!“, rief sie in den Hörer, während der Verkehr an ihr vorbeirauschte.
Sie beschlossen, doch noch etwas essen zu gehen.
Kerstin holte sie in der Stadt ab und sie fuhren zu ihrem Lieblingsitaliener.
„Holst du mich morgen Abend auch ab?“, erkundigte sich Patricia bei ihrer Freundin, als sie vor der Pizzeria aus dem Auto gestiegen waren.
„Natürlich! Aber ich dachte, du willst nicht mit?“, stutzte Kerstin.
„Wollte ich auch nicht, aber nachdem Kai sich verabschiedet hat …“
„Was ist los?“ Kerstin riss die Augen auf und stutzte.
Patricia erzählte, was sich am Tag zuvor ereignet hatte.
„Das tut mir wirklich leid für dich, Patricia! Aber wenn ich ehrlich bin: Er war nichts für dich! Er hat sich immer für etwas Besseres gehalten und sich einen Dreck für deine Wünsche interessiert!“, wetterte Kerstin.
„Nein, das stimmt nicht!“
„Wohl!“, betonte die Freundin.
„Na ja, vielleicht hast du Recht! Ja, du HAST Recht! Aber immerhin waren wir ein knappes Dreivierteljahr zusammen! Das verbindet, meinst du nicht?“
„Ja, schon, vielleicht! Aber du wirst darüber hinwegkommen!“ Kerstin war sicher. Sie war eine, mit der man durch dick und dünn gehen konnte, weil sie so erfrischend optimistisch war. Nichts konnte sie umhauen. Sie holte sogar aus dem schlimmsten Übel noch das Beste heraus. Manchmal wünschte sich Patricia, ein wenig so zu sein, wie es Kerstin war. Patricia war zwar nicht auf den Mund gefallen, aber es gab Situationen, in denen sie sich eine Portion mehr Ehrgeiz und Selbstvertrauen gewünscht hätte. Es hatte sich schon gebessert, seit sie von zuhause ausgezogen und auf sich alleine gestellt war, aber manchmal fehlte noch ein gehöriger Schuss Egoismus und Mut.
Kerstin war ein absoluter Männertyp: eine zierliche junge Frau mit schwarzen Locken und makelloser Haut, dunkelbraunen Augen und einer Top-Figur. Sie hatte keinen festen Freund, seit Patricia sie kannte. Was Patricia so mitbekam und wie Tanja ab und zu erzählt hatte, machte es Kerstin wohl Spaß, die Kerle erst kirre zu machen und sie dann rechtzeitig abzuschieben.
Patricia fand es nicht in Ordnung, aber es ging sie nichts an und so unterließ sie es, sich einzumischen. Außerdem war Kerstin eine sehr gute Freundin für sie geworden, sie hatte viel Verständnis und für fast alles eine Lösung, wenn man selbst absolut planlos war.
„Schau mal, wer da sitzt!“, stieß Kerstin Patricia an den Arm.
Patricia drehte sich um. Hinter ihr saßen Richter Sanders und Staatsanwalt Winter an einem Tisch zusammen und diskutierten.
„Na sowas. Dabei wollte er gerade vorhin noch mich einladen.“ kicherte Patricia.
„Wirklich?“ rief Kerstin ein bisschen zu laut, so dass sie damit sehr ungeschickt die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich und Patricia zog.
„Hallo!“, winkte Richter Sanders ihnen zu, als er sie entdeckt hatte.
„Guten Abend!“, entgegnete Kerstin freundlich.
Patricia nickte ihm lächelnd zu und suchte nach einem freien Tisch.
„Für zwei Personen, Mädels?“, fragte Emilio beim Vorbeigehen, die Arme mit Tellern vollgeschlichtet und – wie immer – in Eile.
„Ja!“, rief Kerstin ihm nach.
Er kam zurück. „Alles voll! Entweder Ihr setzt Euch zu den beiden Herren da vorne, wenn die nichts dagegen haben, oder Ihr müsst einen Moment warten! Setzt Euch an die Bar! Sobald was frei wird, seid ihr dran!“, schlug er vor, weil die beiden auf seinen ersten Vorschlag nicht gerade begeistert geschaut hatten.
Mit Letzterem waren sie einverstanden und begaben sich zur Theke.
„Sind Sie beide alleine hier?“, fragte Sanders plötzlich dicht hinter ihnen.
„Ja! Warum?“, stotterte Patricia.
„Setzen Sie sich doch zu uns! Wir haben noch Platz am Tisch!“, bot er an.
„Wird das nicht ein wenig eng?“ Kerstin zog die Lippe hoch. Sie mochte Winter nicht besonders.
„Das würde schon gehen! Aber wenn Sie lieber warten wollen …“ Der Richter zog die Schultern hoch. Bei dem momentanen Betrieb hier würden sie wohl länger warten müssen.
„Komm schon, Kerstin! Der Tisch ist groß genug für vier Personen!“, knödelte Patricia leise.
Kerstin suchte umher, ob sie nicht doch einen Platz übersehen hatten.
„Sind sie denn auch alleine mit Herrn Winter hier?“
„Nachdem Sie mir einen Korb gegeben haben, dachte ich mir, ich lade meinen Freund zum Essen ein!“, grinste Sanders.
„Na los!“ stupste Patricia ihre Freundin Richtung Tisch.
„Guten Abend die Damen!“ grinste Winter und hob sein Glas Weißbier an.
„Hallo!“ zwitscherten die Mädchen im Chor und nahmen Platz.
Patricia schaute die Herren im Wechsel an. „Sind Sie öfter hier?“
„Ab und zu, ich liebe Emilios Saltimbocca a la Romana!“ schwärmte Sanders.
Kerstin saß anfangs ein wenig verloren da, weil sie, wie Patricia auch, nicht recht wusste, was sie ausgerechnet mit diesen beiden Männern reden sollte.
Man unterhielt sich belanglos und, sehr überraschend, die Herren sprachen tatsächlich nicht ein einziges Wort über irgendeinen Fall oder über Kollegen. Nichts über Gesetze, Paragrafen oder Urteile. Nur privat.
Ob die Damen auch Tennis spielen würden, was sie gerne sonst so aßen, ob sie zur Seifenoper-Fraktion gehörten... Es wurde sehr ungezwungen und sogar Kerstin konnte sich erwärmen, ab und zu einen lustigen Spruch loszulassen.
Beim Zahlen wurden die Ladies erneut überrascht: Sanders ließ, entgegen jeder Erwartung, alles auf seine Rechnung gehen.
„Das wäre echt nicht nötig gewesen!“ Kerstin war es peinlich.
„Sehen Sie, so war ihre Einladung doch noch erfolgreich!“ grinste Patricia.
Die beiden bedankten sich mehr oder weniger unangenehm berührt. Sanders winkte ab: „Gern geschehen!“
„Wie sieht es aus? Haben Sie Zeit und Lust auf einen lustigen Film? Oder lieber Action?“, wollte Winter von den Mädchen wissen.
Bevor Patricia sich weiterhin übermütig von den Kerlen aushalten lassen wollte, stieß Kerstin ihr unterm Tisch gegen das Schienbein.
„Oh, heute nicht mehr!“ sagte sie schnell. „Ich hatte keine gute Nacht, ich muss ein bisschen Schlaf nachholen!“
„Ich habe auch keine Lust auf Kino!“, schüttelte Kerstin erleichtert den Kopf. „Wir trinken noch in Ruhe aus und gehen heim, hm?“
Patricia nickte.
„Schade!“ Sanders schürzte die Lippen.
Patricia smilte ihn an, bevor sie sich verabschiedeten.
„Ich werde mit diesem Kerl einfach nicht richtig warm!“, bemerkte Kerstin über Lukas Winter, als die beiden weg waren.
„Ich finde ihn ganz okay. Gut, eine Freundschaft würde zwischen ihm und mir bestimmt nicht stattfinden, aber ich komme ganz gut mit ihm klar!“, behauptete Patricia.
„Ich finde ihn arrogant und schnöselig!“, schüttelte Kerstin den Kopf. „Und wie der die Angeklagten immer in die Zange nimmt! Total ätzend!“
„Das ist nun mal sein Job!“, flachste Patricia.
Nach dem köstlichen Abendessen lud Patricia Kerstin ein, bei ihr noch einen Tee zu trinken und vielleicht einen Film zu schauen. „Ich bin zwar hundemüde, aber ich weiß, ich kann heute eh wieder nicht so gut einschlafen!“
„Mach dich bloß nicht kirre wegen Herrn Doktor Kai, Patricia! Das ist er gar nicht wert!“, moserte die Freundin.
Sie machten es sich vor dem Fernseher gemütlich und schnatterten über alles Mögliche. Allem voran darüber, was sie am nächsten Tag anziehen würden. Bei der Gelegenheit fiel Patricia ein, dass sie gar nichts Ordentliches hatte, das zu einem Ball passte. Das Kleid vom letzten Jahr wollte sie nicht wieder tragen und sie wollte sich auch nicht in einer Hose zeigen. Das passte nicht zu einem solchen Anlass.
Sie beschlossen, mit dem Taxi zu fahren.
„Letztes Jahr: Weißt du noch, als ich mein Auto stehen lassen musste? Dieser komische Staatsanwalt hat uns heim gebracht! Ausgerechnet der! Wie hieß der noch? Jantzen!“ Kerstin verzog das Gesicht.
„Der war wirklich komisch! Wie er sich zu Tanja gestellt und die immerzu angeglotzt hat!“, prustete Patricia.
„Der war noch nicht mal betrunken! Er war wie eine Klette! Tanja tut mir heute noch Leid deswegen! Ob er immer noch sauer auf uns ist, weil wir ihn nicht mit zu dir genommen haben? Nur gut, dass wir ihm entkommen sind! Stell dir vor, er hätte uns nicht aus dem Wagen steigen lassen!“
„Ach, hör auf! Du siehst zu viele Thriller!“, gackerte Patricia. „Ich hoffe allerdings zu unserem Wohl, dass der morgen nicht auftaucht!“
Den nächsten Tag ließ Patricia ruhig angehen: Sie schlief erstaunlich gut und lange, genehmigte sich ein ausgiebiges Frühstück bei ihrer Lieblingsmusik und machte einmal wieder eine körperhygienische „Runderneuerung“. Sie brachte ihren Körper mit allen möglichen Pflegemitteln auf Hochglanz. Gegen Mittag fuhr sie mit dem Bus in die Stadt zum Einkaufen.
Eigentlich wollte sie nur Lebensmittel holen, wie schon am Tag zuvor. Aber sie hatte in Gedanken ihren Kleiderschrank wiederholt durchforstet und war zu dem Schluss gekommen, dass sie für diesen Ball wirklich nichts Passendes zum Anziehen hatte. Schließlich waren die etwa fünf Kleider, die zehn Hosen und fünfzehn Pullis sowie die zwanzig Blusen und die dreißig Tops nichts und alles schon alt und abgetragen. Auch wenn die letzten modischen Teile erst vor zwei Wochen gekauft worden waren.
Sie griente vor sich hin. Nein, so viel Kleidung hatte sie nicht, aber es waren genug Fetzen und es würde sich bestimmt etwas für den kommenden Abend finden. Fühlte man sich in etwas Neuem zu so einem Anlass aber nicht viel wohler? Und waren ihre Sachen nicht eher diskotauglich als balltauglich? Ja, das war eindeutig so, und deswegen klapperte sie die Boutiquen in der Münchner Innenstadt ab. Sonst machte sie das mit Jeannette, Christian und Kerstin oder Tanja zusammen. Man hatte mindestens einen „guten Rat“ dabei und damit konnte man so gut wie nie etwas einkaufen, das einem überhaupt nicht stand.
Es hatte aber auch etwas Gutes, alleine durch die Läden zu flanieren. Man konnte sich viel mehr Zeit lassen, weil nicht einer der Anhänger jammerte, er müsse dringend aufs Klo oder ein anderer, er habe Hunger.
Man konnte stöbern, sich zwanzigmal etwas anderes anziehen und sich länger als sonst im Spiegel betrachten. Für Patricia war es heute besonders wichtig und es tat ihrem angeschlagenen Ego gut, sich einen Bummel für sich ganz alleine zu gönnen.
„Das steht Ihnen hervorragend gut!“, bestätigte die nette Verkäuferin, nachdem Patricia nach ein paar Fehlgriffen ein dunkelblaues, enges Kleid anprobiert hatte. „Die Farbe bildet einen hervorragenden Kontrast zu Ihren Haaren und ihrem gebräunten Teint!“
„Finden Sie?“ Patricia musterte sich kritisch. „Ich finde Blau irgendwie zu einfach. Jeans sind blau, viele meiner Oberteile sind blau! Ich hätte gerne mal was ganz anderes!“
Die Frau zog die Brauen hoch und überlegte. „Moment bitte!“ Sie brachte wenig später fast das gleiche Kleid, nur in schimmerndem Bordeaux.
„Wow!“, staunte Patricia, als sie sich darin betrachtete.
Es war eng geschnitten, knielang und ärmellos. Der Rand des runden Ausschnittes war aus weicher Spitze, sehr elegant, sexy und doch dezent. Eigentlich war es ein Witz, für so ein Teil einhundert Euro zu verlangen. Aber wollte man bei diesem Event nicht etwas Exklusives tragen, anstatt durch einen dummen Zufall an einem solchen Ball auf dreimal das gleiche Kleid zu treffen? So war es zwei Jahre zuvor einer Kollegin passiert. Obwohl das Teil nicht aus einem der großen Geschäftsketten kam, hatten es drei völlig unterschiedliche Damen in verschiedenen Größen an. Es hatte an jeder anders gewirkt, aber wenn Kerstin, Tanja und Patricia es bemerkt hatten, hatten es gewiss noch andere Kollegen bemerkt. Es war peinlich. Für Patricia gab es im Alltag nie lange zu überlegen, was sie anziehen sollte. Sie hatte viele ihrer Klamotten aus Secondhand-Boutiquen, wo sie immer fündig geworden war und von denen sie noch nie ein Teil ein zweites Mal gesehen hatte.
„Wie für Sie geschneidert!“, bestätigte die erfahrene Frau eifrig nickend.
Wenn Patricia sich jetzt ihre Pumps und ihren Schmuck dazu vorstellte, war sie auch begeistert. Sie ließ sich überreden, einen Seidenschal dazu zu nehmen, der sich farblich wunderbar abhob und somit das Bild perfekt machte.
„Ja so ein Mist!“, rief sie. Nun hatte sie über die Klamotte hinaus wieder vergessen, Lebensmittel einzukaufen und sie hatte nicht mehr viel Geld im Portemonnaie. Eigentlich wollte sie außerdem dieses Wochenende Fenster putzen und nicht schon wieder mehr oder weniger unnötig Geld ausgeben, aber jetzt war es zu spät und sie fühlte sich gut mit ihrer neuen Errungenschaft.
Die Verkäuferin stutzte.
„Entschuldigen Sie bitte, ich wollte ursprünglich von diesem Geld meinen Kühlschrank bestücken!“, zuckte sie mit den Schultern. „Oh! Und ich habe wohl auch noch ihre Arbeitszeit überschritten??“, kam dann mit schuldigem Unterton.
„Keine Panik! Für nette Kundschaft wie Sie, nimmt man gerne ein paar Minuten mehr in Kauf!“
Sie schlenderte zu einer nahe gelegenen Tankstelle, nachdem sie an ihrer Station aus dem Bus gestiegen war, und holte wenigstens ein paar billige Mikrowellensnacks fürs Wochenende und etwas zum Knabbern. Heute Abend würde sie nichts brauchen, weil sie beim Ball viel leckerer essen würde und den Sonntag würde sie irgendwie überstehen.
Sie wollte ein wenig vorschlafen, um abends nicht etwa zeitig schlapp zu machen.
Gerade, als sie eingenickt war, ging ihr Telefon.
„Kai? Was ist denn?“, murmelte sie.
Er fragte mit gedrückter Stimme, ob sie am Abend zu ihm kommen wollte, um seinen Abschied zu „feiern“.
„Ich glaube nicht! Immerhin wirst du in bester Gesellschaft sein und du wirst verstehen, dass ich keine Lust darauf habe, zu hören, wie begeistert alle von deiner Entscheidung sind!“, sagte sie mit heiserer Stimme.
„Es werden viele Freunde kommen, Patricia, aber ich werde dich vermissen, wenn du nicht kommst!“, gab er vor.
Sie überlegte einen Moment. „Sei mir nicht böse, Kai, aber dass du das Land und sogar Europa verlässt, ist für mich kein Grund, zu feiern! Vermissen kannst du mich noch lange genug! Ich feiere lieber mein neues Leben woanders und mit Leuten, die ich länger bei mir haben werde!“ Sie war verblüfft über ihre sachliche, kühle Antwort.
Kai schwieg. Wahrscheinlich fiel es ihm plötzlich doch schwerer als gedacht, sie zu verlassen.
„Ist noch etwas?“, fragte sie dann ziemlich unterkühlt, obwohl ihr gar nicht so sehr danach war.
„Wir könnten zusammenbleiben, Patricia! Ich komme ja regelmäßig heim und du kannst mich besuchen. Es muss doch eine Lösung geben!“, fragte er leise.
Was hatte der denn eingenommen? Sollte sie etwa hier in München Däumchen drehend auf ihn warten, ihn alle vier bis acht Monate sehen und das Ganze eines Tages doch beenden, weil es keinen Sinn hatte, auf so eine große Entfernung? Nein, das wollte sie nicht, und sie konnte sich beileibe nicht vorstellen, dass ausgerechnet Kai es lange aushalten würde, ohne ihr untreu zu werden. Dazu war er viel zu sehr auf gewisse nebensächliche Aktivitäten fixiert. Es war ihm wichtig, körperlich auf seine Kosten zu kommen, wenn sie zusammen waren – das wusste sie heute. Seltsam, dass sie das alles jetzt erst bemerkte. Mit dieser Erkenntnis fiel es ihr leichter, ihn abzuweisen, ein weiteres Mal innerhalb von 24 Stunden.
„Ich wollte schlafen, weil ich heute Abend verabredet bin, Kai! Gute Reise, viel Spaß heute Abend und bleib gesund!“ Sie legte auf, ohne auf ein weiteres Wort von ihm zu warten.
Wenn sie sonst schnell an schlechtem Gewissen litt: Hier und heute war es nicht so. Sie fühlte sich seltsam frei und es machte ihr gar nicht so viel aus, wie sie anfangs gedacht hatte.
Nach ihrem kurzen, doch erfolgreichen Schläfchen, machte sie sich bereit für einen vielversprechenden Abend. Viele Juristen der Stadt würden da sein und darunter würde sich vielleicht ein netter junger Mann finden lassen, mit dem man einen Abend angenehm plaudern oder tanzen konnte. Jedes Jahr kamen neue, junge Staats- und Rechtsanwälte sowie Richter und ihre weiblichen Kollegen dazu. Die Senioren wurden immer weniger, obwohl auch die pensionierten Herrschaften stets eingeladen waren.
Im Fernsehen liefen Videoclips mit aktueller Musik, die ihre Stimmung steigerten.
Als sie in ihr Kleid geschlüpft war, ihr Schmuck angelegt und ihre Schuhe angezogen waren, betrachtete sie sich im großen Spiegel an der Schlafzimmertür. „Da fehlt noch etwas!“, stellte sie fest, kletterte wieder aus den Klamotten und lackierte ihre Nägel. Sie hatte, Gott sei Dank, einen farblich nahezu identischen Lack zu ihrem neuen Kleid. An ihren sonnengebräunten Händen und Füßen sah er hinreißend aus. Dann wieder ein prüfender Blick in den Spiegel.
„Du siehst gut aus, Baby!“ Sie prostete ihrem Spiegelbild mit einem Glas Sekt zu.
Wer hätte vorgestern gedacht, dass sie an diesem Tag mit guter Laune zu einer Veranstaltung gehen würde, und zwar ohne Kai?
Die Macht der Gewohnheit hatte sie fest im Griff gehabt. Die Gewohnheit, zu warten, bis Kai sie anrief, sie besuchte oder sie abholte. Warten. Ja, das war das richtige Wort als Oberbegriff für diese Beziehung, die sie mit ihm geführt hatte. Heute fragte sie sich, warum das so lange gehalten hatte. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass sie gerne eine enge Bindung haben wollte. Sicherheit und Geborgenheit waren ihr sehr wichtig und in Kai hatte sie anfangs diese beiden Optionen gefunden. Dass sie sich nicht bedingungslos bestätigt hatten, empfand sie als nicht so tragisch. Wenigstens wusste sie, dass sie einen Freund hatte. Sie war stolz darauf und fühlte sich in seiner Nähe einfach sicher und wohl.
Für Kai gab es scheinbar nie Probleme. Er hatte stets das nötige Kleingeld, hatte seinen Traumjob und fühlte sich gewiss, dass seine Freundin ihm anhangen würde, wenn er in die große, weite Welt hinausziehen wollte.
Patricia prüfte noch ein letztes Mal ihr Äußeres, bestückte ihre Handtasche mit allem, was Frau bei so einer Veranstaltung brauchte und holte ein paar Mal tief Luft.
Gleich würde Kerstin kommen und sie abholen.
Ausgerechnet jetzt musste das Telefon klingeln. Das war bestimmt noch einmal Kai, der nicht locker ließ.
Nein, es war Kerstin: „Patricia, Süße! Du, es tut mir schrecklich leid! Ich habe seit heute Nachmittag wahnsinnige Zahnschmerzen! Ich kann leider nicht mit zum Ball kommen!“
„Na, das fällt dir aber zeitig ein!“, blies Patricia und ließ sich enttäuscht auf einen Stuhl ab.
„Entschuldige! Ich habe eine Tablette genommen und gehofft, es würde aufhören, aber es tut jetzt noch mehr weh, als vor einer Stunde! Ich muss zum Notdienst! Sei nicht sauer, ja? Ich habe mich doch auch gefreut! Soll ich dich wenigstens hinfahren?“
„Nein! Dann bleib ich auch daheim! Alleine macht es doch gar keinen Spaß! Wenn Tanja nicht ausgerechnet heute babysitten müsste! Na ja, da kann man nichts machen!“ Doch, sie war sauer!
Kerstin konnte nichts dafür, aber ausgerechnet heute … Es war zum Mäusemelken.
„Du kennst doch jede Menge Kollegen! Es sind viele da, die wir kennen! Geh bitte hin, sonst hab ich ein schlechtes Gewissen!“, kniff sich die Freundin heraus.
„Wenn du Schmerzen hast, kannst du nichts dafür! Ich hab noch Zeit, es mir zu überlegen! Mach dir keinen Kopf wegen mir! Bis Montag dann und gute Besserung!“ Traurig legte sie das Telefon zur Seite.
Nun hatte sie sich seit Langem einmal wieder richtig toll gefühlt, mit ihrem neuen Aufzug. Es sollte wohl nicht sein, dass sie ihn zur Schau trug.
Sollte sie alleine hinfahren? Sie könnte einen Bus oder ein Taxi nehmen. Oder wäre es wirklich nicht unverschämt, wenn sie Richter Sanders anrufen würde? Sie fummelte sein Kärtchen aus ihrem Portemonnaie und starrte drauf. Dr. jur. Ralph Sanders --- sollte sie?
Würde sie sich trauen? Sie nahm den Hörer in die Hand. Nein, das ging nicht! Selbst wenn sie gewollt und sich getraut hätte: Er war nur bis neunzehn Uhr zuhause, wie er gesagt hatte. Es war bereits Viertel nach sieben.
Enttäuscht ließ sie sich in den Sessel plumpsen.
Sie zog sich aus und schlüpfte in ihre Schlabberklamotten, krümelte sich aufs Sofa und zappte unruhig durch die TV-Sender.
Nach einer guten halben Stunde fasste sie sich ein Herz und zog sich wieder an. Es ließ ihr keine Ruhe, dass dieser Ball gleich beginnen würde und sie sich hier einfach so hängen ließ.
Sie zog sich wieder an und bestellte ein Taxi.
Vor der Mehrzweckhalle, die eigens für diesen Ball gebucht worden war, suchte sie unsicher umher. Nun schien sie auch noch die Letzte zu sein. Draußen war niemand mehr und sie konnte durch die Glastüren sehen, dass sich aus der Lobby gerade noch vereinzelt Leute in den Saal begaben. Das war ja blöd! Das machte ein ausgezeichnetes Bild, wenn sie – wie die gefeierten Diven aus Film, Funk und Fernsehen – das Schlusslicht bildete und somit die Aufmerksamkeit auf sich zog. Das war weder ihre Art, noch war sie selbstbewusst genug, das durchzuziehen. Jetzt war einer dieser Momente erreicht, wo sie sich ein Stück von Kerstins Art an sich wünschte.
Es war schon fast halb neun. Um acht Uhr hatte der Ball offiziell begonnen. Sie – als alleinstehende junge Frau, voller Elan und ohne Kinder – brauchte länger, um sich aufzubrezeln, als schwer beschäftigte Anwalts- und Richtergattinnen, die vorher noch ein bis mehrere Kinder zu bekochen und ins Bett zu bringen hatten, die dafür Sorge tragen mussten, dass ein anständiger Babysitter da war, und die ihren Männern mindestens zur Hälfte einen Krawattenknoten zu binden vermochten.
Sie fühlte sich verloren und beschloss, das nächste Taxi anzuhalten, das vorbeikommen würde.
„Hallo! Das ist aber schön, dass Sie gekommen sind, Frau Degen! Haben Sie etwa so lange auf mich gewartet?“ Richter Sanders kam gehetzt. „Es tut mir unendlich leid, dass ich mich verspätet habe!“ Er trug einen dunklen Anzug und eine dunkle Krawatte aus Satin. Er war angezogen, als würde er zu seiner eigenen Hochzeit gehen, nur ein paar Jahre zu spät. Und das Bordeaux seiner Krawatte hatte so ganz zufällig den gleichen Ton wie ihr Kleid und der Nagellack.
Patricia bekam zuerst gar kein Wort heraus. Noch bevor sie reagieren konnte, hatte Sanders seine Hand an ihren Rücken gelegt und schob sie sachte zum Eingang.
„Ehrlich gesagt: Ich wollte gerade wieder gehen! Kerstin ist krank und ich war sowieso spät dran!“, murmelte sie unsicher.
„Na, dann bin ich ja gerade rechtzeitig aufgeschlagen.“
„Wenn man es so nennen will!“
„Ich wurde aufgehalten! Die liebe Verwandtschaft! Eine Tragödie jagt die nächste! Sie haben hoffentlich nicht vergeblich bei mir angerufen?“, schnatterte er außer Atem. „Ich musste etwas früher los, sorry!“
„Nein, ich habe nicht angerufen, trotzdem nochmal Danke für das Angebot! Es ist doch alles in Ordnung zuhause?“, interessierte sie sich. Wahrscheinlich war mit seiner Frau etwas, weil die offensichtlich nicht dabei war. Oder sie war schon drin.
„Zuhause ist alles bestens. Bei meinen Eltern war eine Sicherung rausgeflogen. Die älteren Herrschaften brauchen da ab und zu Hilfe und manchmal muss man sich dann eben losreißen, aber jetzt bin ich Gott sei Dank hier!“, sagte er fröhlich.
Er half ihr an der Garderobe aus ihrem schwarzen Mantel.
„Donnerwetter! Sie sehen bezaubernd aus!“, ließ er hören.
„Wer, ich?“ Hatte er sie gemeint?
„Natürlich! Sehen Sie hier noch jemanden?“, grinste er.
Tatsächlich! Außer ihnen war weit und breit niemand zu sehen, außer der Dame an der Garderobe und die war gerade verschwunden.
Das hatte noch kein einziger Kerl zu ihr gesagt. Weder einer der Jungs, die sie früher ab und zu hatte, noch Kai, hatten so etwas über die Lippen gebracht. Der einzige Mensch, der sie wohl schon immer hübsch fand, war ihr Vater.
Tja, Sanders war eben anständig und höflich, und er hatte eine hübsche Frau, der er ganz bestimmt ständig solche Komplimente machte.
Er bezahlte die Eintrittskarte für sie, bevor sie ihr Portemonnaie aus der Tasche kramen konnte. In diesem Ticket waren alle Speisen und Getränke beinhaltet.
„Danke!“, sagte sie erstaunt, weil der Herr am Pult auf Herrn Sanders wies, der zwei Karten in der Hand hielt und damit wedelte.
„Keine Ursache! Schließlich habe ich Sie regelrecht genötigt, herzukommen!“ Er gab ihr das Ticket. „Wir wollen außerdem nicht, dass Sie verhungern, oder?“
Als hätte sie die Karte nicht selbst zahlen können! War das eine indirekte Beleidigung? Ja, das war es!!! Oder? Wohl eher nicht. Er hatte sich nur sehr unglücklich ausgedrückt.
„Apropos Verhungern! Ich habe es heute wieder nicht geschafft, einzukaufen!“, berichtete sie und lenkte somit ein wenig von ihrer Unsicherheit ab, als sie gemeinsam den großen Saal betraten.
Sanders schüttelte amüsiert den Kopf: „Diese jungen Leute! Morgens nicht aus der Koje kommen und dann vergessen, lebenswichtige Dinge zu besorgen!“
„Na, gut, dass es Sie gibt, Herr Sanders!“ säuselte sie, weil sie den Saal betreten hatten.
Es fiel ganz und gar nicht auf, dass sie zu spät waren. Man stürmte gerade das üppig ausgestattete Buffet, und wenn die Leute mit Essenfassen beschäftigt waren, interessierte den Rest nicht mehr.
Eine Band spielte leise, swingende Musik.
Staatsanwalt Sewerin winkte Sanders zu sich hin. Patricia wollte erst gar nicht mit, sie hätte lieber Ausschau nach einer der anderen, jüngeren Kolleginnen gehalten, die sie kannte, aber der Richter schob sie sachte nach vorne: „Nach Ihnen! Jakob hat Plätze freigehalten!“
Ihr Herz schlug schneller. Sie kannte ja viele der Herrschaften, die an dieser Tafel saßen, an der sie beide gerade entlanggingen, aber manche eben nicht und auch die verfolgten sie mit Blicken.
Schnell war Ralph Sanders mit Bekannten im Gespräch. Er kam gar nicht dazu, sich erst einmal zu setzen.
Patricia ging zögernd weiter, auf den netten Jakob Sewerin zu, der wie ein Honigkuchenpferd grinste.
„Guten Abend, junge Frau! Wo sind denn die werten Kolleginnen?“, wollte er wissen. Wenigstens war er da. Ohne ihn wäre sie jetzt ganz aufgeschmissen gewesen.
„Die eine muss ihr Patenkindchen hüten und die andere hat Zahnschmerzen! Sie können leider nicht kommen!“, entschuldigte sie ihre Freundinnen, fast so, als könnte sie etwas dafür, dass sie alleine hier war.
„Ausgerechnet heute! So einen Abend muss man sich doch schon ein halbes Jahr vorher freihalten!“, schüttelte der Staatsanwalt den Kopf.
„Ich glaube nicht, dass Kerstin für heute Abend eine Verabredung mit ihrem Zahnarzt hatte!“, zuckte sie ihre bloßen Schultern.
Sewerin lachte herzlich. „Hier sind Plätze frei!“ Er zeigte auf die Stühle gegenüber. Neben ihm saß seine Frau und unterhielt sich mit wieder einer anderen Dame, bevor sie Patricia freundlich begrüßte.
„Frau Degen, wenn ich mich recht erinnere?“, lächelte sie und erhob sich sogar, um ihr die Hand zu reichen. Diese beiden passten zusammen, wie die Faust aufs Auge.
„Ja, das ist richtig, Frau Sewerin! Guten Abend!“ Patricia zeigte sich freundlich und erleichtert.
Na also! So schlimm war das doch hier gar nicht!
Sie ging um den noch leeren, hinteren Teil des langen Tisches herum und wollte gerade gegenüber vom Staatsanwalt Platz nehmen.
„Frau Degen?“, sagte jemand hinter ihr.
Sie wandte sich um. „Oh! Herr Liebherr! Wie schön, Sie zu sehen! Wie geht es Ihnen?“
„Mir geht es blendend! Wir haben uns wirklich ewig nicht mehr gesehen! Ach ja, die Rentner, nicht wahr? Wir haben nie Zeit! Nicht einmal, um sich um ihre Häuser und die Bewohner zu kümmern! Ich war lange krank, wissen Sie?“
„Ach? Das wusste ich gar nicht! Aber Sie sind wieder fit, wie ich sehe.“
„Ja, ich fühle mich wie ein neuer Mensch!“ Er freute sich sichtlich.
„In unserem Haus ist auch alles in Ordnung! Solange Sie nichts von uns hören, ist alles bestens! Seien Sie beruhigt!“, winkte Patricia ab.
„Natürlich! Aber demnächst werden wir uns öfter sehen. Ein paar Wohnungen stehen leer, die möchten renoviert und vermietet werden!“
„Das ist ja toll. Hoffentlich treffen sie gute Entscheidungen als meine neuen Nachbarn! Alles Gute!“
Herr Liebherr winkte ihr zu und war schon auf dem Weg zu jemand anderem: „Ihnen auch, Fräu'n Degen!“
„Von unseren Leuten müssten noch ein paar kommen!“ Herr Sewerin schaute sich um.
„Ein nettes Kleid, das sie da anhaben, Frau Degen! Steht Ihnen sehr gut!“ sagte Frau Sewerin fröhlich.
„Dankeschön! Es war gar nicht so einfach, etwas Passendes zu finden!“, tat Patricia geschäftig.
„Und so gut passend zur richterlichen Garderobe!“, setzte Herr Sewerin oben drauf, was Patricia zuerst stutzen ließ, dann schwante ihr, was er damit gemeint haben könnte, bevor sie puterrot im Gesicht wurde. Dachte dieser nette Staatsanwalt etwa, sie hätten die Farben ihrer Klamotten abgesprochen? Dachte er am Ende, sie hätte was mit Ralph Sanders?
Sewerin amüsierte sich und gab ihr mit der Hand ein Zeichen, dass es nur ein Scherz sein sollte.
Sanders plauderte mit einer sehr hübschen Frau, die Patricia nicht kannte. Seine eigene war es nicht, die hatte Patricia anders in Erinnerung. Er tat sehr vertraut mit ihr und das Gespräch hatte wohl einen witzigen Hintergrund, denn er schäkerte ausgelassen und er setzte sich sogar dazu, als ihn noch jemand am selben Tisch ansprach. Wahrscheinlich würde er dort sitzen bleiben.
Sewerins Kollegin, Ute Axauer, kam mit Rechtsanwalt Jost, dessen Frau und Frau Brückner, einer weiteren Staatsanwältin und deren Mann.
Du liebe Güte! Patricia fühlte sich jetzt erst richtig fehl am Platz, obwohl ihr alle die Hand gaben und sich freundlich zeigten. Wenn sie nicht im gleichen Moment Jakob Sewerin und seine Frau in ein Gespräch verwickelt hätten, wäre sie geflüchtet, doch so fühlte sie sich ein wenig besser im Kreise dieser Juristen, wo sie nur das fleißige Helferlein war und somit einfach nicht ebenbürtig. In so einem Moment merkte sie einmal mehr, dass sie diese Leute gar nicht einfach als Kollegen bezeichnen konnte. Irgendwie waren sie alle Vorgesetzte für sie.
Sie hörte hinter sich die markante Stimme von Richter Sanders. Er flachste mit Frau Axauer über die Band.
Patricias Herzschlag setzte kurz aus, um dann die verpassten Impulse umso schneller wieder nachzuholen.
„Na, alles klar? Wo bleibt denn Lukas?“, fragte Sewerin und begrüßte währenddessen Herrn Sanders per kräftigem Handschlag.
„Keine Ahnung! Er kommt bestimmt! Ich habe noch vorhin mit ihm telefoniert!“, rief Ralph über den Tisch.
Es gab noch ein paar Worte hin und her. Wenigstens war er jetzt hier, der wohl einzige Mensch, neben Sewerin und seiner Frau, mit dem sie wirklich etwas anfangen konnte. Notfalls hätte sie sich eben zum netten Herrn Liebherr gesetzt.
Ralph Sanders setzte sich neben Patricia, als wäre es das Normalste der Welt und als hätte es noch nie etwas anderes gegeben. Sie fand es nicht unhöflich von ihm, dass er nicht einmal fragte, ob sie etwas dagegen hätte. Jedem anderen hätte sie es sicher übel genommen.
„Was trinken Sie?“, erkundigte er sich bei ihr.
„Oh! Erst einmal nur Wasser! Die harten Sachen kommen später, nach dem Essen!“, kniff sie sich heraus, in der Hoffnung, dass er es nicht missverstand.
Er nickte, dann stand er wieder auf und ging weg.
Nach einer Weile, die Patricia damit zugebracht hatte, den anderen zuzuhören, wie sie über Dinge quatschten, die sie entweder nicht verstand oder die sie nicht interessierten, kam er zurück. Mit einem Wasser und einem Wein.
„Bitteschön, die Dame!“ Er stellte das Wasser vor ihr ab.
Patricia schlug sich innerlich an die Stirn und biss sich auf die Unterlippe. Sie gab sich in Gedanken selbst einen Tritt gegen das Schienbein und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe.
So etwas konnte nur ihr passieren. Sie war der Meinung, dass jemand kommen würde, um die Bestellung für die Getränke aufzunehmen. Eigentlich hätte sie vom letzten Jahr wissen müssen, dass man sich selbst um die Verköstigung kümmern musste. In den Jahren zuvor waren es Freiwillige gewesen, die tapfer die Gäste bedient hatten. Weil die von dem Abend allerdings so gut wie gar nichts hatten, organisierte man es anders.
Anstatt ihren Kopf zu bemühen, hatte sie ganz plump den Richter losgeschickt. War sie dämlich! So hatte sie bestimmt
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Colleen McCann
Bildmaterialien: Colleen McCann
Cover: Colleen McCann
Lektorat: Colleen McCann
Satz: Colleen McCann
Tag der Veröffentlichung: 23.12.2017
ISBN: 978-3-7438-4734-7
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