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Der Prager Frühling.

Mein Praktikum in Prag 1968.

 

Nach meinem Semester in Wien wollte ich mit meiner Wiener Clique zusammen ein Praktikum  in einem Prager Krankenhaus machen. Nachdem ich mir in meinem Heimatort Ladbergen Geld auf dem Bauernhof meines Freundes Gert Ehmann für einen gebrauchten Motorroller und für den Unterhalt in Prag verdient hatte, machte ich mich auf den Weg in die Tschechei. 100 DM hatte ich für die Vespa bezahlt, die viele Jahre unbenutzt in einem Schuppen eines Ladberger Bauern gestanden hatte. Sie fuhr maximal nicht mal 100 Km/h und entsprechend schnell kam ich voran. Während der Fahrt zur tschechischen Grenze war ich aufgeregt, denn Ich war noch nie alleine in einem kommunistischen Land gewesen.

An der Grenze musste ich einen Formularkrieg bewältigen, weil ich nicht alsTourist, sondern als Arbeitnehmer einreisen wollte. Als ich den hinter mir hatte, wollte ich weiterfahren und hinter der Grenzstation oben auf dem Berg in einer Staatsbank Geld tauschen. Aber da streikte mein Motorroller. Er wollte nicht mehr anspringen. In meiner Not schob ich das Ding mit Muskelkraft den Berg hinauf, das waren ca. 300-400 Meter. 

Als ich oben war, war ich fix und fertig. Ich hatte keine Vorstellungen, wie ich mit meinem Vehikel weiterkommen sollte, und machte mir über mein Fortkommen ernsthaft Sorgen. »Erst mal Geld tauschen, dann werde ich weitersehen«, versuchte ich mich zu beruhigen und ging in die Bank. In Gedanken immer noch mit dem Motorroller beschäftigt, legte ich den ganzen Betrag meiner sauer verdienten Kröten und mein Visum auf die Ablage des Schalters. Der Angestellte betrachtete zunächst das Visum, sah mich verwundert an und fragte, ob ich alles tauschen wolle. Ich bestätigte das. Er schaute mich noch einmal sehr intensiv an, als wolle er mir etwas signalisieren und stellte mir noch mal die gleiche Frage. Ich verstand nicht, was seine Reaktion bedeuten sollte und antwortete noch einmal, dass ich alles tauschen möchte, denn dann bräuchte ich in Prag nicht noch mal eine Bank aufsuchen, erklärte ich. Er schüttelte verwundert den Kopf und tauschte das Geld.

Der Motorroller sprang nach mehreren Versuchen nun doch an und so konnte ich meinen Weg nach Prag fortsetzen. Unterwegs dachte ich ständig darüber nach, weshalb der Beamte in der Bank sich so komisch verhalten hatte. Plötzlich traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag: Wegen meines Arbeitsvisums hätte ich gar keinen Pflichtumtausch machen müssen. Ich hätte 8-10mal so viel Geld bekommen, wenn ich das Geld schwarz in Prag auf der Straße umgetauscht hätte. Oh, war ich jetzt böse auf mich: »Typisch, etwas Stress und gleich verlierst du den Überblick«, schimpfte ich mit mir bis Prag.

In Prag wurden wir alle in einem Studentenheim untergebracht. Meine Freunde aus Wien, Marita, Elmar, Hartwig und Helmut waren schon da. Klaus hatte eine Praktikum in Bratislava angetreten und besuchte uns später hier in Prag. Wir waren alle Medizinstudenten und wurden gegenüber den Pragern Ärzten fürstlich bezahlt. Wir bekamen als ausländische Studenten für einen halben Tag Mitlaufen und Zusehen umgerechnet 800 DM im Monat, fast genauso viel wie ein tschechischer Arzt für ganztägige Arbeit im Monat verdiente. Ich fand es schon sehr erstaunlich, dass die Ärzte trotzdem so freundlich zu uns waren. Andererseits konnte ich mich wegen des vielen Geldes wieder etwas mit mir versöhnen.

Die folgenden 3 Wochen waren für uns aufregend. Wir sind offen und herzlich von den Pragern aufgenommen worden. Die Ärzte luden uns nach Hause ein, dort wurde viel gescherzt und diskutiert. Denn die älteren, über 40 Jahre, konnten alle deutsch, die jüngeren nicht, allenfalls ein bisschen Englisch. Also hatten wir den engeren Kontakt zu denen, die unsere Väter hätten sein können. Wir wurden auch eingeladen, um uns die Umgebung Prags zu zeigen. Manchmal traf man sich dann abends bei ihnen zu Hause, wo Geschichten erzählt, diskutiert und viel Bier getrunken wurde, das man in einer Glaskanne aus der nächsten Kneipe holte.

Die Arbeit im Krankenhaus bestand nach einigen Tagen nicht nur im Zuschauen, nein, die Ärzte waren uns Studenten gegenüber aufgeschlossen und gaben uns Möglichkeiten, ärztlich tätig zu werden. So habe ich in der Geburtshilfe unter der Aufsicht des Oberarztes 3 Babys zur Welt gebracht. Tagelang hatte ich mich auf jeden Handgriff vorbereitet, ich wusste so ziemlich alles, was man bei der Geburt eines Babys tun muss. Alles machte ich auch richtig. Als ich das Baby in der Hand hielt, war ich völlig fassungslos, stand mit der Kleinen in der Hand da und schaute hilflos mit Tränen in den Augen die um mich Herumstehenden an - mein Kopf war leer. Überwältigt von meinen Gefühlen hatte ich alles Angelesene vergessen. Erst die Stimme des Oberarztes brachte mich wieder zur Besinnung. »Nun machen Sie doch weiter. Sie haben bisher alles richtig gemacht, jetzt müssen Sie die Nabelschnur durchtrennen«. Ach ja, da fehlte ja noch etwas, was ich zu tun hatte. Jetzt konnte ich weiter machen. Als ich fertig war, war ich sehr stolz auf mich.

Nachmittags hatten wir Zeit für Besichtigungen in der Stadt. Abends besuchten wir Veranstaltungen, wie das berühmte »schwarze Theater« oder »Laterna magica«, manchmal auch Konzerte. Wir saßen mit Pragern in Kneipen zusammen und diskutierten über Politik und Kommunismus. Zu unseren Prager »Kneipen-Bekannten« zählten eine Reihe Berliner Studenten, die dem »SDS« (»Sozialistischer demokratischer Studentenbund«) angehörten. Die waren in politischen Diskussionen gut geschult, hatten aber gegen die erlebten Argumente der Prager keine Chance. Die alten Prager belächelten deren Gesinnung: »Schaut Euch den Mist an, der hier passiert ist. Jede Art von Kommunismus wird so enden, glaubt es uns«.

Mehrere Male in der Woche wurde von der Prager Bevölkerung demonstriert, um die Politik von Dubcek und Smirkowski zu unterstützen. Bei diesen Demonstrationen waren Menschen aus vielen Nationen vertreten. 2 Millionen Ausländer hielten sich zu diesem Zeitpunkt in Tschechien und Prag auf. Darunter waren Franzosen, Italiener, Spanier, Engländer, viele Amerikaner aber auch Polen, Ungarn und Russen. Von den 2 Millionen kamen 1 Million aus Deutschland, Ost und West gemischt. Man spürte täglich, dass man sich an einem Ort aufhielt, auf den die ganze Welt schaute. Da war auch ein stark erlebtes Gefühl von Solidarität, wenn man Schulter an Schulter mit den Tschechen, Slowaken und Pragern auf dem Altstädter Ring am Hutten-Denkmal oder auch anderswo stand und den Politikern zuhörte. Irgendwie befanden sich alle in einem Rausch, in dem Glauben, ab jetzt wird sich in Europa alles ändern. Und doch hatte man immer etwas Angst dabei, dass ganz plötzlich dieses Freiheitsgefühl gewaltsam beendet werden könnte. Diese Ereignisse und unsere Gefühle dabei hätten diese 3 Wochen schon zu einem unvergesslichen Erlebnis gemacht, wenn nicht noch das dicke Ende gekommen wäre.

Am 21. August um 1 Uhr nachts kehrten wir nach einer Kneipen-Diskussion  in das Studentenheim zurück und wunderten uns über die vielen Flugzeuge am Nachthimmel. Wir dachten uns aber nichts Böses dabei und gingen ins Bett.

Morgens um 6 Uhr stürmte Elmar in mein Zimmer: »Martin, steh auf, die Russen sind da«. »Du spinnst«, war meine Antwort, drehte mich um und schlief weiter. 20 Minuten später war Elmar wieder da: »Du musst es glauben, komm rüber, wir sitzen alle bei mir und beratschlagen, was wir jetzt tun sollen«. Er könnte recht haben, draußen hörte ich jetzt ein lautes Motorengeräusch. Das konnte von einem Panzer kommen. Ich schaute aus dem Fenster und tatsächlich unten fuhr ein Panzer mit Stern am Turm vorbei, eindeutig ein sowjetischer Panzer.

Schnell war ich angezogen und rannte zu Elmar rüber. Da saßen eine ganze Reihe von Studenten und Studentinnen, viele mit bleichem, ängstlichem Gesicht, einige Frauen hatten Tränen in den Augen. Fast alle wollten sofort nach Hause fahren. Sabine, Elmar und ich waren da anderer Meinung. Wir wollten unbedingt erfahren, was da in der Stadt passierte. Elmar und ich schlugen vor, dass wir beide uns auf den Weg machen, um die Situation unten auf der Straße zu erkunden. Die anderen wollten warten, bis wir zurück sind.

Wir machten eine große Runde durch die Innenstadt. Ganz Prag war auf den Beinen, selbst Frauen mit Kleinkindern auf dem Arm oder mit Kinderwagen waren auf der Straße, mit Sorgenfalten, aber ohne Zeichen einer sichtbaren Angst im Gesicht. Wenn die keine Angst haben, habe ich auch keine, beschloss ich und versuchte möglichst unbekümmert das Geschehen auf der Straße aufzunehmen.

Russische Lastwagen mit Soldaten auf der Ladefläche rasten durch die Stadt, bedacht, nicht anhalten zu müssen. Die vielen Menschen auf der Straße verunsicherten sie. Man sah Panzer, die vorsichtig durch die Straßen „schlichen“. An jeder Kreuzung hielten sie und peilten vorsichtig um die Ecke, der Turm drehte sich nach links und nach rechts, bevor sie weiterfuhren. Probleme hatten die Panzer mit einem Baggerfahrer, der durch die engen Gassen der Innenstadt fuhr und nach Panzern suchte. Sah er einen die Straße herunterkommen, stellte er seinen Bagger quer über die Straße, ließ den Schaufelarm herunter, so dass die Straße vollends unpassierbar  wurde, stieg aus, verschloss sorgfältig die Tür und verschwand. Die Panzerfahrer hatten wohl Anweisung, sich vorsichtig zu verhalten. So fuhren die Panzer bis zum Bagger, warteten einige Minuten in der Hoffnung, dass der die Straße bald freigeben würde. Als sie feststellen mussten, dass der Fahrer nicht da war, fuhren sie die Straße rückwärts bis zur nächsten Seitenstraße und bogen dort ab. Der Baggerfahrer, der alles genau aus sicherer Entfernung beobachtet hatte, kam dann zurück, schloss auf und machte sich auf die Suche nach dem nächsten Panzer.

Nach einem zweistündigen Rundgang kehrten wir ins Studentenheim zurück und berichteten beeindruckt von unseren Erlebnissen. Wir konnten einen kleinen Teil der Wartenden überzeugen, dass es nicht sehr gefährlich sei und dass selbst junge Frauen mit Kleinkindern auf dem Arm oder im Kinderwagen auf den Straßen seien. Marita, Hartwig, Helmut, Elmar und ich machten sich auf den Weg, um in dem deutschen Konsulat zu erfragen, wie wir uns zu verhalten hätten. Doch das Konsulat hatte geschlossen, draußen ein Schild mit der Aufschrift: »Bitte wenden Sie sich an die französische Botschaft«. Drinnen saß bestimmt ein Haufen von hochdotierten Beamten, die Angst hatten, einen Fehler zu machen, der ihrer Karriere hätte schaden können.

Auf zur französischen Botschaft, auch die war verschlossen. Doch da wurde von Zeit zu Zeit eine kopfgroße Klappe geöffnet und eine Stimme teilte uns mit, dass sie allen, auch uns Deutschen, zurzeit  keine Auskunft erteilen könne. Wir sollten am Nachmittag noch einmal wiederkommen.  Am Nachmittag kamen wir wieder und erhielten die gleiche Auskunft, kein Einlass, keine Frage wurde beantwortet. Helmut, Hartwig und Marita trennten sich jetzt von uns und gingen zum Studentenheim zurück. Elmar und ich blieben auf der Straße. Wir hatten keine Angst und wollten möglichst viel sehen.

Auf dem Wenzel Platz oben am Denkmal waren eine Menge Prager, die betrieben ein Spiel mit den russischen Lastwagen. Ich mischte mich unter die Leute und machte mit. Kam eine Kolonne Lastwagen auf die Menge zu, wurde zunächst Platz gemacht. Vier von fünf Lastwagen wurden durchgelassen, beim fünften sprangen alle auf die Straße, so dass der LKW-Fahrer anhalten musste und so von den anderen Wagen alleine gelassen wurde. Die Soldaten auf der Ladefläche des letzten Wagens bekamen Angst, sprangen auf und schossen eine Salve mit ihren Gewehren über die Köpfe der Menschenmenge. Wir warfen uns alle sofort flach auf die Straße. Die Fenster im ersten Stock der Häuser am Wenzel-Platz zerbarsten durch die Gewehrkugeln. Aber da waren wohl Büroräume und die waren leer, so dass niemand zu Schaden kam, soweit man das aus unserer Sicht beurteilen konnte. Ich spürte ein Hochgefühl in mir und war stolz auf mich, dass ich gewagt hatte, so etwas mitzumachen.

Nach einer Weile beschlossen Elmar und ich, in unser Krankenhaus zu gehen, um uns zu verabschieden. Unter diesen Umständen war an eine Fortsetzung der Famulatur nicht zu denken. Ärzte, Schwestern und Hebammen waren sehr interessiert zu erfahren, was da draußen auf den Straßen passierte. Wir berichteten über unsere Erlebnisse, besonders über die Geschichten mit den LKW am Wenzelplatz und dem Baggerfahrer. Mit der Übersetzung klappte das nicht. So versuchte ich mit Händen und Füßen das auszudrücken, was ich erlebt hatte. Dabei geriet ich immer mehr in Erregung, vielleicht auch deswegen, weil ich die ganze Aufmerksamkeit einer bildhübschen Hebamme genoss, auf die ich von Anfang an ein Auge geworfen hatte. Die hatte aber bisher nur Augen für einen unsympathischen russischen Arzt gehabt.

Plötzlich unterbrach sie mich und sagte etwas auf Slowakisch zu mir in einem unüberhörbaren scharfen Ton. Ich verstand nichts, nur das es nicht nett war. Unser Oberarzt übersetzte: »Wenn es um Krieg geht, brecht ihr Deutschen wohl immer in Begeisterungstürme aus«. Das traf mich, ich verstummte, drehte mich um und ging wie ein begossener Pudel ohne Gruß davon.

Elmar hatte genug gesehen und wollte zum Studentenheim zurück. Ich wollte weiterhin alles mitbekommen, was hier passierte. Der Frust der letzten halben Stunde war bald verflogen und das Hochgefühl im Bauch, unmittelbar an einem weltpolitischen Ereignis teilnehmen zu dürfen, kehrte zurück. Ich zog alleine weiter zum Rundfunkgebäude in der Vinohradska. Dort sollte sich das Zentrum des Prager Widerstandes befinden, hatte ich unterwegs aufgeschnappt. Als ich dort ankam, bot sich ein Bild der Verwüstung, oberhalb und unterhalb auf der Straße vor dem Rundfunkgebäude waren Straßenbarrikaden aufgebaut. Dazu hatten die Prager Pkws, Busse und auch eine oder zwei Straßenbahnen  umgeworfen. Die beiden Barrikaden bildeten mit den Häuserwänden einen Kessel, in dem sich zu der Zeit unserer Ankunft ca. 50 bis 100 Demonstranten befanden, die verhindern wollten, dass Soldaten in das Rundfunkgebäude eindrangen. Denn hier wurde noch von tschechischen Reportern der Welt berichtet, was in Prag passierte. Außerhalb des Kessels standen Panzer der Russen und russische Soldaten.

Durch das gerade Erlebte wollte ich noch mehr die Prager bei ihrem Widerstand unterstützen. Da auch Frauen mit Kleinkindern und Kinderwagen seitlich auf den Bürgersteigen zuschauten, konnte es wohl nicht so gefährlich sein. Es gelang mir, mich durch eine Lücke in einer Barrikade zu den Demonstranten zu gesellen. Ich war nicht der Einzige, der diesen Weg wählte. Kaum war ich bei ihnen, kletterten russische Soldaten mit Gewehren vor der Brust über die Barrieren und marschierten in breiter Front auf uns zu. Sie wollten verhindern, dass sich hier noch mehr Demonstranten versammelten. Einen Augenblick lang wollte ich weglaufen, aber als ich sah, dass die Prager Demonstranten nicht an Flucht dachten, blieb ich stehen. Selbst als die Soldaten so nah waren, dass sie meinen Arm streiften, fühlte ich mich verpflichtet zu bleiben. »Wenn du jetzt wegläufst, wirst du dir ein Leben lang als ein Feigling vorkommen«, waren meine Gedanken.

Als die Soldaten auf die Menschenmenge in dem Kessel trafen, schlüpften die Demonstranten durch die Reihen der Soldaten, um sich hinter ihnen wieder zu versammeln. An der Barriere hielten die Russen an, drehten sich auf Befehl um und kamen wieder auf uns zu. Dieses Spiel wiederholte sich mehrere Male. Als die Offiziere sahen, dass ihre Manöver zu keinem Erfolg führten, wurden ihre Befehle aggressiver. Als die Soldaten und Demonstranten wieder aufeinanderstießen, wurden die Gewehre entsichert, geladen und in die Luft geschossen. Einige Kugeln klatschten gegen die Oberleitungen der Straßenbahn und viele gegen die Häuserwände der obersten Stockwerke. Dort lehnten sich Menschen aus den Fenstern und schauten dem Treiben auf der Straße gelassen zu. Sie bemerkten wegen des Krachs das Einschlagen der Kugeln in ihrer unmittelbaren Nähe nicht. Es ist da wohl niemand zu Schaden gekommen. Kaum zu glauben. Jetzt verließen die Frauen mit ihren Kindern die Szene. Ich dachte immer noch nicht ans Weglaufen, vergewisserte mich aber stets, dass genügend Prager um mich herum waren. Es war der starke Wille der Prager, hier Widerstand zu leisten, den ich gespürt habe und der mich mitgerissen hat. Auch diese Manöver der Russen blieben wirkungslos.

Nach einer Gewehrsalve fielen die beschädigten Oberleitungen der Straßenbahnen auf die Straße. Funken sprühten, als sie Kontakt mit dem Schienen bekamen. Keiner der Demonstranten aus dem Kessel dachte daran, wegzulaufen. Danach passierte längere Zeit nichts, gespannte Ruhe, und ich spürte immer noch keine Angst in mir. Alle Demonstranten fühlten sich gemeinsam stark in dem Kessel. Wir hatten viele Soldaten ausgetrickst. 

Jetzt wurden die Motoren der Panzer angelassen, eine Weile bewegten sie sich nicht, bis sie in Begleitung von Soldaten, die ihre Gewehre quer vor der Brust hielten, auf die Barrikaden zurollten und Autos, Busse, Straßenbahnen auf eine Höhe von 40-50 cm plattwalzten. Nachdem sie die Barrikaden überwunden hatten, rollten die Panzer ganz langsam auf uns zu. Einen kurzen Augenblick dachte ich an Flucht, aber da keiner floh, blieb auch ich stehen, wobei ich mich stets vergewisserte, dass genügend Leute in meiner Nähe waren. Als sie unmittelbar vor uns waren, machten wir den Panzern und Soldaten Platz, so dass sie ungehindert an uns vorbei fahren, bzw. marschieren konnten. Hinter ihnen vereinten uns wieder. Die Aktionen wiederholten sich, ohne dass die Soldaten uns Demonstranten vertreiben konnten.

Hinten über dem Motorraum der Panzer waren Dieselfässer festgezurrt, auf denen die Embleme der Waffen-SS noch zu erkennen waren. Einer der Demonstranten erkannte, dass die Fässer ein wunder Punkt der Panzer waren. Mit einem Stein in der Hand sprang er auf den hinteren Teil des Fahrzeugs und schlug mit dem Stein ein Loch in ein Fass. Als das Dieselöl auslief, reichte ihm ein zweiter eine brennende Zeitung, der ausfließende Dieselkraftstoff fing Feuer und lief in den Motorraum des Panzers. »Wie kann man nur so blöd sein! Jetzt kämpfen die Soldaten im Panzer um ihr Leben«, schoss es mir durch den Kopf, »die werden sich jetzt mit allem wehren, was sie haben«. Ich rannte weg, so schnell ich konnte. Als ich ca. 100 m weit und um eine Ecke gerannt war, hörte ich Schüsse: eine Maschinengewehr-Salve. Es starben 13 Menschen, habe ich hinterher in der Zeitung gelesen. 

Ich ging zum Wenzel-Platz. Wenn ich zurück in Richtung Rundfunkgebäude schaute, stieg da eine schwarze Rauchwolke zum Himmel. Kam das aus dem Panzer oder aus dem Rundfunkgebäude?

Die Schwachstellen der Panzer waren die SS-Fässer über ihren Motorhauben. Das hatte sich wohl unter den Demonstranten herumgesprochen. Auf dem Wenzel-Platz sah ich einen Panzer mit einem brennenden Dieselfass hinten drauf. Der konnte nicht mehr anhalten, denn das in Flammen stehende Fass lag zwar hinter, aber auch etwas oberhalb der Lüftungsschlitze des Motorraums. Solange der Panzer fuhr, tropfte und floss der brennende Kraftstoff auf die Straße. Da ein Panzer nur abrupt anhalten kann, wäre dabei das brennende Dieselöl nach vorne geschwappt und hätte den Motorraum angezündet. So drehte dieser Panzer einsam Runde für Runde um den halben Wenzel-Platz herum, ohne anhalten zu können.

Am unteren Teil des Wenzel-Platzes diskutierte ein tschechischer Offizier mit einigen Deutschen. Ich gesellte mich dazu. Er sprach fließend Deutsch und weinte: »Die ganze Welt sieht zu, was hier in Prag passiert und keiner hilft uns. Ihr seid Deutsche, ihr seid in der Nato, ihr könnt uns helfen, und wenn die Nato nicht will, schickt eure Soldaten, zusammen mit euch werden wir die Russen vertreiben. Fahrt nach Hause und erzählt euren Politikern, was hier passiert. Ihr müsst sie überzeugen, ihr müsst alles erzählen, alles. Eure Soldaten müssen kommen, sofort!«.

Irgendwie fühlte ich mich als Deutscher geehrt, dass ein Tscheche dessen Eltern die vielen Ungerechtigkeiten und Schandtaten des Dritten Reiches hatten ertragen müssen, jetzt einen Deutschen bat, ihm zu helfen. Ich versuchte ihm zu erklären, dass die Nato mit der Erfüllung seines Wunsches einen 3. Weltkrieg riskiere. Deutschland sei ein kleines Land, das auf keinen Fall Feind der großen Sowjetunion sein könne und schon gar nicht in der Lage wäre, hier Hilfe zu leisten. Der Offizier glaubte meinen Worten nicht, unter Tränen stammelte er immer wieder: »Fahrt nach Hause und schickt Hilfe, bitte«.

Erschüttert und traurig wanderte ich in der Dämmerung zurück zum Studentenheim. Ich kam am Kessel vor dem Rundfunkgebäude vorbei. Die Demonstranten waren weg.. Es bot sich das Bild der totalen Verwüstung, beide Barrikaden waren platt gewalzt, die Oberleitungen der Straßenbahn lagen auf der Straße, das Rundfunkgebäude war ausgebrannt. Später erfuhr ich, als die Panzer vorne agierten, hatten sie die ganze Aufmerksamkeit der Demonstranten

auf sich gezogen. Von der Hinterseite des Gebäudes hatte zur gleichen Zeit eine russische Eliteeinheit das Gebäude erobert. Denn die Insassen hatten während der Besetzung ständig Notrufe und Berichte in die Welt gesendet. Die tschechischen Redakteure hatten es verstanden, trotz der Besetzung des Gebäudes weiter zu senden. Zwar hatten die Russen den Strom abgestellt, aber es wurden laufend Batterien in das Gebäude geschmuggelt, so dass die Tschechen solange weiter senden konnten, bis das Gebäude in Brand gesteckt wurde.

Ein Stück weiter bog ich in die Seitenstraße ein, in die ich vorher bei den Schüssen geflüchtet war. Ich blieb überrascht stehen. Der Panzer, der angezündet worden war, stand hier in einer fast unbeleuchteten Straße vor mir.  Bei schwacher Beleuchtung ein ausgebrannter Panzer mit grüner abgeblätterter Farbe und einer schwachen aufsteigenden schwarzen Rauchfahne aus dem Motorraum. Ein einziger Mensch hatte nur mit einem Stein in der Hand bewaffnet dieses vielfach überlegende Monster erledigt, heldenhafte Idiotie: Dreizehn Menschen haben dafür sterben müssen und es hatte nichts bewirkt. Den Rest des Weges legte ich tief in Gedanken versunken zurück.

Am nächsten Morgen wieder ein Treffen aller deutschen Studenten im Studentenheim. Kurze Diskussion, Abstimmung: Außer Sabine und mir wollten alle nach Hause. Ich hatte nur den Motorroller, zu klein für zwei Personen mit Gepäck. Also mussten auch wir packen. Auf der Straße, als ich den Motorroller bepackte, sprach mich ein junger Prager an und steckte mir einen unentwickelten Film zu. Ich sollte ihn herausschmuggeln und in möglichst vielen Zeitungen, vor allem aber im Münchener Merkur veröffentlichen. Dort kenne man ihn. Ich versteckte den Film in der Lampe des Motorrollers.

In einer Kolonne fuhren wir los. An der Grenze wurden wir nicht kontrolliert. Nach der Grenze teilte sich die Kolonne auf, jeder fuhr den direkten Weg nach Hause. Sabine und ein anderer Student mussten Richtung Kassel, ich auch. In jeder größeren Stadt klingelten wir zusammen die Zeitungsredakteure aus dem Bett und erzählten ihnen von unseren Erlebnissen und von unserem Film. Sofort wurde der Film entwickelt und begutachtet.

Die Augen der Redakteure waren gierig, ich ein schlechter Verhandlungspartner und mir gar nicht bewusst, welchen Schatz ich da in den Händen hielt. Für drei oder vier Erlebnisberichte mit Bildern in entsprechend vielen Zeitungen erhielt ich 500 DM. Daraus hätte ich viel mehr machen können. Erst etwas später wurde mir das bewusst, als ich die Ausgaben der großen Zeitschriften wie Stern, Bunte, usw. gelesen hatte.

Dieser Film war wahrscheinlich der Erste, der nach Deutschland gelangt war. Ich hätte damit wesentlich mehr Geld verdienen können und der Urheber des Films auch. Allerdings waren die Bilder nicht so toll und zeigten nichts von den dramatischen Szenen, die sich vor allem vor dem Rundfunkgebäude abgespielt hatten. Der Eigentümer des Films hatte gesagt, dass er beim »Münchener Merkur« bekannt sei. Als ich zwei Tage später zu Hause war, rief ich dort an. Aber den Namen des Fotografen kannte dort niemand und ein Interesse an den Bildern bestand auch nicht.

Mein wortloser Abschied von den liebenswürdigen Prager Ärzten tat mir mit einem zeitlichen Abstand zu den Ereignissen dann doch leid. Ich habe mich hingesetzt und habe stellvertretend an den Oberarzt und alle seine Kollegen und Schwestern einen langen Brief geschrieben und mich für die schöne Zeit bedankt. Als Antwort erhielt ich, dass es dem Personal im Kreißsaal insgesamt auch sehr viel Spaß gemacht habe und man sich gerne an die Zeit zurück erinnere.

Für die Tschechoslowakei brach eine dunkle Zeit an, es folgten massenhafte Verhaftungen, politische Prozesse, Bespitzelungen der Menschen durch die Geheimdienste, Zensur der Presse, Besetzung des Landes durch russisches Militär (war vor 1968 nicht). Jahre später bin ich mehrere Male in Prag gewesen, da war nichts, gar nichts mehr von der Aufbruchsstimmung von 1968 zu spüren. Bei einem Besuch etwa 1973  lernten wir zwei tschechische Akademiker kennen, die 1968 sich aktiv für eine Demokratisierung des Landes eingesetzt hatten. Beide sind zu einer Haftstraße verurteilt worden und bekamen Berufsverbot. Jetzt durften sie mit einer Schippe in der Hand als Hilfsarbeiter beim Bau der U-Bahn ihren Lebensunterhalt verdienen.

Ungewollt und rein zufällig waren meine Frau Monika und ich am 21. August 2008 in Prag, genau am 40. Jahrestag des Einmarsches. Da herrschte endlich wieder eine Stimmung in der Stadt, der der von 1968 etwa glich. Aber das Rundfunkgebäude war immer noch nicht wieder aufgebaut.

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 11.05.2013

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