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Die Kaserne In Norddeutschland

Stimmung und Umgangston

 

Mein Vater war gern beim Militär gewesen. Wenn er über seine Erfahrungen erzählte, hörte sich das in meinen Ohren wie ein großes, spannendes Abenteuer an, bei dem zahlreiche interessante »Spiele« ausprobiert wurden. Vom militärischen Drill sprach er kaum. Deswegen hatte ich gegen eine Einberufung zum Wehrdienst nichts. Denn neben dem »Spielen« erhoffte ich mir, unter kompetenter Aufsicht viel Sport machen zu können. 

Nach einer 14-stündigen Fahrt zu unserem Standort, zunächst mit der Bahn, danach auf Lastwagen,  lagen die Nerven blank, als wir in der Kaserne ankamen. Die Fahrt dauerte so lange, weil alles schlecht organisiert war. Überall blieb der Zug stehen und wartete auf etwas, was nicht kam. 

Nachts um 24:00 Uhr erreichten wir die Kaserne und wurden ohne ersichtlichen Grund angeschrien und beschimpft. »Wir werden Ihnen schon Beine machen«, »Seien Sie nicht so lahmarschig«, »Sie lahme Ente, wir werden Ihnen schon die Flötentöne beibringen«, usw. Das Gebrüll schien mir mehr der Befriedigung der Unteroffiziere und Gefreiten zu dienen, als dass es einen Sinn hatte. Nach 10 Minuten hatte ich die Nase voll von dem Verein und wollte nach Hause. Mir war klar, ich war bei einem Haufen »Kleingeister« gelandet, der seine Minderwertigkeitsgefühle auf Kosten ihrer Untergebenen kompensieren musste. Das kann ja heiter werden, dachte ich.

Dieses Gefühl verstärkte sich, je länger ich dort war. Der größte Teil unserer Ausbildung bestand im sog. Formaldienst: Strammstehen, im Gleichschritt marschieren, »Rechts herum, marsch«, In Reihe aufstellen, Rühren, usw. Für mich unsinnige Dinge. Aber laut Kommentar eines Leutnants wollte man so unsere »Charaktere brechen, um sie wieder aufzubauen« (wörtliches Zitat). Hatte ich einen Zeitsprung ins »Dritte Reich« gemacht? Dazu mussten wir Lieder wie: »Kleine Me 109« und andere Lieder aus dem Zweiten Weltkrieg singen, in denen Flugzeuge oder irgendwelche Panzer aus Nazi-Deutschland verehrt wurden.

Selten ging es ins Gelände. Wenn das passierte, wurde es hart. Mit Gepäck auf dem Rücken und Gasmaske auf dem Gesicht scheuchte man uns so lange, bis die Ersten umfielen. Das beeindruckte unsere Vorgesetzten nicht. Selbst mir, der gut durchtrainiert war, wurde bei einer extrem langen Strecke, die wir robbend zu überwinden hatten, schwarz vor den Augen.

Am nächsten Tag waren alle Soldaten wieder dabei, ohne dass ein Arzt die Kranken gesehen hatte. Unseren Kommandeur interessierte die Gesundheit seiner Untergebenen nicht. Er war ein ehrgeiziger Mann. Für eine steile Karriere war er zu alt. Trotzdem wollte er keine der noch verbleibenden Möglichkeiten aufzusteigen, ungenutzt lassen und machte dabei einen schweren Fehler. Er vergaß, uns während des Grundwehrdienstes ärztlich untersuchen zu lassen, was seine Pflicht gewesen wäre. Er fand das überflüssig oder hatte es vergessen.

Einer von uns war schwer herzkrank. Er war ein paarmal bei den extremen körperlichen Anstrengungen bewusstlos umgefallen. Keinen unserer Vorgesetzten interessierte das. Als wir erst nach 6 Monaten in einer anderen Kaserne auf Wehrtauglichkeit überprüft wurden, erkannte der Arzt, dass hier ein schwer kranker Soldat vor ihm stand, der ständig in Lebensgefahr geschwebt hatte. Er schickte ihn nach Hause. Da hatte er aber bereits die komplette Grundausbildung hinter sich. 

Der Herr Major soll eine Laufbahnsperre bekommen haben und auf eine Raketenabwehrstation versetzt worden sein, haben wir später gehört. Nur ein Gerücht? Aber bis dahin hatten wir noch eine Menge Ärger mit ihm.

 

Der Vierzig-km-Marsch

Unser Zug - speziell unsere Gruppe - war das »Rote Tuch« des besagten Kompaniechefs. Er meckerte ständig mit ums herum und strich uns oft die freien Wochenenden. Angeblich war unser Fähnrich das Problem, den könne er nicht leiden, hieß es. Aber es kam der Tag, an dem wir zeigen konnten, was in uns steckte.  Ein 40-KM-Marsch mit Übungen und Prüfungen im Gelände war angesetzt. Auf unserem Weg hatten wir alle möglichen Aufgaben zu erledigen, wobei uns die Vorgesetzten  Steine in den Weg legten. Es kam darauf an, anhand von Karten, Geländebeobachtungen und Kompass den schnellsten und kürzesten Weg zu finden, ohne sich zu verirren. Unterwegs mussten verschiedene Aufgaben gelöst werden. Unsere Gruppe teilte die Aufgaben unter den Beteiligten auf. Die Kräftigsten mussten den Schwächeren beim Tragen des Gepäcks helfen. Es wurden die besten Schützen, die besten Kletterer zusammengestellt, die gut robben, die schnell laufen konnten. Es bekam fast jeder eine Aufgabe. 

Ich war für die Orientierung zuständig, denn das konnte ich gut. Ich erkannte, dass man uns mit der eingezeichneten Route ständig Fallen gestellt hatte, so dass wir uns zu verirren drohten. Aber so leicht konnte man uns nicht hereinlegen. Einmal erkannte ich eine Abkürzung, die wir nutzten und viel Zeit gewannen. Zwischendurch neue Aufgaben. Robben auf Zeit, Schießen, Klettern, Rennen mit Gepäck, schwieriges Gelände ungesehen Durchqueren: das Übungsgelände mit alten Bombentrichtern, einer neben dem anderen. Am Ziel lagen die Offiziere und Unteroffiziere im hohen Gras und registrierten alle Soldaten, die sie sahen. Alle robbten direkt auf die Offiziere zu, auch unsere Gruppe. Die Vorgesetzten konzentrierten ihre Blickrichtung nach vorne. Ich entdeckte einen Graben, der nach rechts führte. Den lief ich etwa 50 m entlang und befand mich außerhalb des Blickfeldes der »Jury«. Hinter Büschen und durch mehrere dicht beieinander liegende Bombenlöcher gelang es mir, ungesehen hinter die Jury zu gelangen. Selbst als ich ihre Schuhe hätte berühren können, nahmen sie mich nicht wahr. Sie lachten, kicherten und stießen sich gegenseitig die Ellenbogen in die Seite, wenn sie vor sich einen ungeschickten Soldaten erkannten. Triumphierend erhob ich mich und sagte gelassen, ja verächtlich: »Hände hoch«. Alle zuckten erschreckt zusammen. Einige Sekunden peinliches Schweigen. Dann befahl man mir, ich solle verschwinden, denn ich würde ihre Lage verraten. Dabei hatte ich die »Jury« auf meiner Tour ständig im Auge gehabt. 

Ein unwahrscheinliches Glück hatten wir bei der Überquerung einer Brücke über einen Kanal. Auf der anderen Seite lag eine Jury und »beschoss« uns, sobald wir uns der Brücke näherten. Was tun? Eine Stunde überlegten wir, wie wir das Problem lösen können: Holz suchen und Floß für das Gepäck bauen? Etwas Besseres fiel uns zunächst nicht ein. Ein LKW mit leerer Ladefläche brachte die Lösung. Wir hielten den Fahrer außerhalb des Blickfeldes der Jury an und fragten, ob er uns auf seinem Fahrzeug mitnehmen könne. Wir erklärten ihm, was wir vorhatten. An seinem Gesicht sah man, dass er unser Vorhaben als interessante Abwechslung empfand. Hinter der Brücke konnten wir von oben sehen, wo der Gegner lag und dass die Offiziere und Unteroffiziere den LKW nicht beachteten, sondern ihren Blick ausschließlich auf die Brücke gerichtet hatten. Hinter dem »Feind« sprangen alle gleichzeitig vom LKW, nahmen das Gewehr im Anschlag und schrien: »Hände hoch«. Alle Offiziere erschraken. Keiner von ihnen hatte damit gerechnet, dass wir auf dem LKW lagen. 

Unsere Gruppe gewann den Wettbewerb zum Ärger des Kompaniechefs. Als Belohnung bekamen einen ganzen Tag frei. Dass er uns das nicht gönnte, sah man ihm an und er erwähnte in seiner Rede, dass er mit diesem Ergebnis nicht gerechnet hatte. Bis zum Ende des Grundwehrdienstes behandelte er unsere Gruppe mit mehr Respekt und wir waren nicht mehr die »schwarzen Schafe der Kompanie«.

 

Die Kaserne in Süddeutschland

Nazi-Methoden: Hier gab es einen jungen, arroganten und gescheiterten Leutnant (der durch die Pilotenprüfung gefallen war), Unteroffiziere, die das Wort Abitur nicht aussprechen konnten, es »Abur« nannten und Gefreite, denen wir intellektuell überlegen waren. Was passiert in einem solchen Fall? Es kam zu einem Machtkampf zwischen den Soldaten und den Vorgesetzten. Gescheite Offiziere hätten das wissen müssen. 

Wir wurden ausgesucht einen General zu verabschieden. Dazu sollten wir im Gleichschritt-Marschieren und "Griffekloppen" üben. 120 Soldaten standen in Reih und Glied mit einem alten Karabiner auf der Schulter vor einem Unteroffizier, der Kommandos erteilte, z. B. den Befehl: "Das Gewehr absetzen".  Jetzt sollten alle Soldaten mit einer vorher festgelegten Grifffolge gleichzeitig das Gewehr abstellen, so dass der Kolben neben dem rechten Fuß auf dem Boden knallte und das Gewehr am Lauf mit der rechten Hand leicht nach außen zeigend festgehalten wurde. "Das Gewehr aufnehmen" bedeutete, mit der umgekehrten Grifffolge wurde das Gewehr wieder auf die Schulter gehängt. Eine ungewöhnlich geistloses Unterfangen und das mit Abiturienten, das tage- und stundenlang immer wieder geübt wurde. Nach ein paar Tagen fingen wir an, Quatsch zu machen. Der Nachbar bekam den Kolben auf den Fuß und schrie laut: "Aua". 120 Soldaten lachten. Oder 120 Gewehre knallten gleichzeitig auf den Boden mit nur einem Nachzügler eine halbe Sekunde später oder ein gelockertes Magazin polterte im Nachhinein auf den Asphalt. Oder 120 Soldaten marschierten im Gleichschritt die "kleine Me 109" singend durch die Kaserne. Aus der mittleren Reihe des 1. Zuges brach ein Soldat aus und rannte durch die Reihen auf den Unteroffizier zu. 120 Soldaten stolperten, weil fast jeder irgendjemanden in die Hacken trat. Als der Ausbrecher meldete: "Herr Unteroffizier, ich muss sofort auf die Toilette, sonst mache ich mir in die Hose" brüllendes Gelächter der ganzen Kompanie.

Dem wachsenden Druck waren die Gefreiten und Unteroffiziere auf Dauer nicht gewachsen und fingen an, uns zu beschimpfen: "Ihr seid zu doof zu marschieren und Ihr wollt Abur haben?" war der oft verwendete Spruch eines Feldwebels. "Sie Arschloch" war dann die nächste Steigerung. Als dann die Ausdrücke "Du Judenschwein" und Ähnliches fiel, meldete das jemand dem Wehrbeauftragten. Der reagierte sofort mit einer Befragung und der betreffende Unteroffizier wurde aus der Bundeswehr ausgeschlossen.

Maskenball, ein beliebtes Spiel der unteren Dienstgrade, um uns zu ärgern und um Macht zu demonstrieren: Die gesamte Kompanie musste unten vor dem Gebäude antreten. Kam der Befehl »Blau-Zeug«, rannten alle nach oben auf die Buden, um die Ausgeh-Uniform anzuziehen, dabei durften Bindfaden, Messer, schwarze Handschuhe, Bleistift und Kamm nicht vergessen werden. Hieß es »Grünzeug«, rannten wir wieder in den zweiten Stock, um die Arbeitsuniform anzuziehen, einschließlich graue Handschuhe, Kamm, Bleistift, usw.. Hieß es »Kampfanzug«, mussten wir wieder nach oben, um die entsprechende Uniform anzuziehen, einschließlich der grauen Handschuhe, Kamm, usw. 

Das wiederholte sich, so oft die Vorgesetzten dazu Lust hatten. Jeweils die letzten drei Soldaten während eines Durchganges bekamen Wochenendsperre. Da ich ständig den Kamm oder den Bleistift in der Hast vergaß oder verlor und eigentlich mich über diesen Blödsinn ärgerte, hatte ich selten ein Wochenende frei.

Nach 3 Wochen in einer neuen Kaserne und wiederholtem „Maskenball“ weigerte sich ein Soldat, die richtigen Handschuhe zu holen, mit der Bemerkung: »Das ist mir zu blöd. Was hat diese Übung für einen Sinn?« Die Antwort war ein hysterisches Geschrei eines Gefreiten: »Ob das Sinn hat oder nicht, hat Sie nicht zu interessieren. Sie haben hier Befehle auszuführen. Und wenn Sie nicht sofort nach oben gehen, lasse ich Sie einsperren«.

Alles Schimpfen und Toben und Zureden der anderen Vorgesetzten nutzte nichts. Der Soldat rührte sich nicht von der Stelle. Auch als die Feldjäger kamen, verlor er nicht die Fassung. Er saß eine Nacht »Im Bau«. Am nächsten Morgen holte ihn unser Kompaniechef, ein von uns geachteter Mann, der nur mit Bürokram beschäftigt war, persönlich aus dem Gefängnis. Damit blamierte er seine Offiziere und Unteroffiziere schwer, die aber nichts daraus lernten.

 Die Kontrollen: Jeden Freitag Zittern um das Wochenende: Stubenkontrolle auf Sauberkeit und Ordnung. Jeder von uns hatte in ein paar Unterhosen, -hemden und Oberhemden innen mit Papier oder Pappe versehen, um sie ordentlicher zusammenlegen zu können. Diese Kleidungsstücke habe ich das ganze Jahr nicht getragen und sie lagen in vorderster Reihe in den Schrankfächern. Wie es dahinter aussah, interessierte niemanden. Wenn irgendetwas nicht in Ordnung war, wurde der Schrank von den Unteroffizieren nach vorne gekippt, bis alles herausfiel. Zwei Stunden später wurde die Kontrolle wiederholt.  

Die Kontrolle des Schuhwerks und des Gewehrs erfolgte auf dem Hof, ein alter Karabiner aus dem 2. Weltkrieg, genannt „Kanacken-Elli“. Das Gewehr musste entfettet werden. Dann kamen die Vorgesetzten mit Stecknadeln und prüften, ob in den Ritzen des Gewehrs noch Fettreste oder in den Löchern der Schuhlauffläche, dort wo die Nägel eingelassen sind, noch kleine Steine zu finden waren. Wurde bei einem Soldaten etwas gefunden, war das Wochenende gestrichen. Er bekam irgendeinen Dienst »aufgebrummt«. Es erwischte mich oft, meistens wegen irgendwelcher Fettreste in einer Ritze. Später bin ich mit dem Gewehr unter die Dusche gegangen und habe es mit Wasser und Seife abgeschrubbt. Das war verboten und bestimmt nicht gut für das Gewehr, mir war das egal. Als während der Offiziersschule das Gewehr lange nicht gebraucht wurde und  ich es danach abgeben musste, hatte es überall Rost angesetzt, vor allem der Lauf innen war total verrostet. Ich rechnete mit großem Ärger, aber unkontrolliert wurde es in eine große Kiste geworfen. Mit uns hatte die „Kanacken-Elli“ ausgedient, danach wurde das halbautomatische Gewehr namens G1 oder G3 eingeführt. 

Einmal hatte ich mitten in der Nacht Wache am Nordtor der Kaserne bei dichtem Schneetreiben. Kauze und Eulen kreisten über dem unbeleuchteten Flugplatz. Der heftige Schneefall war so überraschend gekommen, dass die Mäuse nicht mehr rechtzeitig ihre Löcher gefunden hatten. Jetzt irrten sie hilflos über den Schnee. Die Vögel waren wie irre, oft musste ich den Kopf einziehen, sonst wäre ein Vogel gegen meinen Helm geflogen. Aus Langeweile fing ich 4 Mäuse, steckte sie mit in die Tasche und nahm sie mit auf die Bude. 

Am nächsten Tag besorgte ich mir einen Pappkarton, setzte die Mäuse da hinein und schob den Karton unters Bett. Die anderen Budengenossen waren damit einverstanden. Was würde die Stubenkontrolle dazu sagen? Ich war an diesem Freitag aufgeregt, als sie kam. Ich rechnete mit einem Riesenkrach und Strafdiensten. Aber das Gegenteil war der Fall, die Unteroffiziere und Gefreiten waren begeistert von dieser Idee, versuchten die Mäuse zu fangen, nahmen sie auf die Hand und streichelten sie. An den folgenden Freitagen brachten sie Futter mit und amüsierten sich mit den kleinen Tieren. Fortan gab es bei uns keine richtige Stubenkontrolle mehr.

Die Offiziersschule

Wir waren alle Wehrpflichtige, aber Offiziersanwärter. Das ist ungewöhnlich. Die Bundeswehr brauchte dringend Ärzte. Die fehlenden 6 Monate des gewöhnlich 18-monatigen Wehrdienstes sollten wir nach dem Studium als ausgebildete Ärzte mit Offiziersrang ableisten. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt innerlich mit dem Militär abgeschlossen. Es interessierte mich nicht mehr. Theater, Opern und Konzerte besuchte ich so oft es ging. Als ich im Unterricht einen Vortrag über innere Führung halten sollte, wurde das eine Katastrophe. Ich hatte in der Bibliothek ein veraltetes Buch erwischt, das keine Gültigkeit mehr hatte. Ich bekam eine »5«. Ich hatte somit die Offiziersschule nicht bestanden. Das war mir egal, obwohl damit ich der Einzige war, der durchzufallen drohte. Alle anderen gaben sich weiterhin Mühe, gute Noten zu bekommen.

 

Wehrübung auf der Alm und die Konsequenzen. 

In 1800 m Höhe bei Sturm und minus 20 Grad sollte unsere Gruppe sich selbstständig  auf den Weg zu einer Hütte begeben. Die Gruppe bestand aus 12 Mann. Ulli, mein Freund, konnte gut Ski laufen, ich stand den 3. Tag auf Skiern, alle anderen waren noch nie Ski gelaufen. Einen Rucksack auf dem Rücken, einen Zweiten vor der Brust, Gewehr im Nacken quer über dem hinteren Rucksack liegend, so sollten fast alle von uns zum ersten Mal Ski laufen..

Zwei Gruppen mit zwei Offizieren waren mit einer Gondel nach oben gefahren, um zu testen, ob der Sturm es zuließ, die 5 km hinter der Bergstation liegende Hütte zu erreichen. Erst als wir oben waren, versuchte die Offiziere nach unten zu melden, dass es nicht geht, weil der Sturm zu stark sei. Für uns kam diese Nachricht zu spät. Bis auf die zwei Offiziere, die schon oben waren, blieben alle anderen Offiziere unten und verzogen sich in eine Kneipe, nachdem sie die Rekruten untergebracht hatten. Unsere Gruppe war auf sich gestellt, hatte niemanden, der den Weg kannte und uns führen konnte. Ein Funkgerät, mit dem wir Kontakt mit unseren Vorgesetzten aufnehmen konnten, gab es nicht.

Wir rutschten, stolperten, stampften, krabbelten, robbten bei Sturm durch den 1,80 cm hohen Schnee. Alle Bewegungsarten probierten wir aus. Vom Skilaufen konnte keine Rede sein. Die Spur der ersten Gruppe war in der ersten Stunde noch gerade zu erkennen. Dann wurde es dunkel und der Sturm hatte  die letzten Reste der Spur verweht. Jeder Meter war Kampf. Außer Ulli und mir konnte sich keiner auf den Skiern mehr als 20 Meter halten, vor allem wegen des Gewichts auf den Schultern. Aber ohne Skier ging es auch nicht. Es gab keinen Augenblick, in dem nicht einer von uns im Schnee lag und mühsam versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Alle hatten Angst, weil wir eigentlich gar nicht mehr wussten, wo unser Ziel lag. Irgendwie weit weg sahen wir ein Licht und das peilten wir an, ohne zu wissen, ob das das richtige Ziel war. 

Einem Kameraden vor mir war die Mütze hoch gerutscht. Als es noch hell war, erkannte ich, dass der untere Teil des Ohrs schneeweiß war, der Obere knallrot. Der untere Teil war hart gefroren. Erste Hilfe mit Schnee-Einreiben. Er bekam starke Schmerzen, wir mussten aber weiter. Das Gepäck wurde auf die anderen verteilt, so dass er sich besser aufs Skifahren konzentrieren konnte.

Ein Abhang, etwa 50 m lang, flach, wurde zum Problem. Ulli fuhr als Erster und stürzte. Er war seitlich in den tiefen Schnee gefallen und kam ohne Hilfe nicht mehr hoch, weil die Skistöcke im tiefen Schnee keinen Halt fanden. Der Nächste fiel neben Ulli hin. Er kam auch nicht hoch, der Dritte fiel, der Vierte fiel, der Letzte war ich. Mit zittrigen und verkrampften Beinen machte ich mich auf den Weg. Ich schaffte es ohne Sturz, war aber wegen der völlig verkrampften Beine 10 m zu weit gefahren. Mühselig drehte ich auf wackeligen Beinen um und stapfte zu Ulli zurück. Ich  half ihm hoch, als er stand, lag ich, auch hilflos, als ich endlich wieder stand, lag Ulli. Bis endlich wir beide standen, verging viel Zeit. Danach wurden nach und nach die anderen herausgezogen. Als alle auf den Beinen waren, war es stockdunkel. Nur das Licht weit entfernt konnten wir hin und wieder erkennen. Erst nach 6 Stunden Kampf bewältigten wir die 5 km bis zur Hütte. Das Licht, dem wir gefolgt waren, kam von einer Nachbarhütte. Wenn die unbewohnt gewesen oder wenn wieder Schneefall gekommen wäre, hätten wir uns hoffnungslos verirrt. 

Am nächsten Morgen war der Sturm abgezogen und wolkenloser Himmel. Der Rest der Kompanie erschien bald mit den Offizieren. Nach dem Frühstück wurde uns Soldaten mitgeteilt, dass wir erst mal Ski laufen gehen könnten. Detaillierte Anweisungen bekämen wir später. Für unsere Ausbilder waren wir keine richtigen Offiziersanwärter, eben nur Wehrpflichtige, die man aus Ärztemangel unbedingt zu Offizieren machen wollte. Deswegen gab man sich auch keine Mühe, uns zu Offizieren auszubilden, überließ uns, den Tag selbst zu gestalten und die Offiziere machten Urlaub auf ihre Art.

So wurde die Übung zu einem 5-tägigen Skiurlaub, die Offiziere saßen den ganzen Tag in der Hütte, quatschten, aßen oder spielten Skat. Draußen haben wir sie fast nie gesehen. Gegessen wurde zusammen mit den Offizieren. teilweise an denselben Tischen, nur mit dem Unterschied, dass für die Offiziere warmes Essen gekocht wurde, wir bekamen das Essen aus den Einsatzpaketen. »Panzerplatten« (steinhartes Knäckebrot) mit einer Tube Leberwurst oder Marmelade oder einer Büchse Corned Beef. Als Getränk holten wir uns Wasser aus einer Quelle. Während ich mein Essen hinunter würgte, saß neben mir ein Leutnant und aß Wiener-Schnitzel mit Pommes und Gemüse und trank dazu einen halben Liter Bier. Ich fand das unmöglich, für ihn war es selbstverständlich. 

Am Ende der Übung die erste wirkliche Anweisung: Wir sollten noch ein Iglu, ein Schneehaus, eine Schneehütte und ein Schneeloch bauen. Ein Iglu wollte ich schon immer mal bauen, deshalb ließ ich mich zum Iglu bauen einteilen. 18 Soldaten sollten sich mit dem Iglu beschäftigen. Als alle Soldaten eingeteilt worden waren, verschwanden die Offiziere zum Skatspielen in der Hütte. Da die Aufsicht fehlte, verschwanden auch nach und nach 15 von meinen Kameraden und liefen Ski. Nur 3 Soldaten blieben für den Iglubau übrig. Da war weit und breit kein Vorgesetzter, der für Ordnung sorgte oder uns zeigte, wie man einen Iglu baut. Wir machten einen Kreis von 3 Meter Durchmesser, denn etliche von uns sollten darin übernachten. Dass damit das Iglu 3 Meter hoch werden würde, bedachten wir nicht. 

Als es dunkel wurde, hatten wir oben noch ein Loch von ca. 1 m zu schließen. Da rutschten uns die Schneeblöcke ab, weil der Schnee wegen der Kälte schlecht klebte und keinen Halt auf den mittlerweile fast senkrecht nach unten zeigenden Auflageflächen fand. Aber wir fanden eine Lösung. Die Blöcke wurden jetzt unterschiedlich groß aus dem Schnee geschnitten. So erreichten wir, dass die Blöcke nicht nur an der Auflagefläche, sondern auch an einer Seite Kontakt zu einem Nachbarblock hatte. Das funktionierte gut und wir wären bald fertig geworden.

Die Öffnung war vielleicht noch 50 cm groß, als zwei Offiziere aus der Hütte kamen. Sie sahen unseren unregelmäßigen Rand und schlugen vor, den Rand doch zu glätten. Ich erklärte ihnen den Vorteil dieser Bauweise. Sie sahen es ein, ließen uns weiter bauen und verschwanden. Kaum waren die weg, erschien unser Kompaniechef am späten Nachmittag in Begleitung eines fremden Offiziers. Wieder die Diskussion wegen der unterschiedlich großen Schneeblöcke. Ich erklärte den Grund noch einmal, aber das überzeugte diesen fremden Offizier nicht, denn er sei vom Fach. Ich ignorierte ihn und wartete auf eine Entscheidung des Kompaniechefs. Er wich meinem Blick aus und sagte nichts. Der Fachmann riss mir den Spaten aus der Hand und schnitt die überstehen Blöcke ab. Er gab mir den Spaten zurück und befahl mir, auf der glatten, fast senkrecht nach unten abfallenden Fläche weitere  Blöcke aus dem trockenem Schnee aufzuschichten. Verschwitzt, erschöpft von der 7-stündigen Arbeit, innerlich erregt, weil man uns drei alleine gelassen hatte,  war das der Tropfen, der das Fass bei mir zum Überlaufen brachte. Wütend trat ich vor unseren Major, schleuderte meinen Spaten wie ein Wurfmesser vor seine Fußspitzen in den Schnee (es soll sehr professionell ausgesehen haben) und schrie ihn wutentbrannt an: »Dann mach doch Deinen Scheiß alleine«, drehte mich um und ging zu meinen Leuten zurück..

Der Major blieb wie vom Donner gerührt noch etliche Sekunden stehen und verschwand ohne Worte in der Hütte. Auch mit Hilfe des  „erfahrenen“ Offiziers bekam man das Iglu mit Schneequadern oben nicht zu, weil die Blöcke auf dem glatten Rand keinen Halt fanden. Als er das einsah, verschwand er einfach. Auf Rat unseres Kompaniechefs wurden ein paar Bretter organisiert und über die offene Stelle gelegt. Ich fand das peinlich und freute mich, dass der arrogante »Fatzke« sich kräftig blamiert hatte.

Die Nacht im Iglu war ungemütlich. Es tropfte die ganze Nacht von der Decke. In einem Iglu mit Menschen ist es im Durchschnitt plus 6 Grad Celsius, erfuhr ich. Das entspricht einer Temperatur eines geheizten Raumes auf einer mittelalterlichen Burg im Winter. Es ist alles andere als schön, eine Nacht mit feuchtem Gesicht im äußerlich nassen Schlafsack zu verbringen.

Wieder zurück in der Kaserne hatten die Offiziere ein schlechtes Gewissen und luden unseren Zug (ca.18 Soldaten) in das Offizierskasino - nicht die ganze Kompanie - mittags zum Weißwürstel-Essen ein. Dazu spendeten sie ein 70 Literfass Bier. Sie aßen eine halbe Wurst, nippten vom Bier, verschwanden und ließen uns nach 10 Minuten alleine. In der Mittagspause zwischen 12 und 14 Uhr schafften wir die 70 Liter und waren alle angetrunken. Auf den Weg zum Unterrichtsraum versuchten wir es im Gleichschritt, was nicht gelang. Der Anblick erregte die Aufmerksamkeit des vorbeifahrenden Generals. Der sprach den UVD (Unteroffizier vom Dienst, der Soldat, der an dem Tag das Sagen hat)  an, der war so blau, dass er nicht mehr klar reden konnte, um Meldung zu machen. Daraufhin wurde der ganze Zug vom General ins Bett geschickt. 

Am nächsten Morgen wieder Unterricht. Die erste Stunde hatten wir bei einem Offizier, den wir mochten. Er war kompetent, konnte überzeugen und setzte sich mit der nötigen Distanz mit allen Fragen auseinander, die wir hatten. Dass er »vorgesetzt« war, ergab sich aus seinem Verhalten. Er hatte es nie nötig, Macht zu demonstrieren. Er gehörte leider nicht zu unserer Kompanie, sondern zur Offiziersschule. Welch ein Talent wurde hier an falscher Stelle vergeudet. 

Er redete uns ins Gewissen und machte uns Vorwürfe. Ich empfand das als ungerecht. Je intensiver die Vorwürfe, umso empörter wurde ich. Sonst eher schüchtern mit großer Angst vor vielen Menschen reden zu müssen, hielt ich die Ungerechtigkeit nicht mehr aus und meldete mich zu Wort. Ich erzählte ihm vom Verhalten unserer Offiziere auf der Alm und schloss mit den Worten: ».....Und ich finde, dass die Offiziere unserer Kompanie kein Recht haben, uns irgendwelche Vorwürfe zu machen«. Der Offizier war blass geworden. Er fragte mich, ob ich zu meinem Wort stehen würde. Ich bejahte das. »Ich gehe jetzt zum General und werde das berichten«. Schlagartig war meine Wut weg und ich bekam Angst vor den jetzt folgenden Konsequenzen.

Es passierte zunächst nichts, dann tauchte ein Gerücht auf, dass alle an der Übung beteiligten Offiziere eine zweijährige Laufbahnsperre bekommen hätten. In einem Gespräch mit einem Offizier hatte das ein Soldat aus unserer Kompanie erfahren. 

Unsere Verabschiedung von der Offiziersschule wurde im kleinen Rahmen gehalten. Jeweils zu zweit betraten wir das Büro des Kompaniechefs, er sprach einige Worte und überreichte die Offizierspatente. Natürlich war mir klar, dass ich wegen der 5 in »Innerer Führung« nicht dabei sein werde. Aber ich hatte mich getäuscht. Als wir zu zweit in dem Raum kamen, sprach der Major von Problemen in der Kompanie, die aufgetaucht und die kritikwürdig gewesen seien. Aber man hätte sie anders lösen sollen. Dabei schaute er mich nicht an, auch nicht, als er mir mein Offizierspatent überreichte. Ich hatte in allen Fächern eine 4, sogar im Hauptfach »Innerer Führung« und in Sport eine 1.  Selbst im Fach »Flugzeugtypen feindlicher und befreundeter Staaten« hatte der Offizier mir eine Vier gegeben, obwohl ich der Einzige war, der sich an dem Unterricht aktiv beteiligt hatte und oft mehr über die Fähigkeiten verschiedener Flugzeuge wusste als er. Denn in der Freizeit hatte ich oft in der Bibliothek gesessen und die entsprechenden Zeitungen studiert. Auf die Eins im Sport war ich stolz, denn unser Sportlehrer war der Trainer der deutschen Marathon-Nationalmannschaft gewesen. 

Meine beiden Stubenkameraden, sehr ehrgeizige und fleißige Offiziersanwärter, hatten bis auf Sport in allen Fächern eine Eins bekommen. Während wir im Theater oder in der Oper waren oder in der Kneipe saßen, blieben sie in der Kaserne, um zu lernen. Trotzdem erhielten beide das Offizierspatent nicht, Begründung: »mangelnde charakterliche Eignung«. Wahrscheinlich hatten sie sich zu sehr angepasst und ihr devotes Verhalten gegenüber der Obrigkeit, war unangenehm aufgefallen.

An einem der letzten Tage in der Kaserne wurde um 6 Uhr morgens ein Nato-Alarm ausgelöst, d. h. alle Einheiten der Nato in Europa und USA wurden zum gleichen Zeitpunkt in Alarmbereitschaft versetzt. In unserem Kasernengebäude gab es über Nacht keine Vorgesetzten, die schliefen zu Hause. Man ging davon aus, dass Offiziersschüler genügend verantwortungsbewusst  waren, alleine gelassen zu werden. Bei uns war das eben ein bisschen anders: Wir Soldaten glaubten nicht an den Alarm, sondern an einen Scherz unseres UVDs (Unteroffizier vom Dienst, s. o.), der oft zu Scherzen aufgelegt war. Um 6:30 Uhr wiederholte er den Alarm, auch der wurde nicht beachtet. Um 6:45 noch einmal der Alarmruf und: »Leute, das ist kein Scherz, es ist wirklich ein Alarm. Schaut doch mal aus dem Fenster.« Einer von uns bewegte sich aus dem Bett, schob die Gardine zur Seite und erschrak. Das ganze Bataillon stand gefechtsbereit auf dem Hof. Irgendwo war da in den Reihen ein Loch. Da gehörten wir hin. Was nun? Abwarten? Keiner zog sich an, wir setzten uns an unsere Tische in unseren Buden oder blieben in den Betten liegen und warteten ab. Irgendwann würde schon ein Vorgesetzter kommen und einen großen Krach veranstalten.

Endlich um 7:30 Uhr erschien unser Kompaniechef. Kein Vorwurf, nur die Anweisung, schnell den Trainingsanzug anzuziehen und auf den Flur zu treten. Danach wurden wir heimlich durch ein Hintertor aus der Kaserne herausgeführt. Nach 30 Minuten Waldlauf kehrten wir zurück und verbrachten den Vormittag mit Unterricht. Über diesen Vorfall wurde  kein Wort von Seiten der Offiziere gesprochen, bis wir ein paar Tage später entlassen wurden.

Eine Reihe dieser Soldaten traf sich anschließend in Münster beim Medizinstudium wieder, darunter Ulli und Klaus, mit denen ich befreundet war. Viele Monate bis zu Jahren haben wir drei, besonders aber dann wenn wir mit weiteren Studenten aus der Militärzeit zusammen waren, über diese Zeit mit ihren Erlebnissen und Problemen reden müssen. Es war wie eine Sucht, der sich keiner von uns widersetzen konnte.

Ich habe nach Münster und Wien mein Studium in Berlin beendet. Einer der Gründe war, dass man dort wegen des „Viermächte-Staus“ der geteilten Stadt nicht zum Militärdienst eingezogen werden konnte (Wir sollten ja nach dem Studium noch mal für 6 Monate als Ärzte Wehrdienst leisten). Dort traf ich etliche Soldaten aus der Offiziersschulen-Zeit, die aus gleichen Gründen nach Berlin gegangen waren. Sie blieben dort, bis sie 32 Jahre waren, dann erst kehrten sie nach Westdeutschland zurück. Ab dem 32. Lebensjahr kann man nicht mehr eingezogen werden, hieß es. Das stimmte zwar, aber die Bundeswehr fand einen anderen Weg: Alle wurden zu zwei dreimonatigen Wehrübungen eingezogen. Zu Wehrübungen kann jeder ehemalige Wehrpflichtige jederzeit eingezogen werden.

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Tag der Veröffentlichung: 05.05.2013

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