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Erhählung 1: DER SONNTAG, DEM EIN SONNTAG FOLGTE

Der Sonntag, dem ein Sonntag folgte

 

Lenziger hielt sich selber durchaus für das, was er einen durchschnittlichen Menschen genannt hätte.

Tagsüber saß er als Beamter im Büro eines städtischen Rathauses, zuständig für Grünflächen und Parks der Stadt, sein gesichertes Einkommen erlaubte ihm keinen Luxus doch durchaus einen kleinen Wohlstand, so war er Besitzer einer komfortablen Reihenhauswohnung nebst kleinem Garten, fuhr einen auf Leasing erworbenen Mittelklassewagen, hin und wieder leistete er sich einen Kino- oder Theaterabend und einen Restaurantbesuch und während der Ferienwochen eine Fahrt durchs Mittelmeer in einem Luxusliner.

Er traf sich mit Kollegen zu Kegelabenden und war ein durchaus willkommener Gast bei Jubiläums- oder Geburtstagspartys. Dies war seit Jahren auch sein immer frischer Pool für neue Damenbekanntschaften, die in der Regel allerdings ein frühes Verfallsdatum hatten, die längste hatte knapp ein Jahr gedauert. Zu seinen Hobbys zählte das Colorieren alter Schwarz-Weiß-Fotografien, vor allem alter Familienfotos, dies durchaus mit künstlerischen Anspruch, wie er das Improvisieren auf dem schon betagten Klavier liebte, das auf seinem Dachboden stand und das er vor allem an Wochenenden gern und mit Leidenschaft für über eine Stunde traktierte.

Wenn es möglicher Weise doch etwas gab, was ihn von einem durchschnittlichen Menschen unterschied, so waren es jene Stunden oder auch nur Minuten, in denen er sich plötzlich selbst wie von außen sah. Er agierte gemeinsam mit anderen in einem Schauspiel, das zumeist seinen vorbestimmten Regeln folgte und in der sich jeder mit der von ihm gespielten Rolle identifizierte. Über allem lag dann die Farbe eines Traums, etwas, das alle Geschehnisse ins leicht Irreale rückte oder auch - dies war schwer zu entscheiden – sie erst tatsächlich real machte.

Möglich, dass einige diese Erfahrung mit ihm teilten. Wenn es sich so verhielt, dann war es in jedem Fall etwas, über das man nur selten sprach.

 

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Als er an diesem Montagmorgen vor dem Sprung in den neuen Tag den gestrigen Tag wie gewohnt in Gedanken durchwandert hatte - der beginnende übte bereits den bekannten Sog auf ihn aus, er sah sich inmitten der Autokolonnen von Ampel zu Ampel geschoben, sah den Fahrstuhl, der ihn hinauf ins Büro schleuste, sah diesen Büroraum, in dem ihn sein Arbeitstag von Tisch zu Tisch, von Regal zu Regal bewegte - wunderte ihn beim Blick aus dem Fenster, dass die Straße für diese Morgenzeit ungewöhnlich Auto- und menschenleer war.

Er begann diese Woche wie jede: Er rasierte sich, setzte die Kaffeemaschine in Gang und stellte sich das übliche Wochentags-Frühstücks-Tablett mit Konfitüre, etwas Käse und Wurst zusammen. Den Nachrichten im Radio folgte ein Gottesdienst, erst als das feierliche Dröhnen der Orgel verklungen war und die getragene Stimme des Pastors einsetzte, bemerkte er es und wechselte rasch den Sender.

Wieder sah er hinaus auf die Straße. Sie hatte sich kaum belebt. Er erkannte einen Mann aus der Nachbarschaft, der seinen Dackel spazieren führte. An einer Haustür schräg gegenüber pumpte ein Mann sein Fahrrad auf, einen Picknickkorb auf dem Gepäckständer.

Nicht einmal Schulkinder waren zu sehen, die sonst mit ihren leuchtenden Mappen der hundert Meter entfernten Ampel zuströmten.

Er wählte die Zeitansage, doch alles war auf die Minute korrekt: Es war exakt die übliche Zeit seines morgendlichen Aufbruchs. Er leerte den letzten Schluck Kaffee aus seiner Tasse und trug sie zum Abwasch.

Plötzlich begannen die Glocken zu läuten.

Als kurz darauf die Frau des Hausmeisters sich in einem dunklen Kostüm in Richtung der Glockentöne entfernte, sah er dies mit wachsender Irritation. All dies glich dem morgendlichen Beginn eines Sonntags.

 

Was doch zugleich völlig unmöglich war.

Er hatte das vergangene Wochenende Bild für Bild deutlich in seinem Gedächtnis.

An einen übersehenen Feiertag ließ sich denken, er durchblätterte seinen Kalender, doch es gab keine zusätzliche rote Ziffer darin. Dem Sonntag folgte korrekt der schwarzaufgezählte Arbeitsmontag.

Er lief wieder ans Telefon und wählte die Nummer eines Arbeitskollegen.

Während er wartete, ließ er sich in einen Sessel fallen und durchflog nochmals eilig die Ereignisabläufe des vergangenen Tags.

Er hatte ihn, abgesehen von einem zweistündigen Mittagsausflug in ein Waldrestaurant, ausschließlich in seiner Wohnung verbracht: lesend und Korrespondenzen sortierend, Wäsche waschend und seinen Kleiderschrank ordnend. Am späteren Nachmittag war er auf dem Dachboden beschäftigt gewesen, Kisten aus- und umräumend, und wie üblich hatten dabei seine Finger immer wieder einen kurzen Ausflug zum Klavier unternommen.

Der Kollege brummelte etwas unwirsch in den Hörer hinein, Lenziger hatte ihn durch seinen Anruf aus dem Schlaf geschreckt, als es diesem endlich gelang, seine Frage nach dem heutigen Wochentag unauffällig in ihr Gespräch einzuflechten, war die Antwort ein lautes Lachen. Zweifellos hatte der Kollege alles auf einen Feiertag eingerichtet, und er schloss mit einer Bemerkung über das Wetter, über das man, für einen Sonntag, nicht klagen könne.

Lenziger atmete tief durch und wünschte mit kleiner Stimme einen guten erholsamen Tag. Er stellte das Telefon zurück auf den Tisch.

Dies war kein Montag.

Dies musste, nach allem was er inzwischen gesehen und gehört hatte, ein Sonntag sein.

Und verhielt es sich so, dann war etwas aus jeder Ordnung geraten.

 

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Hätte er eine andere Person von einer Erfahrung wie dieser berichten hören, er hätte geantwortet, dass dieser andere die Erlebnisse des Vortags geträumt haben musste – oder dass er sich bei der Wiederholung des Tags in einem Zustand des Träumens befand.

Das jedoch erzeugte kein Echo in ihm. Er war wach – jetzt, genauso wie er gestern wach gewesen war.

Nochmals verfolgte er Kilometer um Kilometer, Minute für Minute den Verlauf des gestrigen Mittagsausflugs: Er war, was er nur in den Sommermonaten tat, mit dem Motorrad zu jenem Waldgasthaus aufgebrochen, schließlich hatte er wie üblich an dem für ihn reservierten Mittagstisch Platz genommen, die bekannte Speisekarte gegriffen und diesmal Hackfleischröllchen mit Delikatessgurken und zum Nachtisch einen Apfelstrudel bestellt.

Es war, mit kleinen Variationen, das ihm bekannte Szenario – dessen eigentlicher Mittelpunkt seit mehr als einem Jahr allerdings ein anderer Mittagstisch war, gleich neben seinem.

Dort traf zur selben Mittagszeit regelmäßig ein Paar ein, beide etwa in seinem Alter, er, der Mann, eine Mischung aus bärtigem Seebullen und wandernder Litfaßsäule, im immer gleichen schwarzen makellosen Herrenanzug. Sie dagegen wechselte Sonntag für Sonntag die Bluse, meist auch ihr Damenkostüm, beides immer von exquisitem Design, nur die Goldkette um ihren Hals blieb die immer selbe.

Die zwei verbrachten ihre Zeit meist stumm, und tauschten sie ein paar Sätze aus so nur über das Essen und über das Wetter. Nach beendeter Mahlzeit erhoben sie sich und kehrten zu ihrem blitzenden Cadillac auf dem Waldparkplatz zurück.

Immer saß der Mann so, dass er ihm, Lenziger, den breiten Rücken zukehrte, während seine Partnerin gegenüber ihm, Lenziger, jedes Mal ihr offenes stilvoll geschminktes Gesicht zuwandte.

 

Es begann bereits mit dem Sonntag des ersten Kennenlernens.

Die Frau blickte auf, ihr Blick traf den Lenzigers und zog sich dezent wieder auf ihren Teller zurück, Lenziger blickte auf und sein Blick traf den der Frau, auch er scheinbar wie beiläufig. Im Verlauf der Mahlzeit begegneten sich die Blicke beider immer häufiger, wie regelmäßig ausgeschickte Brieftauben, und schon an diesem ersten Sonntag geschah es, dass diesen beständigen Tausch der Blicke ein heimliches leises Lächeln begleitete.

So war es wieder am folgenden Sonntag. Der Mann, der bis zum Eintreffen des Essens in einer groß aufgefalteten Zeitung las und sich dann auf seine Mahlzeit und die vielen Zutatenschüsseln konzentrierte, schien nichts davon zu bemerken. Immer häufiger entschlossen sich die Blicke der beiden anderen, für einige Sekunden zu verweilen und immer deutlicher schickten sie jedes Mal ein Lächeln mit auf den Weg.

So war es an allen Sonntagen der folgenden Wochen, an allen Sonntagen der folgenden Monate.

Schon mit dem sonntäglichen Aufstehen sehnte sich Lenziger diese Begegnung von Tisch zu Tisch, von Auge zu Auge herbei, aus beider Augenhöhlen strömte das schon im Voraus reichlich gesammelte Lächeln, und Lenziger hätte sich selbst belügen müssen, hätte er in diesem ihn immer wieder streifenden Blick nicht das Leuchten eines leisen Werbens erkannt. Zugleich türmte sich an genau diesem Tisch ein breiter schwarzer Rücken auf, das Bild einer uneinnehmbaren Festung.

 

Etwas freilich hatte am gestrigen Sonntag einen leicht abweichenden Verlauf genommen. Ein Hund war zwischen die tafelnden Gäste gelaufen.

Hunde waren im Speiseraum strikt untersagt, es sei denn ihr Herrchen oder auch Frauchen hätte sie am kleinen Eingangshafen der Garderobe sicher mit einer festen Leine vertäut. Lenziger beobachtete, wie ein mittelgroßer Mann mit leichter Stirnglatze und Brille, der gleichfalls an einem Nachbartisch sein Mittagessen zu sich nahm, sich plötzlich zur Garderobe entfernte und sich mit einer Hundeleine beschäftige, in der sich offenbar ein Knoten zu lösen begann.

Allerdings war, als der Mann an seinen Teller zurückkehrte, das Resultat keineswegs dies, dass der Knoten wieder gefestigt war. Im Gegenteil: Die Leine löste sich ganz und der Hund, ein gelbgrauer Collie, sprang auf die mittäglich gedeckten Restauranttische zu. Er wählte sich sonderbar zielstrebig genau den Tisch des hier wie immer speisenden Paares in der noblen sonntäglichen Ausgehbekleidung, streckte schwanzwedelnd Schnauze und Pfoten auf die Tischdecke, und wenige Sekunden darauf stürzte der Teller des Mannes und goss seinen Inhalt auf dessen schwarze Nobeljacke und die schwarzen Nobelhosen.

Der sprang mit einem mehrfachen Fluch in die Höhe, zwei Keller eilten herbei, brachten Handtücher und begannen mit der Reinigungsprozedur an der Hose des Mannes, die dieser, als sie sich dem unteren Bereich des Hosenschlitzes näherten, dann doch lieber selbst übernahm. Der vom Tisch gerutschte Teller wurde, gleichfalls in Eile, samt seiner Essensreste vom Boden aufgekehrt, schließlich wechselte man, mit sich beständig wiederholenden Sätzen des Bedauerns, das Tischtuch aus, während der Mann, immer noch fluchend, sich zur Toilette entfernte, um die zunächst nur fragmentarische Reinigung seiner Hose an einem Wasserhahn fortzusetzen.

Alle suchten den Hund, der aber plötzlich verschwunden und wie vom Erdboden verschluckt war, und niemand der hier tafelnden Gäste war bereit, sich als Herrchen oder Frauchens dieses Störenfrieds zu bekennen.

Lenziger fühlte sich für Sekunden wieder in das Szenario eines Traums versetzt, in dessen Zentrum doch nach und nach auch wieder seine eigene Person rückte. An seinem Gesicht hingen leuchtende, mehr und mehr glühende Blicke, es waren die bekannten vom Nachbartisch, und soeben geschah genau, was er seit Wochen, seit Monaten ersehnt hatte: für wenige Augenblicke sah er sie unbewacht und allein.

Nein, es waren nicht nur Augenblicke, Minute um Minute verstrich, sie saß allein, nicht mehr von jener schwarzen Festung geschützt, Lenziger sah sich aufspringen, ihr leuchtender Blick, den er leuchtend erwiderte, ließ keinen Zweifel daran: Beide wollten es – die schon so lange ersehnte Berührung, die wie sehr auch flüchtige Liebesumarmung.

Lenziger blieb versteinert an seinem Platz. Dieses Wunder einer so plötzlichen ungeschützten Nähe war zu überwältigend für ihn. Und wäre er tatsächlich aufgesprungen, hätte jede Ungeschicklichkeit seinerseits die Schönheit dieses Traums möglicher Weise unwiederbringlich zerstört. Außerdem musste er die Tür im Auge behalten, die zu den sanitären Anlagen führte und die sich jederzeit wieder öffnen konnte und der auf zwei schwarzen Hosenbeinen wandernden Litfaßsäule freien Zutritt zurück in den Speiseraum gewährte.

Als es tatsächlich geschah, fühlte Lenziger es fast als Erlösung, wie es in seinem Hals doch zugleich ein Würgen verursachte. Das Szenario dieses Traums löste sich auf, und mit dem Schaben eines Stuhls am Nebentisch machte es einer schnöden Alltäglichkeit Platz.

 

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Lenziger saß immer noch aufrecht in seinem Bett.

Es war das absolut Unmögliche: ein zweiter Sonntag, der gleich dem gestrigen folgte.

Jetzt tauchte in seinen Gedanken noch ein schon fast vergessener Vorfall des gestrigen Sonntags auf:

Ein mittelgroßer Mann war an seiner Wohnungstür erschienen, er hatte eine Brille bei sich, von der er behauptete, Lenziger habe sie auf einer Bank liegen lassen, dies schon vor längerer Zeit, und er wolle sie ihm endlich zurückbringen. Zugleich entschuldigte er sich, Lenziger in der Frühe eines Sonntags zu stören, doch sei es der einzige für ihn mögliche Zeitpunkt gewesen.

Lenziger konnte sich nicht erinnern, eine solche Brille jemals besessen zu haben, sie hatte einen edel gearbeiteten Goldrahmen, doch der andere drängte ihn geradezu, sie probeweise aufzusetzen, dann würde er das Stück auf Anhieb wiedererkennen und auch die vortreffliche Schärfe und Qualität. Lenziger argwöhnte, der Mann sei auf einen guten Finderlohn aus, doch darauf angesprochen, winkte der Unbekannte gleich ab.

Lenziger machte die Probe, er setzte die Brille auf, wirklich war sie in ihrer Schärfe bemerkenswert, er trat ans Fenster und blickte hinaus, doch als er sich wieder dem Mann zuwandte, war dieser aus der Tür verschwunden, und auch als Lenziger ihm auf die Straße folgte, um wenigstens ein Wort des Danks loszuwerden, war dieser andere nirgends mehr zu erblicken.

Lenziger hatte die Brille anschließend in eine Kommodenschublade gelegt und für den Rest des Tages vergessen. Jetzt suchte er sie wieder hervor, er besah sich erstmals im Spiegel damit, und er fand, dass sie seinem Gesicht einen markanteren männlichen Zug verlieh. Und schon eilte ein vorausplanender Gedanke zum Mittag und an den für ihn reservierten Tisch. Die Probe, ob sich am Nachbartisch auch diesmal die beiden bekannten Gäste einfinden würden, konnte er in keinem Fall auslassen, und sie wurde nun noch gewürzt durch die Aussicht, dass er diesmal ein leicht zu seinem Vorteil verändertes Gesicht bieten konnte.

Noch war es früher Vormittag. Er erinnerte sich, dass auf dem Dachboden, auf dem er sich gestern länger beschäftigt hatte, ein paar Dinge unerledigt geblieben waren, also stieg er wieder hinauf. Die Dachbodenlupe war geöffnet, ihn wunderte, dass er sie so geöffnet zurückgelassen hatte, doch eine frische Vorsommerluft strömte hindurch und auch ein zusätzliches etwas helleres Licht. Die Arbeit ging ihm gut von der Hand.

 

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Lenziger nahm sich vor, jedes weitere Grübeln einzustellen. Es war nutzlos. Dies war in der Tat ein zweiter Sonntag, und er musste es einfach hinnehmen.

Er sah auf die Uhr. Es war Zeit, wie üblich zum Waldgasthaus aufzubrechen.

Er bestieg sein Motorrad. Auf halbem Weg merkte er, dass er von seiner sonst gewohnten Fahrtstrecke etwas abgewichen war, zunächst wollte er umkehren, dann geriet er in ein gepflegtes Gartenviertel mit einem Uhren- und Juwelenladen wie einer Modeboutique. Deren vorderes großflächig dekoriertes Schaufenster zeigte eine Wald- und Wiesenlandschaft, die in frappierender Weise realistisch erschien, fast hätte er angehalten, um sie genauer zu betrachten.

Als er sich dem Waldgasthaus näherte, machte ein erneuter Blick auf die Uhr offenbar, dass er sich um eine halbe Stunde geirrt haben musste. Er war zu früh eingetroffen, trotzdem betrat er nun kurz entschlossen das Restaurant, er hängte den Motorradhelm über den Garderobenhaken und nahm wie üblich Platz.

Der Nachbartisch war noch leer, was zu erwarten war und bisher nichts zu bedeuten hatte. Zu seinem Erstaunen doch sah er den anderen Nachbartisch bereits besetzt – jener mittelgroße Herr mit Brille und beginnender Stirnglatze saß daran, den er auch am gestrigen Tag im Restaurant getroffen hatte und der jene seltsame Aktion am Garderobenständer durchgeführt hatte, mit der er den Hund wohl eher befreit als fester angebunden hatte. Und nun, den Blick noch einmal zum Garderobenständer gerichtet, bemerkte Lenziger auch wieder den angeleinten Hund.

Es war das bekannte Waldgasthaus. Lenziger erkannte den Kellner, er erkannte die Speisekarte, er erkannte die bereits eingetroffenen sonntäglich gekleideten Gäste. Alles, so schien es, lief auf eine exakte Kopie des gestrigen Sonntags hinaus.

Sein Blick kreiste nochmals zum schon besetzten Nachbartisch. Da durchfuhr es ihn wie ein kleiner Blitz, den er ungläubig noch einmal verflackern ließ, bis ein zweiter größerer sich meldete, der das Gesehene zur Gewissheit machte: Er kannte diesen Mann dort am Tisch. Mittelgroß, beginnende Stirnglatze, Brille. Ohne Zweifel, es war dieser Mann. Der einzige Unterschied: Er trug diesmal eine grüne Krawatte.

Der andere hatte ihn offenbar gleichfalls erkannt, er reagierte mit einem flüchtigen Nicken und Lächeln, Lenziger sah auf die Uhr, noch immer hatte er in seinem Zeitplan eine halbe Stunde Vorsprung, also erhob er sich und trat an diesen anderen Tisch. Seine Frage, ob er hier einen Moment Platz nehmen dürfe, verursachte im Gesicht des anderen nicht das leiseste Zucken einer Verwunderung, dieser andere Gast griff nach einem der drei Stühle und schob ihn Lenziger zu.

„Sie waren gestern an meiner Haustür und haben mir diese Brille gebracht?“ Lenziger deutete auf die goldumrahmte Brille. Der andere nickte kurz. „Sie sehen, ich trage sie jetzt – obwohl ich mich nicht wirklich erinnern kann, dass ich sie jemals verloren habe.“

„Ja, Sie reagierten erstaunt. Was mich wiederum nicht verwunderte. Ich ahnte, dass Sie sich an den Verlust dieser Brille nicht erinnern würden.“

„Sie entschuldigten sich, dass Sie mich an einem Sonntagvormittag stören kommen…“ Lenziger ließ seinen Blick auf der Tischplatte kreisen, um ihn dann mit einem Ruck zu heben und präzise zielend auf den andern zu richten. „Wenn ich die Ihnen vielleicht befremdliche Frage stelle, welchen Tag wir heute haben, was würden Sie antworten?“

Der Mann mit der grünen Krawatte verzog keine Miene. „Fragen Sie, was immer Sie wollen.“

„Ich frage Sie nach dem heutigen Wochentag.“

„Es verwundert mich nicht, dass Sie fragen…

Offenbar ist es das erste Mal, dass Sie Bekanntschaft mit dem System parallel laufender oder sich überschneidender Zeitschienen machen.

Wenn Sie es wie ich häufiger erleben, wird es nichts Außergewöhnliches mehr für Sie sein.

Also: Wenn in diesem genannten System einem Sonntag ein weiterer Sonntag folgt, so hat dies durchaus seine Logik.“

„Leider kann ich dem, was sie sagen, nicht folgen.

Sie sprechen von einem System parallel laufender Zeitschienen?“

„Genau.

Von Kindheit an sind wir darauf trainiert, uns auf eine einzige Zeitschiene zu konzentrieren.

Dabei gibt es mehrere. In jedem Fall immer zwei.

Natürlich hat es auch seinen Vorteil, die Konzentration auf eine Zeitschiene zu richten. Es garantiert eine gewisse Übersichtlichkeit.

Zum anderen bedeutet es auch, dass wir manches verpassen – möglicher Weise Dinge, die von größter Wichtigkeit sein können.“

„Noch immer kann ich nicht folgen.

Heißt es, dass ich mit zwei Sonntagen, die direkt aufeinander folgen, die Zeitschiene gewechselt habe?“

„Exakt.

Wenn es Ihnen häufiger passiert, so wie mir, werden Sie kein Problem mehr damit haben.

Wobei Sie wissen müssen, dass das, was Sie als gestrigen Sonntag in Erinnerung haben und das, was Sie als heutigen Sonntag erleben, parallel läuft. Es liegt an der besonderen Eigenart unserer Wahrnehmung, dass wir es meist in einer Reihenfolge erleben. Stellen Sie sich also vor, alles was Sie gestern in diesem Raum erlebt haben, passiert ebenfalls gerade jetzt.

Sie erleben es jetzt in einer Variante, denn Zeit ist niemals eindimensional. Sie bietet immer unterschiedliche Varianten an.“

„Unterschiedliche Varianten, aha…“ echote Lenziger.

Der Mann fuhr fort. „Diese Varianten können im Weiteren sehr unterschiedlich ausgeprägt sein, sehr konkret und kompakt oder sie sind von einer mehr flüchtigen Substanzhaftigkeit, einer geringeren Dichte gewisser Maßen. Manchmal erscheinen sie sogar etwas traumhaft und wie zweidimensional. Doch auch das genau Umgekehrte kann zutreffen. Sie sind in einer Weise real, wie Sie es nur von wenigen Augenblicken auf der Ihnen gewohnten Zeitschiene kennen.“

Der Kellner näherte sich mit der Frage, ob er schon jetzt die Bestellung aufnehmen und das Essen früher servieren solle. Lenziger dankte und winkte ab.

„Und für Sie selbst, so sagen Sie, ist eine solche Erfahrung nichts Ungewöhnliches mehr?“

„Durchaus nicht ungewöhnlich.

Wenngleich ich zugebe, dass bei einer noch dritten Variante, wie es gelegentlich auch geschieht, die Dinge in der Tat ein bisschen verwirrend werden können.“

„Es kann also auch drei Varianten geben?“

„Sogar vier oder fünf.

Die Wissenschaft steht übrigens kurz davor, dieses Phänomen zu entdecken. Beziehungsweise: Entdeckt hat sie es schon, sie kann es bisher nur nicht wirklich einordnen. Es handelt sich um das ‚Phänomen der aufgefalteten Zeit‘. Denn alles, was wir üblicher Weise ‚Zeit‘ nennen, indem unser Blick auf die eine einzige Zeitschiene gebannt bleibt, ist in Wahrheit eine ‚gefaltete Zeit‘.

Erlebt man sie ‚aufgefaltet‘, so werden parallel laufende andere Zeitschienen sichtbar.

Es ist ein sehr spannendes Phänomen. Zugegeben kann es am Anfang etwas verwirrend sein. Doch letztlich bedeutet es eine Bereicherung kaum vorstellbarer Ausmaße.“

„Und Sie sagen, die Wissenschaft kennt es bereits?“

„Sie stellt bereits Berechnungen damit an.

Es hat mit der Unschärferelation im subatomaren Bereich zu tun, wonach der Aufenthaltsort bestimmter Elementarteilchen nie exakt definiert werden kann. Den Berechnungen nach müsste es sich an mehreren Orten gleichzeitig aufhalten. Es klingt paradox. Doch nur wenn wir das Paradoxe denken, werden wir der Realität schließlich näher kommen.“

Lenziger merkte, dass sein Blick ungeduldig zur Eingangstür wanderte. Denn so sehr ihn dieses Gespräch zu fesseln begann, so sehnte er doch den Moment herbei, dass sich diese Tür öffnen und der Erwarteten Einlass gewähren würde.

„Werden wir auf einer anderen Zeitschiene immer eine Variante erleben - niemals nur eine Kopie?“

„Nie eine Kopie.

Was wäre der Zweck einer Kopie?

Ich sagte bereits, es hat mit der Unschärferelation und den subatomaren Teilchen zu tun. Wie zum anderen auch mit dem Geheimnis der ‚Schwarzen Materie‘, von der es im Universum ein Vielfaches der uns sichtbaren gibt.

Die Wissenschaft wird es Schritt für Schritt entschlüsseln. Und es wird zu einem in sich absolut stimmigen System führen. Vieles, was uns heute als ein ungelöstes Rätsel erscheint, wird wie mit einem Schlag seine Antwort finden.“

Die Tische hatten sich zunehmend gefüllt. Lenziger konnte keinen bemerkenswerten Unterschied zur Szene des gestrigen Mittags erkennen. Es schienen, soweit er sich klar erinnerte, immer dieselben Menschen zu kommen und an denselben Tischen Platz zu nehmen.

„Sie sagten, es kann etwas wie eine unterschiedliche Dichte der wahrgenommenen Wirklichkeit auf einer anderen Zeitschiene geben...

Bedeutet dies, dass diese Zeitschienen damit auch unterschiedlich real sind? Ich meine: Ist der Realitätsgrad in jedem Fall immer gleich?“

„Er ist durchaus unterschiedlich. Und auch dafür gibt es eine plausible Begründung.

Ich will es Ihnen relativ leicht machen und einen Umstand nennen, mit dem Sie sicher vertraut sind.

Stellen Sie sich einen Menschen vor, der, aus welchen Gründen auch immer, voller Wut und Aggressionen gegen einen anderen ist. In seinem Kopf malt er sich lebendig die Bilder aus, wie er seine Wut an dem anderen ungehemmt auslässt – obwohl ihm auf seiner Zeitschiene der Mut dazu fehlt oder er nie die Gelegenheit dazu findet.

Die Zeitschiene, in der sein gewohntes Leben weiter läuft, bleibt relativ blass und ereignislos. Doch die andere Zeitschiene, die er zugleich erschafft, ist mit den dutzend oder auch hundert Mal wiederholten Bildern seiner frei ausgelebten Emotionen und Aggressionen gefüllt. Welche Zeitschiene ist dann die realere?

Wählen wir einen angenehmeren Vergleich. Jemand ist verliebt. Doch irgendetwas verhindert, dass sich diese Liebe in seiner gewohnten Realität verwirklichen kann. Zugleich doch erträumt er sich in jedem freien Augenblick Bilder eines zärtlichen Beisammenseins.

Verstehen Sie mich? Das Leben auf der einen Zeitschiene verläuft gleichbleibend eintönig und grau. Die Zeitschiene, auf der dieser Mensch das innige Beisammensein und den Austausch von Zärtlichkeiten und Küssen erträumt, ist die sehr viel kompaktere, von Emotionen und Leben erfülltere - und damit auch die realere.“

„In jedem Fall realisiert sie sich?“

„Sie kann nicht anders.

Eine andere Frage ist: Ob Sie sie jemals wahrnehmen werden.

Ich sagte schon: Es ist uns eintrainiert, dass

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Goldwaage-Verlag
Bildmaterialien: Grafiken: Sarah Karg-Steidele
Cover: Goldwaage-Verlag
Lektorat: Jutta Timmermans
Tag der Veröffentlichung: 09.02.2018
ISBN: 978-3-7438-5567-0

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