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Der Aufbruch

 

Mein Besuch auf Sankospia liegt nun achtundzwanzig Jahre zurück.

Nach diesem Zeitraum, so sagte man mir, wäre mir ein zweiter Aufbruch gestattet.

Doch ich werde nicht los fliegen, ohne zuvor meine so außerordentliche Geschichte vollständig aufzuschreiben.

Denn meine Vermutung ist: Ich werde von meinem zweiten Besuch auf der Insel nicht mehr zurückkehren.

Es wäre auch meine Hoffnung, mein ausdrücklicher Wunsch.

Sie werden dies begreifen, wenn Sie die näheren Einzelheiten erfahren haben.

Doch jetzt begleiten Sie mich bei meinem ersten Aufbruch.

Seit sechs Jahre lang hatte ich eine geheimnisvolle Karte in meinem Besitz. In exakten Umrissen war eine Insel darauf verzeichnet. Sie war umgeben von symbolartigen Zeichen und einigen Linien in der Art eines Koordinatensystems, die mir doch völlig unverständlich blieben. Dann eines Morgens, nachdem ich alle Bemühungen schon aufgegeben hatte, fand ich plötzlich einen Ansatz, sie zu entschlüsseln.

Erwarten Sie kein außergewöhnliches Flugabenteuer. Erwarten Sie etwas weit darüber hinaus.

Was ich Ihnen mitteilen werde, berührt den Kern Ihrer Existenz. Und damit meine ich: den wirklich innersten Kern und den Kern aller Existenz überhaupt.

Es geht um den „Gedanken der Erde“, ihr eigentliches Geheimnis.

Wie Sie hätte ich bis zu diesem Zeitpunkt kaum geglaubt, dass es hinter der Erde einen Gedanken gibt. Einen Plan.

Ich habe auf Sankospia diesen Gedanken erfahren. Und ich will ihn mit Ihnen teilen.

Sie werden am Ende Ihr Urteil fällen können, ob es ein lichter oder ein dunkler Plan und Gedanke ist.

 

Ich war vierunddreißig in diesem Jahr, ein gut beschäftigter Reporter und Journalist in New York.

Mit mir flog Patrick, ein enger Freund.

Er wusste so wenig wie ich, was uns erwartete.

Seine Initialen standen auf der Rückseite der Karte, die ich erwähnte, neben meinen. Und auf dem Umschlag war eine Jahreszahl notiert.

Patrick war Musikdozent wie auch aktiver Musiker und Komponist. So wie die Musik sein Alltag war, so sah er zugleich in ihren Strukturen, speziell der Obertonreihe, in Intervallen und Harmonien immer etwas von einzigartiger Faszination. Wie Keppler glaubte er, dass es zwischen geometrischen Körpern, Planetenbahnen und Musik einen Zusammenhang gab.

Und damit richtete sich sein Interesse auch auf die Astronomie. Dies verband uns und wurde während all der Jahre unserer Freundschaft immer wieder Anlass für einen regen Gedankenaustausch.

Ich sagte bereits, dass ich selbst als Reporter und Journalist tätig war. Damit mischte ich mich ein in das aktuelle Tagesgeschehen. Doch meine andere Leidenschaft galt der Astronomie, der Astrophysik. Es stand, so erkläre ich es mir selbst, die Sehnsucht dahinter, etwas zu begreifen von unserem Ursprung – in dem ich den weiten Spuren ins All folgte und seiner Entstehungsgeschichte.

Ich vermeide ein großes Wort wie „Schöpfungsgeschichte“. Denn es schließt einen Schöpfer ein.

Ich konnte an einen solchen Schöpfer nicht glauben. Schon gar nicht in der Art eines Gottesbilds, wie die traditionelle Kirche es uns übermittelt hat. Zugleich doch war ich bei meiner wissenschaftlichen Lektüre, die schließlich auch die biologischen Forschungen einschloss, immer wieder überwältigt von der aller Materie und allem Leben innewohnenden Intelligenz.

Doch genügte es, um einen übergeordneten schöpferischen Geist zu beweisen?

So wie ich das Ungenüge an den wissenschaftlichen Erklärungsmodellen empfand, an deren Ende doch immer wieder einzig das Wort „Zufall“ stand, so waren mir zugleich alle Konzepte suspekt, die mit religiösen Vokabeln operierten und meinen Glauben einforderten.

Ich wollte Fakten – so wie ein Reporter, der seine Arbeit nur gründlich getan sieht, wenn er die Kette der Indizien geschlossen hat.

Ein Schöpfer ohne Fakten, ohne Beweis blieb für mich ohne Belang.

 

Ich werde auf diese Frage zurückkommen.

Sie hängt eng zusammen mit meinen einleitenden Sätzen von einem „Gedanken der Erde“. Es ist kein Spiel mit Worten. Ich meine es so.

Ich verspreche Ihnen, ich werde diesen „Gedanken“ Stück für Stück zur Sprache bringen und Ihnen begreiflich machen. Sie werden danach vieles in einer veränderten Sichtweise wahrnehmen.

 

Unser Flugzeug, eine Zwei-Propeller-Maschine, be-wegte sich seit Stunden surrend durch bizarre Wolkenlandschaften hoch über dem Ozean. Vor uns saß Harry, unser Pilot, die Bordgeräte wachsam im Auge, die bis zu diesem Zeitpunkt ordnungsgemäß gearbeitet hatten. Patrick und ich ließen die Blicke immer wieder über die erwähnte Karte schweifen, die aufgefaltet auf unseren Knien lag, und suchten die Übereinstimmungen mit den auf den Bordgeräten angegebenen Längen- und Breitengraden.

Plötzlich wurde unser Flugzeug von starken Wirbeln erfasst. Ein Schütteln setzte ein, dem wenig später ein unkontrolliertes Abgleiten folgte.

Die Maschine schlingerte. Harry, der bisher in stoischer Ruhe die Cockpitgeräte regiert hatte, zeigte Anzeichen wachsender Nervosität. Der eine Propeller war ausgefallen. So sehr Harry auch trickreich manövrierte, die Maschine schlingerte weiter, sie sank und sank.

Da wurde sie durch ein unerklärliches Windphänomen plötzlich heftig nach oben gezogen. Der Flug in die Höhe war nun ein unkontrolliertes Aufsteigen. Eine Wolkenformation in Gestalt eines dunkelsilbrigen massiven Gebirges schluckte uns auf, der Sichtausfall war total.

Als die Maschine nach einer unendlich scheinenden Flugstrecke wieder daraus hervortrat, leuchtete unter uns hell spiegelnd das Meer. Das Flugzeug surrte wieder friedlich, mit beiden Propellern.

Ich fühlte jetzt eine wachsende Sicherheit, dass wir uns der gesuchten Insel näherten. Dieses Vertrauen allerdings wurde bald darauf noch einmal auf eine harte Probe gestellt.

 

Es wird an dieser Stelle Zeit, dass ich sage, von vom ich die geheimnisvolle Karte erhielt.

Es war Tamara - eine Frau Ende dreißig doch noch immer von außergewöhnlicher Schönheit.

Sie hatte in New York in ganz eigener Initiative eine Sozialstation aufgebaut und über acht Jahre hin mit großem persönlichen Einsatz geleitet.

Leider zog sie, gerade weil sie erfolgreich war, damit auch Feindlichkeiten ihrer Umgebung auf sich. Zweimal wurden Teile dieser Station mutwillig zerstört und niedergebrannt.

Mehr zufällig hatte ich von dieser Station gehört und war dann rasch entschlossen, eine Reportage darüber zu schreiben.

Gleich bei der ersten Begegnung stellten wir fest, dass ich ihren jüngeren Bruder kannte – Anthony, ein anderer langjähriger Freund.

Mit Anthony hatte ich einige Trimester gemeinsam studiert. Er war inzwischen ein aufstrebender Architekt mit ersten kleinen Erfolgen, ein junger Mann von ungewöhnlicher Intelligenz und vereinnahmendem Charme.

Plötzlich doch war er tragisch in eine Kette von Abläufen verwickelt, die eine dramatische Zuspitzung fanden, in eben der genannten Sozialstation. Anthony wurde Opfer eines Schusswechsels, und man teilte mir seinen Tod mit.

Beide, Tamara und Anthony, umgab diese Aura des Außergewöhnlichen.

So sehr ich dies deutlich spürte, so hatte ich doch nicht den Schimmer einer Ahnung, welches Geheimnis tatsächlich hinter diesen beiden Personen stand.

Tamara überließ mir die Karte in einem geschlossenen Umschlag. Er war nur für mich bestimmt, und auch ich sollte ihn erst in einigen Jahren öffnen. Sie verwies auf die Jahreszahl. Würde ich mich mit dem Inhalt befassen und ihn entschlüsseln, könnte dies in meinem Leben eine einmalige Chance bedeuten.

 

Die geheimnisvolle Insel

 

Wieder umgaben uns Wolkenwände, auftauchend wie aus dem Nichts. Erneut setzten unerklärliche Wetterphänomene ein.

Das Flugzeug wurde von Windböen gegriffen. Wieder driftete es unkontrolliert in die Tiefe; diesmal ohne Propellerausfall.

Es fing sich schließlich. Doch es beugte sich unkontrolliert zur Seite, schien ganz zu kippen, als es wieder an Höhe gewann, scherte es aus in unkontrollierten Kreisbögen.

Schwarzsilbrige klumpige Wolkenmassen. Harry klopfte auf seine Cockpitgeräte. Einige zeigten keine Reaktion mehr. In Harrys Gesicht traten erste Anzeichen von Panik. Er hatte jede Orientierung verloren.

Die Lage spitzte sich zu. Das Flugzeug zitterte, torkelte. Es wurde in die Höhe gerissen, schlingerte im Kreis. Bestimmend doch blieb ein Sog nach oben, er trug das Flugzeug in eine schließlich schwindelnde Höhe über den in bizarren Formen getürmten Wolken.

Wir blickten hinab. Die Wolkendecke war ein Stück aufgerissen, und man sah in der Tiefe einen weiß und silbrig leuchtenden, dann auch in grünen Farben schimmernden Punkt auf der Meeresfläche.

Eine Insel.

Das Flugzeug glitt jetzt wieder ruhig, in großer Höhe. Alle Bordgeräte waren wie zuvor in Funktion.

Ich richtete mein Fernglas in die Tiefe. Während meine Blicke immer zwischen Karte und Insel wechselten, geriet ich in wachsende Aufregung.

Ich stammelte den geheimnisvollen Namen, den ich auf der Karte gelesen hatte: Sankospia.

Die Insel hatte exakt die Umrisse, die auf der Karte verzeichnet waren.

Ich gab Harry Anweisung, das Flugzeug in die Tiefe und in Richtung der Insel zu manövrieren. Harry sträubte sich einen Moment. Er befand sich eben in sicherer Höhe. Welches Risiko ging er erneut damit ein?

Dann ließ er die Maschine durch das Wolkenloch, das dabei zusehends größer wurde, in die Tiefe gleiten. Das Flugzeug näherte sich der Insel.

Ich schätzte den Durchmesser auf etwa vier Kilometer. Auf der einen Seite erhob sich ein Berg, der Form nach wahrscheinlich ein Vulkan, hier gab es einen dichten urwaldartigen Pflanzenbewuchs. Auf der anderen Hälfte sah man weißen Strand, doch auch Zonen von rauem felsigem Boden und auf der einen Seite ein hell reflektierendes Küstengestein.

In der Mitte stand, wie immer klarer erkennbar wurde, zwischen zwei kleineren Gebäuden ein imponierendes großes, das Dach blinkte silbern, beim nochmals Näherkommen zeigte sich, dass es mit einer Reihe gläserner Kuppeln ausgestattet war. Diese Aufbauten hatten überwiegend Pyramidenform und ein perlmuttgleiches Schimmern. Ein hoch ästhetischer Anblick.

Zwischen dem tropischen Waldgebiet und den Gebäuden befand sich ein Garten, die weitläufigen labyrinthischen Gartenwege waren gleichfalls in hoch ästhetischen Formen angelegt. Und um die Gebäude herum streckten sich seltsame Masten in die Höhe – dem Aussehen nach gigantische Sendemasten.

Auf der Zone mit dem weißen Küstengestein wurde nun etwas wie eine breite Straße sichtbar - möglicher Weise die in der Karte angedeutete Landebahn.

Es war kein anderer Platz zum Landen erkennbar.

Unser Flugzeug näherte sich dieser Bahn.

Es konnte mühelos aufsetzen.

 

Der magische Garten

 

Patrick und ich stiegen aus.

Harry sagte zu, uns später zu folgen. Der sonst so routinierte Pilot fühlte einen Moment der totalen Erschöpfung. Der kleine dickliche Mann mit dem runden Kindergesicht und der Igelfrisur musste sich von den durchstandenen Flugstrapazen erst einmal gründlich erholen. Das tat er seinem Naturell nach am besten mit einem Bier und einem zwischen zwei Sandwichs eingeklemmten Steak. Harry, so kannten wir ihn inzwischen, hatte einen gut ausgeprägten Appetit.

Patrick und ich gingen auf das Gebäude zu.

Nirgends Menschen. Nirgends Fahrzeuge oder Maschinen.

Doch die Luft war von einem seltsamen Vibrieren erfüllt. Offenbar kam es von den Sendemasten. Wir traten näher an einen heran, tatsächlich wurde das Vibrieren stärker. Es hatte einen metallischen dröhnenden Klang. Als ich den Arm danach ausstreckte, bemerkte ich, dass auf meiner Haut ein Funkensprühen begann. Es wurde so stark, dass ich die Hand schließlich erschreckt zurückzog.

Die Glaskuppeln und Glaspyramiden spiegelten im Licht. Doch sie sonderten zugleich eigene Farben ab. Vielleicht auch Klänge. Die ganze Atmosphäre um sie schien von einem goldenen Flimmern durchzogen. Ein anderes wie magisches Licht. Und geheimnisvolle, manchmal sehr helle, manchmal tiefe und dunkle Klangwellen tränkten die gesamte Atmosphäre. Sie waren wie Windböen, die manchmal mit Macht heranströmten und dann wieder verebbten. Kamen sie gleichfalls von den Sendemasten? Sie waren nicht klar zu lokalisieren.

Noch immer nirgends ein Mensch.

Wir suchten einen Eingang zum großen Gebäude. Es hatte stattliche Ausmaße und gleich auf der uns zugewandten Front schien es eine ganze Reihe von Eingängen zu geben, alle mit hohen funkelnden Torbögen. Doch beim Näherkommen zeigte sich: Es waren nur in die Wand eingearbeitete kunstvolle Gebäudeverzierungen.

So verhielt es sich auch mit der linken Seitenfront. Wieder trafen wir nur auf diese kunstvoll gestalteten Torimitationen.

Das Gebäude weiter umwandernd sahen wir uns beide nun vor dem Garten mit seiner Vielzahl in geometrischen Mustern angelegten Gartenwegen.

Er schlug uns sofort in Bann. Die Mehrzahl der Bäume und Sträucher trugen Blüten, manche von der Größe eines ausgespannten Schirms. Viele von ihnen hatten eine ungewöhnliche Strahlkraft. Und jetzt bemerkten wir, wieder nähertretend, dass es in einigen Blüten Früchte gab. Sie waren direkt darin eingebettet und verstrahlten, hatte man sie erst einmal entdeckt, ein eigenes schimmerndes Licht.

Plötzlich löste eine der Blüten sich von den Büschen ab, und wir erkannten, dass es ein Schmetterling war – ein Tier mit einer Flügelspanne von fast bedrohlichen Ausmaßen. Doch unserem ersten Erschrecken folgte bald ein Entzücken. Ein zweiter, ein dritter Schmetterling löste sich von den Blüten ab, die Flügel funkelten im Licht, alle gemustert mit eindruckvollen, fast geometrischen Farblinien, wie eine Bemalung. Jetzt schwebten, schaukelten sie umeinander: ein Schauspiel der Verzauberung.

Eine weitere Überraschung folgte: Auf der anderen Seite lag ein Löwenpärchen. Als sie uns wahrnahmen, hoben die beiden majestätisch die Köpfe. Auch diese Tiere hatten gigantische Ausmaße. Wieder wurde unser erstes Erschrecken rasch gemildert. Diese Tiere fraßen offenbar Früchte. So majestätisch und machtvoll sie dalagen – jeder aggressive Zug schien ihnen fremd.

Die größere Überraschung wartete noch: Aus einem Baumwipfel löste sich jetzt eine Gruppe von kleinen Äffchen. Sie waren grün. Sie ließen sich auf den Boden gleiten und sprangen neugierig ein Stück heran – um dann doch respektvoll stehen zu bleiben, mit hochgereckten Köpfen. Die Bewegungen hatten etwas so Geschmeidiges, so Possierliches, dass es nur wieder ein helles Entzücken in uns auslöste.

Wir knieten uns auf den Boden, mit vorsichtig lockenden Gesten. Die Gruppe der Äffchen streckte die Köpfe zusammen, wie beratend, sie stießen kurze grunzende Laute aus, es war tatsächlich wie ein Gespräch. Immer wieder Blicke zu uns werfend blieben sie doch unschlüssig.

Hatten diese kleinen Äffchen eine eigene Intelligenz?

Plötzlich bemerkten wir vor der Gartenfront des Gebäudes eine Gestalt. Sie schien uns schon länger zu beobachten. Jetzt kam sie näher, offenbar ein Mann.

Die Kleidung erinnerte im ersten Moment an eine etwas altertümliche Ordenstracht: ein langes weißes Untergewand mit einem Metallgürtel und Borten an beiden Ärmeln so wie um den Kragen, Borten, die dicht mit kleinen funkelnden Steinen besetzt waren, auch der Saum war mit einer solchen Borte verziert, um die Schultern lag eine blaue Weste, die wie ein Kettenhemd etwas Metallisches hatte doch offenbar aus einem weichen biegsamen Material bestand.

Jetzt befand er sich in der Entfernung von etwa zehn Schritten vor uns. Ein hochgewachsener Mann, eine imponierende Erscheinung. Und im erneuten Anblick seiner Kleidung verstärkte sich der Eindruck einer kostbaren Ausstattung.

Das Gesicht war faltenlos und noch immer schien es wie ohne Mimik. Doch in diesen Zügen lag nichts Finsteres. So klar und majestätisch sie waren, es gab darin eine wie eingewachsene natürliche Freundlichkeit.

Er nickte jetzt und winkte. Und dieses Nicken und Winken waren wie ein kurzes selbstverständliches Lächeln.

Er bewegte sich auf einen der Torbögen zu. Wir folgten. Es schien eine der üblichen aufwendigen Wanddekorationen zu sein. Doch als der Mann sich ihr näherte, konnte er sie problemlos durchschreiten. Und auch uns war es jetzt möglich. Der Eingang hatte in diesem Moment keinen Widerstand. Wir befanden uns im Gebäude.

 

Die lebenden Vermissten und Toten

 

Ein langer Gang öffnete sich vor uns, Tür reihte sich an Tür.

Waren es wieder nur Türimitationen? Schließlich wagte ich mich an eine der Türen. Wie die anderen war sie ohne Klinke und sie erwies sich als undurchdringlich.

Durch das Dach fiel helles Licht.

Die Wände des Gangs glänzten metallen. Es waren Formen hineingearbeitet, kunstvolle Verzierungen, doch das sonderbar Symbolhafte mancher Formen hatte auch etwas Mathematisches und schien über einen nur ästhetischen Zweck hinauszugehen.

Noch immer schritt der Mann uns voran.

Wir betraten, durch eine sich selbständig öffnende Tür, einen Saal.

Ein überwältigender Anblick. Die Wände waren mit einem Material ausgestattet, das an grünen Turmalin erinnerte, in einer großen Fülle immer neuer Farbnuancen. Aus dem gleichen Material bestanden die über den Raum hin verstreuten Tische. Beim Nähertreten wurde ein kunstvoller Schliff erkennbar, wieder gab es symbolhafte Gravuren.

Zwei Gruppen von Personen befanden sich in diesem Saal, beide um einen der Tische versammelt. Um den etwas näheren Tisch standen drei Männer und zwei Frauen. Vor ihnen befand sich ein großer durchsichtiger von innen erleuchteter Globus – der aber offensichtlich nicht mit den bekannten Erdteilen und Meeren markiert war.

Er zeigte Muster, die ihn auch innen durchzogen und von denen manche an verstreute Inseln erinnerten. Mehr und mehr stellte sich der Eindruck einer Sternenkarte ein – vielleicht die Karte einer Galaxie.

Die Personen um den Tisch waren ähnlich wie der Mann gekleidet. Das Untergewand der Frauen allerdings war von einem sanften Orange. Und die Westen, doch auch die Borten zeigten erhebliche Unterschiede. Jede der Westen hatte im Rücken, manchmal auch auf der Brust eine ganz eigene Musterung. Und die Borten leuchteten in sehr abweichenden Farben, manche wanden sich in langen Verschlingungen um das ganze Untergewand herum.

Eine sanfte Heiterkeit lag über der Gruppe, in der man sich offensichtlich beriet.

Der Mann machte jetzt ein Zeichen zu warten und trat selbst an den Tisch.

Kurz darauf wandte eine der Frauen sich um. Ihr Blick glitt direkt zu mir, dann zu Patrick, beide erstarrten wir in derselben Sekunde – in Irritation wie zugleich in Freude. Meine Lippen flüsterten, halb im Selbstgespräch: „Tamara! Tamara!“

Sekunden später stieß uns ein weiteres Ereignis in die völlige Verwirrung. Eine Gestalt an dem anderen Tisch drehte sich um, ein noch jüngerer Mann. Auch er richtete seinen Blick sofort auf mich, dann auf Patrick, jedes Mal mit dem gleichen ruhigen Lächeln. Wir erkannten ihn zweifelsfrei – wie uns dieser Moment des Wiedersehens doch fassungslos machte.

Ich hörte mich wieder flüstern: „Anthony… Anthony.

Doch es ist unmöglich.

Anthony wurde erschossen.“

Der noch jüngere Mann lächelte weiter und nickte.

Dann wandte er sich wieder den anderen Personen am Tisch zu. Offensichtlich war er in diesem Moment in seiner Gruppe nicht abkömmlich.

Wir hatten Mühe, uns zu fassen. Was wir hier erlebten, ging weit über unser Begreifen hinaus – wie doch das gesamte Szenario dieses Inselareals unser Begreifen überstieg.

 

Ich will an dieser Stelle von dem Moment berichten, als ich Anthony das letzte Mal sah.

Es war auch der Zeitpunkt, als mir Tamara die Karte übergab.

 

 

Der Sturm auf die Sozialstation

 

Dreimal hatte ich Tamara bereits auf ihrer Sozialstadion besucht. Jedes Mal hatte unser Gespräch rasch eine sonderbar philosophische Wendung genommen. Nun war ich nochmals mit ihr verabredet, um das Interview für den von mir geplanten Artikel endlich abzuschließen.

Doch etwas völlig Unerwartetes war geschehen:

Ich fand das Hauptgebäude, ein altes großherrschaftliches Villenhaus, von Polizisten und Polizeiwagen umstellt. Schaulustige hatten sich auf der Straße versammelt. Ich lief, mein Aufnahmegerät unter dem Arm, unruhig auf das Gebäude zu.

Man verwehrte mir den Zugang. Meine Erklärungen, ich sei mit der Leiterin zu einem Interview verabredet, nutzten nichts. Da hörte ich über Lautsprecher einen Aufruf: Man solle sich ergeben und das Haus mit erhobenen Händen verlassen.

Der Aufruf wiederholte sich. Plötzlich begannen die Polizisten das Haus zu stürmen, vier durch die gewaltsam aufgetretene Tür des zur Straße gelegenen Eingangsportals, drei andere verschafften sich Zugang durch einen Seiteneingang. Dies war der Moment, in dem ich mich ihnen unbemerkt anschließen konnte.

Ich befand mich in einer aggressiven Wolke von Chaos und Lärm. Überall die Gänge durchstürmende, Türen auframmende Polizisten.

Eine der aufgestoßenen Türen führte in einen kleineren Eckraum, offenbar ein Büro. Eine große schwarzhaarige Frau erhob sich vom Tisch, stellte sich den Polizisten in den Weg: Tamara. Wie immer umgab sie diese Aura einer ganz eigenen Autorität und Würde, ihr ruhiger starker Blick wirkte für die hereinstürmenden Polizisten einen Moment wie eine Wand.

„Dies ist mein Haus,“ sagte sie. „Sie haben keine Erlaubnis hier einzudringen.“

„Befehl vom Einsatzleiter.“ Der eine der zwei eingetretenen Polizisten hob zackig die Hand an den Uniformhelm. „Sagen Sie uns einfach, wo sich die Bande versteckt hält.“

In diesem Moment kamen Schreie vom Treppenhaus. Ein Polizist rief Verstärkung heran. Offenbar bereits ein Handgemenge. Die zwei Polizisten verließen das Büro.

Tamara hatte mich bemerkt. Sie lächelte kurz und freundlich.

Ich zeigte auf mein Aufnahmegerät.

Tamara kam ein paar Schritte näher.Kein geeigneter Tag für ein Interview...“

„Gilt es Ihnen? Ihrer Station?“ wollte ich wissen.

Tamara schüttelte den Kopf.

Vom Treppenhaus kamen wieder Schreie. Man hörte lautes Poltern, Flüche, Kampfgerangel.

Tamara ging an einen Seitenschrank, holte eine schmale Mappe hervor und entnahm ihr einen größeren Umschlag.

„Sie haben mir mehrmals diese anderen Fragen gestellt.

Hier gebe ich Ihnen etwas. Es ist eine Karte darin. Ich bitte Sie, halten Sie den Umschlag so verwahrt, dass kein anderer ihn öffnet. Und bitte haben Sie auch selbst Geduld ihn zu öffnen. Es steht eine Jahreszahl auf dem Umschlag.

Sie werden eine weitere Zeit brauchen, um die Karte zu entschlüsseln. Wenn es Ihnen gelungen ist, wird es Ihnen eine große einmalige Chance eröffnen.“

Sie reichte mir den Umschlag.

Der Lärm im Treppenhaus nahm zu.

Wir traten beide hinaus.

Ein noch jüngerer Mann mit hartem, bitterem Gesichtsausdruck hatte auf der Treppe einen jungen Polizisten in seine Gewalt gebracht. Er presste ihm seine Pistole gegen die Schläfe.

Der Versuch einer Geiselnahme.

Drei weitere junge Männer, alle mit übernächtigten Gesichtern, standen hinter ihm auf der Treppe, jeder eskortiert von zwei Polizisten.

Einer dieser drei Männer war Anthony.

Die Situation eskalierte. Einer der Polizisten schoss. Der Mann mit der Pistole erwiderte das Feuer.

Anthony mischte sich ein. Offenbar wollte er vermitteln. Er hatte das völlig Aussichtslose der Lage erkannt. Er drängte nach vorn. Da traf ihn selbst ein Schuss.

Ich sah, wie er mit schmerzverzerrtem Gesicht das Treppengeländer umklammerte, dann taumelte er auf den Boden.

Blut quoll ihm aus dem Mund.

Tamara trat an die Treppe. Kniete bei Anthony nieder und griff seine Hand. Anthony versuchte ihr etwas zu sagen, doch es kam nur noch ein Röcheln.

Nach zwei Minuten heulte die Sirene eines Krankenwagens. Anthony wurde auf eine Trage gelegt und in den Wagen transportiert. Tamara nahm bei ihm Platz.

Die anderen Männer hatten jetzt jeden Widerstand aufgegeben. Man führte sie in Handschellen ab.

Als ich selbst die Klinik erreichte, teilte man mir mit, dass Anthony seiner Schusswunde erlegen sei.

Die Sozialstation blieb während der kommenden Tage geschlossen.

Keiner konnte mir sagen, wo Tamara zu treffen sei.

Durch eine langjährige Mitarbeiterin erfuhr ich endlich etwas über die Hintergründe des ganzen Geschehens:

Der Schlag der Polizei richtete sich nicht gegen die Sozialstation sondern gegen eine Gruppe von Männern, die sich darin verschanzt hatten. Ein Entführungsfall. Ein über Tage geführtes Erpressungsspiel. Auch Anthony war verwickelt darin.

Die Geschichte einer kriminellen Verstrickung, die mit einer Hinterziehung begann und sich zusammenballte in der Art eines Unwetters, aus dem es für alle Beteiligten kein Entrinnen mehr gab.

Über den Verbleib Tamaras konnte mir auch ihre enge Mitarbeiterin nichts sagen. Doch Tamara hatte ihr bereits vor Wochen einen Notfallplan überlassen, wie die Station auch ohne sie weiter geführt werden konnte.

Tamara war unersetzbar. Ich nehme hier vorweg, dass die Station nach Tamaras Verschwinden nur noch zwei Jahre bestand. Schon nach Monaten wurde sie wesentlich verkleinert, schließlich wurde sie ganz geschlossen.

 

Ich kehre zu meinem Bericht über die geheimnisvolle Insel zurück.

 

Der singende Felsen

 

Wir befanden uns in dem imponierenden Hauptgebäude, im zentralen Versammlungsraum. Wir hatten Tamara und Anthony wiedererkannt.

Tamara kam auf uns zu – eher schien sie verjüngt als gealtert, mehr als ich es in Erinnerung hatte, war sie von Atem verschlagender Schönheit und Anmut. Vor allem in den Augen lag eine ungewöhnliche Strahlkraft. Das Gesicht durchzog weiter ein Lächeln – ruhig und sanft, ein Lächeln, das hier eigentlich nur ein „Dauerzustand der Seele“ war, wie es schien.

„Wir wussten, dass es der Zeitpunkt war,“ sagte sie.

„Ihr seid eingetroffen.

Ich heiße euch herzlich willkommen – Dich - und Patrick, den Musiker.“

Sie verneigte sich zu uns beiden in sanftem Respekt.

„Patrick – er war gleichfalls ein enger und guter Freund von Anthony, wie wir wissen.“

Mein Blick schweifte zu dem etwas ferneren Tisch. „Anthony lebt?“

Tamara lächelte: „Du hast ihn bereits erkannt?

„Welcher Ort ist das hier?“ fragte ich.

„Du hast die Karte.

Du kennst den Namen.“

Ich zog die Karte aus meiner Jacke.

„Sankospia.

Trotzdem: Wo sind wir hier?

Ist dies eine von Menschen bebaute Insel?“

Tamara wiegte den Kopf. „Warte noch.

Es wird Schritt für Schritt geschehen.

Du wirst viele Erklärungen brauchen.“

Ich fragte, ob ich Anthony sprechen könne.

„Gewiss,“ sagte Tamara. „Er freut sich gleichfalls auf ein Zusammentreffen.

Doch auch damit habe noch etwas Geduld.“

„Anthony lebt.

Was ist damals tatsächlich geschehen?“

„Er wird es dir selbst erzählen.

Wollt ihr mir zunächst für einen kleinen Rundgang in den Garten folgen?“

Ich nickte, ebenso Patrick.

Wir gingen hinaus.

Betraten wieder den Garten.

Doch etwas Seltsames war geschehen.

Schien es mir eben noch Mittag zu sein, so war es nun früher Abend geworden.

Der Garten lag im Glanz einer roten Abendsonne. Er funkelte voll geheimnisvoller Farben.

Tamara ging uns voran.

Sie schritt direkt auf die beiden Löwen zu. In der Tat waren es Tiere von ungewöhnlicher Größe, ausgewachsenen Stieren ähnlich.

Sie machte eine wie grüßende Geste und streichelte ihnen die Mähne. Die Löwen leckten ihr dabei die Hand. Bei aller Majestät – sie hatten auch etwas Katzenhaftes, Verspieltes, die Streichelgesten waren ihnen willkommen.

Jetzt sprangen die grünen Äffchen heran.

Nach wenigen Sekunden saßen zwei auf Tamaras Schultern, eines schließlich sogar auf ihrem Kopf.

Sie nannte die kleinen grünen Tiere mit Namen, hob sie abwechselnd ganz an ihr Gesicht, rieb Nase an Nase, die kleinen Wesen quietschten vor Freude und Übermut.

Jeder in der Gruppe der Äffchen wollte die eigene Begrüßung, das Nase-an-Nase-Reiben, es schien eine eingewöhnte Zeremonie zu sein. Dann sprangen – bis auf zwei, die auf ihrer Schulter hocken blieben – alle wieder davon.

Tamara ging weiter voran, auf den dicht bewachsenen Teil der Insel zu.

Wir folgten jetzt einem schmalen Pfad.

„Wir haben einen ‚Meister’ hier,“ sagte Tamara. „Ich nenne ihn so für euch, obwohl wir ihn nicht so nennen. Doch er besitzt Fähigkeiten, die über das, was wir, die anderen Bewohner der Insel, können, hinausgehen. Neben ihm gibt es noch zwei andere dieser ‚Meister’.

Doch dieser eine, der mir sehr nahe steht, will euch kennen lernen und dann eine Entscheidung treffen.

„Ein ‚Meister’…?“ fragte Patrick.

„Du verbindest Strenge mit diesem Wort, nicht wahr?

Denke eher an einen tiefen und umfassenden Einblick.

Weisheit ist immer auch Güte.

Gewiss, sie ist niemals schwach. Sie zieht auch Grenzen, vielleicht auch streng.

Doch wieder nur aus Einsicht und Güte.“

„Welche Entscheidung will er treffen?“ fragte ich.

„Es hängt mit dem Geheimnis dieser Insel zusammen.

Ihr hattet die Erlaubnis, diese Insel zu finden.

Es gibt vieles darüber hinaus zu erfahren.

Es wird eine Entscheidung zu treffen sein, welches Geheimnis wir euch eröffnen können.“

Wir befanden uns jetzt im Wald, inmitten von tropischen Bäumen und Büschen.

Das Abendlicht funkelte auf den Blättern.

Es war dämmrig geworden.

Fluoreszierende Nachtfalter durchschwirrten die Luft, manche Pfauen-groß.

Ein fernes Singen wurde hörbar.

„Folgt mir weiter!“ Tamara winkte.

„Ich möchte euch unseren Felsen zeigen, den wir den ‚Singenden Felsen’ nennen.

Sie ging weiter voran.

Wir traten jetzt aus dem Wald und dem tropischen Buschwerk heraus. Wir blickten auf einen rot glühenden Abendhimmel über dem Meer. Es umgab uns die ganze summende duftende Süße eines verglühenden Sommertags.

Ein Singen war hörbar geworden.

„Der ‚Singende Felsen’,“ sagte Tamara. „Man hört ihn nur zu einer bestimmten Abendzeit, wenn die sinkende Sonne ihn in einem speziellen Winkel streift.“

Das Singen wurde klarer. Es bewegte sich im Raum von nur wenigen Tönen, es hatte einen metallenen sphärischen Klang, begleitet von einem dunkel mitschwingenden gleichbleibenden Dröhnen.

Alle blickten wir nun auf das Meer. Man sah eine vorgelagerte Felsengruppe. Die ganz vorderen Felsen leuchteten in einem feurigen Rot.

Verzauberung – es war das einzig passende Wort für diesen Moment. Die ganze Umgebung, auch die des Waldes, hatte die Aura eines tiefen Verwunschenseins.

Jetzt tauchte noch eine Gruppe von ungewöhnlichen Tieren auf. Waren es Gazellen? Ihr Fell hatte einen silbernen Glanz – bei zweien schien es ein reines hell blinkendes Silber zu sein.

Der Felsen sang.

Auch die silbernen Tiere, die Gazellen, hielten an und standen wie lauschend.

Eine längere Zeit verstrich.

Tamara winkte, dass es Zeit sei umzukehren.

Wieder ging sie voran.

Wir verließen das Waldgebiet.

Tamara lenkte ihre Schritte wieder auf das große Gebäude zu.

Wir zwei, Patrick und ich, drehten uns immer noch einmal um, zum ‚singenden Felsen’, zu den Gazellen. Über allem lag Verzauberung, ein Bann des Wunderbaren, der doch zugleich tiefe Verwirrung für uns bedeutete.

„Sankospia…

Ist dies eine menschliche Insel?“ fragte ich erneut.

„Empfindest du etwas, das dich in Furcht versetzt?

Wenn es nicht Furcht ist sondern einfach Überraschung, vielleicht auch Freude, Verzauberung - dann genieße es!“

Tamara machte eine locker wiegende Handbewegung und schritt weiter voran, auf eine der zahlreichen Türen zu.

Jetzt setzte sie die beiden grünen Äffchen ins Gras, die rasch davon sprangen.

Plötzlich fiel mir Harry ein, den wir in unserem Flugzeug zurückgelassen hatten. Ich fand, dass es Zeit war, sich um ihn zu kümmern.

„Wir sind offenbar bereits viele Stunden schon hier.

Wir hatten seitdem keinen Kontakt mehr zu unserem Piloten. Es wird dringend Zeit dafür.“

„Er liegt in seinem Flugzeug und schläft,“ sagte Tamara.

Er hat gut gegessen und gut getrunken.

Er hat einen tiefen, erholsamen Schlaf verdient.

Mach dir keine Sorgen um ihn.“

Man hörte wieder verstärkt das geheimnisvolle Vibrieren.

„Was wir dort hören“, fragte Patrick, „dieses Vibrieren – es scheint von den Masten zu kommen, die auf dem vorderen Teil der Insel stehen.

Sind es Sendemasten? Was ist ihre Bedeutung?“

„Sendemasten, ja – so kann man es sagen…“

Tamara lächelte leise nach Innen.

Wir schwiegen eine Weile. Ich ordnete meine Gedanken.

„Darf ich etwas fragen zur Insel selbst?

Ist sie eingezeichnet in einer gewöhnlichen geographischen Karte – vielleicht unter anderem Namen? Sie ist klein. Doch Flugzeuge und Satelliten haben jeden Winkel des Planeten erforscht. Auch jeden der Meere.“

Tamara schüttelte den Kopf.

„Sie ist auf keiner Karte verzeichnet.

Und sie wird es nie sein.“

„Wie wäre das möglich?

Du willst sagen, kein Schiff, kein Flugzeug, kein Satellit könnte sie auffinden?

„Nicht wenn wir es nicht zulassen,“ sagte Tamara.

„Wir haben einen mehrfachen Schutz um die Insel gebaut.

Der erste ist ein sehr einfacher – wenn er auch technisch durchaus eine Herausforderung darstellt. Es gibt ein Spiegelungsverfahren. Wir können es in die Atmosphäre projizieren. Wer sich der Insel nähert oder sie vielleicht auch überfliegt, der sieht immer einzig den Ozean – den Ozean, wie er sich kilometerweit neben der Insel erstreckt: Er verdoppelt sich einfach im Bild, die Insel überdeckend. So nah man der Insel auch kommt, man wird immer nur Ozean sehen.

Noch leichter ist es für uns, uns vor fremden Funkwellen abzuschirmen. Die Schutzmauer, die wir bauen, ist absolut. Wie wir sie auch durchlässig machen können für jede Art von Frequenz, die uns willkommen ist.

Nimm es einfach so an. Es sind Techniken, die schwer zu erklären wären – wie sie im Gebrauch doch wieder zu einer normalen Alltäglichkeit werden können. Ihr auf der Erde werdet sie schließlich auch entdecken. Ihr habt Hunderte von Jahren Zeit dafür. Wahrscheinlich werdet ihr sie in einem Jahrhundert entdeckt haben und dann gleichfalls für alltäglich halten.“

Wir hatten wieder das Hauptgebäude erreicht und traten ein, erneut völlig mühelos durch eine der Türen.

Tamara führte uns vor eine weitere Tür, die sie vorsichtig öffnete.

Dann winkte sie uns in einen kleineren Raum, der sehr anmutig mit in verschiedenen Farben leuchtenden Säulen ausgestattet war. Seitlich befand sich eine große farbige Flügeltür.

Tamara deutete auf eine Bank. „Wartet hier!

Ich werde mich nun besprechen.

Wenn die Entscheidung gefallen ist, wird eine weitere Vorbereitung nötig sein.

Habt weiterhin etwas Geduld.“

Sie öffnete ein Stück die Flügeltür, dann machte sie eine freundliche Geste der Verabschiedung und verschwand.

Wir zwei nahmen Platz.

Patrick, der gerne schwieg und der bisher nur wenige Sätze gesprochen hatte, konnte so neben mir sitzend ein Schweigen nicht lange aushalten.

„Was für eine Insel ist dies?

Was auch immer ich von diesem Flug erwartet habe – dies hier sprengt im Moment mein Fassungsvermögen.

Die Bewohner – sind dies überhaupt menschliche Wesen?“

Er blickte mich an und wandte sich rasch wieder ab. Offenbar lag auf meinem Gesicht die gleiche Ratlosigkeit wie auf seinem.

„Ich habe Anthony erkannt, ohne Zweifel,“ fuhr er fort.

„Offenbar wurde er nicht erschossen, wie man dir sagte.

Was tut er hier?

Wer sind diese neuen Freunde um ihn herum?“

„Auch ich glaube es immer weniger: dass dies eine menschliche Insel ist. Doch ich erinnere mich an Tamaras Frage: Ob etwas mir Furcht bereitet?

Wie geht es dir?

Fühlst du Furcht?“

„Furcht?“ Patrick schüttelte den Kopf. „Wenngleich ich doch eine große Spannung und Unruhe spüre.

Wenn es nicht menschlich ist – dann ist es fremd.

Und doch wieder ist es das nicht.

Es verwirrt mich.

Das Maß der Verzauberung verwirrt mich, die Freude.

Doch: Verzauberung - es ist das treffende Wort.“

Seine Blicke kreisten unruhig in einem inneren Raum.

„Sie besprechen sich über uns.

Um welche Entscheidungen geht es?

Um welche Geheimnisse?

Nein, dies ist keine menschliche Insel.

Schon diese ungewöhnlichen Pflanzen und Tiere…

Ein singender Felsen…

Und die sonderbare Geometrie dieser Gebäude, ihr Material…

Doch Tamara ist hier.

Und Anthony.

Nein, wirkliche Furcht spüre ich nicht.“

Wir schwiegen nur wieder kurz.

„Tamara -: Es ist sonderbar, wie ich sie plötzlich erneut erlebe,“ sagte ich. „Irgendwie ist es genau die Frau, die ich traf, als ich das erste Mal ihre Sozialstation besuchte.

Zugleich ist sie noch etwas anderes. Etwas das mir damals nicht völlig verborgen blieb, doch das ich in keiner Form wirklich hätte beschreiben oder benennen können.“

 

Meine Gedanken schweiften zurück.

Zu Tamaras Sozialstation in New York.

Zu den Momenten unserer Begegnungen.

Ich möchte an dieser Stelle einfügen, wie ich mit Tamara erstmals Bekanntschaft machte.

 

Die Sozialstation

 

Ich erwähnte bereits, dass ich mehr zufällig von dieser Station erfuhr, die einem ungewöhnlichen Konzept folgte und die, wie ich heute sagen kann, damals der Zeit in vielen Dingen voraus war.

Ich ahnte nicht, dass ich dabei auf Anthonys Schwester treffen würde, die nicht mehr den Familiennamen trug.

Anthony und ich hatten uns damals etwas aus den Augen verloren. Das sollte sich mit diesem Tag wieder ändern.

Ich interessierte mich einfach als Reporter für dieses Projekt.

Unbeabsichtigt traf ich etwas vorzeitig ein und musste zunächst mit einer Mitarbeiterin der Station vorlieb nehmen, was ich doch bald nicht bereute. Es war eine ältere etwas mollige, sehr hilfsbereite und redselige Dame, die sich sofort anbot, mich herumzuführen. Sie hieß Schwester Eveline, es war Tamaras immer dienstbereite zweite Hand auf dieser Station.

Ihre Wangen glühten vor Eifer, während sie mich mit den einzelnen meist bunt bemalten Baracken und Werkstätten auf dem Gelände hinter dem Eingangsgebäude vertraut machte. Ich habe den Klang dieser Stimme noch gut im Ohr, und so will ich sie hier auch selber sprechen lassen, bevor ich mich mit einem Bericht abmühe, der doch nur trockener ausfallen kann als ihrer.

„Die Leute erledigen hier kostengünstig Reparatur- und Ausbesserungsarbeiten jeder Art – an Hausgeräten, an Möbeln, an elektrischen Apparaten, an kleineren Fahrzeugen. Eigentlich alles, was repariert werden kann, kommt hier an und wird auch in kurzer Zeit repariert. Auf alles gibt es anschließend eine Garantie. Wenn etwas nachher nicht wirklich funktioniert, stehen die Leute gleich wieder mit einer Reklamation vor der Tür. Und deshalb kommt es auch praktisch nie vor.

So etwas spricht sich herum. Die Leute, die hier arbeiten, haben über Aufträge nicht zu klagen.“

Überall vor und in den Baracken und Werkstätten sah ich Leute arbeiten, jüngere und ältere, Männer so wohl wie Frauen. Sie reparierten Fahrräder und Motorräder, erneuerten Polster oder besserten sie aus, reparierten Puppen und Kinderspielzeug. Es herrschte ganz offensichtlich eine fröhliche Stimmung.

„Ein Schlag, wenn auch nur ein kleiner,“ fuhr Schwester Eveline fort, „gegen die Großproduzenten und Warenhäuser mit ihrer Wegwerfmentalität und ewigen Produktionssteigerungsideologie. Ein Großteil dessen, was wir üblicher Weise entsorgen, gehört noch lange nicht in den Müll. Viele Leute in diesem Viertel begreifen das. Sie sehen, dass sie viel sparen. Und sie begreifen sogar, dass sie dabei an Lebenswert und Lebensfreude nichts einbüßen.

Und die Menschen, die hier arbeiten – alles Leute, die oft seit Jahren traurig als Arbeitslose herumsaßen – haben ihre Lebensfreude wieder entdeckt. Und ihr Selbstwertgefühl. Wissen Sie, was das Schönste ist? Wenn die Kunden kommen und ihre Reparaturwünsche mit den Leuten, die hier arbeiten, besprechen. Denken Sie an den Unterschied: Jemand kommt, um eine alte Puppe reparieren zu lassen oder eine alte Kommode. Der Mann oder die Frau, die nun reparieren, kennen genau das Gesicht – sie wissen, für wen sie es tun. Das löst etwas aus: Sein Bestes zu geben und später die Freude auf diesem anderen Gesicht zu sehen. Dies ist der Unterschied. Viele, die immerhin Arbeit haben, sitzen in einer Fabrik und stanzen gesichtslose Einzelteile. Sie erfahren nie, wer sich daran freuen wird. Und so bleibt auch ihre eigene Freude schattenhaft und grau. Ihr ganzes Interesse gilt ihrer Lohntüte. Eine schließlich armselige Freude.

Da gibt es vieles, das wir in unserer automatisierten Wohlstandgesellschaft vergessen haben: Wie Freude entsteht.

Und dass nicht das Geld sondern dass die Freude das wichtigste ist.“

Einer der Arbeiter drückte beim Anblick Evelines jetzt verschämt seine Zigarette aus.

„Ja. Wir haben in den Baracken ein Rauchverbot. Zweimal brannte eine Baracke nieder, weil einer der Leute dort unachtsam eine Zigarette liegen ließ.

Wir haben schließlich darüber abgestimmt. Die Leute selbst waren mehrheitlich dafür, dass jedes Rauchen während der Arbeit verboten wird.

Das ist auch so ein Punkt: Die Leute sind im Prinzip sehr vernünftig. Was man erklärt und nachher gemeinsam in Ruhe aushandelt, das führt auch zum Zuspruch und zur Abstimmungsmehrheit. Man muss solche Gesetze nicht von oben verordnen. Die Leute, wenn man sie erst zum Denken bringt, tun es selbst.“

„Wird alles so entschieden – alles in gemeinsamer Abstimmung der Leute hier?“ fragte ich.

„Fast alles, ja.

Für Tamara ist es ein Prinzip. Sie mag das Wort ‚Chefin’ nicht. Sie sieht sich nur als ‚Verwalterin’. Und sie vermittelt den Leuten auch das Gefühl, dass sie es tatsächlich so meint. Dafür liebt man sie hier.“

Sie führte mich zu einer weiteren Baracke, die voller Kühlschränke stand.

„Schauen Sie hier: ein neues Projekt. Es steht erst am Anfang. Leute von der Station sammeln an jedem Abend das nicht verkaufte Essen ein – speziell bei den Bäckereien den liegen gebliebenen Kuchen, die Torten, die Brötchen. Alles was üblicher Weise sonst abends entsorgt wird. Doch auch bei den Gemüsehändlern werden sie vorstellig. Sie sammeln das Angewelkte, alles was dem Anspruch üblicher Kunden nicht mehr genügt und was doch noch gut essbar ist. Sie bringen es in Obdachlosenasyle und Altersheime. Oder wir verzehren es hier. Kuchen vom Vortag – es sind oft ganze Kuchenberge und sie bieten Gourmetfreuden in

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 12.10.2016
ISBN: 978-3-7396-7825-2

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